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Die Spur des unbekannten Bruders

 

 

 

Die Spur

des unbekannten

Bruders

 

 

Erzählung

 

 

Winfried Paarmann

 

 

Vorwort

 

Die Ereignisse dieser Geschichte liegen über vierzig Jahre zurück. Sie wurden mir erzählt von Regine, einer Frau, die weitgehend selbst daran teil hatte. Die zentrale Gestalt war ihr Vater, der, damals ein Mann Ende vierzig, als Bauleiter zweier Bauprojekte in das Grazer Alpenvorland gerufen worden war.

Diese Alpengegend wie das sich anschließenden imponierende Dachsteingebirge waren ihm gut bekannt. Die Wiener Eltern hatten mit ihm und seinem Zwillingsbruder Theo dort regelmäßig die Ferienzeiten verbracht. Bis es zu einem schweren Bergunfall kam. Die beiden Zwölfjährigen, Richard und Theo, waren am letzten Tag vor der Abreise ohne Wissen der Eltern zu einem Berggipfel aufgebrochen. Auf einem Geröllfeld verlor Theo den Halt und stürzte in die Tiefe. Er konnte niemals geborgen werden.

Diese Geschichte wird mit dem Zeitpunkt der schon erwähnten zwei Bauprojekte beginnen. Etwas für Richard, den Vater, äußerst Irritierendes war geschehen: Er meinte, bei einem Bergausflug seinen Zwillingsbruder wieder erkannt zu haben, den vor mehr als dreißig Jahren abgestützten Theo. Und immer mehr verdichteten sich die Anzeichen, dass es den Zwillingsbruder noch gab – ein Mann von genau seinem Aussehen und doch von einer offenbar sehr anderen auch gewalttätigen Wesensart.

Gegen das eine begonnene Bauprojekt setzten zunehmend Sabotageakte ein. Nach einem zweimaligen Bankraub geriet Richard selbst in Verdacht, auch wegen anderer Gewalttaten wurde er schließlich verdächtigt. Richard verfolgte mit wachsender Unruhe jede Spur. Und es sollte sich seine Ahnung bestätigen, dass sie zu einer zweiten Gestalt seiner Vergangenheit führen würde: der eines kleinen rätselhaften Mannes, eines Almbewohners, der die beiden Kinder damals zu jenem Bergausflug überredet hatte.

 

Regine lernte ich kennen, als ich ein Wochenende in einer Grazer Alpenpension verbrachte. Sie war in großer Sorge um ihren Vater, dieser hatte sich zu einer Bergwanderung verabschiedet und war seit drei Wochen nicht zurückgekehrt. Mit fünfundsiebzig noch äußerst rüstig hatte er solche Ausflüge häufiger unternommen, man wusste, dass er dabei tagelang fortbleiben konnte, doch drei Wochen waren eine beunruhigend lange Zeit.

Ich werde Regine selbst zu Wort kommen lassen.

Die Erzählerin

 

Ich war Mitte zwanzig und hatte eben meine Ausbildung als Psychologin abgeschlossen, als ich meinem Verlobten nach Graz folgte, der dort als junger Trompeter eine Anstellung an der Grazer Oper gefunden hatte. Auch für mich war dieser Ortswechsel mit einem günstigen Angebot verbunden. Eine ältere erfahrene Psychologin hatte eben ihre jahrelange Praxiskollegin verloren, und sie war rasch überzeugt, dass ich die richtige Nachfolgerin sei und diesen Platz einnehmen sollte – so jung und unerfahren ich als Psychologin bisher auch war.

Ihre Liste mit Therapieanfragen war lang, besonders seit die Kollegin sie verlassen hatte, und bald überwies sie neu anfragende Klienten zunehmend an mich. Ich fühlte viel Wind unter den Flügeln, die neuen Klienten schenkten mir rasch ihr Vertrauen, mir war ein glücklicher Einstieg gelungen.

Auch Alexander, mein Verlobter, war mit seiner neuen Anstellung an der Grazer Oper zufrieden. Allerdings galt seine Liebe als Trompeter auch dem Jazz. Diese Leidenschaft als Jazzmusiker konnte er bei einem befreundeten Kneipenwirt ausleben, bei dem sich einmal wöchentlich ein Kleinorchester von Jazzmusikern zusammenfand, unter den quirligen Swing- und Jazzrhythmen verwandelte sich der Kneipenraum dann rasch in eine Tanzfläche.

Ein Dreivierteljahr später erschien auch Richard, mein Vater, in Graz. Ich werde ihn hier häufiger einfach nur Richard nennen, um in einem objektiveren Ton zu sprechen. Was ich im nun Folgenden zu einer knappen Erzählung zusammenfasse, wird vor allem seine Geschichte sein.

Richard war Ende vierzig. Er hatte sich in Wien mit einem eigenen Baubüro, das er von einem Onkel übernommen hatte, einen Namen gemacht. Er erledigte seine Bauaufträge bis ins Detail korrekt und schloss sie in der Regel auch pünktlich ab, und nie gab es die sonst so oft nach oben schnellenden Preiskorrekturen. Das Geheimnis dieser erfolgreichen Arbeit war ein sehr kollegiales Verhältnis zu seinen Angestellten und Mitarbeitern. Jede Allüre eines Chefs war ihm fremd. Er war „einer von ihnen“, und jeder sah das Gelingen eines Bauprojekts immer auch als seine ganz eigene Sache.

Nun erhielt er das Angebot zweier Bauaufträge in Graz, die denselben Auftraggeber hatten. Zum einen handelte es sich um ein großes zweistöckiges Wohngebäude im Grazer Bergland, eine Art Bergvilla, in fünfhundert Meter Höhe gelegen, zu der auch noch eine Zufahrtsstraße zu bauen war. Zum anderen ging es um eine große Hotelanlage am Stadtrand von Graz, eine alte glücklos geführte Alpenpension war dafür aufgekauft worden, sie sollte in ein Hotel der Luxusklasse verwandelt werden.

Er verfügte über ein eigenes Baubüro vor Ort, und er konnte den Großteil seiner eigenen Mitarbeiter beschäftigen, also auch diese vor Ort unterbringen, sogar einen Helikopter wollte man ihm zur Verfügung stellen, solange die Straße in die Berghöhe noch nicht fertig gestellt sei. Geld, so hieß es, spiele keine Rolle.

Richard sollte hier als Bauherr zum ersten Mal ein völliges Desaster erlebte. Weder die Bergvilla noch die Bergstraße zu ihr wurden je fertig gestellt, noch weniger das Luxushotel.

Vielleicht hätte er misstrauisch sein sollen. Den eigentlichen Auftraggeber, einen offenbar vermögenden Sizilianer, bekam er in den Vorgesprächen nie zu Gesicht, immer nur zwei seiner Mittelsmänner. Für den Bau der Bergvilla wie auch der Zufahrtsstraße lagen ordnungsgemäß die Bewilligungen der Landesverwaltung Graz vor. Es gab damals noch nicht das ausgeprägte Umweltbewusstsein unserer Zeit. Dennoch konnte befremdlich erscheinen, dass in diese sonst unberührte Bergwildnis ein solcher Protz- und Prunkbau gerammt werden sollte, nebst einer Zufahrtsstraße. Diese Straße wohl war es, die mit ihren ersten Kilometern eine Anbindung an eine andere Bergstraße erleichterte, die die Grazer Behörden zur Bewilligung bewegte. Oder war Bestechung im Spiel? Richard konnte im Nachhinein nichts mehr ausschließen.

Der Aufkauf der angeblich „maroden“ Alpenpension war, entgegen den Angaben, noch keineswegs gesichert. Der Sohn der bisherigen Eigentümer hatte die Verkaufsverträge plötzlich zurückgezogen. Er war entschlossen, das kleine Gästehaus mit neuen Investitionen und einem eigenen Konzept für Urlauber wieder attraktiv zu machen, auch den kleinen angrenzenden Bauernhof wollte er wieder bewirtschaften. - Um die Alpenpension und das Grundstück lief inzwischen ein hart geführter Prozess.

Gegen die genannte Bergvilla und ihre Zufahrtsstraße setzten bald gezielte Sabotageakte ein; der möglicherweise Verdächtige konnte nie gefasst werden. Diese Sabotageaktionen führten schließlich zum Abbruch des ganzen Projekts – wie auch ein Mord an dem Auftraggeber selbst. Ich werde später davon berichten. Die Bauruine wurde ein Jahr darauf völlig entfernt.

Richard sagte mir, er hätte diesen Bauauftrag vor allem angenommen, weil ich, seine Tochter, in Graz ein neues Zuhause gefunden hatte. Das war ein liebenswürdiges Vaterwort, das Angebot selbst schien ihm sehr attraktiv und es war auch lukrativ. Vielleicht spielte die Nähe der Tochter in kleinem Maß eine Rolle, und tatsächlich sollte es die Zeit eines intensiven Kontakts werden. Doch vor allem traf zu, dass es für Richard zu dieser Grazer Gegend eine besondere persönliche Verbindung gab.

Er hatte hier als Junge mit seiner Familie viele Ferienwochen verbracht. Die Eltern bezogen mit ihm und seinem Zwillingsbruder Theo immer wechselnd zwei gleiche Pensionen. Die Mutter war aufgewachsen nahe von Graz, so lag diese Wahl des Ferienorts nahe. Man machte ausgedehnte Ausflüge ins Grazer Bergland und bis in das nördlich gelegene Dachsteingebirge mit seinen majestätisch aufragenden weißen Gipfelriesen.

Ohne Absprache mit ihren Eltern brachen die beiden Zwölfjährigen am letzten Urlaubstag zu einem Bergausflug auf. Er sollte zu einer geheimnisvollen Berghöhle führen. Ein junger Mann, mit dem sie während der letzten Tage Bekanntschaft gemacht hatten, lockte sie mit diesem Versprechen. Als sie ein Geröllfeld erreichten, geriet dieses in Bewegung und zog Theo in die Tiefe.

Richards Erinnerungen setzten hier aus. Erst an den Moment, in dem er im Rettungshubschrauber viele Stunden später die Augen aufschlug, konnte er sich wieder erinnern. Noch tagelang suchte man die Berggegend ab. Die Suche nach Theo blieb ohne Erfolg.

Es war nicht der einzige Todesfall in der Familie. Drei Jahre zuvor war, sechsjährig, die kleine Schwester der Zwillingsbrüder gestorben. Man fand sie am Morgen leblos in ihrem Bett. – Drei Jahre nach dem Tod Theos starb auch die Mutter. Eine verschleppte Infektion hatte eine Herzmuskelentzündung herbeigeführt. Auch sie ereilte ein ganz plötzlicher unerwarteter Tod.

Die Mutter verband mit dieser Berggegend gleichfalls eine ganz eigene geheimnisvolle Geschichte, über die Tatsache hinaus, dass es die Gegend ihrer jungen Mädchenjahre war. Ich erfuhr davon erst, als mein Vater seinem Bauauftrag nach Graz folgte.

Ich habe von Theos Absturz und Tod gesprochen. War Theo tot?

Ich ahnte nicht, dass diese Frage meinen Vater und somit auch mich während der folgenden Wochen intensiv beschäftigen sollte.

Wir machten am zweiten Wochenende nach seinem Eintreffen in Graz gemeinsam einen Ausflug an einen Bergsee – den romantisch neben eine steile Felswand gesetzten Leopoldsteinersee mit seinem kristallklaren Bergwasser. Wir waren bis in die Mitte hinausgerudert, als wir am einen Ende der Steilwand zwei Männer erblickten. Der eine war ein kleinerer Mann, der einen Fellumhang trug. Der Anblick des anderen Mannes versetzte meinen Vater, doch auch mich. augenblicklich in tiefe Verwirrung. Er war in seiner Statur und in seinen Gesichtszügen, so weit wir es auf diese Entfernung erkennen konnten, Richards genaues Ebenbild. Zwischen meinem Vater und ihm kam es zum kurzen Blickwechsel. Als mein Vater in seine Richtung zu rudern begann, wandte sich der Mann zum Gehen, ohne sich nochmals umzusehen. Mein Vater beschleunigte die Ruderfahrt, doch die beiden waren plötzlich verschwunden.

War mein Vater auf Theo getroffen?

Hatte Theo doch überlebt?

Aber warum war er dann nicht zu seiner Familie zurückgekehrt? Wer hatte ihn großgezogen?

Und auch nach jenem Ruderausflug blieb ein Zweifel, ob diese Gleichheit der äußeren Erscheinung ein sicherer Hinweis war. Immer wieder entdecken Menschen, dass es unter der Vielzahl der anderen etwas wie „Doppelgänger“ von ihnen gibt. Nur die ganz nahe Konfrontation zeigt die geringfügigen Unterschiede. Überhaupt staunen wir wenig über das entgegen gesetzte Phänomen: Dass die Natur mit ihren Millionen, mit ihren Milliarden Menschen immer neue unverwechselbare individuelle Gesichter erschafft. Der „Baukasten“ ist immer gleich und eigentlich klein: Verfügbar sind Stirn, Augen, Nase, Mund und Kinn, alles im Format einer tellergroßen Fläche. Ein Wunder, dass dies ausreicht, um Milliarden von Exemplaren einen ganz eigenen unverwechselbaren Ausdruck zu geben.

Ich komme zu meinem Vater zurück. Es blieb nicht der einzige Hinweis. Die Anzeichen, dass ein Mann mit dem Erscheinungsbild meines Vaters, möglicherweise Theo, sich gleichfalls in dieser Gegend aufhielt und auch deutlich hier seine Spuren hinterließ, mehrten sich. Es waren, zum Erschrecken meines Vaters, zunehmend Spuren gewalttätiger Aktionen.

Ich nehme vorweg, dass es am Ende, nach einer Reihe dramatischer Vorfälle, zu einer Begegnung kam; ein Ereignis, das Richard inzwischen intensiv herbeiwünschte und das sich doch mit einem tragischen Schatten in sein Gedächtnis eingebrannt hat.

 

 

Mein Weg als junge Therapeutin in Graz hatte einen gut gesicherten Anfang genommen. Manches was in den nun folgenden Wochen geschah, sollte mein Weltbild, das einer studierten Psychologin, auf unerwartete Weise herausfordern.

Ich habe mir den Blick der Psychologin, der auf einfühlende wie auch nüchterne Analyse angelegt ist, stets zu bewahren versucht. Was mir fremd und unerklärlich erscheint, bearbeite ich zuerst mit den gelernten psychologischen Werkzeugen und Erklärungsmodellen. Oft finde ich die passenden Lösungen. Und oft muss ich diese passenden Lösungen korrigieren. Manchmal entziehen sich Phänomene jeder sicheren Einordnung.

Ich habe gelernt, damit zu leben – und trotzdem eine gute einfühlsame Therapeutin zu sein, mit den Werkzeugen, den manchmal vielleicht auch unzulänglichen, die mir verfügbar sind.

Meine ältere Kollegin, mit der ich nun die Praxis teilen durfte, befand sich damals, angeregt durch ein Buch, in einer Phase der Neuorientierung, dies nicht im Sinn eines großen Umbruchs, doch sie begann zunehmend mit Hypnosetechniken zu arbeiten und erzielte auch mehr und mehr gute Erfolge damit. Es lag ihr daran, weiter in die „verborgenen Kammern“

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 23.09.2015
ISBN: 978-3-7396-1520-2

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