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Anna entdeckt beim Surfen im Web ein Schreibforum, in dem gerade ein toller Wettbewerb im Gange ist. Gesucht wird das beste literarische Werk aller Zeiten! In diesem Forum haben so zirka eine Million Internet-Autoren ihre sehr schön anzusehenden E-Books gepostet. Jeder, der hier veröffentlicht, darf am Wettbewerb teilnehmen und soll auch diejenigen Bücher der Mitstreiter, die er lesenswert findet, mit einem Stern bewerten. Der Autor, der bis 15. Februar die meisten Sterne hat, wird neben dem Ruhm auch einen Geldpreis gewinnen. Zweitausend Euro. So einfach ist das.

„Ich schreib doch selbst“, denkt Anna, „da könnte ich ja auch …"
Also meldet sie sich kurzerhand an und … super … nach wenigen Minuten schon gehört sie als 'Krümel00' zum Club der begnadeten Literaten und postet hoffnungsfroh – sozusagen erst einmal als Testlauf - vier ihrer gelungensten Werke. Damit erntet sie allerdings nur begrenzten Beifall. Einen einzigen, mageren Stern!


Am zweiten Tag findet sie im Forum unter anderer Post auch eine Nachricht von einem gewissen ‚Bruder Specht’

Hallo Krümel00, schreibt Bruder Specht, ich würde mich sehr freuen, wenn Du Dir mein kleines Buch anschauen könntest und, falls es Dir gefällt, bitte bewerten würdest.
Und: Welches Deiner Bücher empfiehlst Du einem Bengel wie mir?
Liebe Grüße, vom Bruder Specht



Anna schaut nach … es gibt hier nur e i n Buch von Bruder Specht. 'Todmatt’ heißt es. Komisch … der Titel kommt ihr augenblicklich bekannt vor. ‚Todmatt’ war ihr schon in den ersten Sekunden ihres Forum-Durchstöberns drastisch ins Auge gefallen… Es ist jenes aparte Buch mit dem pechschwarzen, leeren Einband ohne jegliche Beschriftung. 'Todmatt' steht überall im Forum an erster Stelle, ist ubiquitär. 'Todmatt' hat die meisten Leser-Aufrufe aller Zeiten. Hat die meisten Sterne: Zweihundertfünfzigtausend!


„Na ja … wenn der Verfasser dieses Superwerkes mich so lieb auffordert, an seiner Schreibkunst bewertend teilzunehmen … dann werd ich mal…“


Anna brüht sich also einen Espresso, greift die Tüte mit Chips und bereitet sich erwartungsfroh auf einen wunderbaren Lesegenuss vor.
Und stutzt, als sie das Buch aufschlägt. Das ist ... schon sehr besonders! Gerade mal zwei Seiten Text. Aber der hat es in sich. Der haut voll rein. Es geht hier anscheinend um Autobiografisches.
Also, das kleine Mädchen, von dem die Geschichte handelt, ist offensichtlich die Schwester des Verfassers. Und der sagt über sie:
"Zitternd saß sie immerfort da ... sie schlief bei uns im Salon auf dem Stuhl ... man sah sie ja kaum mit all den Decken und der riesengroßen Wollmütze, auch im allerschönsten Sommer nicht" ...

- Aha, sie bleibt anscheinend ( wie der Autor an anderer Stelle durchblicken lässt ) sogar in der Wohnung Tag und Nacht angezogen – mit Mantel, Mütze, Schal, denn sie friert furchtbar. Auch hält sie sich permanent im Stuhl auf, weil sie zu müde ist, ins Bett zu gehen, "bis sie am Abend dann kraftlos auf ihrem Stuhl in den Schlaf fiel…
Niemand hätte es gewagt, sie nun zu wecken und ins viel bequemere Bett zu bringen.
Kein Arzt wusste Rat."


O Gott! Anna bleibt fast der Kartoffelchip im Hals stecken.

„Wie furchtbar!“, denkt sie, "die Familie super bescheuert, die Ärzte Totalversager. Krankenhäuser und Behandlung gibt es anscheinend auch nicht. So stirbt die kleine, müde Schwester leise im Sitzen dahin, weil niemand je wagt, sie ins Bett zu tragen."


Anna ist vor Rührung wie gelähmt und findet nicht einmal die Kraft, das wunderbare Werk mit einem Stern zu adeln. Aber sie muss Bruder Specht doch sagen, dass sie es gelesen hat!

Linkisch und unentschlossen schreibt sie ihm also zurück:


Lieber Bruder Specht, ich hab mir Dein Büchlein angeschaut …( geschickt vermeidet sie jegliche Wertung ) Von mir empfehle ich Dir – weil Du mich darum gebeten hast, mein Werk: der König und die kleine, grüne Xanthippe.
Viele Grüße
Krümel00 >

Da erreicht sie schon die nächste Bruder-Mail ( wörtlich) :



03.02.2009 um 07:52:17
Hallo Krümel00
Vielen Dank für Deine Nachricht - das hört sich doch sehr praktisch an. ;-)
Sollte Dir mein Büchlein gefallen haben irgendwie, dann bitte das „Buch als lesenswert markieren" - um Dein empfohlenes werde ich mich ebenfalls kümmern und auch ein paar lesende Freunde hinschicken ;-)

Liebe Grüße vom Bruder Specht

„O je … das wird ja interessant, wenn all seine Freunde sich auf mein Werk stürzen und es mit Sternen überhäufen!!“, denkt Anna, "aber dafür müsste ich Bruder Specht auch einen Stern geben? Will ich das überhaupt? Und er hat doch schon so viele!!"


Da kommt bereits wieder eine Mail:
An Krümel00
Von Bruder Specht mit der unübersehbaren Aufforderung:
Antwort schreiben


03.02.2009 um 07:54:31
;-)

Was soll sie ihm denn für eine Antwort schreiben?? Sie fand sein superkurzes Büchlein ... na ja … nicht gerade umwerfend. Aber es hat immerhin zweihunderfünfzigtausend Sterne. Deshalb muss es eigentlich wahnsinnig gut sein. So viele Leser hat nicht einmal Nabokovs Bestseller ‚Lolita’ im ersten Jahr seines Erscheinens aufzuweisen gehabt!

Anna muss sich etwas einfallen lassen. Also ... „Dein Buch ist viel zu gut für nur e i n e n Stern“, wird sie ihm diplomatisch sagen . Ja … wenn ich dir zehn davon geben könnte? Aber so? Das rentiert sich für dich doch gar nicht mehr."

Anna ist ratlos. Eigentlich will sie überhaupt nicht antworten.


Und wieder news vom Specht ( wörtlich) :
Datum: 05.02.2009 um 08:03:55
Betreff: "angeschaut"?

Krümel00, ich erinnere Dich an Deine Nachricht: Lieber Bruder Specht, ich hab mir Dein Büchlein angeschaut …von mir empfehle ich Dir: der König und die kleine, grüne Xanthippe.
Also vielen Dank fürs "Anschauen und für die Empfehlung, lieber Krümel00 ... so kommen wir bestimmt bald weiter? Hm...
;-)
Liebe Grüße, Bruder Specht


"Das klingt ja fast bedrängend", denkt Anna, "komm endlich zu Pott, Tussi, und lass den Stern herüberwachsen", will er ihr wohl zu verstehen geben.

Anna, rafft sich auf und schreibt eine Kritik unter sein Werk, worin sie ihm sagt, dass sie es zwar superhypertraurig, aber auch … ziemlich unrealistisch und irgendwie … eine kleine Spur zu kitschig fände und ihm keinen Stern geben könne/wolle.

Kaum hat sie diesen Kommentar gepostet, da hat Bruder Specht ihn auch schon wieder gelöscht. Toll, wie souverän er unliebsame Kritiken wegschnippt! Jetzt ahnt sie, warum die Kommentare für sein Werk bisher nur exuberante Lobeshymnen waren.

Weniger bewundernde Stimmen hat er wahrscheinlich augenblicklich ins Nirwana befördert.
Nein das Werk ‚Todmatt’ ist ja nicht ganz schlecht, bei vielen Lesern hat die Geschichte – so schreiben sie zumindest - endlose Tränenflüsse und tagelange Schluchzattacken ausgelöst …

In der Viertelstunde, während Anna, erstaunt, dem unglaublichen Erfolg von ‚Todmatt’ nachsinnt, hat sich Bruder Spechts Sternchenenkonto schon wieder um ein halbes Tausend vermehrt. Wahnsinn! Noch einmal stellt sie sich all die tief aufgewühlten, weinenden Leser vor. Bruder Spechts Sterne überfluten das Forum inzwischen wie bittere, heiße Tränen. Sein Ruhm ist nicht aufzuhalten. Die Geschichte des todmatten Schwesterchens wird ihn in den Olymp der Schriftstellerkunst katapultieren, von den zweitausend Euro Siegesprämie ganz abgesehen.

Bruder Specht ist einsame Spitze.




Impressum

Texte:
Tag der Veröffentlichung: 08.02.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Rabenbruder und seinem herzzerreißenden Werk 'Müde' gewidmet :-)

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