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Prolog

 

Prolog

 

 


Was bedeutet es in einer Welt zu leben, in der der bedingungslose Ausnahmezustand herrscht? Jeden Tag an einem fremden und neuen Ort aufzuwachen, nur um einen weiteren angstvollen Tag zu überleben.


Die Frage nach dem „Wann?“ scheint unausweichlich und ständig präsent, doch die Antworten liegen begraben in einem Berg aus Schutt und Asche. Wie ein langer pechschwarzer Schatten zieht sich das „Wann?“ durch die Köpfe der noch am Lebenden und spannt sich immer enger. Immer fester. Und mit diesem einen Wort entsteht die Angst vor dem Ungewissen – vor dem Danach.
Es gibt nichts, was sie nun noch verdrängen kann. Die Frage. Das Wort. Die Angst. Nichts, was sie uns nehmen kann. Und so müssen wir damit leben. Jeden Tag aufs Neue. Und wir üben es. Wir versuchen es zu lernen. Doch immer wieder, wenn wir denken, dass wir sie besiegt haben – die Angst – dann drängt sie sich erneut in den Vordergrund. Und dann sag ich manchmal zu mir selbst: „Du musst stark sein.“ Doch innerlich weiß ich, dass ich es nicht kann. Dass ich schon aufgegeben habe. Wie die meisten von uns.

 

*

 


Ich blicke zurück auf das Vergangene. Auf den heißen Sommertag, an dem es passiert ist und an den ich mich noch gut erinnern kann. Fast so, als wäre es gestern gewesen. Als sie kamen, brannte die Sonne ihre Strahlen in die Erde. Es war extrem heiß. Niemals hätte ich zu dieser Zeit das Haus verlassen. Hier fühlte ich mich sicher. Doch unser Haus war kein Besonderes. Es war ein einfaches und schlichtes Haus. Klinker auf Klinker. In Rot. Ein dunkelblaues Dach. An schönen Tagen spiegelte es die Sonnenstrahlen wieder. Sie legten sich dann wellenförmig über unser Haus. Als ich noch klein war hatte ich dieses Phänomen der Natur für einen Zauber gehalten. „Schutzumschlag“ hatte ich es genannt und meinen Freunden stolz berichtet, die Engel würden auf uns Acht geben und uns beschützen. Doch nun war ich kein Kind mehr. Nun war ich 17. Und ich wusste, dass es diesen Zauber nicht wirklich gab. Und auch die Engel waren nicht da, um uns zu beschützen. Sie hatten nicht Acht auf uns gegeben. Wahrscheinlich hatten sie an diesem Tag beide Augen geschlossen. Denn es wurde finster Draußen, als sie kamen.

Wir saßen am Küchentisch. Zur Mittagszeit. Meine Familie und ich. Wir aßen Spaghetti mit Tomatensoße. Das Leibgericht meiner drei Jahre jüngeren Schwester. Wir hatten grinsen müssen, als mein Vater sein Gesicht verzog, während er seinen Löffel zum Mund führte. Wie er Nudeln hasste. Doch heute war Linn's Tag. Ihr Geburtstag. Ihr Todestag. Sie war 14.
Meine Mum lächelte, als die Tür aufging. Als sie kamen. Die Tür war nicht verschlossen. Sie war angelehnt, für Linn's Freundin, die eingeladen war. Doch es war nicht sie, die kam. Es waren andere. Fremde. Seltsame Gestalten. Blut durchtränkt. Voller Wahnsinn. Und dann hatte das Töten begonnen.

 

*


Zwei Jahre waren seitdem vergangen. Zwei Jahre in Angst. In Hass. In Verzweiflung. Nun lebte ich im Untergrund. Refugium nannten sie es. Ich wusste, dass sie mich gefunden hatten, kurz nachdem es passiert war. Die Männer in Schwarz. Noch immer spürte ich diese schreckliche Angst in mir. Diesen immer schneller werdenden Puls, der mit jedem Geräusch, was sich mir näherte, anstieg, während ich in meinem Kleiderschrank saß und das grauenhafte Töten hörte, was sich in meinem Haus abspielte. Ich konnte mich retten. Ich war allein. Traute mich nicht hinaus. Auch nicht, als es mucksmäuschen still war. Auch nicht, als es dunkel und wieder hell wurde. Tage schienen vergangen zu sein und dann öffneten die Männer in Schwarz meinen Schrank. Mit der grellen Taschenlampe strahlten sie in mein Gesicht und für einen Moment dachte ich, ich müsse erblinden. Doch dann erkannte ich sie. Und sie nahmen mich mit in den Untergrund. In das Refugium. Und seitdem lebte ich hier. Jeden Tag. Und ich sah noch immer meinen Vater, wie er sein Gesicht verzog, weil er Nudeln doch so sehr hasste. Ich sah ihn jeden Tag.



1. Kapitel



1. Kapitel

 

 


„Hey kleiner Phenix.“, ertönte es hinter mir.
Sofort erkannte ich die Stimme. Es war Van. Er war knapp ein Jahr älter und schon um einiges länger im Refugium als ich es war. Ich mochte ihn. Das war nicht immer so gewesen. Als ich her kam, hatten sie mich auf eine Krankenstation gebracht. Sie hatten mich untersucht und gaben mir Medikamente und Impfstoffe, gegen die Gifte, die Draußen in der Luft lagen. Ich hatte das damals nicht verstanden und mich heftig gewehrt. Durch die Glasscheibe starrte dann Van zu mir herein. Seine kühlen blauen Augen und sein vernarbtes Gesicht hatten mir gesagt, dass auch er viel erlebt hatte. Einzig und allein war es sein Anblick, der mich beruhigt hatte, obwohl er mit einigen Jungs grinsend an der Scheibe stand und lauthals darüber lachte, wie ich mich wehrte. Doch er war die Person, der sie mich zugeteilt hatten. Er wurde mein Vertrauter. Mein Partner. Und ich lernte, mich in seiner Gegenwart wohl zu fühlen. Dennoch hasste ich es, wenn er mich „Phenix“ nannte. Und er wusste das. Phenix, nannten sie mich, weil sie mein Überleben für ein Wunder hielten. Phönix. Meine Vergangenheit verfolgte mich immer aufs Neue. Sogar mein Name, der nicht einmal mein Name war.
„Okay, Okay.“ Van grinste frech. Dieses Grinsen stand ihm. Es zeichnete seine leichten Grübchen auf seinen Wangen ab, die er immer hatte, wenn er lächelte. Und irgendwie ließ es die ganzen Narben in seinem Gesicht verblassen. Er wuschelte sich durch sein zerzaustes braunes Haar.
„Heute ist dein großer Tag, Pheo.“ Der Name Pheo war erträglicher für mich und ich akzeptierte es, wenn man mich so nannte. Das musste ich. Denn ich wusste nicht mehr, wie ich wirklich hieß.
„Mein Tag?“, ich musste schmunzeln, während ich weiter lief. Van folgte mir. Das Refugium war riesig und ich musste mich beeilen, wenn ich an meinem großen Tag, wie es Van nannte, nicht zu spät kommen wollte. Wir liefen vorbei an einem der vielen unterirdischen Höhleneingänge, die zu den Wohnungen der höher gesinnten führten. Normalos wie wir, lebten in einfachen engen Räumen, die wir uns zum Teil sogar noch mit zwei bis drei weiteren Bewohnern teilen mussten. Es gab nicht viel, wo ich im Refugium hätte hingehen können, da die meisten Bereiche für uns Normalos nicht zugänglich waren. So manches Mal genügte es mir, einfach aufzustehen, meine unbequeme und durch gelegene Matratze zu verlassen und einfach herum zu laufen. Nur laufen. Hin und her. Nur, damit ich diese kleine, enge Kammer, die sie mein Zimmer nannten, nicht mehr sehen brauchte und mich nicht mehr wie eingesperrt fühlen musste, denn das war ich. Eingesperrt. Seit sie mich hergebracht hatten. Die Männer in Schwarz. Sie waren nicht nur meine Retter, sondern auch meine Aufpasser. Meine Kontrolleure. Sie überwachten jeden meiner Schritte. Meine Wärter. Und es stand mir nicht zu, diesen Ort zu verlassen. Keinem von uns, denn Draußen lauerte der Tod.
„Guck nicht so grimmig.“, meine Van. „Du solltest dich freuen endlich aus diesem Loch raus zu kommen.“
Recht hatte er. Zumindest etwas. Nach dem heutigen Tag – mit dem Abschluss der Weihe – war ich kein Normalo mehr. Ich war höher gestellt und gehörte zur Gemeinschaft. Ich würde umziehen. In das Trainingscamp. Und dort würden sie mich vorbereiten auf das, was Draußen lauerte. Auf den Tod.
„Wir können uns dann öfter sehen. Es ist nicht einfach sich jedes Mal an den Kontrolleuren vorbei zu schmuggeln.“ Van grinste noch immer und ich wünschte mir, er würde das endlich sein lassen. Irgendwie war mir gerade so gar nicht nach gute Laune zumute. Er piekste mich in die Seite. „Lach doch mal.“
„Lass mich.“, motzte ich. Und er ließ mich.
Schweigend liefen wir nun durch das Refugium. Kaum vorstellbar, dass ein sicheres Leben nur noch unter der Erde möglich war. Unser Planet – Zerox – war belagert von Zombie ähnlichen Kreaturen, die wir den Namen Verlorene gaben. Eines Tages waren sie einfach aufgekreuzt und noch heute wusste man nicht woher sie kamen und warum es sie gab. Aber man wusste, dass sie sich vermehrten, dass sie töteten und dass sie alles, was sie töteten, zu einem der ihren machten. Ich kniff meine Augen zusammen bei dem Gedanken, dass meine Familie nun vielleicht zu ihnen gehörte. Zu diesen Monstern, die genauso aussahen, wie Menschen, aber keine waren.
„Tut es weh?“, fragte ich dann, um meine drängenden Gedanken zu vertreiben.
„Was?“ Van folgte mir noch immer. Knapp einen Schritt hinter mir, obwohl der Gang so breit war, dass locker drei Personen ohne Probleme nebeneinander her laufen könnten.
„Die Weihe.“
Van zögerte. „Nein.“, sagte er dann.
Ich blieb stehen. Van auch. Ziemlich abrupt, denn er wäre beinah in mich rein gelaufen.
„Na gut.“, sagte er. „Etwas.“
Ich sah ihn ernst an. Sein Gesicht wirkte ziemlich angespannt. Lügen konnte er echt nicht gut.
„Sie geben sich echt Mühe, dass man nicht so viel merkt, aber die Medikamente sind eben begrenzt und die Betäubungen behalten sie halt für...“ er machte eine Pause „Naja, du weißt schon.“ Ich seufzte. Ja, ich wusste worauf er hinaus wollte. Natürlich behielten sie die Medikamente und Betäubungen für extreme Notfälle auf, denn es war Krieg. Und im Krieg bestand die oberste Priorität darin, die wichtigsten und nützlichsten Personen zu versorgen und zu denen gehörte nicht ich. Ich nickte stumm und Van's Gesichtsausdruck wurde etwas sanfter, dennoch wirkte er ziemlich angespannt. Viel mehr, als ich es war.
„Es dauert nicht lange. Sie pflanzen dir so'n Ding ein, machen ein paar Untersuchungen, geben dir irgendwelche Mittel, wovon du müde wirst. Dann kannst du dich ausruhen und bald darauf darfst du auch schon wieder gehen.“
„Klingt gut.“, antwortete ich, so überzeugend, wie ich nur konnte. Untersuchungen hatte ich, seit ich hier war, zu genüge erlebt und müde machte mich dieser Ort ohnehin schon. Dafür brauchte ich gar keine Mittel als Unterstützung. Das einzige, was in mir ein beklemmendes Gefühl auslöste, war dieses Ding, was sie mir einpflanzen wollten. Das Ding, was ich nicht kannte. Doch irgendwie wagte ich es nicht, genauer nachzufragen, denn ich befürchtete, dass ich mich wieder heftig wehren könnte und es dann noch mehr weh tun würde. Ich wusste, dass ich die Weihe über mich ergehen lassen musste, denn das war ich ihnen schuldig. So stand es im Vertrag, den ich mit meiner Rettung besiegelt hatte. Nun war mein Tag. Und dieser ganz besondere Tag der Weihe kam nicht für jeden Normalo. Einige würden niemals dazu gehören. Wer das entschied, wusste ich nicht. Aber ich wusste, dass ich mit dem Leben zahlen musste, wenn ich mich weigern würde. Nun hatte ich die Chance auf eine Waffenausbildung, auf Überlebenstipps, auf eine bessere Unterkunft und Informationen. Ich würde ein Teil der Gesellschaft werden. Kein Normalo mehr sein. Ich hatte die Erlaubnis weiter zu leben.
„Begleitest du mich?“, wollte ich wissen. Wir waren schon wieder einige Zeit gelaufen und hatten nun die ganzen Höhleneingänge hinter uns gelassen. In dieser Ecke des Refugiums war ich nur zu Kontrolluntersuchungen, die einmal die Woche stattfanden. Dann gaben sie mir einen Impfschutz, gegen sämtliche Seuchen, die unseren verschmutzten Planeten bereits befallen hatten. Manchmal fragte ich mich, ob diese Impfungen im Ernstfall tatsächlich halfen, oder ob sie nur zur Beruhigung dienten und uns vermitteln sollten, dass die Wärter alles unter Kontrolle hatten. Das gelbe Licht schien von der kalten, braunen Höhlendecke auf uns hinunter. In diesem schmalen Gang wirkte es immer wie in einem alten Bergwerk. Wären da nicht die hohen Krankenhausbetten, die sie links und rechts im Gang abgestellt hatten und die lange Glasscheibe, durch die man von Außen in eines der vielen Untersuchungszimmer hinein gucken konnte und durch die Van sich damals so sehr über mich lustig gemacht hatte. Privatsphäre gab es hier kaum. Und ganz besonders nicht, wenn man neu war.
„Sie bringen dich in einen anderen Raum.“, sagte Van, als wir vor der Tür zum Stehen kamen. Ich sah ihn an. Er legte mir eine Hand auf die Schulter. Wahrscheinlich, weil er meine Anspannung genau erkennen konnte. „Sie werden mich nicht mit rein lassen. Aber ich weiß, dass du das schaffst. Komm bloß nicht auf die Idee abzuhauen. Du hast nur diese eine Chance.“ Sein Blick war noch ernster als zuvor. „Versprich es mir, okay?“
„Versprochen.“

 

*


Nachdem ich die Glastür hinter mir geschlossen hatte, stach mir sofort der strenge Chemie Geruch in die Nase. Hinter der Glasscheibe verbargen sich nämlich nicht nur die Untersuchungsräume, sondern auch die Labore, die die ganz Hohen nutzten. Und obwohl die Laborräume mit gewaltigen und massiven Toren verriegelt waren, bahnten sich die brennenden Gerüche dennoch ihre Wege in die umliegenden Zimmer. 
„Hallo Pheo.“, sagte Cid, als ich mich ihm näherte. Cid war der junge Chefarzt, der die Untersuchungen der Normalos durchführte. Er war auch der, der bei meiner Erstuntersuchung Verstärkung gerufen hatte, weil er es nicht geschafft hatte, mich alleine zu beruhigen. Seitdem war bei meinen Untersuchungen stets eine Assistenzärztin dabei. Cely. Die mochte ich gar nicht. Ihr spitzes Kinn und ihre blonden, zurück gesteckten Haare ließen sie irgendwie immer richtig streng wirken. Cely war von schmaler Statur, aber ziemlich brutal. Wenn sie mir die Spritze gab, dann achtete sie nie darauf, wo sie traf. Manchmal hatte ich das Gefühl, ihr machte es Spaß Normalos zu piesaken. Vielleicht genoss sie es aber auch einfach nur die Kontrolle über Jemanden zu besitzen. 
Cid bemerkte meinen nervösen Gesichtsausdruck, den ich durch das Untersuchungszimmer huschen ließ. Außer einem großen leeren Bett, sauber eingeräumten Schränken und dem Waschbecken in der hintersten Ecke, war der Raum so gut wie leer.
„Cely ist nicht da.“, sagte Cid. Er lächelte. Sein weißer Arztkittel ließ ihn irgendwie alt wirken, obwohl er noch gar nicht so alt war. Mitte zwanzig vielleicht. „Ich bring dich nur rüber, dann bin ich auch weg.“, sagte er. „Hab heute meinen freien Tag.“
Mir lief es kalt den Rücken runter, nachdem er die Worte ausgesprochen hatte. Untersuchungen mochte ich ja generell nicht, aber seit ich im Refugium war, war es immer Cid gewesen, der mich behandelt hatte. Er war seit zwei Jahren mein sogenannter Arzt des Vertrauens. Es schauderte mich, wenn ich daran dachte, mir von Jemand Fremdes ein „Ding“ einpflanzen zu lassen. Und für einen kurzen Moment überlegte ich tatsächlich, auf dem Absatz kehrt zu machen und so schnell wie möglich wieder zu verschwinden, doch dann erinnerte ich mich an Van, wie er sich streng vor mir aufbaute und mit ernster Stimme sagte: „Du hast nur eine Chance. Versprich es mir, okay?“ Und ich flüsterte: „Versprochen.“, während ich Cid in den nächsten Raum folgte. „Hast du was gesagt?“, fragte dieser, doch ich antwortete nicht.



*



„Du brauchst keine Angst zu haben.“, sagte der seltsam aussehende alte Mann mit Hornbrille, der mich irgendwie an einen zerstreuten Professor erinnerte, während ich auf einem hohen Rollbett lag, und er grinsend zu mir runter starrte. Die Decke war so weiß wie Schnee. Genauso, wie das grelle Flutlicht, das mir in den Augen brannte und das Dr. Erest, so hatte er sich vorgestellt, direkt über mein Bett platziert hatte. Wahrscheinlich dachte er, es würde meine Sehkraft so stark einschränken, dass ich nicht mitbekam, was er dort vorbereitete. Aber er irrte sich. Seit dem Angriff der Taschenlampe in meinem Kleiderschrank vor zwei Jahren, waren meine Augen beinah wie immun. Seitdem konnte ich sowohl bei Tag, als auch bei Nacht um einiges besser sehen als zuvor. Wenn ich Nachts heimlich durch das Refugium schlich, um mich mit Van zu treffen, weil er tagsüber als Höhergestellter nicht die Möglichkeit gehabt hatte, seine Besuchszeit bei den Normalos, wie mir, einzulösen, nutzte ich oft meinen heimlich genannten „magischen Blick“, um nicht entdeckt zu werden. Das ein oder andere Mal hatten uns meine verschärften Augen schon großen Ärger erspart, denn das Verlassen der eigenen Zimmer war bei Nacht streng untersagt. Davon ganz abgesehen war es ein Rätsel für mich, wie die Höhergestellten überhaupt wissen konnten, wann Tag und wann Nacht war. Wir Normalos wussten das nicht. Wir lebten einfach nur mit und befolgten Anweisungen. Wenn der Gong schlug, wussten wir, dass es Nacht war. Schlug er noch einmal, so war ein neuer Tag angebrochen. In wieweit das alles der Wahrheit entsprach wussten nur die Höhergestellten, doch jeglicher Austausch an Informationen mit den Normalos war selbst ihnen untersagt. Und jeder hielt sich daran. Auch Van. 
Dr. Erest stand nicht weit entfernt von mir an einem Tisch. Er mischte mit einem dünnen länglichen Stab eine bräunliche Flüssigkeit in ein gelbes Gelee. Die eklige Substanz die daraus entstand, sah ziemlich ungesund aus und bei jeder weiteren Rührung wurde sie anscheinend immer zäher und klebriger, bis sie sich kaum noch von dem Stab zu lösen schien. Ich konnte nur hoffen, dass das widerliche Zeug nicht für mich gedacht war. Nach einer Weile stellte er das Glas zurück auf den Tisch. Dann fing er an mit seinen knochigen Fingern in einer Schublade zu wühlen, bis er ein kleines, viereckiges elektronisches Gerät mit zwei Drähten in der Hand hielt. Er drückte auf einen Knopf und es piepte. 
„Wollen Sie mir nicht sagen was Sie da machen?“, fragte ich leicht verunsichert.
„Keine Fragen.“, kam als Antwort. Das verunsicherte mich noch mehr. Dr. Erest schien das zu erkennen. Er hatte sich nun zu mir gedreht und ließ das elektronische Gerät in dem Glas mit dem klebrigen Gelee versinken, das er nun in seinen Händen hielt. „Ich mache das nicht zum ersten Mal.“, sagte er. Wahrscheinlich dachte er, diese Aussage würde mich beruhigen. Irrtum. Mein Panik-O-Meter stieg gerade in die roten Zahlen; Und die blinkten bedrohlich vor Angst. 
„Dennoch wüsste ich gerne, was Sie-“, versuchte ich noch einmal, doch der zerstreute Professor war ein harter Brocken. 
„Wissen“, sagte er leicht genervt. „Wissen wollen sie alles und am Ende nützt es ihnen doch nichts.“
Ich war durcheinander und das lag nicht nur an dem elektronischem Gerät, das plötzlich aufgehört hatte zu piepen und von dem ich nun ziemlich sicher war, dass es bald ein Teil von mir sein würde. 
„Was meinen Sie?“
„Was ich meine?“ Der alte Mann lachte. Irgendwie erinnerte er mich an eine Horrorfilm Gestalt. Sicher besaß er hier irgendwo im Refugium eine extra Leichenhalle, in der er mörderische Experimente an den Normalos durchführte, die diesen Eingriff nicht überlebt hatten. Ich musste schlucken. Sollte ich versuchen zu fliehen und sterben, oder sollte ich liegen bleiben und sterben? Van lebte noch. Das war ein gutes Zeichen, oder? 
„Du machst dir zu viele Gedanken, mein Kind.“ 
Er stellte das Glas mit dem glibbrigen Zeug direkt neben meinem Bett auf einem kleinen Beistelltisch ab, dann drückte er mich zurück auf die harte Liege und brachte das Licht erneut in Position. „Ich habe nichts von Aufrichten gesagt.“, meckerte er. Dann betätigte er einen kurzen Hebel, der sich auf dem Bedienpult auf dem kleinen Rolltisch befand, und mit dem nächsten Wimpernschlag schossen stramme Handfesseln um sämtliche Gelenke, die mein Körper besaß. Sie zogen sich immer fester, während ich mit dem Gedanken spielte, dass sie bald meine Knochen durchtrennen würden, doch als der Widerstand zu stark wurde, hörte das Ziehen auf und die Fesseln verharrten fortan in ihrer strammen Position. 
„Ist nur zu deinem Besten, Kind.“, meinte Dr. Erest, als ich meinen Mund öffnete, um lautstark zu protestieren. „Du musst da irgendwie so durch. Man verweigert uns die Betäubungsmittel für die Normalos. Aber ein Phönix kann ja nicht sterben.“
Ich wusste nicht genau was ich darauf antworten sollte, oder ob Dr. Erest überhaupt eine Antwort erwartete, jedenfalls war ich zu erschrocken, um im nächsten Moment die richtigen Worte zu finden und diese auch noch in sinngemäße Sätze zu formen, daher stotterte ich nur vollkommen verwirrt irgendwelche Bruchstücke, die mir gerade in den Sinn kamen. Dr. Erest ignorierte das. Seine Aufmerksamkeit galt mal wieder zu 100 Prozent dem glibbrigen Behälter, aus dem er nun das schleimige Gerät zog. Es erinnerte mich irgendwie an Wackelpudding.
Ein spitzes, scharfes Messer mit schmaler Klinge glänzte im grellen Licht der Lampe und für einen Moment wünschte ich mir, ich würde meine Sehkraft doch noch verlieren. Während Dr. Erest sich über mich lehnte, meinen Kopf zur Seite drückte und mit der Klinge meinen Nacken berührte, hörte ich noch seine letzten Worte, die voller Wahnsinn sagten: „Dir, kleiner Phönix, gebe ich ein ganz Besonderes.“
Dann wurde es dunkel.

 

2. Kapitel

2. Kapitel


Grausame Schmerzen und meine eigenen Schreie, waren das Letzte, was ich vor meiner Bewusstlosigkeit wahrgenommen hatte. Sie waren es, die mich dazu getrieben hatten, die Augen zu schließen und zu hoffen, dass alles bald ein Ende finden würde - doch dann wachte ich auf. Ich war nicht mehr dort, wo ich mich zuletzt befunden hatte. Das nervige grelle Deckenlicht war verschwunden. Nun schien ein warmes, freundliches Licht in meine Augen, die noch so sehr brannten. Sie fühlten sich schwer an, als ich zu mir kam. Mein Kopf pochte, als ich mich zur Seite neigte, um den Raum besser sehen zu können, in dem ich mich befand. Rechts neben dem Bett hing ein großes Bild an der sandsteinfarbenen Wand. Es zeigte unseren Planeten Zerox zu seiner Blütezeit. Eine Zeit, die wir nie wieder erleben würden. Die Blütezeit war die schönste Zeit im Jahr. Jeder Baum, jede Blume, jeder noch so kleine Halm erstrahlte für ein paar Stunden in seinem kompletten Glanz. Es gab nur diese wenigen Stunden, in denen ganz Zerox strahlte. Ein Farbenspiel des Lichts, das nun erloschen war, denn unser Planet begann zu sterben. Die Blüten waren nicht mehr bunt und freundlich, sie waren vertrocknet und gefährlich für uns, denn ihre Giftstoffe konnten uns töten – so sagte Van.


„Du bist aufgewacht.“, ertönte seine Stimme aus der anderen Richtung des Raumes. Wieder pochte mir den Kopf, als ich ihn bewegte. „Du hast Ewigkeiten geschlafen. Alle haben sich große Sorgen gemacht.“
„Wie lange?“, wollte ich wissen. Es kam mir vor, als wäre kaum Zeit vergangen, seit Dr. Erest die Operation durchgeführt hatte.
„5 Tage waren es bestimmt.“
Van stand nun direkt neben meinem Bett und sah mir ins Gesicht, als wollte er prüfen, ob ich noch vollständig war. „Und, alles noch dran?“, fragte ich scherzhaft. Er grinste zurück. „Das hoffe ich doch.“, sagte er, klang dabei aber gelassener als ich es war.
„Was genau haben sie eigentlich mit mir gemacht?“
„Ich werde es dir erklären.“, versicherte er mir, „Aber nun möchte ich dir gerne die andere Seite vom Refugium zeigen. Kannst du aufstehen?“
Ich war mir nicht sicher, versuchte es aber. Und mit seiner Hilfe gelang es auch. Meine Beine fühlten sich weniger wackelig an, als ich es gedacht hatte. Seltsamerweise fand ich ziemlich schnell Halt mit meinem Körper. Das einzige, was sich einfach nicht verdrängen ließ, waren diese lästigen Schmerzen in meinem Kopf, die mich bei jeder Bewegung daran erinnerten, dass man mir einen fremden Gegenstand eingepflanzt hatte.


Beim Verlassen des Raumes viel mir direkt auf, dass wir uns nicht mehr in der untersten Etage des Refugiums befanden. Wir waren tatsächlich „höhergestellt“. Der Boden bestand aus einer riesigen Glasscheibe, die sich endlos weit durch das Refugium erstreckte. Beim genauen Hinsehen konnte ich erkennen, was sich unterhalb dieser Scheibe abspielte. Eine Frau begleitete ihr Kind zur eingerichteten Kinderbetreuung. Eine andere Frau stand am Eingang eines bunt bemalten Raumes. Sie begrüßte die Mutter mit dem Kind und nahm das kleine Mädchen in Empfang. Die Mutter winkte, bevor sie sich umdrehte und in die selbe Richtung zurück ging, aus der sie gekommen war. Das Kind wirkte entspannt. Es freute sich auf seine Spielkameraden und rannte direkt auf eine Gruppe Gleichaltriger zu.
Van und ich gingen weiter. Während wir über die Glasscheibe liefen, beobachtete ich viele Menschen. Ich sah ältere Damen hart arbeiten. Sah, wie sie den Boden der Bewohnerzimmer schrubbten, damit das Refugium sauber blieb. Ich sah einen Mann, der einem anderen die Hand gab, ehe sie sich aufgeregt etwas erzählten. Vor den Ärztezimmern tummelten sich Menschenschlangen, die auf ihre neuen Impfungen warteten. Das Aufnahmezimmer des Refugiums war leer. Seit einem Jahr, waren kaum neue Leute zu uns gestoßen. Im Vertrauen hatte Van mir mal erzählt, dass es Draußen – an der Oberfläche – wie wir sie nannten, kaum noch Lebende gab. Alle Überlebenden wurden gerettet und ins Refugium gebracht. Der Vertrag mit diesem Ort, war die einzige Chance, wenn man am Leben bleiben wollte – auch dann, wenn man seinen Nutzen, dem Refugium zugestehen musste und man fortan ein überwachtes Leben führte. Freiheit gab es hier nicht mehr. Freiheit war nur noch ein fremdes Wort für uns.


In der Küche, unter mir, schrie ein Mann. Obwohl uns mehrere Meter und die dicke Glasscheibe voneinander trennten, konnte ich seine Stimme deutlich in meinem Kopf hören. „Komm sofort zurück!“, schrie er aufgebracht, während er sich weit über den Verkaufstresen lehnte. Sofort kamen drei Wachleute angeschnellt. Sie trugen eine schwarze, lederne Uniform. Ihre Köpfe waren geschützt durch dicke Helme. Eine schmale ebenso schwarze Scheibe glänzte vor ihren Augen, dennoch konnte ich sie genau erkennen. Konnte bis in ihre Augen sehen.
„Er hat es einfach mitgenommen.“, stammelte der Mitarbeiter hinter dem Tresen. Er wirkte nun sehr nervös – nahezu ängstlich, vor den Wachleuten. „Ohne zu bezahlen.“, fügte er noch schnell hinzu.
Die drei Wachleute folgten dem Dieb. Sie waren unnatürlich schnell. Und in ihrer Geschwindigkeit hatten sie ihn bald eingeholt. Der Dieb hatte sich unter der Bank einer kleinen Kapelle versteckt. Wahrscheinlich hoffte er darauf, dass sie ihm im Gotteshaus verzeihen würden. Die Wachen hatten ihn schnell entdeckt. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, ehe der erste der Wachen einen Schlagstock gezogen hatte und dem vollkommen wehrlosen Mann heftige Hiebe versetzte, bis dieser regungslos am Boden liegen blieb. Immer wieder hatte er gerufen. „Das ist für meine Kinder.“ Er hatte gefleht und gebettelt, geschrien so laut er konnte, doch die Leute, die ihn sahen, weil die Kapellentür weit geöffnet stand, gingen einfach vorbei. Niemand traute sich zu helfen. Keiner der Bewohner wagte es zwischen einem Normalo und den Wachen zu treten. Und so blieb jede Träne, die der Dieb vergossen hatte ungesehen. Jedes Wort, dass er sprach, blieb ungehört – denn hier, im Refugium, besaß man keine Freiheit mehr. Keine Rechte.


„Sie haben uns beobachtet.“, sagte ich, noch immer vollkommen schockiert, was sich unter mir abspielte. Schockiert darüber, wie sie den bewusstlosen Mann nun abführten. Und Niemand der Bewohner wusste wohin sie ihn brachten und ob sie ihn jemals wieder sehen würden. Seine Kinder würden hungrig auf ihn warten. Nicht wissend, wo ihr Vater war.
„Jeden Tag.“, antwortete Van. „Jeden Schritt.“


Van legte seine Hand auf meine Schulter. „Komm.“, sagte er. Und ich folgte ihm, während ich noch immer die Stimme des verzweifelten Vaters in meinem Kopf schreien hörte.
„Was geht hier eigentlich vor sich?“, fragte ich nach einiger Zeit des stillschweigendem Umherlaufens. Derweil waren wir an den verschiedensten Gebäuden vorbei gekommen. Es gab komplett eingerichtete Häuser, wie ich sie von außerhalb her kannte. An einigen Häusern waren Fensterläden angebracht, sodass man sich unbeobachtet zurück ziehen konnte. Auf einem kleinem Markt priesen ein paar Händler vom Refugium ihre Waren an. Van erzählte mir, dass es eine richtige Währung gab. Die Währung nannten sie Yill. Höhergestellte bekamen für besondere Aufträge etwas Geld, das sie hier ausgeben konnten. Zusätzlich zur vorgesehen Tagesration, konnte man sich so zum Beispiel mehr Nahrung verschaffen. Essen für längere Zeit aufzubewahren war jedoch verboten, unten genauso wie hier oben, denn Lebensmittel waren in dieser Zeit sehr rar. Van erzählte mir, dass die Jäger manchmal besondere Dinge von Außerhalb mitbrachten. Es gab großen Ärger, wenn diese entdeckt wurden, da sie für uns tödlich sein konnten. Hohe Strafen, bis zur Verbannung, konnten die Folge sein.
„Im Grunde genommen ist dieser Markt auch nur ein Mittel zum Zweck.“, meinte Van. „Die Menschen hier bekommen das was sie brauchen, um sie bei Laune zu halten, damit das strenge System hier oben funktioniert. Sie geben ihnen ein paar mehr Freiheiten und sagen, sie seien etwas besonderes, damit sie Aufgaben erledigen und draußen ihr Leben riskieren.“ Van musterte mich stark. Wahrscheinlich wollte er sich vergewissern, ob ich ihm nach all den neuen Eindrücken noch immer zuhörte.
„Mir wäre es lieber gewesen, sie hätten dich unten gelassen.“
„Was?“ Hatte er das gerade wirklich gesagt? „Vor ein paar Tagen hast du aber noch anders gedacht.“, entgegnete ich geschickt, ohne mir anmerken zu lassen, wie sehr mich Van's Kommentar aus der Fassung gebracht hatte.
„Da haben sie uns auch ständig überwacht.“ Er starrte mich noch immer ziemlich ernst an. „Komm. Wir sollten die Tour bald beenden. Ich muss noch etwas erledigen und für dich beginnt morgen dein Training, bevor du mit auf eine Mission gehen darfst.“
Van führte mich durch mehrere Gänge. Verschiedene Schilder hingen an den Wänden. Marktplatz, Gemeinschaftssaal, Großküche, waren nur einige wenige Wörter, die ich im vorbei gehen aufschnappen konnte. Obwohl wir uns noch immer unter der Erde befanden, erinnerte die obere Etage des Refugiums so gar nicht an eine Höhle. Kaum Vorstellbar, dass wir uns noch immer unter der Erde befanden. Das Einzige, was in der Lage war den Schein trügen zu lassen, war die Tatsache daran, dass es natürlich auch hier, kein wirkliches Grün gab. Hier und da hatten sie künstlichen Rasen, sowie künstliche Pflanzen aufgestellt. Auf einem großen Platz plätscherte ein beeindruckender weißer Brunnen. Das Wasser wirkte befremdlich, aber täuschend echt. Von irgendwo her zwitscherten ganz leise ein paar Vögel, die gar nicht da waren. In der Ferne hörte ich ein Kind lachen und fragte mich, was ein Kind bei den Höhergestellten machte, bis Van diesen Irrsinn auflöste, indem er mir einen Lautsprecher zwischen den Grünanlagen zeigte. Auch der strahlend blaue Himmel, entpuppte sich selbstverständlich als eine optische Täuschung, die sie mit technischen Möglichkeiten irgendwie an die Höhlendecke projiziert hatten.


Nach einiger Zeit kamen wir an ein Gebäude, das einem Reihenhaus ähnelte. Es war eines von diesen typischen Häusern mit Fensterläden zum Schließen. In braun. Aus Holz. Das Dach des Gebäudes verlor sich irgendwo in der Höhlenwand. Hier hatte man nicht darauf geachtet, dass alles möglichst echt aussah. Der Boden war schon lange keine Glasscheibe mehr. Der typische Höhlenboden war hier deutlich erkennbar. „Wohnheim für Mädchen“ stand auf einem Schild, das neben der Eingangstür befestigt war. „Weiter darf ich nicht.“, meinte Van gelassen. „Geh rein. Sie wissen das du kommst.“ Dann ging er in die Richtung davon, aus der wir gekommen waren. „Wir sehen uns morgen!“, rief er noch – dann war er aus meinem Sichtfeld verschwunden.

 

 

*


Ich sah mich im Eingangsbereich des Wohnheimes um. Vor mir eröffnete sich ein weitaus größerer Raum, als ich gedacht hatte. Hinter der schmalen Holzfassade des Hauses schien es tief in das Höhleninnere hinein zu gehen. Ein dunkle, schmale Steintreppe führte zu meiner rechten in die obere Etage. Darüber schien eine weitere Etage zu sein, und vielleicht sogar noch eine – das war für mich jedoch nicht eindeutig erkennbar. Hinter dem Empfangstresen stand ein sehr unübersichtliches und wirklich erschreckend hohes Bücherregal. Eine klapprige Holzleiter lehnte an ihm und für einen Moment stellte ich mir die Frage, welche Person so mutig war an ihr hoch zu klettern. Abgelenkt wurde ich von einer Gruppe Mädchen, die in etwa mein Alter hatten. Sie unterhielten sich laut, während sie in aller Eile an mir vorbei schnellten. Ehe ich auch nur eine von ihnen hätte ansprechen können, waren sie auch schon in einem großen Raum zu meiner Linken verschwunden, der sich als Essensaal entpuppte. Einen kurzen Moment später hörte ich Stühle über den Boden scharen und Geschirr klirren, während ich noch immer vollkommen orientierungslos im Eingangsbereich auf die Person wartete, die angeblich Bescheid wusste, dass ich komme.
„Abbey, Bailey, Clea, Elisa, Ella“ Ich las die Namen auf den Ordnern hinter dem Tresen. Jedes Mädchen musste hier seine eigene Akte haben, in der alles sorgfältig dokumentiert wurde. Sie waren alphabetisch sortiert. Ob mein Name dort auch bald zu lesen war?
Ich war bei „Samantha“ angekommen, als ich Jemanden die Treppe hinunter kommen hörte. Es waren Stöckelschuhe, die auf den kalten Stein schlugen, die mich aus meinem Zeitvertreib gerissen hatten.
„Da bist du ja.“, sagte die große, schmale Frau mit den Stöckelschuhen, als sie direkt vor mir stand. Sie war bestimmt eineinhalb Köpfe größer als ich und es war für mich schwer zu erkennen ob dies an ihren hohen Absätzen lag – wobei ich selber auch nicht wirklich besonders groß geraten war. Schon damals in der Schule zählte ich in meinem Freundeskreis immer zu den Kleinsten unter den Mädchen. Das hätte sich bis heute bestimmt nicht geändert, wenn sie noch da wären.
„Du bist also Pheo, ja?“ Sie musterte mich näher, während ihre Augen an meinen Armen hängen blieben. „Besonders kräftig siehst du ja nicht aus.“ Nun sah sie mir direkt in die Augen. Ihre zarten Lippen presste sie so schmal zusammen, dass nur noch ein dünner Strich erkennbar war, mit dem sie ein Lächeln formte. „Keine Sorge. Dich bekommen wir schon aufgepäppelt.“, meinte sie und lachte dabei ziemlich gekünstelt. Mit einer wilden Handbewegung deutete sie darauf hin das ich ihr folgen sollte. Also tat ich dies. Noch ehe wir die Treppe erreicht hatten, sprach sie weiter: „Du kannst mich Smilla nennen. Ich stehe unter der Vorsitzenden für das Mädchen-Wohnheim. Frau Kabey hat oft viel zu tun. Du wirst sie wahrscheinlich nur selten antreffen.“ Smilla blieb auf der Hälfte der Treppe stehen und zwinkerte mir zu, ehe sie weiter lief. „Sie ist aber stets informiert was in ihren Reihen passiert. Ihr macht man so schnell nichts vor.“
Smilla hatte dünnes, helles Haar, welches sie zu einem Dutt hochgesteckt hatte. Eine von diesen unechten Blumen, die man auf den ersten Blick als künstlich erkannte, zierte ihr breites, dunkelblaues Haarband. Sie trug ein fein säuberlichen Blazer mit einem faltenfreien, knielangen Rock – ebenfalls in dunkelblau. Alles an ihr war perfekt aufeinander abgestimmt. So mussten die Damen in den strengen Mädchen-Wohnheimen an der Oberfläche ausgesehen haben, wie man sie aus den alten Spielfilmen kannte und ich fragte mich, ob auch Smilla eine von diesen strengen Damen war. „Dein Zimmer befindet sich in der zweiten Etage. Du hast sogar ein eigenes Bad. Das haben nicht viele. Das hast du Cid zu verdanken. Er hat ein gutes Wort für dich eingelegt.“ Auch wenn es sich momentan nicht so anfühlte, vielleicht würde ich ihm irgendwann einmal tatsächlich dafür dankbar sein.
Mein Zimmer war das mit der Nummer 13. Messingfarbene Ziffern glänzten auf der hölzernen Tür. An der Wand war ein kleines Namensschild angebracht. „Pheo“ war hier in schwarzen Druckbuchstaben niedergeschrieben. Smilla drückte mir einen silberfarbenen, feinen Schlüssel in die Hand. „Abendessen gibt es um achtzehn Uhr. Das Frühstück beginnt um sechs. Du solltest pünktlich sein. In deinem Zimmer steht ein Wecker.“ Sie redete einfach weiter. „Ein zweites Frühstück gibt es nicht, also verschlaf nicht.“ Lautes Getrappel. Die Mädchenhorde kam die Treppe hinauf gestürmt. „Nicht so schnell, junge Damen.“, ermahnte Smilla sie im Vorbeigehen, dann wandte sie sich aber auch schon wieder mir zu und erzählte irgendetwas von einem Arzttermin um zehn Uhr, einer Einführung um zwölf Uhr und einer Samantha, an die ich mich bei Fragen wenden sollte. Als in mir das Gefühl aufkam, dass mir von Smilla's Gerede bald der Kopf explodieren würde, verabschiedete sie sich endlich von mir und ließ mich, mit dem silbernen Zimmerschlüssel in der Hand, alleine im Gang stehen.
Ich öffnete die Tür.


Es gab ein Bett mit einer strahlend weißen Bettdecke. Nicht wintergrau, so wie die bei den Normalos. Es war keine kleine Kammer, die man sich mit anderen Bewohnern teilen musste, sondern ein komplett eingerichtetes Zimmer mit einem Nachttisch, auf dem sich der besagte Wecker befand, und einem großen Kleiderschrank mit runden Möbelknöpfen. Es gab ein großes Fenster, aus das man nicht hinaus gucken konnte, weil ein gemaltes Landschaftsbild dahinter die Höhlenwand zierte. In einem Nebenraum befand sich das angekündigte Badezimmer, das eher einer Nasszelle glich, aber um ein Vielfaches besser als die Gemeinschaftsduschen waren, die sie im unteren Bereich des Refugiums für die Normalos vorgesehen hatten. Erschöpft ließ ich mich auf das Bett fallen. Es war wirklich ziemlich weich. Mein Gesicht versank im Kissen, während meine Gedanken nach dem Fehler in dieser Geschichte suchten. Van hatte mir nicht erzählt was es mit dieser seltsamen Operation auf sich hatte. Irgendetwas hatten sie mit mir gemacht, aber ich konnte nicht sagen was. Die Kopfschmerzen waren schon lange verschwunden. Nun war ich nur noch müde – also schlief ich ein.

 

*


Der Wecker klingelte. Es war ein wirklich schrilles Geräusch. Wie konnte Smilla nur denken dabei könne man verschlafen? Ich stellte ihn aus. Das lästige Piepen war verschwunden. Achtzehn Uhr. Zum Frischmachen war nun wohl keine Zeit mehr. Ich entschied mich direkt zum Essenssaal zu gehen. Wirklich Hunger hatte ich allerdings nicht. Als Normalo hatte ich mich bereits an die geringen Essensrationen gewöhnt. Manchmal schaffte ich es meine Reste mit in die Kammer zu schleusen, die ich mir mit einem anderen Mädchen geteilt hatte. Sie war um einiges jünger als ich. Schmächtig, zierlich, nahezu kränklich. Es gab Tage, an denen sie nicht in der Lage war das Bett zu verlassen. Hin und wieder schaute dann ein Beauftragter des Refugiums vorbei. Einen Arzt schickten sie nicht. Wenn man den Weg nicht alleine schaffte, war man aufgeschmissen. Essen ans Bett gab es auch nicht. Einige Zeit hatte ich sie heimlich mit Essen versorgt, doch dann war sie eines Tages einfach aus dem Zimmer verschwunden und fortan war ich alleine gewesen. Ich hatte Van nach ihr gefragt. Wollte wissen, ob er – oder irgendjemand – etwas von Maddy gehört hatte, aber da war Keiner der mir etwas sagen konnte, etwas sagen wollte. Maddy war einfach weg. Und zurück blieb eines der vielen ungelösten Rätsel des Refugiums. „Es wird ihr schon gut gehen.“, hatte Van gesagt. Doch ich wusste, dass er dies nur tat um mich zu beruhigen.


Der Essensraum war kühl. Weiße Fliesen zierten die Wände. Er erinnerte mich an eine U-Bahn Station. Es gab ein aufgebautes Buffet in der Mitte des Raumes. Die schlichten Tische und Stühle erinnerten an eine Schulkantine, nur dass das Essen um einiges besser roch.
Viele Plätze waren bereits besetzt als ich den Raum betrat. Die Mädchen an den Tischen trugen alle die gleiche Uniform. Mit dem schicken Blazer und den dunkelblauen Röcken ähnelte sie sehr der Kleidung von Smilla. Einige Köpfe drehten sich mir zu, als ich weiter in den Raum trat. Leises Tuscheln kam von einem Tisch neben mir. Ich bildete mir ein meinen Namen gehört zu haben. Die Mädchen verstummten als ich ihre Blicke erwiderte. Dann legte mir Jemand eine Hand auf die Schulter. „Du bist die Neue?“
„Pheo.“, entgegnete ich prompt. „Entschuldige.“, sagte das Mädchen vor mir. Sie lächelte. „Ich bin Samantha, aber du kannst Sam sagen.“
Sam war ungefähr einen halben Kopf größer als ich. Sie hatte dunkelbraunes, dickes Haar, welches sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Ihr Lächeln wirkte nicht künstlich, so wie das von Smilla. Ihr Lächeln wirkte echt. „Wo ist deine Uniform?“, wollte Sam wissen, während sie sich einen großen Löffel der gut riechenden Suppe in ein Schälchen füllte, das sie mir in die Hand drückte. „Hier.“
Wieder spürte ich die Blicke der anderen auf mir.
„Starren die mich deshalb so an?“
Sam zögerte, ehe sie antwortete, dann meinte sie: „Das ist bloß weil du neu bist.“ Sie nahm sich ein Stück Brot und führte mich zu einem kleinen, freien Tisch in der hintersten Ecke des Raumes. Wenn man mich nun anstarren wollte, würde man sicherlich auf Dauer Nackenschmerzen bekommen.
„Deine Kleidung befindet sich in deinem Kleiderschrank. Sag bloß, da hast du noch nicht reingeschaut?“
Nun kam ich mir etwas dumm vor, wie ich hier saß, in dem beigen Anzug, den eigentlich die Normalos trugen. Der so aussah, als wäre man gerade aus dem Gefängnis entrissen. Der Name Pheo war auf dem Rücken in Großbuchstaben gestickt. Den kannte nun sicher Jeder.
„Halb so schlimm.“, lachte Sam. „Mir sind auch peinliche Sachen passiert, als ich hergekommen bin.“
„Wie lange bist du schon hier?“, wollte ich wissen.
Sam zuckte die Achseln. „Weiß nicht. 2 Jahre vielleicht.“ Sie runzelte die Stirn. „Bei einigen dauert es eben länger bis sie hier raus kommen.“
„Was meinst du damit?“
„Oh man, sie haben dir wirklich gar nichts erzählt, oder?“
Ein Glöckchen ertönte. Es hallte im ganzen Raum. Smilla hielt eine kurze Ansprache, in der sie allen Mädchen einen guten Appetit und einen erholsamen Schlaf wünschte, dann wies sie nochmal auf die morgendliche ärztliche Untersuchung hin, dabei las sie einige Namen vor. Unter anderem meinen. Sam war auch dabei.
„Was meinst du, warum sie dich hergebracht haben?“ Sam biss von ihrem Brot ab, dann tauchte sie ihren Löffel in die Suppe, ehe sie weiter sprach. „Du hast doch nicht wirklich geglaubt das du hier oben frei bist, oder?“
Ich antwortete nicht. Hatte ich daran geglaubt? All die Jahre, in der sie mich im Refugium festgehalten hatten. Die Jahre in denen mir eingetrichtert wurde, die Welt dort Draußen – an der Oberfläche – sei vollkommen zerstört. Alle die Jahre hatte ein Teil von mir tatsächlich seine Lebenshoffnung bei den Höhergestellten gesucht. Das bisschen Glaube daran, dass nicht alles in dieser düsteren Welt vernichtet war. Das es irgendwo noch etwas gab, für das es sich lohnte zu existieren, nachdem alles andere verloren war.
Sam tunkte den Löffel zurück in ihre Suppe. Einen Moment hielt sie inne, während sie mir direkt in die Augen sah. „Ehrlich, Pheo. Als so naiv hatte ich dich gar nicht eingeschätzt.“
„Hallo Pheo.“, ertönte es hinter mir. Eine Frau mittleren alters reichte mir die Hand. Ihr weißes Haar fiel ihr in dicken Locken auf die Schulter. Sie trug einen dunkelblauen schicken Overall mit kurzen Flügelärmeln. Ein weißes Band war seitlich, um ihren Bauch, nach vorne gebunden und schmeichelte ihrer schmalen Körperform.
„Ich bin Ebony Kabey. Ich leite dieses Wohnheim für Mädchen. Es ist schön, dass du nun bei uns bist.“ Sie nickte mir zu, während sie ihre Hand aus meiner löste. „Von nun an beginnt ein neues Leben, aber keine Sorge, wir bereiten dich gut darauf vor.“ Und da war es wieder, dieses falsche Lächeln, das auch Smilla so gut beherrschte.
„Was für ein Leben soll das sein?“, wollte ich wissen, doch Frau Kabey lächelte noch immer so seltsam gestellt. „Das hat noch Zeit.“, meinte sie. „Morgenfrüh gehst du bitte mit Sam zur Untersuchung. Das ist wichtig. Sie zeigt dir den Weg.“ Und dieses „morgenfrüh“ kam um einiges schneller als gedacht. Frau Kabey hatte uns nach dem Gespräch zügig verlassen. Hier und da winkte sie im vorbei gehen noch einigen Mädchen zu, die sie zu bewundern schienen, ehe sie auch wieder aus dem Raum verschwunden war. Sam verabschiedete sich an meiner Zimmertür. Sie hatte mir eine gute Nacht gewünscht und meinte noch, sie würde mich eine halbe Stunde vor der Untersuchung abholen. Ihr Zimmer befand sich in der zweiten Etage. Zimmer neun, hatte sie gesagt.


Die Nacht war kurz, aber erholsam. So weich hatte ich schon lange nicht mehr gelegen. Das Bett in der kleinen Kammer bei den Normalos hatte ich immer als sehr hart empfunden. Die Matratze war wenig gefedert und ziemlich durchgelegen. Nun, wo ich die andere Seite des Refugiums kennengelernt hatte, taten mir die Leute leid, die für immer dort unten eingesperrt blieben. Vielleicht war es aber auch gut das sie nicht wussten wie sich ein Leben als Höhergestellter anfühlte. So konnten sie nicht wissen, was man ihnen verwehrte.
Ich hatte gerade erst die Augen geschlossen, als der Wecker wieder so schrill zu klingeln begann. Manchmal fragte ich mich, ob unsere Zeit mit der wirklichen Zeit übereinstimmte, oder ob sich dies die Leute vom Refugium nur ausgedacht hatten, damit man nicht gänzlich das Zeitgefühl verlor. Ob es an der Oberfläche um halb sechs bereits hell war?
Der Kleiderschrank war tatsächlich prall gefüllt mit verschiedenen Outfits, die anscheinend extra für mich maßgeschneidert waren. Der Gefängnis-Anzug, so nannte ich ihn, war an den Beinen und Armen viel zu lang, sodass ich ihn an einigen Stellen umgekrempelt hatte. Es hatte einen weiteren Anzug zum Wechseln gegeben, falls der andere Mal in die Reinigung oder zum Schneider gegeben werden musste. Dies dauerte aber oft sehr lange, da die Arbeiter erst die Kleidung der Höhergestellten kontrollierten. Einmal war mir beim Essen etwas Soße auf den Anzug getropft und ich hatte ihn in die Reinigung gegeben. Es dauerte zwei Wochen, ehe ich ihn abholen konnte. In der Zeit war mein Ersatzanzug natürlich ebenfalls dreckig. Manchmal wuschen die Normalos ihre Kleidung heimlich im Gemeinschaftsbadezimmer. Dies war aber eigentlich nicht erlaubt.
Im Kleiderschrank hingen fünf Exemplare des selben Kleidungsstückes. Die dunkelblaue Uniform, ein schlichter, ebenso dunkelblauer Trainingsanzug, fünf Nachthemden – wahlweise in lang oder kurz. Nun wurde mir auch bewusst, warum die Näherinnen und die Wäscherei-Angestellten so viel Arbeit in der unteren Etage hatten und ich fragte mich, ob die Höhergestellten sich dessen bewusst waren.


Im Essenssaal war wie am Vortag ein Buffet aufgebaut, dieses Mal jedoch nicht mit verschiedenen Suppen, sondern mit allerlei Brotsorten, Brötchen und Aufschnitt. Ein bunter Obstsalat diente als Beilage oder Nachtisch. Die Auswahl war erschreckend und auch hier stellte ich keinen Vergleich zur notgedrungenen Tagesration der benachteiligten Menschen von unterhalb. Wieder spürte ich die bohrenden Blicke der anderen auf mir, während ich mir mein großzügig geschnittenes Körnerbrot mit etwas Wurst belegte und zum Tisch in der hintersten Ecke hinüber schlenderte, an dem Sam bereits auf mich wartete. Das Getuschel der Mädchen diente mit Sicherheit mir und es war bestimmt nicht, weil ich neu war, auch wenn Sam dies sagte.
„Was wollen die wirklich von mir?“, versuchte ich es erneut als ich zum Stehen kam. Dabei machte ich eine abfällige Geste in Richtung eines vollbeladenen Mädchentisches. Alle hatten sich zu uns umgedreht. Sie verstummten, als sie sahen, dass ich auf sie zeigte. Sam zog mich am Arm zu sich hinunter, sodass ich mich neben sie setzen musste. „Okay, okay.“, meinte sie dann. „Ich erzähle es dir.“ Ihre Stimme war kaum noch zu hören, als sie weiter sprach. „Dr. Erest wurde angeblich noch während deiner Behandlung aus dem OP-Saal abgeführt. Elly hat es gesehen, als Smilla sie hierhin geholt hat.“, fügte sie noch schnell hinzu. „Sie ist auch neu, weißt du?“ Sam zeigte auf ein Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren. Ihre Haut war blass. Sie erschrak, als sie bemerkte, dass wir in ihre Richtung sahen. Unsere Blicke hatten sich flüchtig getroffen, dann hatte sie sich abgewandt und schnell mit ihrer Nachbarin das Gespräch begonnen.
„Abgeführt?“, wiederholte ich, ohne Sam's letztem Satz auch nur einen Hauch von Beachtung zu schenken.
„Sie kamen wohl mit mehreren Aufsehern.“, Sam lehnte sich noch näher zu mir hinüber. Ihr Gesicht war nun ganz nah. „Sie sollen Waffen getragen haben. Schlagstöcke und Pistolen, meinte Elly.“
„Und Dr. Erest?“, wollte ich wissen. „Haben Sie ihm was getan?“
Sam schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht.“, sagte sie. Dann lehnte sie sich wieder zurück in ihren Stuhl. „Er ist ohne Widerstand zu leisten mit Ihnen gegangen, aber er soll dabei Zufrieden ausgesehen haben.“
Das ergab keinen Sinn. Die Weihe war ein heiliges Ritual im Refugium. Nach dieser Behandlung war man Höhergestellt. Kein Normalo mehr. Jegliche Unterbrechung dieses Prozesses war strengstens verboten und wurde mit dem Tod bestraft. So hatte Van es mir erzählt. Dass sie Dr. Erest während meiner Operation aus dem Raum geholt hatten, musste etwas bedeuten und ich wollte dahinter kommen, was es war.
„Ich muss Van treffen.“, meinte ich prompt und schnellte hoch, doch Sam hielt mich zurück. „Das geht nicht, Pheo.“, sagte sie. „Van musste seine Mentor-Verbindung zu dir abbrechen. Hat er dir das nicht gesagt, als er dich hierher gebracht hat?“
Ich riss mich von Sam los. „Mir hat Niemand auch nur Irgendetwas gesagt!“, entgegnete ich wütend und bemerkte nicht, wie laut meine Stimme dabei wurde. Sofort hatte ich die volle Aufmerksamkeit der Anwesenden.
„Pscht!“, zischte Sam, als Smilla in großen Schritten auf uns zu kam. „Alles in Ordnung, die Damen?“, vergewisserte sie sich. Ihre Stimme nahm dabei einen piepsigen Ton an.
„Ja, vielen Dank, Smilla.“, antwortete Sam, noch ehe ich es tun konnte. „Pheo hat wohl nicht besonders gut geschlafen.“
„Oh?“ Smilla machte einen besorgten Gesichtsausdruck, der ebenso falsch war, wie ihr Lächeln.
„Ich habe sehr wohl gut geschlafen.“, entgegnete ich noch immer wütend.
Nun guckte Smilla ziemlich irritiert. Ich hatte die wage Vermutung, dass dieser Ausdruck nicht gespielt war. Sam zupfte mir leicht am Saum der Uniform, als ich zum Sprechen ansetzte. Smilla schien dies bemerkt zu haben. Überrascht zog sie eine Augenbraue hoch, dann verfinsterte sich schlagartig ihr Gesichtsausdruck. Ihr sonst so zartes und weiches Gesicht wirkte nun kühl und starr. „Du hast Recht, Sam.“, sagte sie rasch. „Ich glaube, Pheo hat wirklich nicht gut geschlafen. Ich werde es an Dr. Malta weitergeben.“ Ihre eisblauen Augen hafteten nun einzig und alleine an mir. „Er soll dir etwas geben was dir beim Schlafen hilft, Pheo.“ Dann kehrte sie uns den Rücken zu und verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war.
„Bist du wahnsinnig geworden?“, zischte Sam mir entgegen, als ich mich wieder gesetzt hatte. Das Schauspiel war vorbei. Mehr würde hier nicht passieren. Die ersten Mädchen standen auf, stellten ihre Teller in den Geschirrwagen und verließen den Raum. „Was ist dein Problem, Pheo?“, fragte Sam. „Du weißt nicht welches Glück du hast, dass Frau Kabey dich hier aufgenommen hat. Du bist hier oben komplett ohne eine Mentor-Verbindung und das nur, weil sie nachsichtig mit dir waren. Ein frisch Geweihter ohne Mentor? So etwas gab es noch nie. Sei froh, dass sie dich nicht getötet haben.“ Und da war er – dieser Fehler in der Geschichte, nach dem ich gestern Abend gesucht hatte. Es gab ihn wirklich. „Ich muss Van sehen.“, wiederholte ich deutlich. Sam seufzte. „Dr. Cid wird bei der Untersuchung die Aufsicht führen. Du musst versuchen ihn alleine zu erwischen. Er kann dir sagen, wo du Van finden wirst.“ Ich war erleichtert. Dr. Cid war ausnahmsweise ein Arzt, den ich wirklich mochte. Es war beruhigend eine Person in meiner Nähe zu wissen, der ich noch trauen konnte. „Danke, Sam.“, sagte ich. Das war wirklich ernst gemeint. Ich war ihr dankbar. Van zu treffen war in diesem Moment unbeschreiblich wichtig für mich. „Tu nichts dummes.“, bat Sam mich noch, bevor sie aufstand und ihren Teller wegstellte. Dann verschwand sie in einer Horde Mädchen auf dem Weg nach Draußen.

 

3. Kapitel

 

Kapitel 3


Um halb zehn erinnerte mein Wecker mich daran, dass Sam bald kommen würde, um mich abzuholen, also streifte ich mir
das dünne Hemd über, dass Smilla mir heute früh in den Arm gedrückt hatte, als ich den Essenssaal verlassen hatte und wieder auf den Weg in mein Zimmer war. Smilla hatte hinter dem Tresen im Empfangsbereich gestanden und in einem neu aussehenden Ordner die ersten Papiere einsortiert. Beim genaueren Hinsehen konnte ich tatsächlich meinen Namen auf der Rückseite des Ordners erkennen. Es waren die selben schwarzen Druckbuchstaben wie die, auf dem Namensschild, an meiner Zimmertür. Von dem finsteren Gesichtsausdruck war nichts mehr zu erkennen. Sie hatte wieder ihr liebliches Lächeln aufgesetzt, als sie mich zu sich rief, in einer Kiste unter dem Tresen wühlte und mir das Hemd überreichte. „Für die Untersuchung.“, hatte sie nur gesagt, ehe sie sich wieder ihren Papieren gewidmet hatte.
Das Hemd war, wie sollte es auch anders sein, natürlich dunkelblau. Ich hatte bereits verstanden, dass dies die Erkennungsfarbe für die Mädchen im Wohnheim war. Es war knöchellang und schlicht. Lediglich zwei Knöpfe hielten es an der unteren rechten Seite zusammen. Sam stand bereits vor der Tür als ich diese öffnete. Sie hatte ihre Hand zu einer Faust geballt und war anscheinend gerade in der Versuchung gewesen an meiner Tür zu klopfen, als ich diese geöffnet hatte. „Oh, Pheo.“, hatte sie überrascht gesagt. „Ich wollte dich abholen.“ Und gemeinsam gingen wir in den Eingangsbereich des Wohnheimes, wo weitere Mädchen in ihren dunkelblauen Hemdchen standen und ihre Mentoren begrüßten. Auch Sam hatte sich von mir abgewendet. Sie lief auf eine Frau zu, die um einiges älter als sie zu sein schien. „Bea!“, hatte ich sie rufen hören, als sich die beiden in die Arme fielen. Kurze Zeit später kamen Sam mit Bea auf mich zu. „Das ist Beatrix.“, erklärte Sam. „Seit drei Jahren meine Mentorin im Refugium.“
Beatrix war ziemlich groß und schlank. Sie hatte recht breite Schultern für eine Frau und wirkte sehr durchtrainiert. Wahrscheinlich konnte sie mit ihren langen, dünnen Beinen außerordentlich schnell laufen. Für einen kurzen Moment erinnerte ich mich an die Wachen, die ich an meinem ersten Tag bei den Höhergestellten gesehen hatte. Auch sie waren ziemlich schnell gewesen.
„Ich bin Pheo.“, stellte ich mich vor.
„Ich habe bereits von dir gehört.“, meinte Bea. Sie reichte mir die Hand und verwendete dabei deutlich weniger Kraft, als ich es angenommen hatte. „Die Leute reden viel.“, sagte sie noch, bevor wir das Wohnheim endlich verließen.
Nach einer Weile kamen wir an den Brunnenplatz. Einige Leute hatten sich dort versammelt um ihre Freizeit miteinander zu verbringen. Sie saßen auf den Bänken, sprachen miteinander, oder betrachteten gemeinsam oder alleine irgendwelche Bücher. Während wir den Platz überquerten erzählte Bea uns von ihren Abenteuern, die sie außerhalb erlebt hatte. Sie war eine Jägerin, was ihre durchtrainierte Muskulatur erklärte. Mit einer auf sie abgestimmten Ausrüstung, verließ sie regelmäßig in einem Kleintrupp das Refugium, um an der Oberfläche auf Jagd zu gehen. Hierbei ging es darum, sich möglichst gut an die Außenwelt anzupassen um die Verlorenen zu vernichten. Schon viele Jäger hatten dort ihr Leben lassen müssen, doch Bea fürchtete sich nicht vor dem Tod. Als ich ihr die Frage danach stellte, ob sie Angst vor ihren Einsätzen hätte, entgegnete sie nur, sie wünsche sich, dass die Menschheit irgendwann wieder an der Oberfläche leben könne und dafür würde es sich lohnen zu sterben. Beatrix war ein interessanter Mensch, den ich auf Anhieb mochte. Mit ihrem kurzen, dunklen Bob und ihren stechend blauen Augen, strahlte sie eine enorme Selbstsicherheit aus, die durch ihren Mut bestimmt wurde. Ihr Kampfgeist hatte sicher die Stärke in dieser Welt etwas zu verändern.

 

*


Der Untersuchungsraum war kühl und wirkte mit seinen ganzen technischen Geräten eher wie ein Labor. Auf einem langen weißen Tisch befanden sich jede Menge hauchdünne Gläser in verschiedenen Formen. Sie enthielten seltsame Flüssigkeiten, die in den unterschiedlichsten Farben leuchteten. In der Mitte des Raumes befand sich ebenso ein Bett, wie das, das ich aus dem OP-Saal kannte. Sofort suchte ich nach Hand- und Fußfesseln, konnte jedoch keine finden.
„Wie schön das es dir gut geht.“, hörte ich eine vertraute Stimme sagen, die sich als Dr. Cid's herausstellte. Dann betrachtete er mich ziemlich genau, ehe er sich seinem Arbeitspult zuwandte und in irgendwelchen Unterlagen irgendetwas suchte.
„Dr. Cid.“, begann ich, doch er suchte weiter. „Ich muss mit Ihnen sprechen.“
Dr. Cid machte keinerlei Anstalten mir Beachtung zu schenken. Er wühlte weiterhin in seinen Papieren und murmelte dabei die Sätze: „Wo ist es nur?“ und „Wo habe ich es hin getan?“
„Dr. Cid.“, versuchte ich es nochmal, doch bevor ich auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, zog er ein vollends beschriftetes Blatt aus einem Papierstapel und sah mich zufrieden an. „Da ist es ja. Dann kann es ja los gehen.“ Dann ging er hinüber zu einem der vielen Monitoren und tippte etwas mit seinen Fingern auf die schrecklich laute Tastatur. „Du kannst dich schon mal auf die Liege setzen.“, rief er mir zu ohne mich dabei anzusehen. Und ich setzte mich gehorsam hin.
„Ich muss Sie wirklich dringend etwas fragen, Dr. Cid.“
Keine Reaktion.
„Was ist während meiner Operation passiert?“, versuchte ich es einfach. „Mit Dr. Erest, meine ich.“
Dr. Cid haute weiterhin lautstark in die Tastatur. Er machte mich wahnsinnig. „Hast du noch Kopfschmerzen?“, wollte er wissen.
„Nein.“, antwortete ich. „Dr. Erest wurde abgeführt?“
„Irgendwelche Auffälligkeiten? Bauchschmerzen? Übelkeit? Krämpfe?“, zählte er auf.
„Nein, Dr. Cid. Ich würde gerne wissen wo ich Van finde.“
„Dann ist ja gut.“, sagte sein Hinterkopf.
„Sehen Sie mich an!“, wollte ich gerade rufen, als die Tür sich öffnete und ein kleiner, rundlicher Mann mit Halbglatze in den Raum trat. Der weiße Kittel ging ihm fast bis auf den Boden. Er legte die Stirn in Falten, als er mich sah, sprach aber Dr. Cid an, ohne mir weiterhin Beachtung zu schenken. „Was tun Sie denn hier?“, wollte er wissen.
„Ich führe die Aufsicht über diese Patientin.“, antwortete Dr. Cid stumpf.
„Und ich führe die Untersuchung durch.“, entgegnete der andere Arzt.
„Ich bitte Sie, Dr. Kabey.“, meinte Cid nun. „Pheo ist seit Ankunft im Refugium in meiner Behandlung. Das wird auch weiterhin so sein.“
„Patient Null wurde an mich übergeben. Sie haben die Rechte an ihr verloren.“, schimpfte Dr. Kabey ziemlich wütend, doch Cid antwortete mit einem frechen Lachen. Dr. Kabeys Kopf wurde knallrot. Er sah nun aus wie eine dicke Fleischtomate. „Das lasse ich mir nicht bieten!“, grummelte er laut. „Ich werde unverzüglich mit dem Präsidenten sprechen.“
„Nur zu!“, rief Dr. Cid belustigt, doch Kabey hatte den Raum bereits in Windeseile verlassen. Cid kam mit schnellen Schritten auf mich zu. Endlich sah er mich an. Seine Augen wirkten ziemlich besorgt. „Wir haben nicht viel Zeit.“, sagte er. Dann holte er eine Spritze aus seiner Kitteltasche. „Den linken Arm.“ Ich reichte ihm meinen Arm, weil ich ihm vertraute. „Was ist das?“, fragte ich aus Interesse. Er stach die Spritze sofort hinein und drückte die rote Flüssigkeit ins Innere meiner Haut. Seltsamerweise fühlte ich kaum einen Schmerz. „Menschenblut.“, sagte Dr. Cid. „Es wird dich am Leben halten.“
Gerade als ich mich von ihm losreißen wollte, verließ der letzte Tropfen das Innere der Spritze. „Das sollte erstmal eine Weile reichen.“ Dr. Cid schien erleichtert zu sein.
„Verdammt!“, schrie ich aufgebracht. „Was ist hier eigentlich los?“, brüllte ich ihn an. Ich wollte aufspringen und am liebsten hätte ich wie ein wildes Tier um mich geschlagen, doch Dr. Cid hielt mich zurück und drückte mich wieder auf die Liege. Er seufzte. „Nun gut.“, sagte er, dabei schien er so, als müsse er sich beherrschen. „Es ist besser, ich erzähle es dir jetzt.“ Er vergewisserte sich mit einem Blick in Richtung Tür, dass diese auch wirklich geschlossen war, ehe er weiter sprach: „Vor zwei Jahren, als sie dich gefunden haben, hast du in einem Berg aus Asche gelegen. In einem Gift, das für uns Menschen tödlich ist. Mit den Verlorenen kamen diese Giftherde, die sich in rasender Geschwindigkeit auf unserem Planeten ausbreiteten. Kommt man mit ihnen in Verbindung, so zerfällt man zu Asche. Deswegen nennen wir dieses Gift so.“ Cid machte eine kurze Pause, ehe er weiter sprach: „Der Schrank, in dem du dich damals versteckt hast. Er war bereits vollkommen verseucht, als sie dich gefunden haben. Sie brachten dich hierher, in meine Abteilung und ich übernahm die Aufsicht, führte die Untersuchungen durch und es war mir ein Rätsel, wie du das überleben konntest. Doch allerlei Ergebnisse, jegliche Reaktionen von dir auf dieses Gift waren negativ.“ Cid machte erneut eine Pause, dann sagte er: „Pheo, du bist ein wahres Wunder. Du bist unser Phönix.“
Niemand, außer ich selber, konnte verstehen wie verwirrt ich in diesem Moment wirklich war. All die Untersuchungen, die ich über mich ergehen lassen musste, all diese strengen Überwachungen, hatten die letzten zwei Jahre tatsächlich einen Sinn gehabt, auch wenn ich es noch immer nicht komplett begreifen konnte. Ausgesperrt von der Außenwelt erzählte eine der wenigen vertrauten Personen mir plötzlich eine vollkommen absurde Geschichte und verlangte, dass ich ihm diese glaubte. Dann baute sich plötzlich das Bild von Dr. Erest in mir auf und ich sah ihn ziemlich deutlich vor mir, wie er sich über mich lehnte und mich angrinste, während seine Lippen Worte formten, die ich nicht hören konnte. „Dr. Erest?“, fragte ich also und ich war mir selber nicht bewusst darüber, ob ich mein Trugbild oder Dr. Cid ansprach. Doch es war Cid, dessen Stimme mir antwortete: „Erest war ein kluger Mann. Ein enger Freund. Er hat einen Fehler gemacht.“ Dr. Cid kehrte mir den Rücken zu. Seine Augen waren wieder auf die Tür gerichtet. In der Ferne hörte man ganz leise schnelle Schritte näherkommen. Hastig suchte Cid meinen Blick. „Ich werde dich nicht ewig beschützen können, Pheo.“ In seiner Stimme lag nun etwas angespanntes, etwas, das mich beunruhigte. War es Angst? „Tu was sie dir sagen. Sie werden dich auf das Leben außerhalb vorbereiten. Traue keinem, außer Van.“ Die Schritte auf dem Flur waren nun deutlich zu hören. „Wo finde ich Van?“, wollte ich wissen. „Wenn es nicht mehr geht, dann versuch zu fliehen.“, sagte Cid schnell, dann zog er wieder eine Spritze aus seinem Kittel und drückte mir diese erneut in den Arm. Sofort fühlte ich den brennenden Schmerz an der Einstichstelle. Schlagartig wurde mir schwindelig und ich verspürte das Gefühl, meine Augen schließen zu wollen. Mit einem dumpfen Laut öffnete sich die Labortür und ich nahm die vielen unwirklichen Schritte war, die auf uns zu kamen. Mein Körper sackte zusammen, als sich die verschwommenen Gestalten über Dr. Cid hermachten. Benommen versuchte ich ihn im Nebelschleier zu finden, doch er war in der Dunkelheit verschwunden.


In einer kleinen, ca. fünf Schritt breiten Zelle kam ich wieder zu mir. Das immer blasser werdende Bild von Dr. Cid konnte ich noch immer deutlich vor mir erkennen, obwohl ich keinerlei Zeitgefühl empfand. In der Ecke der Kammer brannte ein schwaches, gelbes Licht. Das alte Lämpchen war umzogen mit einem ebenso gelben Papierschirmchen, das darauf schließen ließ, dass die besten Tage bereits vergangen waren. Auf ihm bildete sich eine dicke Staubschicht. Außer dem kleinen, rundlichen Tisch mit der Lampe und meinem Bett, war diese Räumlichkeit komplett leer. Ich erschrak, als ich eine Person an der Zellentür entdeckte, die mich schon einige Zeit beobachtet haben musste.
„Ah, Patient Null.“, sagte Dr. Kabey, als sich unsere Blicke trafen.
„Pheo.“, entgegnete ich prompt. Dr. Kabey grinste. „Gut, dass du endlich wach bist.“, meinte er.
„Wo ist Dr. Cid?“, wollte ich von ihm wissen, doch Dr. Kabey schien wenig Interesse daran zu haben mir Auskunft darüber zu geben. „Die Umstände tun mir sehr leid.“, entschuldigte er sich wenig überzeugend. „Wir hielten es für sicherer dich erst einmal unter Aufsicht zu lassen.“ Er öffnete die Zellentür. „Alles in Ordnung. Du kannst in das Wohnheim zurück kehren.“ Und während ich mich in Bewegung setzte, um diese widerliche Kammer und diesen seltsamen Doktor hinter mir zu lassen, bemerkte ich mehrere Einstichstellen an meinem rechten Arm, die sicherlich nicht von Dr. Cid's Spritzen kamen. Einige davon waren bereits erschreckend dick und rote Pünktchen hatten sich dort gebildet. „Ach, das...“, begann Dr. Kabey, als er meinem Blick folgte. „Kein Grund zur Sorge. Routine Untersuchungen.“ Wieder nahm sein altes Gesicht ein breites Grinsen an und umso mehr wurde mir bewusst, wie schnell ich hier verschwinden wollte. Dann ertönte eine Stimme hinter Dr. Kabey, die mir schrecklich vertraut vorkam und ein junger Mann trat ins Licht. „Pheo.“, sagte er. „Ich bin hier um dich abzuholen.“ Es war Van und ich war glücklicher denn je.
Van trug eine dunkle Uniform mit schwarzen Lederapplikationen. Eine dicke Weste zierte seinen breiten Brustkorb. Seine staubigen Schuhe ließen darauf hin deuten, dass er gerade von einem Einsatz zurück gekehrt war. Er ging mit großen Schritten auf Dr. Kabey zu und sah dabei erschreckend selbstbewusst aus. Ganz anders, als ich ihn kannte. Es war lustig anzusehen, wie Dr. Kabey neben Van immer kleiner wurde, dennoch versuchte auch er selbstbewusst zu wirken. Van hielt ihm ein Dokument hin, welches Kabey wütend aus seiner Hand riss. „Unmöglich!“, schrie er aufgebracht. Sein Kopf verwandelte sich erneut in diese überdimensionale rote Fleischtomate, die viel besser zu seinem unproportionierten Körper passte.
„Wie Sie sehen, ist es nicht unmöglich.“, meinte Van gelassen. Nun sah er mich an, sprach aber weiterhin zu Dr. Kabey: „Ich habe die Mentoren-Verbindung wieder aufgenommen.“ Kabey sprang von einem Bein auf das andere. Vor Wut. Und ich wollte es ihm gleich tun. Vor Freude. „Das werde ich umgehend anfechten!“, rief Kabey, doch Van zuckte nur gleichgültig mit den Achseln. „Versuchen Sie es.“, provozierte er sichtlich gelassen. „Vielleicht haben Sie ja Erfolg.“ Dann nickte er mir zu. „Komm Pheo. Wir haben noch etwas vor.“ Und ich zwängte mich an dem runden Professor vorbei.
„Machen Sie gefälligst Ihre Schuhe sauber!“, schrie Kabey uns hinterher, während wir durch das seltsame Labor schlenderten. „Sie gefährden damit unsere Gesundheit!“ Aber Van lachte nur begnügt über seinen Erfolg, legte einen Arm um meine Schulter und zog mich mit sich.

 

*


Immer wieder konnte ich Vans Blicke auf mir spüren, während wir gemeinsam über den großen Brunnenplatz in Richtung Mädchen-Wohnheim liefen. Van hatte mir von Dr. Kabey erzählt. Von seinen Experimenten an verschiedenen Mädchen des Wohnheimes. Davon, dass einige Mädchen nach den Untersuchungen nicht mehr zurückgekommen waren. Zunächst wäre dies nur selten vorgekommen. Bei den Verschwundenen handelte es sich oft um Mädchen, die im Alltag weniger auffielen. Mädchen die still waren oder sich nicht gut in die Gruppe fügen konnten. Seit Frau Kabey, die Schwester von Dr. Kabey das Wohnheim leitete, hätten sich diese Vorfälle gehäuft. Es kam Van seltsam vor, denn das Refugium schien hier nichts zu unternehmen, obwohl sie von den verschwundenen Mädchen wussten. Es schien fast so, als sei es ihnen egal.
„Mein Trupp kam gerade von einem Einsatz zurück, da habe ich dich mit den anderen Mädchen ins Labor gehen sehen.“, meinte Van.
„Dann hast du mir hinterher spioniert?“
„Sei froh.“, entgegnete Van streng.
Ich musste grinsen. Mein Inneres Ich freute sich natürlich insgeheim darüber, aber das konnte ich ihm nicht sagen. Das würde sicherlich komisch rüber kommen. Van war schließlich wie ein großer Bruder für mich.


In der kleinen Grünanlage legten wir eine kurze Pause ein. Wir ließen uns auf einer Bank nieder und lehnten uns schweigend zurück. Der Platz war wie leergefegt. Keine Menschenseele war zu sehen. Zu dieser Zeit schienen alle Menschen Oberhalb, den ihnen zugeteilten Aufgaben nachzugehen. Das falsche Vogelgezwitscher war nun viel lauter zu hören und auch das Kinderlachen, welches gestern noch von den Stimmen der echten Menschen regelmäßig unterbrochen wurde, kam unüberhörbar aus den versteckten Lautsprechern ganz in unserer Nähe. Alles, was ich gestern noch für real gehalten hatte, wirkte nun aufgezwungen falsch. Fast schon fremd und beängstigend.
Van hatte seine Augen geschlossen. Vielleicht empfand nur ich diese Geräusche als störend. Vielleicht musste ich mich erst noch an die Täuschungen gewöhnen, um sie genießen zu können. Zu Wirklich waren mir all diese Töne seit Damals in den Erinnerungen geblieben. Ob wir sie jemals wieder hören würden?
Van seufzte laut. Dann öffnete er seine Augen und sah mich an. Er wirkte wirklich sehr erschöpft. Nun erst bemerkte ich die unzähligen Kratzer die über seine blanken Arme liefen. Einige davon bluteten leicht. Die schwere Jacke seiner Kampfausrüstung hatte er neben sich gelegt. An einigen Stellen waren weite Risse im Stoff zu erkennen.
„Wurdest du verletzt?“, fragte ich und schämte mich beinah für diese offensichtliche Frage, die ich mir selber bereits beantwortet hatte.
Van zuckte seine Achseln, so, wie er es immer tat, wenn ihm etwas gleichgültig war.
„Halb so schlimm.“, sagte er. „Das passiert da Oben schon mal.“
„Ist dort wirklich alles so verdorben, wie sie es uns hier erzählen?“
Van schwieg für einen kurzen Moment, dann nickte er. „Ja. Schon ziemlich.“ Er versenkte den Kopf in seinen Händen. Die verletzten Arme stützte er auf seinen Oberschenkeln ab. Dann sprach er tonlos weiter. „Zerox hat ziemlich viel mitgemacht. Der Planet scheint zu sterben. Es gibt einige Trupps – wir nennen sie hier die Sammler. Sie suchen nach Überbleibseln unseres Planeten. Samen, Lebensformen, kleinste Körnchen – Irgendetwas. Es scheint kaum noch etwas übrig zu sein, denn sie kommen oft mit leeren Händen zurück. Die Verlorenen vermehren sich stetig. Immer häufiger greifen sie unsere Sammler an. Eine Mission ohne Jäger ist kaum noch schaffbar.“ In Van seinen Augen blitzte der Zorn und die Trauer der vergangenen Jahre. Die Oberfläche hatte deutliche Spuren an ihm hinterlassen. Ich vermochte mir nicht einzugestehen was Van bereits alles erlebt haben musste, während ich im Refugium jeden Tag auf seine Rückkehr gewartet hatte und mich darüber beschwerte, wie hart meine durchgelegene Matratze war. Die Höheren waren wahrscheinlich die, die es am Schlimmsten getroffen hatte – so, wie es Van an meinem ersten Tag gesagt hatte. „Mir wäre es lieber gewesen, sie hätten dich unten gelassen.“ Das waren seine Worte, über die ich mich sehr erschrocken hatte, doch nun scheine ich sie ein wenig besser zu verstehen.
„Ich möchte, dass du mit mir kommst, Pheo.“
Fassungslos starrte ich Van ins Gesicht. Sein Blick wirkte steif. Er erwiderte den Meinen nicht. „Nach oben?“, fragte ich dann. Vermutlich etwas zu nervös.
„Irgendwann bestimmt. Das Refugium ist jetzt zwar ein sicherer Ort für uns, aber ich denke, wir sollten uns nicht zu sehr in Sicherheit wägen. Irgendwann wirst du kämpfen müssen. Du musst dich vorbereiten, Pheo.“
Van richtete sich auf. Er schwang sich seine dicke Jacke über den Arm und griff nach meiner Hand, um mir aufzuhelfen. „Wir haben noch immer eine Mentor-Verbindung. Du wirst mich also in meine Trainingsbasis begleiten.“
Mein Puls raste vor Aufregung. Das Blut in meinen Adern pochte. Ich konnte meinen eigenen Herzschlag hören, so laut sauste er in meinen Ohren. Nun würde sich alles verändern, aber wirklich bereit war ich nicht. Wenn ich die Augen schloss, war ich noch immer das kleine Mädchen, das weinend im Schrank saß, während sie ihrer Familie beim Sterben zuhörte. Tränen kullerten mir über die Wangen, während Van mich hinter sich herzog. Weit weg vom Mädchen-Wohnheim. In eine vollkommen andere Richtung, die ich nicht kannte. Ich war nichts besonderes. Ich war noch immer ein kleines Mädchen.

 

 

 

4. Kapitel

 

Kapitel 4

 


Die Trainingsbasis war von Außen ein in den Berg geschlagenes gigantisches Gebäude. Es schien sich über mehrere Stockwerke hinweg zu erstrecken. Vielleicht in die Höhe. Vielleicht aber auch in die Tiefe. Van führte mich durch eine gläserne Schwenktür in den großen offenen Eingangsbereich der Basis. Die Wände des Konstrukts waren gebaut aus hellgrauen aneinandergeschweißten Platten. An jeder Wandseite gab es mehrere massive Tore, die anscheinend nur mit Codes zu betätigen waren. Van legte seinen rechten Zeigefinger auf ein kleines Betätigungsfeld. Ein bläulich schimmernder Laser bewegte sich blitzschnell unter der flachen Glasplatte, auf der Van seinen Finger drückte, hin und her. Dann öffnete sich das Tor mit einem dunklen Ton und schob sich völlig selbstverständlich in eine breite Schiene in den Boden. Das Tor gab uns die Erlaubnis einen höchstens vier Personen breiten Gang zu betreten.
„Hier beginnt die Basis der Jäger.“, erklärte Van mir. „Die anderen Tore führen zu den Sammlern und den Spähern. Von den Sammlern habe ich dir ja schon erzählt. Die Späher kundschaften verschiedene Gegenden an der Oberfläche aus. Sie sind auch diejenigen, die du die Männer in Schwarz nanntest. Wenn sie Überlebende finden, dann begleiten sie sie hierher. Fast Jeder im Refugium wurde von einem Späher aufgegriffen, ehe er hierhin kam.“
Wir liefen bereits eine ganze Weile den grauen Gang entlang, während Van weiter erzählte: „Du kannst dir sicher vorstellen, dass nach all den Jahren nicht mehr viele Überlebende zu finden sind. Die, die noch am Leben sind, haben sich bereits irgendwelchen Gruppen angeschlossen und sich irgendwo zurückgezogen. Eigentlich suchen die Späher nur noch nach Orten, die im Zweifelsfall bewohnbar für uns wären.“
Wir kamen an eine Kreuzung und bogen nach links ab. Hier wurde der Gang um einiges breiter. Ganz in der Nähe waren Stimmen zu hören. Jemand lachte.
„Und gab es schon Erfolge bei der Suche?“, wollte ich wissen.
Van schüttelte den Kopf. „Soweit ich weiß nicht.“, meinte er.


Wir näherten uns einer kleinen Gruppe von insgesamt fünf Personen. Zwei davon waren Mädchen. Sie wirkten kräftig und um einiges älter als ich es war. Der Junge dessen lautes Lachen ich zwei Gänge weiter gehört hatte, lachte noch immer. Sein breiter, blonder Hinterkopf zeigte in unsere Richtung, während sein Gesicht einem jungen Mann mit braunem Haar zugewandt war. Dünne Strähnen fielen in sein Gesicht und verdeckten ganz leicht seine Augen.
„Zelos?“ Van und ich standen schon eine Weile hinter dem lachenden jungen Mann, als es um uns herum still geworden war. Die Blicke der Anderen schienen nur auf Van gerichtet zu sein. Der braunhaarige Mann vor Zelos trat einen großzügigen Schritt zur Seite, sodass man ihn besser sehen konnte. Zelos drehte sich langsam in unsere Richtung. Er wirkte etwas erschrocken, als er Van direkt in die Augen sah. „So schnell zurück?“, fragte er dann gekünstelt heiter.
„Es ging doch schneller als gedacht.“, entgegnete Van etwas kühl. „Warum trainiert ihr nicht, wie ich es euch gesagt hatte?“
„Gerade fertig geworden.“, grinste Zelos etwas frech. Die Anderen nickten stumm.
„Ja, meinte Van. „So sah das auch aus. Nehmt das gefälligst ernst.“ Seine Stimme wirkte schroff und fremd. Das war eine Art an Van, die ich noch nicht kannte und ich fragte mich, welche Position er in dieser Basis wirklich besetzte. Dann spürte ich seine Handfläche, wie sie mir in den Rücken drückte und mich in Richtung der Fremden schob. Tollpatschig stolperte ich einen Schritt nach vorne. Alle Augen waren nun auf mich gerichtet. Plötzlich war ich nicht mehr unsichtbar. Zwischen all den großen Personen, fühlte ich mich winzig klein.
„Das ist Pheo. Sie gehört ab heute zu den Jägern, also zeigt ihr bitte alles.“
Mir wurde ganz zittrig bei dem Gedanken etwas zu jagen, aber das wollte ich mir nicht anmerken lassen, also versuchte ich freundlich zu lächeln. Als dies keiner erwiderte, setzte ich den neutralsten Gesichtsausdruck auf, den ich beherrschte.
„Sie ist mein Schützling. Also kümmert euch gut um sie.“ Dann verschwand Van, ohne ein weiteres Wort zu sagen und ließ mich bei dem völlig fremden Jägertrupp zurück.


Für einen kurzen Moment sagte Niemand etwas. Das Einzige was noch in der Ferne zu hören war, waren Vans Schuhe, die auf dem glatten Boden immer leiser wurden, bis sie komplett verschwunden waren. Dann trat die größte der jungen Frauen in den Vordergrund. „Willkommen bei den Schatten.“, sagte sie freundlich. „Ich bin Chloe. Das ist Holly.“ Sie deutete mit einem kurzen Nicken auf das andere Mädchen, das in ihrer Nähe stand. Holly hatte kurze schwarze Haare und ein schmales Gesicht, das so gar nicht zu ihrem trainierten Körper passte. Im Gegensatz zu Chloe wirkte sie jedoch um einiges weiblicher. Chloe hätte mit ihrem kurzen Haarschnitt und ihrer kräftigen Statur ebenso mit einem Mann verwechselt werden können. „Zelos hast du ja schon kennengelernt.“, sprach sie weiter. „Mighty ist auch erst vor kurzem eingetroffen.“ Sie deutete auf einen jungen, schlaksigen Kerl, der neben einer Tür mit der Aufschrift „Die Schatten“ auf dem Boden kauerte. Selbst im Sitzen wirkte auch diese Person ziemlich groß, jedoch weniger passend zum Jägertrupp. Mit seiner großen, runden Brille und den aalglatten dunklen Haaren, hätte er ebenso gut ein Nerd sein können, der von einem Leben als Superheld träumte. Vielleicht erfüllte sich ja dieser Traum nun für ihn. „Hallo.“, nuschelte Mighty kaum hörbar in seinen Ärmel. „Hallo“, grüßte ich ihn freundlicherweise zurück. Dann kam die letzte der fremden Persönlichkeiten auf mich zu und reichte mir die Hand. „Willkommen, Schützling. Ich bin Kratos.“ Kratos grinste ebenso, wie Zelos es eben getan hatte. Aber sein Grinsen wirkte dabei weniger gekünstelt. Die Beiden verstanden sich bestimmt bestens.
„Ich bevorzuge Pheo.“ Das klang tatsächlich frecher, als ich es gewollt hatte, aber Kratos nickte. „Okay, Pheo.“, meinte er schließlich – dann wandte er sich ab und öffnete die Tür mit der Aufschrift Die Schatten.


Wir traten in einen geräumigen, schwach beleuchteten Raum mit mehreren Spinden und Hochbetten zu beiden Seiten. An der gegenüberliegenden Seite hing ein großer Monitor an der Wand. Er war ausgeschaltet. Ein Fenster gab es nicht. Von der linken und rechten Seite des Raumes gingen jeweils zwei halbgeöffnete Türen ab. Hier schienen getrennte Badezimmer für die Mädchen und Jungen zu sein. Ein grelles, kaltes Licht kam aus beiden Räumen.
„Fühl dich wie zuhause.“, meinte Chloe und ließ sich entspannt auf eines der unteren Betten fallen. Die Matratze gab nach und Chloe sank erschreckend tief ein, sodass die Unterseite der Matratze beinah den glatten, schwarzen Boden berührte. „Unheimlich bequem.“, murmelte Chloe anscheinend zu sich selber, denn der Rest der Truppe verteilte sich im Raum. Jeder suchte sich seinen Platz. Nur ich stand für kurze Zeit vollkommen hilflos und etwas verloren mitten im Raum, doch dann wank Mighty mich zu sich und deutete an, dass das Bett unter seinem noch frei sei. Dankbar nickte ich ihm zu, während ich vorsichtig die Stabilität meiner Matratze testete. Ich war erleichtert, als diese nicht Richtung Boden nachgab und traute mich, mit dem ganzen Körper im Bett zu verschwinden. Müde rieb ich meine Augen, bis meine Hände tatsächlich vollkommen erschöpft auf meinem Gesicht liegen blieben und ich einschlief.

 

*

 


Ich rieb mir müde die Augen bevor ich sie öffnete. Vom gegenüberliegenden Bett schien ein schwaches Licht herüber. Holly saß auf der Bettkante und zog sich gerade ihre hohen Lederstiefel über ihre beinah noch längeren Strümpfe. Dann krempelte sie ihre Hose hinunter. „Guten Morgen.“, sagte sie, als sie mich dabei beobachtete, wie ich mich aufrichtete. „Guten Morgen.“, antwortete ich ihr zurück. Ich musste tatsächlich, seit ich mich in das Bett gelegt hatte, durchgeschlafen haben.
„Die anderen sind schon los gegangen.“, erklärte Holly. „Möchtest du dich erst frisch machen?“
Ich blickte an mir herunter und musste feststellen, dass ich noch immer das zarte Hemd aus dem Wohnheim trug, mit dem ich in das Labor zur Untersuchung gegangen war. Nun war es mir doch etwas unangenehm, dass ich darin geschlafen hatte, also ging ich etwas peinlich berührt zum Spind, der sich an der Wand neben meinem Bett befand und zog das erst beste Kleidungsstück, dass mir in die Hände glitt, heraus. Es handelte sich um eine Uniform aus dunklen Stoff. Einige feine Lederapplikationen waren in den Stoff eingearbeitet. Der Name Pheo zeichnete sich auf der Brust ab. Auf dem Rücken befand sich ein ineinander geschwungenes Symbol aus verschiedenen Grautönen, die irgendwann verblassten und in die Farbe des Stoffes übergingen. „Die Schatten?“, fragte ich, während ich mit den Fingerspitzen sachte über den Stoff glitt. Er fühlte sich befremdlich weich und robust an. Eine Eigenschaft, die ich von der Kleidung aus dem Refugium gar nicht kannte.
„Ja.“ Holly nickte, dann sprach sie weiter. „Jede Einheit hat ihren eigenen Namen und wir sind die Schatten.“ Holly griff nach einer Bürste, die sich auf einem schmalen Nachttisch, neben ihrem Bett befand und strich sich damit durch ihr kurzes Haar. „Van hat dir die Kleidung gestern noch vorbei gebracht, aber du hast schon geschlafen.“ Wahrscheinlich bemerkte Holly, dass ich etwas enttäuscht darüber war, Van verpasst zu haben, denn sie fügte schnell hinzu:“ Zieh sie schnell an. Wir versammeln uns morgens immer auf dem Hof zum Durchzählen. Van wird auch dort sein.“ Im schwachen Licht, sah ich Holly zwinkern und irgendwie machte es sie sympathisch.


Der Hof war ein ziemlich großer offener und weitläufiger Platz unter einem freiem Himmel, der wahrscheinlich gar kein wirklicher Himmel war. Mal wieder beeindruckte mich die täuschend echte Projektion. Der Platz schien der zentrale Sammelpunkt der Trainingsbasis zu sein, denn hier mündeten sämtliche Tore der verschiedenen Trupps ein. Unzählige Einheiten standen in Reih und Glied in ihren strahlend schönen Uniformen. Sie alle waren gleich. Hier gab es keinen, der besonders hervor stach. Es waren viele kleine Einheiten, die eine große bildeten. Es war eine Armee. Und zum ersten Mal sah ich das gigantische Ausmaß, dass das Refugium für uns geschaffen hatte. Holly führte mich in die Mitte dieser Einheit. Zu unserem Trupp – zu den Schatten. Es war unglaublich dazu zu gehören. Kratos legte mir seine Hand auf die Schulter. „Schützling.“, sagte er. „Du siehst gut aus.“ Und dann deutete er auf meine Uniform. Das erste Kleidungsstück im Refugium, das tatsächlich passgenau an meinen Körper angeglichen war. Auch die anderen Mitglieder der Schatten winkten mir teils zu, oder wünschten mir einen guten Morgen. Chloe begann ganz aufgeregt etwas zu erzählen, aber die Gespräche der unzähligen Menschen um uns herum, waren so laut, dass ich sie kaum verstehen konnte. Dann ertönte ein lauter Gong und es wurde plötzlich mucksmäuschen still auf dem großen Platz. Alle wandten sich einer großen Bühne zu, die irgendwo in der Ferne zu sein schien. Ich konnte Van entdecken, wie er mit drei weiteren Personen, die Treppen der Bühne seitlich empor stieg. Dann kamen sie in der Mitte zum Stehen.


Der Himmel über uns dunkelte sich ab. Viele kleine Sterne waren nun über unseren Köpfen zu sehen und unser Planet Zerox strahlte in all seinen verschiedenen Farben. So bunt und lebensfroh, wie er einst war. Ganz langsam bewegte er sich um sich selbst, während wir die unendlichen Meere und die saftig grünen Wiesen betrachten konnten, bis diese sich irgendwo in Gebirge und Wüstensande verloren und alles wieder von vorne begann. Dann erklang eine sanfte und beruhigende Melodie von der Bühne. Eine junge, hübsche und zarte Frau, die neben Van stand, spielte auf einer Panflöte. Alles war still. Jeder hörte ihren Klang. Während sie spielte, trat ein groß gebauter Fremder in den Vordergrund. „Wir betrauern diejenigen, die wir letzte Nacht an der Oberfläche verloren haben.“
Jeder setzte sich in Bewegung. Alle gingen auf die Knie. Ich tat es ihnen gleich. Der Fremde las die Namen der Verstorbenen vor. Es waren vier. Ein Frauenname war dabei. Irgendwo hörte ich Jemanden schluchzen, als ihr Name genannt wurde. Grace. Dann verschwand das Schluchzen unter der lauten Stimme des Fremden, der sagte: „Ihre Seelen sind zum Planeten zurückgekehrt. Aus ihnen wird irgendwann neues Leben entstehen. Es liegt an uns Zerox vor dem Zerfall zu schützen, damit dieses neue Leben erblühen kann.“ Die Melodie der Panflöte war verschwunden. Die blonde Frau hatte aufgehört zu spielen. Auch sie hörte nun aufmerksam dem Fremden zu. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, während wir noch immer knieten. „Wir begrüßen in unseren Reihen als neue vollwertige Mitglieder Henry von den Sammlern Lebensquelle und Pheo, von den Jägern die Schatten. Ich spürte einen starken Griff an meinen Oberarmen und merkte, wie Kratos mich empor zog. Als Einzige, waren es nun unsere beiden Trupps die aufrecht standen, während alle anderen noch immer um uns herum knieten. Dann stellte der sprechende Fremde, Van als Offizier der Schatten und die dritte unbekannte Person, eine kräftige Frau namens Martha, als Offizier der Lebensquelle vor. Nun waren es alle anderen, die aufstanden und uns applaudierten. So laut, dass es an den Häusern widerhallte. Vereinzelt hörte man Personen jubeln. Mein Team klopfte mir abwechselnd auf die Schulter. Während der Himmel langsam wieder blau wurde, reihten wir uns in eine Schlange aus Menschen ein, und setzten vor der großen Bühne, einen Harken hinter unserem Namen, auf einem Blatt Papier. Als ich an der Reihe war, waren noch viele Felder leer. „Eine Anwesenheitsliste?“, fragte ich Chloe erstaunt. Sie zuckte mit den Schultern. „Das machen die hier so.“ Dann verließen wir den Sammelpunkt und kehrten zunächst in unser Zimmer zurück, bis wir gesammelt zum frühstücken in eine große Kantine gingen. Hier lernte ich ein paar andere Einheiten der Jäger kennen. Holly und Cloe zeigten mir große Krieger und bekannte Persönlichkeiten. Es waren so viele, dass ich mir die Namen gar nicht merken konnte. Während des Essens erzählten sie von ihren erlebten Abenteuern an der Oberfläche und wie knapp sie so manches Mal mit dem Leben davon gekommen waren. Sie lachten dann vergnügt, doch ich schaffte es nicht, mich an ihren brutalen Geschichten zu erfreuen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.05.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon. Für alle Menschen, die ihre Reise noch vor sich haben.

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