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Manchmal, wenn ich zu früh aufwache,
gehe ich im Morgengrauen spazieren.

Heute ist der 23. Dezember.
Halb fünf. Noch dunkel. Draußen Nieselregen. Schneematsch.

Eine heftige Bö fegt die Müdigkeit aus meinem Kopf. Kälte treibt Tränen in die Augen. Wind und Frost machen mich endlich hellwach.

Wo Farne wachsen, wo hinter dem Gestrüpp von Dornen und Disteln, mit hohen Hecken versiegelt, der Wald beginnt, heften sich Kletten an meinen Mantel. Massenhaft. Samen eines Pflänzchens, das sich wahrscheinlich einbildet, in mir den idealen Verbreiter seiner Gene gefunden zu haben.
Aber es hat sich geirrt.
Ich werde zu Hause jede einzelne der widerspenstigen Klammer-Kapseln aus dem Wollgewebe herausklauben und in den Mülleimer werfen. Was soll ich sonst mit deinem aufdringlichen Geschenk machen, kleine Pflanze?

*


Langsam steige ich über steile Pfade
zur Kuppe des Hügels.
Immer höher.

Schaue dann von einem bekannten Aussichtspunkt ins Tal,
will zusehen, wie die Stadt tief unten allmählich die Nacht abschüttelt,
wie nach und nach
Millionen Lichter aufflammen,
während im Osten der Morgen mit einem rosa Schimmer heraufdämmert.
Sogar das Hochhaus werde ich sehen können,
in dem ich seit Jahren wohne.

Ich komme oft hier her.

Aber heute ...
scheint nichts wie es war.

Keine langsam aus dem Dunkel
tauchenden,
warm erleuchteten Fensterfronten,
hinter denen Hausfrauen,
noch schlafzerknittert,
den ersten Kaffee brühen.

Keine Türme aus Glas und Beton.
Und wo sind die Einkaufszentren?
Flanierstraßen?
Die Banken?
Baustellen und Kräne?
Die mächtigen Büropaläste?

Vergeblich lausche ich auf vertraute Geräusche.
Nichts zu hören vom Brausen und Frühmorgengetöse
der erwachenden Metropole.


Was ist hier los?

Wo sind die vielen Stränge gebündelter, sich überschneidender Highways,
Schnellstraßen, die sich durch die weite Gegend fressen?
Die herrlich hohen Brücken
und Viadukte?
Keine dahinrasenden Autos
mit Scheinwerfern,
deren rote und gelbe Lichtbänder
sonst so fantastisch
die noch nächtliche Landschaft durchzucken.

Nichts von all dem!
Mir stockt der Atem.
Um mich L E E R E.

Nur ein See aus waberndem Nebel
füllt jetzt die Senke, wo die City sonst ist.
Von dort dringt mattes Glühen,
diffus wie durch Watte.
Als habe das Urmeer alles verschluckt.

Nirgends ein Ton. Kein Vogelzwitschern.

Lautlos lastet die Stille.

Ich stehe allein,
Schweiß rinnt mir aus allen Poren.

In ein Vakuum bin ich eingetaucht.
Da ist ... Nichts.
Nichts.
Hab ANGST.

Und dann kommen die Gedanken:
Diese Stadt ... hat sie je existiert ?
Vielleicht ist sie immer nur Produkt
chemischer Vorgänge in meinem Gehirn gewesen,
ein bizarres Kino im Kopf?

Vielleicht ist das ganze Dasein,
sind auch die Menschen, die wir lieben,
nur Sinnestäuschung
und Illusion?

Offenbart sich mir heute hier oben
letztendlich die furchtbare Wahrheit?


Schwindel erfasst mich.
Taumel, der mich beinahe von den Füßen reißt.

'Sei ruhig', sagt der Verstand,
'so wirklich, solide gebaut und voll mit prallem Leben ist diese Metropole,
wie alle Metropolen der Welt.
Sie kann nur real sein,
wächst ständig an Schönheit, Reichtum, Fülle.
Bleibendes Zeugnis
für Kraft und Schöpfergeist
des großen,
unvergleichlichen Homo Sapiens.'

Ich werde meinem Verstand trauen. Was Er sagt, zählt!
Man muss sich nur zusammenreißen!
Es ist ja nichts.
Wer hätte keine Panikattacke im Angesicht dieser
( rasch vorübergehenden ? ) Leere?


Nur Ruhe! Alles wird gut!


'N E I N' - tost mir da auf einmal der Wind in die Ohren,
'das ist der Tag, wo die hektische Stadt Vergangenheit ist,
spurlos gelöscht aus der Zeit.

Wie eine überflüssige Datei am Computer gelöscht wird,
so befreite die Natur sich vom Menschenwerk.


Wenn dann
die Nebel sich heben,
wird da nur das Land sein,
der Fluss,
die unendlichen Wälder -

wie es immer schon war . . . '

Impressum

Texte: Coverseite Irmgard Schöndorf Welch
Tag der Veröffentlichung: 11.03.2009

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