Vor langer Zeit lebte auf einer Insel in der Ägäis ein König, der hieß Timon. Er war erst dreißig Jahre alt, da raffte eine Krankheit seine junge Gemahlin hinweg.
Nach angemessener Trauerzeit rieten ihm die Würdenträger des Hofes, sich wieder zu verheiraten. Die auserwählte Braut war Prinzessin Akira aus dem Nachbarland Zaab. Bald schon, nachdem der Herrscher um sie geworben hatte, traf die Königstochter mit großem Tross, hundert Gespielinnen und vielen Geschenken auf festlich geschmücktem Schiff im Hafen von Timons Insel ein. Ihre leuchtenden Gewänder, ihre außergewöhnliche Anmut und Grazie machten Akira sogleich zum Liebling des Volkes und der schreibkundigen Berichterstatter, die den Ruhm ihrer wunderbaren Schönheit auf Tontafeln für die Nachwelt festhielten.
Nun fürchtete aber Kalymna, die Mutter der toten Königin, also Timons Schwiegermutter aus alter Zeit, ihre Macht und ihren Wohlstand bei Hof zu verlieren, wenn erst die neue Auserwählte im Palast den Platz ihrer armen Tochter einnehmen würde. Es war also dringend nötig, etwas tun. Darum ließ sie augenblicklich eine berühmte Zauberin rufen.
"Hilf mir, du von den Göttern geliebte Sybilla ... ich muss verhindern, dass diese Hochzeit zustande kommt. O wie ich die fette, fremde, hochmütige Kuh hasse. Ich verstehe ohnehin nicht, warum sie Timon und den Leuten so sehr gefällt. Ich will sie in unserem Land nicht haben!"
"Das kostet dich deinen goldenen Brustschmuck und dein Smaragdarmband, hohe Herrin!"
"Nun gut, so sei es!"
Dafür gab die Zauberin der Dame Kalymna eine Phiole, die ein teuflisches Elixier enthielt.
"Du musst es ins Getränk des Königs schütten, es wird seinen Samen für alle Zeiten vergiften, und, ohne ihm selbst zu schaden, jedes Wesen töten, das er in Zukunft - sagen wir es einmal so - mit seiner Männlichkeit beglücken wird."
Kalymna nahm das Gift, schüttete es heimlich während des Hochzeitsfestes in den Pokal ihres Schwiegersohns und füllte süßen, roten Wein nach. Da sie wusste, dass Timon das himmlische Getränk noch nie verachtet hatte, konnte sie sicher sein: ihr Plan würde aufgehen: schon bei der ersten Liebesumarmung würde die junge Prinzessin sterben.
Die Feierlichkeiten waren vorüber, die köstlichen Gerichte verspeist, das Volk hatte gesungen und getanzt und sich am Ende fröhlich betrunken. Auch der König hatte den Pokal mehr als einmal geleert. Nun trug er unter Anteilnahme des gesamten Hofstaats seine Prinzessin in feierlicher Prozession zum blumengeschmückten Hochzeitsgemach.
Aber ein Diener hatte am Tag zuvor die Begegnung der beiden älteren Frauen belauscht. Er warf sich also an der Schwelle zu Boden und da der königliche Bräutigam ihn zur Seite schieben wollte und ihm auch nicht zuhörte, packte er ihn beherzt bei den Knöcheln und hinderte ihn unter Einsatz seines ganzen Körpers und seiner nicht geringen Kräfte, mit der neuen Gemahlin auch nur einen Schritt weiter zu gehen.
"Was will der Mann von mir, er muss verrückt sein. Packt ihn und sperrt ihn ins Labyrinth", schrie Timon.
Doch stammelnd erzählte der Getreue, was er wusste.
Erst gab es ungläubiges Gelächter, danach Totenstille, am Ende Entsetzen. Die Braut fiel in Ohnmacht und wurde von dannen getragen. Man ergriff die böse Schwiegermutter. Im Gefängnis gestand Kalymna nach vier Tagen der Befragung ihre Missetat. Die giftkundige Hexe hatte sich jedoch längst davon gemacht ... sie, die als einzige das Gegenmittel besaß!
Fieberhaft überlegten nun alle, was zu tun sei. Denn Timon war nicht gewillt, für alle Zeiten auf seine Hochzeitsfreuden zu verzichten.
Da beschloss man, Sophokles, den weisesten Denker der Insel um Rat zu fragen. Flugs wurden Boten nach ihm ausgesandt. Sie fanden ihn hoch oben in den Bergen, wo er eine gemütliche Grotte bewohnte. Da brachten sie den alten Mann in die Stadt. Ganz in seinen faltenreichen Hirtenmantel gehüllt, stieg er von seinem Reittier, einer Eselin, und schritt, ehrfurchtheischend sich eine Gasse durch die murmelnde Menge bahnend, zum Palast.
"Hier ist eine Gegenmedizin. Du musst sie in einem Zug trinken", sagte er zum König, als dieser ihm stammelnd das Unglaubliche wiederholte, das ihm schon die Boten bei ihrer Ankunft im Gebirge feixend berichtet hatten.
"Nimm das Elixier ein und warte wenige Stunden, dann müsste das Gift in deinem Körper neutralisiert sein - doch das Mittel wurde noch nie angewandt, seine Wirkung ist eher unbekannt ..."
Brav trank der König die tönerne Amphore mit der grünen Flüssigkeit leer. Abends befahl ihm der weise Mann, an einem Versuchstier auszuprobieren, ob das verabreichte Mittel in der Lage sei, überhaupt etwas zu bewirken und den Schaden wieder gut zu machen.
Man brachte also eine hübsche, jungfräuliche Ziege herbei, mit der sich der Herrscher verlegen in eine Kammer zurückzog. Bald darauf kam er heraus, bebend und mit vor Schreck geweiteten Augen. Die Ziege war auf der Stelle tot umgefallen. Ein armes Schaf musste ebenfalls sein Leben lassen. Aber das zweite überstand die Prozedur und machte sich - etwas taumelnd zwar und erstaunt blökend - aus dem Staub. Auch das nächste Tier, diesmal wieder eine Ziege... kam ziemlich erschüttert, ebenfalls mit dem Schrecken davon.
Timon war so erschöpft und ratlos, dass er sich ohne ein Wort in seine Privatgemächer zurückzog. Vierundzwanzig Stunden lang wurde er nicht mehr gesehen.
Inzwischen lagerte eine riesige Menschenmenge mit Kind und Kegel vor dem Palast. Alle harrten neugierig der Dinge, die da kommen sollten. Auch von den Nachbarinseln ruderte man bereits herüber. Die wundersame Kunde hatte sich im ganzen Reich verbreitet. Der König sei am Ende seiner Kräfte und die neue Gattin - traumatisiert - zurück in ihre Heimat geflüchtet, munkelte das Volk.
"Wenn man die Wirkungen bei den Tieren bedenkt, o Herr", sagte der Weise vom Berge, "so hat die Normalisierung deines Samens schon große Fortschritte gemacht. Aber noch gibt es keine Sicherheit. Wir brauchen jetzt eine menschliche Person. Mit anderen Worten: eine Frau muss her!"
Doch obwohl Timon nicht nur der erste, sondern auch der schönste und stattlichste Mann im Land war, der Traum jedes weiblichen Teenagers, ebenso wie die geheime Leidenschaft unzähliger edler Matronen und auch sonst sehr beliebt, wollte sich niemand bereit erklären, bei ihm Versuchskaninchen zu spielen.
Die vornehmen Damen - ihm sonst treu ergeben - wurden nur noch auf dem Weg zu ihren entfernt gelegenen Landgütern gesichtet. Die stets willigen Lustknaben ... sie hatte anscheinend plötzlich der Erdboden verschluckt. Selbst niedrigste Schmutzmägde und zahnlose alte Vetteln machten sich dünn und zogen die Köpfe ein.
So trat er vor seinen Palast, Timon, der Herrscher, in seiner ganzen Pracht, mit von Trauer gezeichneten Zügen umgeben von seinem beklommen schweigenden Hofstaat. Zu seinen Füßen auf der Agora wartete neugierig raunend das Volk.
Da löste sich aus der Masse des weit hinten stehenden Sklavenheeres ein junges, weibliches Geschöpf, schritt bescheiden durch die sich öffnende Menschenmauer und warf sich dem Herrscher zu Füßen.
"Nehmt mich, mein König", rief sie.
"Wie heißt du, Kleine?"
"Daphne"
"Kind, du bist viel zu schön, um geopfert zu werden", sagte Timon, sehr verwirrt, "nein Mädchen, ich kann das Geschenk deines jungen Lebens nicht annehmen."
"Bei den Göttern, tut, was Not tut", befahl der weise Mann weise und führte das neue Paar zum nicht mehr ganz so blütenfrischen Brautgemach, das aber noch immer nach allen Wohlgerüchen Griechenlands duftete. Draußen hielt die Menge den Atem an.
"Ich habe Euch immer geliebt, schon als ich ein Kind war. Und ich habe geschworen, niemals einem anderen Mann zu gehören. Für Euch bin ich keusch geblieben. Für Euch will ich leben oder sterben, o mein Gebieter." Tränen rollten über ihr liebliches Gesicht bis auf den zarten Busen hinunter.
"Und nun könnte dein Wunsch vielleicht auf ungewöhnliche Weise in Erfüllung gehen", sagte Timon ernst, aber seine Augen hatten schon wieder zu funkeln begonnen.
Da trug sie der König auf das Prunkbett, küsste sie, entblößte sie von ihrem groben Sklavinnenkleid und es kam ein so wunderbarer, brauner Mädchenkörper zum Vorschein, dass es ihm eine riesengroße Verschwendung dünkte, das Leben dieses schönen Geschöpfes aufs Spiel zu setzen. Er zögerte das Unheil dann auch immer und immer wieder hinaus, indem er nichts tat, was ihr hätte schaden können, sondern herzte und küsste sie und streichelte jeden Zentimeter ihres bebenden Körpers. Und Daphne, in ihrer kindlichen Unschuld, tat das gleiche an ihm.
Aber nach langem, lustvollem Spiel kam dennoch die Minute, wo er, von ihrer Süße überwältigt, nicht mehr an sich halten konnte. Auch hatte er den Befehl des weisen Mannes nicht ganz vergessen.
"Versprecht mir, Herr, bei mir zu bleiben ... Ich kann mir keinen schöneren Tod vorstellen als in eurer Umarmung zu sterben und ich fürchte mich nicht. Aber haltet mich bitte ganz fest ...", sagte das Mädchen.
Nie hatte Timon die Liebe mit solcher Inbrunst vollzogen! Vielleicht war es die Nachwirkung des fremden Elixiers in seinem Körper – man weiß ja, Gift in einer gewissen Dosierung und in Verbindung mit eigenen Körpersubstanzen kann gelegentlich große, euphorische Wirkungen hervorrufen - vielleicht war der Grund seiner Gefühle aber einfach nur Daphnes Duft und ihre unsagbare Süße! Tatsache war, der König vermochte sich nicht zu erinnern, jemals so viel Lust und Begierde und gleichzeitig solch große Zärtlichkeit für eine Frau gespürt zu haben.
Immer wieder nahm er sie in seine Arme und beide konnten von der Liebe nicht genug bekommen. Es war ihm, als sei er noch nie zuvor in seinem Leben so zufrieden gewesen. Sie klammerte sich, Halt suchend, an ihn. Erst kamen verwunderte kleine Seufzer aus ihrer Kehle, dann Rufe der Lust und die Blicke ihrer brennenden, schwarzen Augen drangen tief in sein Herz.
Auf einmal bäumte sich ihr Leib wie in Krämpfen, sie stieß noch ein paar wehe, schmerzliche Laute hervor, denen ein langer, markerschütternder Schrei folgte, dann wurde sie plötzlich starr, leblos ... ihre Arme glitten von Timons Nacken ab.
"Ach, sie ist tot", rief der König entgeistert, "wie konntet ihr das zulassen, ihr grausamen Götter! Ihr habt mich gezwungen, sie umzubringen, die Zarteste, die Kostbarste von allen!"
Sein Schluchzen und Stöhnen drang aus dem offenen Gemach bis hinunter zum Meer. Auf und ab wogte die Menge ... schaudernd.
Timon aber löste sich nicht von dem erschlafften Körper, hielt das Köpfchen der Kleinen zwischen seinen Händen, küsste ihre geschlossenen Augen immer und immer wieder.
"Sie ist von mir gegangen. Ihre Liebe zu mir hat sie getötet", flüsterte er. Seine Tränen flossen reichlich auf ihr ebenmäßiges Gesicht und sein Klagen nahm kein Ende.
"Meine Einzige, meine Wunderbare", rief er, "nie werde ich von dir lassen."
Endlich drangen die Höflinge und der weise Mann zum Gemach vor. Sie fanden den König wie versteinert vor. Seine ganze Gestalt war über den lieblichen Leichnam gebreitet und selbst Worte der Vernunft vermochten ihn nicht dazu zu bringen, sich vom Körper der kleinen Sklavin zu lösen.
"Unser armer Herr hat den Verstand verloren", jammerten sie.
"Um mich zu retten, ist sie gestorben", rief er, "hat je ein Weib mehr für einen Mann getan? Ich Elender bin ihrer nicht würdig!
In meinem Herzen aber wird sie ewig leben. Ich werde sie immer lieben. Einen prunkvollen Schrein werde ich ihr erstellen lassen, aus purem Gold ... ach was ... meine Baumeister sollen ihr einen Totenpalast bauen, größer und herrlicher als die Pyramide des Cheops ... mehr noch ... ich schwöre bei Poseidon: zur GÖTTIN werde ich sie erheben, anbeten sollen sie alle künftigen Geschlechter!"
Unter diesen königlichen Beteuerungen schlug das Mädchen die nachtdunklen Augen auf. Nachdem der weise Mann festgestellt hatte, dass es nur eine Ohnmacht gewesen und die Kleine wieder wohlauf war, scheuchte Timon alle mit einer herrischen Handbewegung davon.
Er behielt die junge Sklavin von da an bei sich, Tag und Nacht, denn nicht nur gefiel sie ihm über die Maßen und er fühlte sich auf dem Zenith seines Liebesglückes ... man musste ja auch sicher herausfinden, ob alles Gift, selbst der winzigste Rest, endgültig seinen königlichen Körper verlassen hatte.
So gingen die Monate, so ging ein Jahr ins Land und ein zweites. Daphnes Schönheit und Anmut nahm ständig zu, je mehr sie sich ihrem siebzehnten Geburtstag näherte. Jedoch fing Timon an, sich etwas zu langweilen. Er suchte sein Heil in Gedanken manchmal schon in fremden Gefilden, wurde ein
wenig unaufmerksam, spürte, wie Gewohnheit, Sättigung, ja eine gewisse Gleichgültigkeit schleichend von ihm Besitz ergriffen und die heiße Glut in ihm löschten.
"Seltsam", dachte er: "nur eine tote Geliebte ist eine vollkommene Geliebte. Nur eine tote Geliebte vermag in einem Männerherzen unsterblich zu bleiben!" Daphne aber war alles andere als tot. Sie blühte wie das Leben selbst. Doch er spürte erstaunt: "Kein Glück dieser Erde ist von Dauer."
Auch hatten die Ratgeber seines Reiches nicht aufgehört, ihm Tag und Nacht ins Gewissen zu reden. Das Nachbarland wartete noch immer auf den Vollzug der Ehe mit Akira. Nicht nur war sie Timons rechtmäßig Angetraute, nicht nur war sie erhaben und stattlich anzusehen und von angenehmen Umgangsformen, die zukünftige Verschmelzung der beiden Staaten würde auch von allergrößter Bedeutung für ihre Völker sein.
"Jassu, meine kleine Perle", sagte also der König eines Morgens zu Daphne, als er wieder einmal erfrischt ihr Gemach verließ - "Jassu" das heißt: Lebe wohl, Liebste, und Adieu. Und er konnte nicht verhindern, dass sich ihm eine Träne aus den Augen stahl.
Er befahl seinen Dienern, kostbare Kleider und Geschmeide für die Kleine zu bringen, noch wertvollere, als all jene, die er ihr schon geschenkt hatte. Er ließ seine Schreiberlinge kommen, damit sie die junge Sklavin zur freien Bürgerin des Landes erklärten und er schenkte ihr ein Haus am Meer, sowie eine jährliche Zuwendung von 200 Silberdrachäen auf Lebenszeit. All das ließ er schriftlich festlegen.
Um seinem Wohlwollen die Krone aufzusetzen, verheiratete er sie bald darauf mit einem landesweit bekannten Helden und Würdenträger seines Reiches, der zwar weder jung, noch ein Adonis war und schon gar keine Leuchte des Geistes, dafür aber sein treuester Feldherr und Haudegen, dem er mehr als einen Sieg über feindliche Aggressoren verdankte.
Dann wurde die Hochzeit des Königs und der schönen Prinzessin Akira vom Nachbarland mit noch größerer Pracht und Herrlichkeit gefeiert, als beim ersten Mal. Das Volk speiste und trank, sang und tanzte acht Tage und acht Nächte lang.
Danach lebten alle glücklich bis an ihr seliges Ende und sollten sie gestorben sein, so wird diese kleine Geschichte an sie erinnern.
Tag der Veröffentlichung: 02.02.2009
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