Damals habe ich mir nie wirklich Gedanken über Traum und Realität gemacht. Die Frage, was für mich eine Halluzination darstellte, war überflüssig gewesen. Doch nun weiß ich, dass ich mich lange Zeit geirrt habe.
Ich war keine große Träumerin oder Geschichtenerfindern, und so kam es, dass mir keiner an jenem Tag glauben wollte, an dem ich sie das erste Mal gesehen habe.
Alles begann an einem frühen Winterabend. Die Sonne hatte sich schon seit Wochen nicht mehr blicken lassen und so schimmerte bereits das klare Licht des vollen Mondes durch meine Gardienen, die dies eigentlich verhindern sollten. Durch einen kleinen Spalt erblickte ich die ersten Schneeflocken, die sich spielerisch auf meinem Fenstersims niedergelassen hatten. Nun war es also so weit. Die Erinnerungen an die schönen, warmen Sommertage verschwanden mit den ersten Schneeflocken, denn der Winter hatte nun doch mal wieder seinen Weg hierher gefunden. Der Anblick ließ mich frösteln. Zügig zog ich meine Stoffjacke enger zusammen und kehrte dem Winter den Rücken.
Mein Blick schweifte auf die Uhr am Wecker. Halb Eins schon in der Nacht. Es war Zeit ins Bett zu gehen, denn morgen sollte mich der Umzug in unser neues Haus erwarten. Mein Vater überkam die total verrückte Idee unsere tolle Wohnung in England zu kündigen und ein schäbiges Haus in Brasilien, über das Internet, zu kaufen. Oder am Ende der Welt. Wenn meine Mutter wüsste, dass mein Vater durch einen Umzug versuchte, die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit zu verdrängen, würde sie sich in ihrem frischen Grab umdrehen. Da es warscheinlich die einzige Möglichkeit für meinen Vater schien, so ein neues Leben zu beginnen, wollte ich ihm nicht im Weg stehen, sondern begleiten. Also spielte ich das Spiel vom Umzug mit.
Was mir zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht bewusst war: Für mich bedeutete dies den Abschied in meiner Welt.
Lautes Quitschen ertönte. Es riss mich aus meinem schönen Traum. Ich war dabei gewesen mein Zimmer neu zu beziehen, weil mein Vater es sich mit dem Umzug nochmal überlegt hatte. Gerade als ich meinen Koffer aufs Bett warf, um meine Sachen wieder auszupacken, trat er so enorm auf die Bremse, dass die Reifen quitschten. Das hatte er echt super drauf. Vielleicht war es auch Absicht gewesen, weil er mir den Anblick von dem neuen Haus nicht verwehren wollte.
"Na, bist du endlich wach?", fragte er. "Du hast zwei Stunden geschlafen."
Ich hätte am liebsten wieder die Augen zugemacht und mich zurück in den Flieger in mein winterliches London gewünscht, aber dafür war es nun zu spät. Hier in Brasilien war wie immer Hochsommer.
Begeistert fuhr mein Vater die lange Alee entlang, die zu unserem Haus führen sollte. Die Gegend kam mir gleich verdächtig und befremdend vor, denn die Bäume ließen kaum Licht durch ihre Kronen. Vielleicht täuschte das aber auch nur, da es noch so früh war. Es war noch fast Nacht gewesen, als mein Vater mich aus dem Bett gezogen und ins Auto geschliffen hatte. Warscheinlich konnte er den Abschied von seinem alten Leben einfach nicht mehr erwarten. Oder er freute sich auf den elend langen Flug von 17 Stunden.
Langsam lichtete sich die Alee zu einem großen, runden Hof. Vor mir erstreckte sich eine Landschaft, die einem Bilderbuch glich. Ich fühlte mich, als wäre ich in eine Märchenwelt gefallen, denn lauter bunte, farbenfrohe Blumen zierten das gesamte Anwesen. Ein gewaltiger Brunnen zierte die Mitte des Hofes. Eine steinerne Frau ließ klares Wasser aus einem Eimer fallen. Es stürzte hinab in ein Becken aus glänzenden, wirbelden Wasserspielerein. Fünf breite, steinerne Treppenstufen führten hinauf zum Eingang des Hauses. Es war tatsächlich ein wunderschönes altes Haus im Landhausstil. So, wie mein Vater es sich immer für die Familie gewünscht hatte. Kästen mit Blumen in allerlei Farben hatten geordnete Plätze vor jedem der unzähligen Fenster.
"Wie hast du das nur gefunden? Oder viel besser noch: Wie kannst du dir das leisten?", wollte ich wissen und kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
"Weißt du nun, warum ich es dir nicht vorher gezeigt habe, Ellie? Ich wollte die Überraschung nicht verderben." Mein Vater lächelte. Hier konnte er bestimmt einen Neuanfang starten. Ich freute mich mit ihm und merkte wie meine Augen flüssig wurden. Eine Träne rollte mir über die Wange, als sich ein Bild meiner Mutter in meine Gedanken schlich. Ihr hätte es sicher auch gefallen. Nun musste ich stark genug für uns beide sein.
Voll bepackt quälte ich mich die steinernen Treppenstufen zur Haustür hoch. Was hatte ich mir nur dabei gedacht so viel Zeug mitzunehmen? Ich hätte vorher aussortieren sollen. Schnaufend stand ich hinter meinem Vater, wärend er voller Spannung an der Tür klingelte. Zwei müde Augen luckten durch einen schmalen Türschlitz. Als sie ganz aufgeschoben wurde stockte mir der Atem. Vor mir stand eine völlig verschrumpelte alte Dame, die mir gerade bis zu den Hüften ging. Und ich war mit meinen 1,60 nun nicht wirklich gerade groß für eine 17-jährige. Ihre langen grauen Haare wuselten sich den schmalen Körper hinunter. Ein kräuseliger Pony verdeckte zum Teil ihre Augen. Kunterbunt zusammengeflickte Kleidungsfetzen bildeten einen Rock über dem sie eine graue Rüschenbluse trug. Ich wurde das Gefühl nicht los in eine andere Zeit versetzt worden zu sein.
"Willkommen, willkommen.", freute sich die alte Dame. Nicht ein Hauch von einem Akzent war in ihrer Stimme zu vernehmen. "Ihr habt eine weite Reise hinter euch. Kommt erstmal rein."
Mein Vater begrüßte die alte Dame voller Freude und zog seine Reisetasche durch die Tür. Ich folgte ihm.
Kräftig kniff ich die Augen zusammen. An meiner rechten Hand formten der Daumen und Zeigefinger eine Spitze. "Autsch!", schrie ich und löste die Finger von meiner Haut. Es war tatsächlich kein Traum. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich die weite Diele entlang. Eine große hölzerne Treppe, die sich in der Mitte spaltete und in zwei Richtungen verlief, zog die gesamte Aufmerksamkeit auf sich, sodass die vielen zugeschlossenen Türen, die in ihre Richtung liefen, unwirklich erschienen. Zahlreiche Bilder mit verzierten Rahmen bahnten sich ihre Wege in die Unendlichkeit, wärend meine Augen viel mehr auf das ganze gut erhaltene und alte Mobiliar ruhten. Nun wurde mir auch bewusst, wieso mein Vater auf den Transport von unseren sperrigen Möbeln verzichtet hatte.
"Ich such mir ein Zimmer aus.", rief ich; und noch bevor mein Vater mich für die Hausführung zurückhalten konnte, verschwand ich die Treppe hinauf in den ersten Stock.
Ich ließ die große Holztreppe hinter mir und schaute die unzähligen Zimmer des fremden Hauses an. Einige Zimmer waren noch komplett eingerichtet. Ich war überrascht, dass die vorherigen Besitzer all ihr Hab und Gut in diesem Haus gelassen hatten. Im elfenbeinfarbenen Badezimmer entdeckte ich Schränke gefüllt mit Handtüchern, den verschiedensten Düften und sogar die Zahnbürsten standen noch in ihren Gläsern. Drei waren es. Ein unwohles Gefühl stieg in mir auf, als ich mich in dem Spiegel betrachtete. Mein Herz fing willkürlich an schneller zu klopfen. Hatte ich dort im Spiegel gerade einen Schatten gesehn? Ich fing wohl an zu halluzinieren. Mit großen Schritten verließ ich das Badezimmer und bereitete mich auf die nächsten Räume vor. Es dauerte nicht lange, da hatte ich endlich das passende Zimmer für mich gefunden. Ein großzügiger Raum, dessen Fenster leicht abgerundet waren. Die Größe der Fenster eignete sich perfekt für meine Gardienen. So würde ich nachts sicher nicht mehr vom Mond gestört werden. Das Zimmer lag fast am Ende des langen Flures im obersten Stockwerk. Neben mir befand ich ein vollkommen verstaubtes Kinderzimmer. Es war mir unklar, wie die ehemaligen Bewohner dieses Zimmer nur so verkommen lassen konnten. Ich war gerade dabei meinen Koffer auszuräumen und die Kleidung in den hübsch verzierten, dunklen Holzschrank zu legen. Aussortieren musste ich das Zimmer nicht, denn alle Räume in der hinteren Ecke des Stockwerkes waren fast komplett leer, bis auf das Kinderzimmer. Es klopfte an der Tür und mein Vater trat herein.
"Wie ich sehe hast du dein Zimmer gefunden.", freute sich mein Vater. Ich nickte stumm. "Ich habe das Abendessen vorbereitet. Die Vorratskammer ist gefüllt mit Lebensmitteln."
Mein Blick schweifte zum Fenster. Es schien schon spät am Nachmittag zu sein. Mir war gar nicht bewusst wie lange ich mich in den vielen Räumen aufgehalten haben musste. Lief da schon wieder ein Schatten über das Glas der Fensterscheibe? Nein, das war wohl kaum möglich. Ich wandte mich wieder meinem Vater zu und obwohl ich kaum hunger hatte antwortete ich: "Ich bin gleich da." Mein Vater nickte freundlich und verließ das Zimmer.
Ich lief die Alee vor unserem Haus entlang. Es war schon spät am Abend und die Bäume ließen kaum Licht durch das fest miteinander vernetzte Baumdickicht. Hin und wieder bewegten sich die Zweige. Sie warfen unheimliche Schattengestalten zu meinen Füßen. Ich schien Stunden gelaufen zu sein, als sich die Alee in einen düsteren Wald verwandelte. Uneingeschränkt suchten sich die dünnen Äste der Bäume ihre Wege durch die Baumkronen. Ein gewaltiges Dach aus knochigen Zweigen entstand über mir. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Ich spürte wie alle Körperteile zu zittern begannen und meine Hände feucht wurden. Was tat ich hier eigentlich? Wieso war ich in diesen Wald gegangen? Hörte ich da etwa Musik? Eine leise freudige Musik drang in meine Ohren. Plötzlich war alle Angst verschwunden. Ich fing an zu lachen, freute mich, war wie hypnotisiert von dieser Musik. Ohne das ich mich wehren konnte, wollte, fingen meine Beine an zu rennen. Immer schneller und schneller. Ich hatte die Kontrolle über mich selber verloren, über meinen Körper. Die Musik wurde immer lauter, wärend ich durch den dunklen Wald tänzelte. Aufeinmal kribbelte es mir am ganzen Körper. Meine Beine hatten aufgehört zu laufen. Meine Hände hatten ihre übliche Trockenheit zurück gewonnen und mein Herz pochte in normalen Schlägen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ungläubig auf ein riesiges rot, weißes Circuszelt, in dessen Hintergrund sich ein Freizeitpark durch den Wald schlängelte. Dann plötzlich: Der Fall - ich konnte mich nicht halten, alles fing an sich zu drehen. Ich fiel und fiel, immer tiefer in das Nichts. Kein Aufprall, kein Laut war zu hören, denn mein kraftloser Körper schwebte noch immer in der Dunkelheit. Ein Fall der niemals endet, als hätte Jemand auf den Wiederholungsknopf gedrückt. In diesem Spiel, dass niemals endet.
Ich riss meine Augen auf. Tränen kullerten mir über die Wangen. Ich schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Wie konnte ich jetzt nur einen Rückfall bekommen? Die erste Nacht in dem neuen Haus, alles war super. Ein schöner Traum und dann plötzlich dieses Gefühl. Dieser Absturz. Ich musste an meine Mutter denken. An den Aufzug der sie in den Tod gerissen und mich unverletzt am Leben gelassen hatte. Für einen kurzen Moment sah ich ihn - diesen Lichtschimmer. Der Glaube daran, dass wir endlich neu anfangen könnten. Die Zuversicht einen Weg aus diesem dunklen Gefängnis zu finden, in dem man mich eingesperrt hat. Doch da war es wieder. Der Gedanke, der mich so sehr quälte. Der mich verantwortlich für ihren Tod machte.
Ich presste mit das Kissen ins Gesicht. Das machte ich immer so um mich zu beruhigen. So fühlt man sich einen kurzen moment noch eingeengter und freut sich über die frische Luft, wenn man das Kissen hoch nimmt. Es dauerte keine Minute, da hob ich das Kissen langsam an und legte es zur Seite. Mit meiner zittrigen Hand drückte ich den Lichtschalter an meiner kleinen Nachtischlampe. Jetzt konnte ich sicher nicht mehr schlafen. Ein mulmiges Gefühl stieg in mir auf, als ich mich aufsetzte. War da wieder dieser Schatten gewesen? Etwas durchfuhr doch gerade den Spiegel an meiner Zimmertür. Langsam fing ich an, an meinem Verstand zu zweifeln.
Ich war mir sicher, dass ich etwas gehört hatte. Es konnte nicht sein, dass ich mir diese seltsamen Schatten immer wieder nur einbildete. Mit zitrigen Fingern tastete ich über den Spiegel an meiner Zimmertür. Das kalte Glas schmiegte sich an meine Handfläche. Nun presste ich auch meine zweite Hand auf das Glas. Gerade als mir bewusst wurde, wie bescheuert das warscheinlich aussah, und ich meine Hand zurück nehmen wollte, spürte ich einen Sog, der von dem Spiegel ausging. Ungläubig stemmte ich mich mit aller Kraft gegen den Spiegel. Ich zerrte und zog, versuchte meine Hände von der kalten Oberfläche zu lösen, doch es geschah nichts. Etwas hielt mich zurück. Wollte mich nicht loslassen. Panik stieg in mir auf, wärend ich noch immer versuchte mich loszureißen. Ich betrachtete mein panisches Spiegelbild. Es schaute mich an, wimmerte, wollte weg von der Scheibe. Doch desto länger ich es betrachtete, desto mehr gefiel es mir. Gefiel ich mir. Die Augen sahen mich an, der Mund lächelte vertraut und die Finger meines Spiegelbildes umschlossen die meine, wärend ich ungläubig das Lächeln erwiderte. Die Hände waren erschreckend kalt.
Plötzlich wurde mir bewusst was hier passierte. Schlagartig kehrte meine Panik zurück. Laute, flehende, schreiende Töne drangen aus meinem Mund, wärend ich immer und immer wieder versuchte mich von meinem Spiegelbild zu lösen. Mit einem gewaltigen Ruck fiel ich rückwerts zu Boden. Mein Spiegelbild sah zu mir hinab. Tränen rollten ihr die Wange hinunter, als sie sich in einen Schatten verformte, den Spiegel verließ und ich einer am Boden sitzenden Ellie, mit beängstigtem Gesichtsausdruck entgegen starrte.
Die Tage vergingen und so langsam kehrte wieder Normalität in meinem Leben ein. Die seltsame Begegnung mit meinem Spiegelbild lag nun Wochen zurück und seitdem suchten mich die unheimlichen Schatten nicht mehr heim. Mein Vater war ganz aufgewühlt, als er mich wimmernd am Fußboden meines Zimmers entdeckte. Er deutete dies als psychisch hinterbliebenen Schäden des Unfalls, bei dem meine Mutter ums Leben kam. Ich wollte ihm diese Gedanken nicht nehmen, da ich selber das Gefühl hatte, an einer Halluzination gelitten zu haben. So kam es langsam dazu, dass ich mich mit meinem neuen Leben abfand und mich auch in der neuen Schule einlebte. Doch eines Abends wurde mir bewusst, dass aus wirrenden Gedanken oder verzwickten Träumen Wirklichkeit werden kann.
Im Leben ist es schwer sich zu entscheiden, aber noch schwerer ist es sich richtig zu entscheiden. Letztendlich beeinflussen unsere Entscheidungen unser ganzes Leben. Es gibt Wege, die nicht immer deutlich erkennbar sind. Wege, die uns bei diesen Entscheidungen helfen oder in die Irre führen. Doch eigentlich können nur wir selber entscheiden was tatsächlich für uns das Richtige ist. Hätte ich damals gewusst was mich an diesen Abend erwartet, wäre meine Entscheidung warscheinlich ganz anders ausgefallen.
Eine mir vertraute, freudige Musik entzog mich aus meiner Traumwelt. Es war spät am Abend, fast schon Nachts und ich hatte bereits das Gefühl schon Stunden geschlafen zu haben. Wie in Traunce schob ich meine Decke zur Seite und verließ das Bett. Eine unheimliche Anziehung ging von dieser bekannten Musik aus, der ich mich einfach nicht entzerren konnte. Meine nackten Füße berührten das kalte Holz meines Fußbodens, wärend ich vorsichtig auf die Zimmertür zuging, diese öffnete und leise hinter mir schloss. Ein schwaches Licht leuchtete auf dem Flur und ließ den langen Gang orange wirken. Geführt von einer anderen Macht bewegte ich mich auf das verstaubte Kinderzimmer am Ende des Ganges zu. Seit dem Einzug hatte ich das Zimmer vollkommen ignoriert. Auch beim Entsorgen einiger der Gegenstände unserer Vorbesitzer, hatten wir das Kinderzimmer völlig außer Acht gelassen. Doch nun war es, als würde mich etwas dorthin ziehen. Würde die Musik aus dem verstaubten Kinderzimmer kommen und nach mir rufen. Mit einer überraschend ruhigen Hand drückte ich die Klinge der Tür hinunter. Sie ließ sich unnatürlich schwer öffnen. Ein kalter Windstoß kam mir entgegen, als ich das Zimmer betrat. Ein kleines abgerundetes Fenster, welches gegenüber der Tür lag, stand weit offen. Die daran hängenden Gardienen wedelten spielerisch durch den Raum. Zügig ging ich auf das Fenster zu, schloss es und zog die Gardienen wieder davor. Mir fiel auf, dass die Griffe des Fensters ziemlich alt und abgenutzt waren. Warscheinlich hatte es sich davon geöffnet. Plötzlich bemerkte ich die anziehende Musik wieder. Zu meiner eigenen Überraschung kam sie von einem kleinen Harelequin, der seinen Kopf immer und immer wieder im Kreis drehte. Dabei spielte er diese lustige Melodie, die mich an den Freizeitpark im Wald, aus meinem Traum, erinnerte. Er saß auf dem Rand einer großen, geöffneten Holztruhe. Viele Spielerein befanden sich ihr. Die Spielzeuge, die Teilen aus Freizeitparks glichen, schienen alle äußerlich beschädigt zu sein. Vielleicht waren auch einige von ihnen defekt und dort entsorgt worden. Die Haare des Harlequins waren in einem rötlichen hellen Ton, in dessen Spitzen goldene Glöckchen geflochten waren. Und in seinen Händen hielt er einen seltsamen Stab, an dessen Spitze ein Clownskopf traurig schaute. Sein Gesicht war blass, fast weiß, aber dennoch lieblich. Die Kleidung des Harlequins glich einem viel zu großen schwarz, weiß gestreifen Schlafanzug. Riesige Stiefel zierten seine Füße, an deren Spitzen, sich zu seinen Zehen, der Stoff kringelte. Um ihn mir genauer ansehen zu können, schob ich einige andere Spielzeuge zur Seite und nahm die Spieluhr auf den Arm. Schlagartig hörte die freudige Musik auf. Langsam bewegte sich der Kopf des Harlequins in meine Richtung. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich in das Gesicht des kleinen Püppchens. Seine Augen blickten in die Meinen, sie waren wie echt. So nah, so wirklich. Gar nicht mehr wie die einer Musikfigur. "Komm mit nach Nebenan. Ins Refugium.", sprach sie in einem flüsternden Ton. Wie unwahr, wie unecht. Wie seltsam das alles schien. Aber dennoch drückte ich die kleine Puppe an mich und kletterte in die große, alte Holzkiste.
Ein Neuanfang ist nicht immer einfach. Wieso startet man also einen Neuanfang? Ich weiß nicht, was mich dazu getrieben hat in diese seltsame Spielzeugkiste zu steigen. Ich weiß nicht, wieso ich nicht einfach weggelaufen bin, als der Harlequin zu mir gesprochen hat. Und ich weiß auch nicht, wieso ich ihn als so lieblich empfand. Viel einfacher war es für mich, diese Situation und das Hier und Jetzt so akzeptieren, wie es mich überrumpelte.
Dunkelheit versperrte meine Sicht, sobald ich in die Kiste kletterte. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, während ich einen langen beängten Weg entlang kroch. Zu meiner rechten und linken presste ich die Hände gegen das Innere der Truhenwand. Ein kleiner, glühend gelber Funke führte mich weit in die Dunkelheit der Spielzeugkiste. Mit meinen Füßen schob ich einige der kaputten Spielzeuge zur Seite. Der Lichtfunke ließ mich die Spielzeuge für einen Augenblick betrachten. Und da war er - dieser Moment - dieses Gefühl. War ich glücklich. War ich ein Mensch. Ein Mensch der lebt und die Welt sieht. Ich erinnerte mich an meine Spielzeuge. An den kleinen Teddy, der jede Nacht neben mir im Bett lag. Zugedeckt, sodass nur der kleine Kopf hinausguckte. Denn er musste mich bewachen. Bewachen vor den bösen Kreaturen, die unter dem Bett, im Schrank oder in der Spielzeugkiste auf mich lauerten. Ich kniff die Augen zusammen. Wollte es nicht wahrhaben. Diese Kreaturen nicht vor mir sehen. Mit schwitzenden Händen drückte ich den kleinen Harlequin fest an meine Brust, wie ich es mit meinem Teddy getan hätte.
Die Zeit in der Dunkelheit kam mir endlos vor. So ewig. Doch bald verlor der einzige Lichtfunke an Leuchtkraft. Wurde immer schwächer und schwächer, bis er verschwand und sich vor meinen Augen eine Öffnung auftat. Vorsichtig schob ich etwas, dass sich wie Holz anühlte, zur Seite und drückte mich hindurch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf die Stoffdecke eines riesigen Zeltes. Runde, große und kleine Leuchten in allerlei Farben erhellten das Zelt. Viele seltsame Gegenstände hingen an der Decke hinab oder standen wahllos im Raum. Sie sahen aus wie Geräte für eine Circusvorstellung. Riesige Ringe, Stangen und sogar viele Bälle waren zu sehen. Doch eine Ecke des Raumes lag im Dunkeln verborgen. Zwei Füße traten ins Licht. Sie gingen langsam in die Höhe, bis sie sich wieder zurück auf die Hacken plumsen ließen. Dabei machte etwas ein wimmerndes Geräusch. Neugierig kletterte ich aus der Spielzeugkiste, drückte den kleinen Harlequin wieder fest an mich und ging auf die bewegenden Füße zu. Meine Neugierde trieb mich. Sie wollte wissen, was sich dort im dunkeln verbarg.
Mit einem gewaltigen Ruck schnellte ein riesiger Kopf aus der Dunkelheit hervor. Mit weit aufgerissenen, erschreckenden Augen starrte mir der menschengroße Harlequin entgegen. Seine Puppilen weiteten sich, als er zu mir sprach und auf sein kleines Double in meinem Arm deutete. "Du hast mich zu mir gebracht.", sagte er mit einem tiefen Unterton. Und ich hatte das Gefühl, etwas Schlimmes getan zu haben.
Habt ihr euch schon einmal gefragt, wer ihr wirklich seid? Wohin ihr gehört und wieso ihr dahin gehören solltet? Ich weiß nicht wieso es so ist. Wieso ich solche Gedanken habe. Mich hin und hergerissen zwischen zwei Welten fühle. Wobei die eine Welt doch gar nicht wirklich ist.
Mit pochendem Herzen drückte ich die kleine Harlequin Puppe fester an mich. Mir stockte der Atem, als ich in das Gesicht der seltsamen Gestalt vor mir starrte. Er hatte so gar keine Gemeinsamkeiten mit der kleinen Musikpuppe in meinem Arm. War so fremd, so weit entfernt. Und so verschlossen. "Du hast mich zu mir gebracht, zu mir gebracht.", wimmerte er unzählige Male und seine Stimme klang so furchtbar ängstlich, so zerbrechlich. Ich versuchte mich zu fangen, wollte mich nicht aus der Fassung bringen lassen. "Es tut mir leid.", stammelte ich, "Ich konnte nicht wissen..." "Sie konnte nicht wissen!", wurde ich von einer grellen, lauten Stimme unterbrochen. Erschrocken fuhr ich herum. Drei verrückte Gestalten bauten sich vor mir auf. Die Eine, lang und dürr. Eine junge Frau, etwas größer als ich es bin. Lange blonde Haare fielen über ihre Schultern hinab und kräuselten sich um ihre schlanken Arme. Ein blaues, glizerndes Top rahmte ihren Körper, während sich ein ebenso blauer Rock in vielen Stoffschichten darunter hervor schob. Eine helle, weiße Strumpfhose führte hinab zu kleinen, bläulichen Schuhen, in denen ich mir sicher Blasen laufen würde. Mit ihren Zehenspitzen berührte sie sanft, aber sicher den Boden. Sie nickte mir mit ihrem rundlichen Gesicht zu und lächelte mich an. Neben ihr, drückte sich ein kleiner, runder Mann in den Vordergrund. Braune, glatte Haare kämpften sich unter einem schwarzen Zylinder hervor. Er trug einen dunkelblauen Anzug, mit einer roten Schleife. Riesige, schwarze Stiefel sorgten dafür, dass seine Hose nicht zu rutschen begann. In seiner rechten Hand hielt er etwas, dass wie eine Peitsche aussah. "Ich bin Chris, der Dompteur.", sagte der dicke, kleine Mann mit einer strengen Stimme. Er deutete auf das Mädchen im Tütü: "Das ist Bel", sagte er. Seine Augen schweiften hinunter zu unseren Füßen. "Ach, und das ist Teddy." Hinter Chris' Füßen zwängte sich ein kleiner brauner Teddybär empor. Zu meiner Überraschung bewegte er sich so, als wäre er gerade erst lebendig geworden. Meine Augen fielen auf die unzähligen Nähte an seinem linken Bein. Der kleine Teddy musste eine schwere Zeit gehabt haben.
"Teddy, Teddy.", kam es wimmernd aus der Ecke. Und der kleine Teddy humpelte zügig auf den Harlequin zu, legte seine Tatze auf sein langes, dünnes Bein und streichelte. "Sie hat mich zu mir gebracht." Ich war verwirrt.
"Was ist sein Problem?", brach es aus mir heraus und ich hoffte, endlich Antwort finden zu können. "Wenn es um die Puppe geht. Er kann sie haben."
Chris kam näher, machte sich größer und sprach im leisen Tonfall: "Auf keinen Fall! Sein Double muss sofort zurück zum Porta Mundus." Ich kam mir vor, wie im falschen Film. "Porta Mundus?", wollte ich wissen. "Was soll das denn bitte sein?"
"Das Tor zur Welt. Der Ort, an den wir nicht mehr können."
"Porta Mundus, Porta Mundus" zwängte es sich in meinen Kopf. Unwirklich kam es mir vor. Wie ich hier saß, an einem runden Tisch und mich mit einer Ballerina, einem Dompteur und einem Teddy unterhielt. Den Harlequin hatten wir in in dem vollgestellten Raum zurück gelassen. Das war auch gut so. Er kam mir sehr verstört vor. Der Dompteur meinte zu mir, es gäbe Einiges, was ich wissen müsste, über das Refugium. Ich konnte mir das Alles nicht vorstellen. Nicht begreifen und nicht verstehen, wo ich war und wieso ich dort war. Die Welt kam mir fremd, aber dennoch vertraut vor. Es war ein Trieb, der mich dazu verleitete, mehr über diesen Ort wissen zu wollen.
"Das Refugium ist ein Zufluchtsort. Eine fremde Welt, die Jedem Sicherheit gewähren sollte, der sie benötigt und danach sucht. Eine fantastische Welt, geschaffen von der Königin der Zuflucht Efrem. Sie bot uns allen Schutz, bis wir in der Lage seien wieder hinauszugehen. Doch die Finsternis schlich sich in das Refugium. Habgier und das Streben nach immer mehr, trieb die Königin dazu ihr Refugium in einen Ort der Selbstsucht zu verwandeln. Und so kam es, dass die Dunkelheit überliegt. Ein dunkler Zauber, gesprochen mit den Lippen eines Toten, hält uns hier fest. Zu der Zeit des Neumondes, wenn sich der Mond im Schatten der Sonne befindet, sendet der Tote seine Lakaien aus, um einen von uns durch das Porta Mundus zu holen. Von dort an, sind wir hier für immer gefangen und werden so, wie er. Nicht mehr bei Sinnen, verlieren den Verstand."
"Was ist das für ein Zauber, der euch hier gefangen hält?", wollte ich wissen, denn Chris hatte meine Neugierde geweckt.
"Ein grausames Monster lauert in den Wegen des Porta Mundus auf Jeden, der versucht, diesen Ort zu verlassen. Der Harlequin Parn war unsere letzte Rettung, denn er hat Kontakt zur Außenwelt aufgebaut. Wir könnten vielleicht gerettet werden." Traurige Blicke machten sich in den Gesichtern der drei Fremden breit. Nach einer kurzen Pause traute ich mich endlich zu fragen: "Was ist schief gelaufen?" Eine düstere Stimmung kehrte ein und ich hatte mal wieder das Gefühl etwas falsch gemacht zu haben. Da blickte mir die kleine Harlequin Puppe entgegen, die ich auf dem Tisch, an einer schwach beleuchteten Lampe, angelehnt hatte. Schlagartig wurde mir bewusst, dass nicht die drei Fremden oder der verstörte Harlequin Schuld daran waren, dass sie ihren Plan nicht ausführen konnten - sondern ich. Hitze stieg in mir auf und ich spürte wie sich das Blut seinen Weg durch meinen Körper suchte. Ich hatte mir nichts dabei gedacht, als ich in die Spielzeugkiste geklettert war. Hatte etwas Angst gehabt, wollte nicht alleine gehen. Nicht alleine im dunkeln sein. Und da hatte ich ihn einfach mitgenommen. Anstatt ihn da sitzen zu lassen. Dort, auf dem Rand der offenen Spielzeugkiste.
War ich ein Lakai des Toten? Ich hatte ihn zu ihm gebracht. Und nun war es Zeit in den Kampf zu ziehen.
Eine schreckliche Nacht voller Düsternis lag vor mir. Während der seltsame hellblaue Mond sich an die Spitze des Circuszeltes schob und ich ihn verwundert beobachtete, fragte ich mich, wieso immer wieder ich in solche Schwierigkeiten geraten konnte. Mit fest zugekniffenen Augen wünschte ich mich weg aus dem Refugium. Weg, an einen anderen Ort. Ich hatte es satt, mich in die wunderlichsten
Fantasiegeschichten hineinzuträumen. Wollte nur noch ich selber sein. Ich, Ellie. Niemand sonst.
Ein Windzog umflog den Raum. Hastig wickelte ich die schäbige Flickendecke enger um mich. Es war mir so, als würde man mich beobachten. Dabei versuchten die anderen Gestalten des Circuszeltes mich im verborgenen zu halten. Chris meinte, dass wäre wichtig. Das Geheimnis, dass Jemand aus der Außenwelt, das Refugium betreten hat, dürfe auf keinen Fall das Circuszelt verlassen. Dennoch ließ mich das seltsame Gefühl nicht los, dass unzählige kleine Augen auf mir ruhten und jeden meiner Schritte verfolgten. Noch einmal ließ ich meinen Blick durch den vollgestellten Circusraum schweifen. Nein, dort war wirklich nichts. Das bildete ich mir nur ein. Meine Hand griff nach dem Schalter an der bunten Tiffanylampe. Sofort kehrte diese furchteinflößende Dunkelheit im Zelt ein. Mit einem mulmigen Gefühl zog ich die Decke über meinen Kopf und legte mich auf die Matte, die Chris mir bereit gelegt hatte. Die bunte Flickendecke roch nach einer dicken Schicht Staub. Warscheinlich bekam man hier nicht oft Besuch, im Refugium.
Meine verwirrten Gedanken führten mich durch einen seltsamen Traum, der einfach kein Ende zu nehmen schien. Dürre, knochige Äste zogen an meinen Kleidern, während ich durch die blühenden Allee in Richtung des Jahrmarktes tänzelte. Mein Blick schweifte in die Baumkronen. Die Gesichter der drei Freunde lächelten mich an. Sie empfingen mich. Sie warteten auf mich. Wollten mich dort haben. Ich hatte endlich einen Ort an den ich gehörte. Das Refugium war mein neues Zuhause und keiner würde mich vermissen. Doch dann - Ein Schrei hallte durch die Dunkelheit, prallte an den Baumstümpfen ab und schlug mich zu Boden. Händeringend versuchte ich gegen den Sog anzukämpfen, wollte mich wehren, wollte mich retten. Doch es ließ mich nicht los. Zog mich immer weiter hinunter in den sich öffnenden Spalt im Boden. Ich würde hinunterfallen. Die drei Freunde tauchten vor mir auf. Chris reichte mir seine Hand. Er war riesig geworden. So groß, wie ein Mensch aus der Außenwelt. Er lächelte mir zu. Zügig griff ich nach seiner Hand. Hielt mich fest, wollte nicht loslassen. Er würde mir helfen. Ein Blick nach unten verriet mir, dass brennende Lava meinen Körper in Stücke reißen würde. Ich würde brennen und jeden einzelnen Glutfunke auf meiner Haut spüren, bis nichts mehr von mir übrig war. "Hilf mir. Hilf mir.", wimmerte ich; und es klang so echt, so real. Meine Augen wanderten auf Chris' Hand. Sie fühlte sich seltsam rau an. So gar nicht menschlich. Wo eben noch eine Hand, die meine gehalten hatte, schlängelte sich nun ein knochiger Ast um meinen Arm. Chris' Augen weiteten sich immer mehr. Den Mund geformt zu einem tonlosen Schrei, entkroch aus ihm eine düstere Gestalt. "Hilf mir. Hilft mir.", wimmerte sie in meiner Stimme, zog die knochigen Schlangenarme zurück und ließ mich in die heiße Lava fallen. Ohne zu Schreien hieß ich den Tod willkommen, denn ich wusste: Es war nur wieder ein Alptraum. Ich würde immer wieder aufwachen.
Mit flatternden Liedern öffnete ich meine Augen. Ein schwumriges Gefühl überkam mich, als ich mich aufrichten wollte. Meine Erinnerungen spielten verrückt; waren nicht mehr überschaubar. Ich wusste nicht was geschehen war, oder konnte es nur bruchstückartig zuordnen. Langsam wurde meine Sicht klar. Ich erkannte den zugestellten Raum des Circuszelten, in dem ich mich schlafen gelegt hatte. Rasch zog ich die Flickendecke von meinem Körper und legte sie zur Seite. Meine Augen fielen auf meine Haut. Ein eindringliches Stechen ging davon aus. Dicke geschwollene Stellen übersähten meinen Körper. Erschrocken tastete ich ihn ab. Ich war entstellt. Etwas musste passiert sein, während ich geschlafen hatte. Gerade als ich in Panik geraten wollte, kamen Chris und Bell auf mich zu. Sie redeten auf mich ein, versuchten mich zu beruhigen und zurück zu halten. Da mein Körper noch immer geschwächt war, ließ ich es zu.
Nach einer Weile drängelten sich allerlei Gestalten in das Circuszelt. Menschengroße Hasen, die auf zwei Beinen liefen, lebendiggewordene Spielzeuge, ein Katzenmädchen und noch weitere Figuren. Sie alle schienen auf meine Erwachung gewartet zu haben. Das Zelt war urplötzlich erfüllt von Getuschel und Gemurmel, dass ich kaum verstehen konnte.
"Etwas Schlimmes ist vor 3 Nächten passiert, Ellie.", begann Chris zu erzählen und alle Schaulustigen drängelten sich nun weiter in den Raum, um ihn besser hören zu können. "Die Königin scheint dich bereits entdeckt zu haben. Wir hätten wissen müssen, dass ihr nichts verborgen bleibt."
Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ungläubig in die Runde. Die Zuschauer waren mir völlig egal. "Soll das heißen, eure Königin hat mir das angetan?" Ich sprach laut. Es war schon fast ein schreien. In so einem zornigen Ton kam ich mir selber befremdet vor. "Sie versucht wohl deine Träume zu manipulieren, damit du zwischen Halluzination und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden kannst.", erklärte Chris weiter. Es war mir ein Rätsel wie er so ruhig dabei bleiben konnte. "Na das ist ihr ja super gelungen. Ich sehe aus wie eine Vodoopuppe!" Rasch streckte ich meine blanken Arme Chris entgegen. Ich merkte wie unangenehm es ihm war hinabzuschauen. "Wir müssen eine Lösung finden, bevor es zu spät ist!", rief Bell mit ihrer glockenzarten Stimme. In der Menge tat sich wieder ein Getuschel der Zustimmung auf. Ich blickte einige Gestalten an und versuchte ihren Blicken stand zu halten, als sie den meinen erwiederten. Eine schmächtige kleine Bande, gefangen in diesem Circuszelt, wahrscheinlich auf Ewig. Ein beklemmendes Gefühl drängte sich in mein Herz, als ich die Gestalten genauer betrachtete. Menschengroße Hasen, eingeschüchtert, verletzt. Die Nähte in ihrer Haut waren deutlich zu erkennen. Spielzeuge, denen Teile fehlten. Unvollkommen, als sollten sie nie fertiggestellt werden. Dem lieblichen Katzenmädchen fehlte der Schwanz. Ein kleiner Stummel ragte an dessen Stelle hervor. Was war das nur für ein zerstörter Ort? Ich wollte mir den Anblick der weiteren Gestalten ersparen. Es war nicht richtig, sie so anzustarren.
"Eine Lösung, eine Lösung.", überlegte Chris laut vor sich her. "Chris, wir müssen etwas tun, sonst wird ihr die Königin noch mehr Leid zufügen." Angst stieg in mir auf. Noch mehr Schmerzen würde ich nicht ertragen. "Es gibt keine Lösung!" Nun wurde auch Chris' Stimme lauter. "Es sei denn, wir schaffen uns einen Weg in die Freiheit, aber du weißt, dass das unmöglich ist."
Ich versuchte mich an mein erstes Gespräch mit Chris zu erinnern. Er erzählte mir etwas von dem Porta Mundus, dem Tor zur Welt. Ein Durchgang zur Außenwelt, bewacht von einem schrecklichen Monster, das Jeden vernichtet, der versucht hindurch zu schreiten, um das Refugium zu verlassen. Zu der Zeit des Neumondes, holt er einen von ihnen aus der Außenwelt. Ihr Double. Um sie für immer gefangen zu halten.
Stille war in das Circuszelt eingekehrt. Kein Atemzug war zu vernehmen. Würde ich nun die Augen schließen, würde alles um mich herum verschwinden. Ich könnte an zuhause denken. An meinen Vater, das neue Haus. Ich wäre einfach verschwunden von hier. Aber das unheimliche Kinderzimmer am Ende des Flures würde mich immer heimsuchen. Es würde mich nie in Ruhe lassen. Die Gestalten würden sich in mein Gedächtnis schleichen. Sie würden mich immer wieder finden. Überall. Ihre traurigen Augen würden mich mit jedem Atemzug, den ich in Freiheit verbrachte, quälen. Es wäre unerträglich zu gehen.
"Ich steige durch das Porta Mundus. Noch heute Nacht." Klar und stark war meine eigene Stimme zu hören. Ich klang so fremd, so mutig, so gar nicht nach mir, aber dennoch war es meine Stimme, die entschied diesen Kampf zu beginnen.
"Du musst vorsichtig sein.", sagte Chris nun bestimmt schon zum zehnten Mal. Ich antwortete nicht, sondern versuchte mich auf unseren Plan zu konzentrieren, während ich geradewegs auf die Spielzeugkiste, aus der ich geklettert war, zuschritt. In der hintersten und dunkelsten Ecke des Raumes lauerte noch immer der Harlequin und wimmerte vor sich hin. Etwas zog an meinem rechten Hosenbein. Ich blickte hinunter. Der kleine Teddy sah mit großen Augen zu mir auf. In seinem Arm hielt er, das für ihn viel zu große, Harlequin Double. Er streckte es mir entgegen. Ich verstand nicht so ganz, was der kleine Teddy von mir wollte. Ich wusste genau, dass ich den Plan von Parn verdorben hatte. Nun musste er es mir doch nicht noch extra unter die Nase reiben. Gerade als ich meinen Blick abwenden wollte, rief Bell entzückt: "Das ist ja eine fantastische Idee, Teddy!" Irgendwie kam es mir vor, als würde nur ich den kleinen Teddy nicht hören können. Überrascht wandte ich mich an Bell. "Nimm die Spieluhr mit zurück durch das Porta Mundus.", forderte Bell mich auf. Ich verstand nicht so ganz, was den Sinn darstellen sollte. Schließlich sollte ich ja unbemerkt durch das Porta Mundus in die Außenwelt gelangen. Hätte ich den kleinen Harlequin dabei, würden wir sofort entdeckt werden. Ich schüttelte den Kopf und gerade als ich dagegen protestieren wollte, erklärte mir Bell: "Nicht die Lakaien haben Parn's Spielfigur ins Refugium geholt, sondern du. Wenn du ihn mit den anderen Spielzeugen aus der Spielzeugkiste entfernst und in Sicherheit bringst, kann er vielleicht wieder der werden, der er einmal war." Ich musste schmunzeln. Irgendwie kam mir der besprochene Plan zu einfach vor. Ich sollte zurück durch die Kiste klettern, in meine Welt gelangen, die kaputten Spielzeuge aus der Kiste nehmen und irgendwo an einen sicheren Ort verstecken. Chris wollte dadurch vermeiden, dass noch weitere Gestalten durch das Porta Mundus geholt und gefangen gehalten würden. Er meinte, es würde uns Zeit schaffen gemeinsam zu überlegen, wie wir die Königin Efrem davon überzeugen könnten, freigelassen zu werden. Wieder musste ich schmunzeln. Sie waren sehr leichtsinnig, wenn sie glaubten, dass ich zurück ins Refugium kehren würde, wenn ich die Doubles versteckt hätte. Obwohl ich auch nicht vor hatte sie dem Zufall zu überlassen.
"Okay.", entschied ich. "Einen Versuch ist es wert." Ich sah ein Lächeln in Teddys Gesicht und auch Bell und Chris schienen erleichtert zu sein. Mein Blick schweifte in die dunkle Ecke, in der Parn über den Boden kroch. Seine Arme hatte er weit von sich gestreckt und mit seinen Füßen schob er seinen langen, dürren Körper nach vorne ins Licht. Er drehte sich auf den Rücken, sodass ich erstmals direkt in sein mit Farbe verschmiertes Gesicht blicken konnte. Weit riss er den Mund auf und ein dröhnendes Gelächter erfüllte das Zelt. Ein Schauer durchfuhr meinen Körper, bei jedem Ton, den er von sich gab.
Schnell riss ich Teddy die Spieluhr aus den Pfoten, wandte mich von der kranken Gestalt ab, ging in Richtung Spielzeugkiste und kletterte hinein. "Komm zurück!", rief Bell mir hinterher. "Du musst..." Chris's Stimme verlor sich im Dunkeln der Stille. Ich hatte das Gefühl, er wollte mir noch etwas Wichtiges sagen, aber es war zu spät zum Umkehren, denn meine Füße rannten ihren Weg. Sie wollten weg. Und ich ließ es geschehen.
Ich lief und lief immer weiter in die Dunkelheit. Nichts vermochte mich zu halten, mich zu stoppen auf meiner endlosen Reise durch das Nichts. Schwarze Schatten suchten sich ihren Weg um meine Füße. Mit jedem weiteren Schritt quoll der feste Nebel vom Boden empor. Rauchig schlug er mir in Gesicht und Nase. Ich musste husten, war außer Atem, bekam kaum Luft - doch mir war Bewusst: Ich durfte nicht anhalten. Nicht hier und nicht Jetzt.
Seltsame Schreie schalten in meinen Ohren. Bruchstücke von Erinnerungen taten sich vor mir auf. Meine Mutter nahm mich in den Arm. Sie tastete über meinen Kopf und ließ jede einzelne Haarsträhne durch ihre Fingerspitzen gleiten. Ein Gefühl der Wärme umschloss mein Herz. Ein Gefühl der Sehnsucht und der Einsamkeit.
"Du musst weiterlaufen!", schallte Chris' Stimme durch den endlosen Tunnelgang, "Du darfst niemals aufhören zu laufen!" Seine Stimme klang deutlich und voller Kraft. Sie war so stark, dass sie mich aus meiner Halluzination befreite und zurück in die Realität zog. Keuchender Husten drang aus meiner Kehle. Das wollte er mir sagen. Ich durfte mich nicht zu lange in der Finsternis aufhalten. Meine Beine waren zu Boden gesackt, während ich mich in die Erinnerung mit meiner Mutter einschließen lassen hatte, aber nun musste sie mich freigeben. "Nein, bleib bei mir.", flehte die schwache und weit entfernte Stimme meiner Mutter, doch ich wusste, dass es falsch war zu bleiben. Meine Hände stießen den fremden Schatten von mir ab und meine Füße reißten sich aus den dicken Nebelschwaden am Boden los. Händeringend versuchte ich das Gleichgewicht wiederzufinden, das mich hierher gebracht hat. Hier, in das Porta Mundus.
Mit weiten Schritten rannte ich dem Ende entgegen. Ein blasses Licht erleuchtete in der Ferne. Mir war bewusst, dass es das Kinderzimmer sein musste. Eine riesige Leiter schoss empor in Richtung des Lichtes. Ohne zu zögern ergriffen meine Hände das kalte Metall. Ich zog meine Füße aus dem Nebel in die Freiheit. Sie mussten mir nun helfen, diese Leiter zu erklimmen, um das Kinderzimmer zu erreichen. Plötzlich schnellte etwas aus dem Boden. Es zerrte, es zog an mir. Es wollte mich hinunter reißen. Zurück in den Nebel. Ich wehrte mich. Versuchte, dass nach mir greifende Etwas abzuschütteln, es loszureißen. Rangeleien begangen zwischen ihm und mir, während ich es mit aller Kraft aus dem Nebel zog und in das schattige Gesicht meiner Selbst blickte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte es mir von der anderen Seite der Leiter entgegen. Sein Blick suchte den Meinen, seine Füße stellten sich auf die Meinen und seine Hände berührten die Meinen. Kälte kroch sich durch meinen Körper, während ich dem anderen Ich dabei zusah, wie es mich musterte. Ein stinkender Geruch drang mir in die Nase. Ein Geruch der Verwesung und des Todes. Aufeinmal bemerkte ich, wie mich die Kälte gefesselt hatte. Meine Füße, gefangen unter den ihren. Meine Hände, gehalten von den ihren, nahmen eine seltsame Form an. Schrumpelige, alte und knochige Finger luckten unter den ihren hervor. Ich schrie, wollte weg, als ich den plötzlichen Schmerz in meinen Gliedern spürte, der mich drohte auseinander zu reißen. Ihre Hand löste sich. Sie kletterte die Leiter hinab. Ich blickte ihr erschrocken hinterher. Dann bemerkte ich die Löcher, die sie in meine Kleidung gerissen haben musste. Das Parn-Double segelte ins Dunkel, während ich fassungslos zusah, wie sie ihm folgte.
Eine Stimme hallte durch die Dunkelheit, während ich versuche die Leiter hinabzuklettern. Meine Glieder schmerzten, meine zernarbten Hände zitterten und meine Beine ließen sich nur schwer bewegen. Die Stimme wurde lauter, deutlicher, kam näher. Etwas riss mich empor. Ich fühlte mich leicht. Als würde ich durch die Dunkelheit schweben. Eine riesige Hand zog mich hinauf. Langsam lösten sich meine Finger von den Stufen der Leiter und langsam erstarb die schreiende Stimme. Mir wurde bewusst, dass es meine Stimme gewesen sein musste. Sie klang so fremd, so flehend, so sterbend vor Schmerz. Grelles Licht fiel mir ins Gesicht. Ängstlich kniff ich die Augen zusammen. Was war geschehen? Wo war ich? Ich konnte nichts erkennen, doch etwas fühlte sich vertraut und warm an.
"Ellie, was ist nur passiert?" Hände rüttelten an mir, strichen mir durchs Haar, zogen an meiner Kleidung. Sie waren überall. Es dauerte einen Moment bis ich die Kontrolle über meinen Körper wiedergefunden hatte, bis ich meine Beine wieder spühren konnte und meine Augen wieder sehen konnten. Blass nahm ich meine Umgebung war. Es war das Kinderzimmer, durch das ich ins Refugium gegangen war. Das Kinderzimmer, dass mich so sehr anzog, immer und immer wieder. Ich blickte in die müden Augen meines Vaters. Er schien kaum geschlafen zu haben. Vorsichtig strich er mir über das Gesicht. Tränen rollten ihm aus den Augen und ich spürte sie auf meine Haut tropfen. Jede Träne hinterlies einen stechenden Schmerz. Meine Haut schien sehr gereizt zu sein. "Was ist nur passiert?", wiederholte mein Vater immer wieder mit zittriger Stimme.
"Wir müssen sie hier wegbringen.", sprach eine andere Stimme. Mein Vater war also nicht alleine. Ich versuchte meinen Kopf zu bewegen, doch es war mir kaum möglich. Sofort durchfuhr ein Schmerz meinen Nacken. Es kam mir vor, als hätte man mir tausend kleine Nadelspitzen in den Körper gestochen. Mein Vater half mir auf die Beine. Ein Schrei durchfuhr die Stille. Ich konnte nicht sagen, ob meine Knochen noch aneinander hafteten. Fest umschlungen in den Armen meines Vaters setzte ich einen Schritt nach dem anderen vor und musste feststellen, dass meine Beine mir noch gehorchten. Es war ein mühseeliger Weg über den Flur. Er kam mir länger vor denn je, doch mein Bett war am Ende nur noch eine Erlösung. Erschöpft redete ich mir immer wieder ein: "Es ist alles gut. Nun bist du zuhause." Meine Augenlider wurden immer schwerer. Es dauerte keine halbe Stunde bis ich eingeschlafen war und nur noch im Unterbewusstsein mitbekam, wie eine fremde Männerstimme sich mit meinem Vater unterhielt und dieser immer wieder beteuerte, er könne sich nicht erklären was geschehen sei. Dann überkamen mich zum ersten Mal seit langem beruhigende Träume, die nichts mit meiner Mutter, dem Refugium oder seltsamen Gestalten zutun hatten.
Als ich meine Augen wieder öffnete, fühlte ich mich erschreckend schwach. Das Licht in meinem Zimmer brannte auf der niedrigsten Stufe. Es leuchtete sehr schwach, aber dennoch konnte ich die Umrisse meines Vaters erkennen. Er schien die ganze Zeit über mein Bett gewacht zu haben. Nun war er zu erschöpft und eingeschlafen. Mit einer Hand umklammerte er fest meine Bettdecke, als wollte er sagen: "Geh nicht wieder weg, Ellie. Ich brauche dich." Ich führte meine Hand auf die Seine und streichelte sie sanft. Etwas raues löste sich unter meinen Fingerkuppen. Erschrocken hielt ich meine Hände unter die schwach leuchtende Nachttischlampe. Meine Augen weiteten sich, mein Körper wurde zittrig und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich wirklich fort gewesen bin. Ich starrte auf die faltigen Hände einer alten Frau, anstatt auf die Meinen. Ich führte meine Hände ineinander, drückte fest, spührte es, es waren meine. Kein Zweifel.
Dann ertönte die Stimme meines Vaters: "Was ist nur passiert, Ellie?" war das Einzige was er hervorbrachte. Dann starrten seine müden Augen mich ungläubig an, als wäre ich eine andere Person, eine völlig Fremde für ihn. "Da war diese Melodie. Sie hat mich in das Kinderzimmer geführt. Überall waren Spielzeuge und sie konnten sprechen." Mein Vater blickte mir ernst in die Augen. Diesen Gesichtsausdruck hatte ich zuletzt beim Tod meiner Mutter wahrgenommen. Ich hasste ihn. Er verletzte mich. Nach einer Weile wurde mir jedoch bewusst, wie verrückt das alles klingen musste, was ich eben gesagt hatte. Ich sprach von sprechenden Spielzeugen, von einer Melodie, die Menschen leiten konnte. Von einem mysteriösen Kinderzimmer in unserem Haus. Mein Vater musste mich für geisteskrank halten. Das tat ich ja schon fast selber. Gerade als ich dachte, nun würde er nach seinem Telefon greifen und einen Seelsorger anrufen, nahm er mich in den Arm. "Du bist meine Ellie. Geh da nicht wieder hin. Ich hab doch nur dich.", wimmerte er zu meiner Verwunderung, da ich ihn noch nie so erlebt hatte. Und dann, als ich den Spiegel an meiner Zimmertür erblickte und in das blasse, zerkratzte Gesicht eines Mädchens mit grauen Haaren starrte, kamen auch mir die Tränen.
Die Zeit verging und ich wurde das Gefühl nicht los, dass sich noch immer ein Teil von mir im Refugium befindet. Gedankenversunken starrte ich aus dem Fenster. Tag für Tag. Die Bäume der langen Allee hatten ihre Blätter und Zweige gelassen. Mein Vater war der Meinung, diese Allee würde mich nur an schlimme Zeiten erinnern. Er versuchte alles, was ich aus meiner Zeit im Refugium erwähnt habe, in irgendeiner Form zu verändern oder zu vernichten. Alles was mich daran erinnern könnte. Alles was mich zurückholen könnte.
Ich kann nicht sagen, wie lange es so ging. Die Tage vergingen wie im Flug, aber es änderte nichts daran, dass ich dort gewesen bin. Weder das Hier und Jetzt, noch die Gegenwart meines Vaters oder meiner Freunde konnten mich auf andere Gedanken bringen. Ich versuchte damit zu leben, versuchte es zu akzeptieren. Meine Haare hatten mit unzähligen Farbmischungen ihren natürlichen Braunton zurück erobert, doch eine graue Strähne musste bleiben. Mein Vater hatte protestiert, aber ich bestand darauf. Ich konnte das Refugium noch nicht vergessen. Nicht jetzt.
Eines Tages, als ich aus der Schule kam, war das Fenster vor der Alle geschlossen. Die Vorhänge waren dicht zugezogen und kein Strahl kam von außen hindurch. Ich war verwundert. Jetzt nahm mir mein Vater schon den Blick auf die Allee. Aber es war nicht mein Vater, der mir diesen Blick verwehrte. Eine alte, faltige Frau schob sich hinter den Gardinen hervor. Ich kannte diese Frau nur zu gut. Frau Roma hatte uns schließlich das Haus verkauft. Seit sie von dem seltsamen Vorfall im Kinderzimmer gehört hatte, ließ sie weder mich, noch das Haus aus den Augen. Ich hatte ständig das Gefühl, sie in meiner Nähe zu haben. Ihre Blicke waren eisern und kalt. Sie hafteten an mir, verfolgten mich auf Schritt und Tritt, ob ich nun wollte oder nicht. „Was wollen Sie?“, fragte ich genervt. Frau Roma wusste genau, dass ich ihre kalte Art nicht mochte. Dennoch musste ich sie in meiner Gegenwart dulden. Mein Vater meinte, ihr verdanke ich mein Leben, denn sie wusste, wo man mich finden würde. „Zeig etwas mehr Dankbarkeit.“, entgegnete sie kühn. Ich glaubte mein Vater, dass ich dank ihr noch am Leben war, aber zeigen wollte ich es der alten Hexe nicht. „Dankbarkeit?“, fragte ich „Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie mir geholfen haben.“ Das Gesicht von Frau Roma verzog sich krampfhaft. Ich konnte jede ihrer Falten zählen. Es waren viele. Sie griff mit ihrer rechten Hand in ein kleines rundes Täschchen, welches sie immer bei sich trug. Um den Körper geschlungen, wie eine Umhängetasche, aber viel zu klein. Bläulich schimmerte es, als sie den Verschluss öffnete und ein dunkles Buch hinaus holte. Sie öffnete es, hielt es mir hin und wartete auf meine Reaktion, während ich krampfhaft versuchte meine Stimme wiederzufinden. Ein Fotoalbum. Unzählige Bilder. Sie, jung und hübsch in diesem Haus. In diesem Kinderzimmer mit diesem Harlequin, der ein echter Junge war.
Fortsetzung folgt...
Seit je verbrachte ich viel Zeit bei Frau Roma. An ihre kalte Art hatte ich mich schnell gewöhnt, auch wenn sie mir sehr unheimlich vorkam. Sie erzählte mir viel über das Refugium, über ihre Zeit in diesem Haus und das sie damals zusammen mit ihrem Bruder hinübergegangen wäre. Ihr Bruder Parnis. Heute war er im Refugium bekannt unter dem Namen Parn. Das hatte sie von mir erfahren, denn sie hatte ihn schon aufgegeben. Denn damals, als sie alleine aus dem Refugium geflüchtet war, so wie ich, musste sie Parnis zurücklassen.
Frau Roma war mir dankbar. Sie zeigte es nicht, aber ich wusste es. Sie war dankbar dafür, dass sie nun gewiss sein konnte, dass es Parnis gut ging. Mehr oder weniger, denn sein unheimliches Dasein wollte ich vor ihr verbergen. Den Grund, warum die Beiden damals das Refugium als Zufluchtsort gewählt haben, wollte sie mir nicht sagen. Sie meinte nur, es gäbe viele Gründe, warum man aus der Realität verschwinden wollte. Zu viele. Und das Refugium wäre immer da. Wir würden es nicht immer sehen, aber sobald wir den Wunsch verspürt en zu verschwinden, uns zurückzuziehen, würde es uns anziehen und wir könnten uns ihm nicht entziehen. Damals schien der Übergang zwischen dem Dort und Hier noch "offen" zu stehen. Sie konnten hinübergehen, wann immer sie wollten. Doch die Zeit der Freiheit im Refugium läg schon lange zurück und so sollte es sein, dass die Königin Efrem alle Flüchtlinge in ihre Spielzeuge verwandelt hatte. Alle, bis auf sie.
Ich blickte Frau Roma in ihre kleinen blauen Augen und versuchte zu verstehen, was der Ort aus ihr gemacht haben muss und was er schon mit mir angestellt hatte. Ich musste an all jene denken, die einst normale Menschen waren und nun dort, als Spielzeuge gefangen, die Königin belustigen mussten. Was war nur aus dem Refugium geworden, der doch einst als Zufluchtsort dienen sollte? Was ich auch anstellte, so sehr wie ich versuchte mich abzulenken - es ließ mich nicht los. Und Frau Roma wusste das. Eines Tages meinte sie zu mir, dass Alter hätte ihr Aussehen eingeholt und sie wäre zu schwach hinüberzugehen. Dank mir, wüsste sie, dass Parnis noch am Leben wäre. Seine flehenden Schreie wären seit meiner Ankunft in diesem Haus aus ihren Gedanken verschwunden und sie wüsste, dass ich die Kraft hätte, ihn und all die Anderen zu brefreien. Mir stockte der Atem bei dem Gedanken das Refugium nochmal zu betreten. Ich blickte auf die dicken, weißen Bandagen, die mein Vater um meine Hände gewickelt hatte, um zu vergessen, was ich geworden bin. Ich wollte nicht. Ich konnte nicht. Ich besaß diese Kraft nicht, von der sie sprach. Hatte keinen Mut, keine Zuversicht und keine Hoffnung, dass Refugium nochmal verlassen zu können. Was, wenn es mich ebenso verrückt machte wie Parn? Was, wenn ich dort auf ewig gefangen oder sogar sterben würde? Ich hatte schreckliche Angst. Dort wollte ich nicht hin zurück.
Weitere Tage und Nächte zogen ins Land und gerade als ich mich an mein hieriges Leben gewöhnt hatte, schien wieder alles aus den Fugen zu geraten. Es war ein Auf und Ab in meinem Leben. Ein Höhepunkt, ein Tiefpunkt. Das Schicksal spielte Pingpong mit mir und ich konnte mich nur hin- und herschubsen lassen, ohne abspringen zu können.
Es war wieder diese Melodie, die ich nicht vergessen konnte. Sie begleitete mich überall. An jedem Ort. Wo ich auch war. Sie ging nicht weg. Ich hatte ihren Klang in den vergangenen, unzähligen Tagen, breits fast vergessen, aber da war sie wieder. So lieblich und klar. Die Musik vom Refugium.
Ein leises Flüstern in der Dunkelheit, das von einer finsteren Zukunft erzählt; doch ich halte nicht an. Ein lautes Geraschel in den Baumwipfeln, das vor einer grauenhaften Zeit warnt; doch ich laufe weiter. Es ist die Melodie, die mich zurück ruft. Die Schreie Jener, die gefangen gehalten werden. Die Stimmen, die nur ich hören kann. Die Gestalten, die verloren scheinen. Es blieb mir keine andere Wahl, als erneut das unheimliche Kinderzimmer zu betreten. So sehr, wie ich mich auch fürchtete. Ich konnte mich nicht entzehren. Völlig ungewollt trugen mich meine Füße in das Zimmer. Es war wie ein Rausch, als ich die Tür öffnete und mir die stickige, mit Staub bedeckte Luft ins Gesicht schlug und ich diese einatmete. Ein Schauer durchfuhr meinen ganzen Körper, während ich mich der Truhe näherte. Sie würde mich zurück bringen und über meine Zukunft entscheiden. Ich durfte mich nicht beirren lassen und musste immer bei Verstand bleiben. Unachtsamkeit konnte mein Verhängnis bedeuten. Mein Vater schien die Truhe geschlossen zu haben. Sollte ich wirklich gehen? Ich schob den Deckel bei Seite. Mit einem lauten Knall fiel er zu Boden. Ich hatte sie geöffnet. Mein Körper bewegte sich über die Truhe. Vorsichtig setzte ich einen Fuß hinein. Ich tat es. Den zweiten Fuß. Ich war bereit. Den Deckel schloss ich über mir, während ich mich in die Truhe zwängte. Niemand würde wissen, dass ich zurück gegangen wäre. Niemand würde es erahnen. In der Realität war ich verschwunden.
Ich kroch durch die Dunkelheit. Meine Arme tasteten an der Innenwand ihren Weg. Sie war ganz anders, als bei meinem ersten Besuch. Kalt wie Stein. Löchrig wie Käse. Stinkend wie Schimmel. Mein Herz machte einen Satz, als ich mit der rechten Hand über etwas Weiches fuhr. Etwas, das sich wie Haut anfühlte. Die Form von einer Nase, einem Mund besaß. Ich erschrack. War dort ein Mensch in der Wand? Ich hielt meine rechte Hand ins Dunkel, dicht an die Stelle, die mir seltsam erschien. Dann fühlte ich es. Warme Luft auf meiner Hand. Etwas war dort und es lebte. Vorsichtig nahm ich meine Hand zurück. Was auch immer es war, dass dort leise vor sich hin atmete, ich wollte nichts damit zutun haben. Wollte so schnell wie möglich das Porta Mundus verlassen und den Harlequin finden, der Frau Roma so wichtig war. Ihren Bruder retten und zurück in die Realität kehren. Dann würde ich alles vergessen und müsste nie wieder zurück ins Refugium. Plötzlich war die Dunkelheit erfüllt von einem Schmatzen. Meine Beine fingen an zu zittern. Ich wusste nicht, woher es kam. Konnte es nicht sehen, nicht erkennen. Es war einfach zu dunkel im Porta Mundus. Ich ärgerte mich so unvorbereitet zu sein, obwohl ich doch genau wusste, worauf ich mich eingelassen hatte. Nun war ich also doch unachtsam genug um zu sterben. Ein gewaltiger Schlag gegen mein Kopf ließ mich zu Boden sacken. Hart schlug ich auf. Benommen tastete ich mit meiner Hand nach meinem Kopf. Es fühlte sich schmierig an. Sicher blutete es. Erneut dieses Schmatzen. Ich hatte nun keine Zeit, wollte mich aufrichten, doch etwas drückte meine Beine auf den Boden. Etwas hielt mich fest. "Wer ist da?", schrie ich, obwohl ich es gar nicht wissen wollte. Ich würde sterben, hier in der Dunkelheit. Niemals erfahren warum und wie. Niemals wissen, was ich hätte tun können, um ihm zu entkommen. Das Blut lief mir die Stirn hinunter. Ich spürte es. Mein Kopf brannte, pochte und schlug immer schneller. Ich wischte mir mit der Hand das Blut von den Augen und rieb mir meine Hand an der kurzen Hose ab. War da etwas in meiner Tasche? Es fühlte sich hart an. Ich konnte mich nicht daran erinnern, meine Tasche gefüllt zu haben, bevor ich gegangen war. Hastig suchte ich die Öffnung der Tasche. Mit den Fingerspitzen zog ich es hinaus. Ich befühlte es und schlagartig wurde mir bewusst, was es war.
Ein Licht, strahlend hell, wie ein Stern in der Dunkelheit. Unachtsam fallend, auf die schlafende Welt, so war das Licht meine Rettung.
Ein Brüllen schallte durch den hell erleuchteten Gang. Meine Augen weiteten sich, als ich mich umblickte. Das Porta Mundus im Licht zu sehen, was wie ein Horrorkabinett. Ich fühlte mich, wie in Halloweentown versetzt. Seltsame, schaurige Gestalten krümmten sich am Boden, schlängelten sich an den Wänden und kämpften sich in die Dunkelheit zurück. Weg, weg aus dem Licht, das ihnen schaden könnte. Eine riesige Gestalt lag zu meinen Füßen. Eine Gestalt, dessen Haare blurot strahlten. Dessen Haut erschreckend weiß schimmerte. Seine Augen starrten in die Meinen, während ich versuchte mich mit meinen Beinen aus seiner Umklammerung zu befreien. Seine schwarzen Pupillen weiteten sich, als er mich erkannte. Ein Schmatzen ging aus seinem Mund hervor und gerade als er sich aufrichten wollte, strahlte ich mit dem Lämpchen in seine Augen. Er schrie und schrie. Er krümmte sich, er rollte sich zusammen und streckte sich am Boden in alle Richtungen und ich war frei. Ich wandte mich um. Ich rannte so schnell ich konnte. Einfach nur weg. Vorbei an den unheimlichen Gestalten, die sich an die Wände drückten, aus Furcht vor dem Licht. Dem Fremden, der sich in das Porta Mundus gewagt hatte.
Ich schon den schweren Deckel der Truhe zur Seite. Mit einem Ruck fiel er zu Boden. Dumpf schlug er auf. Vorsichtig reckte ich meinen Kopf durch die Öffnung, oberhalb der Truhe. Die Anderen würden sicher erstaunt darüber sein, mich wiederzusehen.
Ich kniff meine Augen zusammen. Mit der rechten Hand rieb ich mit etwas Schwarzes aus ihnen. Ich betrachtete es näher. Asche? Dann erst formte sich vor mir ein Bild. Es nahm Gestalt an. Das Refugium nahm Gestalt an. Ich erkannte mich an einem anderen Ort wieder, an dem ich vorher noch nicht gewesen war. Bäume reihten sich dicht an dicht und ließen kein Licht durch ihre Kronen. Im Refugium schien es ohnehin schon Nacht zu sein, doch die Bäume ließen die gesamte Umgebung nochmal verdunkeln. Ich wunderte mich. Fragte mich, warum ich nicht im Circuszelt herausgekommen war und wieso die Truhe mitten im Wald stand. Meine Gedanken schweiften ab. Chris, Bell und Teddy tänzelten durch meinen Kopf. Was war nur geschehen? Ich musste sie unbedingt finden und ihnen von Frau Roma berichten.
Erschrocken starrte ich zum Himmel. Er war vollkommen Schwarz. Ein rauchiger Luftzog bahnte sich seinen Weg und trug Unmengen Asche zu mir herüber. Wild wedelte ich mit den Händen, als ich aus der Truhe stieg, um mir Gewissheit zu verschwaffen. Die Luft war schrecklich dick und gefüllt von Gestank, den ich nicht definieren konnte. Rauchig, schmutzig, verbrannt. Ein leises Knistern vernahm ich aus der Ferne. Ich traute mich kaum, mich ihm zu nähern.
"Chris? Bell?", fragte ich flüsternd in der Dunkelheit. Immer wiederholte ich ihre Namen. Namen, die mir hätten antworten müssen. Namen, dessen Hilfe ich jetzt am Meisten benötigte. Warum antworteten sie nicht? Wirr lief ich durch den immer dichter werdenden Nebel. Die Luft war arm und aufgebraucht. Es war zu wenig für alle da. Benommen bemerkte ich, wie das Knistern immer lauter wurde. Stärker. Mit jedem meiner Schritte kam es näher. Meine Schritte wurden weiter, größer, schneller. Weit durfte es nicht mehr sein. Was war es? Woher kam es? Erschöpft lehnte ich mich an einem Baum. Ich musste husten. Bekam kaum Luft. Konnte nicht richtig Atmen. Es zog sich zusammen. Ich sah nur noch verschwommen. Wollte ich wirklich wissen, was dort vor sich ging? Dort, im dichten Nebel so stank und knisterte? Dann hörte ich sie. Ganz leise, ganz viele, ganz nah. Sie wimmerten, sie weinten, sie schrien. Stimmen.
Erschrocken fuhr ich herum. Hielt mich kraftlos am Baum und blinzelte in den Nebel, der vor meinen Augen immer dünner wurde und den Blick freigab, auf erschreckende Szenen.
Das Circuszelt in Flammen und ein Schlachtfeld umgeben von Sterbenden.
"Ellie, Ellie.", wimmerte ein Stimme. Ich erschrack. Blickte mich um. Suchte verzweifelt. Konnte ihren Besitzer nicht finden.
"Ellie, bist du das?" Dann hatte ich sie gefunden. Mein Blick schweifte über den Boden der Verletzten. Es tat mir weh, sie dort so liegen zu sehen, während ich hier herumlief, hier stand, mich wohl fühlte. Ich rieb mir die Augen, um genauer hinsehen zu können. Der Rauch brannte und erschwerte meine Sicht. Keuchend fuhr ich zu Boden. Tastete mich mit meinen Händen über das vertrocknete Gras. Äste zerbröselten unter meinen Fingerspitzen, als beständen sie aus Sand. Mein Körper vergrub sich in der Asche. Vorsichtig schleifte ich ihn hindurch. Tastete immer wieder über den Boden. Meine Augen hatten mich fast gänzlich im Stich gelassen. Dann hatte ich ihn erreicht. Er lag dort. Ich fühlte ihn, betastete ihn und war sicher, dass es der nach mir rufende Teddy sein musste. Ich rieb mir die Augen mit den Händen. Die daran haftete Asche brannte in ihnen. Keuchend nahm ich Teddy auf den Arm. Er war ganz schmutzig und verletzt. Sein linkes Bein hing nur noch am seidenen Faden. "Ellie?", flüsterte Teddy, als er merkte, dass er hochgenommen wurde. "Bist du das?" Ich kniff meine Augen kurz zusammen, um besser sehen zu können. Teddys Gesicht war von Ruß bedeckt. Ich griff nach einer sauberen Stelle an meinem Shirt und wischte ihm den Ruß aus den kleinen, runden Augen. "Alles okay.",flüsterte ich. "Ich bin ja da." Erschrocken über meine raue, fremde Stimme, musste ich einige Male aufhusten. Ich war froh, dass ich Teddy gefunden hatte. Besorgt strich ich über seinen Körper. Er fühlte sich ganz rau an. Ich spürte, wie sein kleines Herz aufgeregt in seinem verletzten Körper pochte. "Schhh.", machte ich und hoffte, ihn etwas beruhigen zu können. Dann fragte ich ihn nach den anderen Spielzeugen aus dem Circuszelt. Teddy wimmerte. Wieder strich ich über seinen Körper. Erneut fragte ich: "Wo sind Belle und Chris?" Teddy antwortete mir nicht. Ich merkte, dass ich so nicht weiterkam. Das Schlurchzen und Jammern der Überlebenden machte auch mich verrückt. Ich wusste, dass wir hier nicht bleiben konnten. Ich musste Teddy an einen sicheren Ort bringen. Weg von hier. Noch immer hielt ich den kleinen Teddy im Arm. Vorsichtig, fast kraftlos, zog ich mich am Baum hoch. Wackelnd stand ich auf den Beinen. Unsicher, als hätte ich gerade erst laufen gelernt. Der dichte Qualm zerrte an meiner körperlichen Kraft. Ich durfte mich nicht geschlagen geben. Das war ich den Anderen jetzt schuldig. Zittrig ließ ich meine Füße über den Boden gleiten. Rechts, Links, Rechts, wieder Links. Es ging einfacher als gedacht. Nach einigen Versuchen wurde ich wieder sicherer auf den Beinen. Es ging besser, schneller. Ich spürte, dass ich rannte. Wollte weg. Musste ihn in Sicherheit bringen.
Der Wald lichtete sich. Der Rauch wurde dünner. Bald war er vollkommen verschwunden. Ich rang nach Luft, musste keuchen, aber nicht vom Qualm. Ich war außer Atem, aber wir hatten es geschafft. Auf einer weiten Wiese ließ ich mich ins Gras fallen. Teddy noch immer fest an mich gedrückt. Seine Augen waren geschlossen. Sein Atem ging langsam und ruhig. Er war eingeschlafen.
Sachte legte ich ihn auf den Boden im hohen Gras. Aus großen Blättern formte ich ein Bett für ihn. Hier durfte er sich erholen, während ich zurück gehen würde. Ich legte ihn hinein, streichelte ihn erneut und stand auf. Dann verschwand ich wieder im Wald.
Ich gelangte schnell wieder auf die Ebene des Circuszeltes. Dennoch bemerkte ich zuerst, dass die quälenden Schreie der Verwundeten nachgelassen hatten. Das schreckliche Feuer forderte unzählige Tote. Ich versuchte nicht auf den Boden zu blicken. Die Leichen boten einen scheußlichen Anblick. Der dichte Qualm hatte nachgelassen und auch das Feuer war verschwunden. Jemand musste es gelöscht haben. Ich rümpfte die Nase. Die stickige, aufgebrauchte Luft war kaum genug zum atmen.
Lange zu Asche gewordene Balken zierten den Boden. Sie dienten einst als Halt des Grundgerüstes. Wenige Stoffreste des Zeltes hatten den schlimmen Brand überlebt. An ihnen konnte man erkennen, dass es sich einst um einen Circus gehandelt haben musste. Ich blickte mich um. Keine Menschenseele war zu sehen. Das Feuer musste alles Leben, welches sich in Nähe des Zeltes befand, in den Tod gerissen haben. Ich schluckte. Hoffentlich waren Belle, Chris und Parn nicht unter ihnen. Sie mussten hier irgendwo sein. Ich durfte noch nicht aufhören nach ihnen zu suchen. Tief atmete ich die mit Ruß verdreckte Luft ein. Ich musste husten. Hustete erneut. Mein Husten erstarb nicht. Nein, es war nicht meins. Es war ein Fremdes. Ich versuchte ruhig dem Gräusch zu folgen. Jemand musste sich in der Nähe des Zeltes befinden und es schien ihm nicht gut zu gehen. "Wer ist da?", flüsterte ich in die Stille. Nur leises Knistern restlicher Feuerstellen war zu vernehmen. "Ellie? Ellie, hier sind wir.", ertönte eine glockenklare, helle Stimme. Ich erkannte sie sofort und folgte ihr ins Dickicht aus Trümmern. Vor mir erstreckte sich ein Platz, umgeben von Schrott und Müll. Alte Wagen, verbrannte Gerüste, zerfledderte Kuscheltiere. An dem noch zur Hälfte stehenden Gerüst einer Achterbahn, konnte man erkennen, dass dieser Ort einst ein Jahrmarkt gewesen sein musste. Ich schluckte. Der Jahrmarkt aus meinem Traum, dessen Melodie mich immer wieder in Traunce versetzte? War dies der Ort, der mich in das Refugium gelockt hatte? Falls ja, war er nun zerstört. Ich würde die Antworten auf meine Fragen niemals finden können. Warum ich hier war. Wieso das Refugium so geworden war. Wie die Möglichkeit bestand den Anderen zu helfen. Meine Antworten waren mit dem Feuer in den Tod gegangen. Wieder ertönte die Stimme von Belle. Ich hatte mich von meinen Gedanken ablenken lassen. Das war nicht gut. In dieser Situation durfte ich meinen Verstand nicht verlieren. Musste klar denken. Bei Gewissen bleiben, um der Situation Stand halten zu können. Belle's Stimme führte mich zu einem hölzernen Wohnwagen. Von Außen machte er den Eindruck, als hätte er das Feuer gut überstanden. Einige Holzlatten waren herausgebrochen, aber wohl eher vom Alter und nicht von den Flammen. Die Spitzen der Nägel luckten an einigen Stellen aus dem Holz hervor. Der Wohnwagen musste schon einige Jahre auf dem Buckel haben und keiner schien sich je die Mühe gemacht zu haben, ihn zu restaurieren. An einem Schild mit der Aufschrift "Der allmächtige Flynn" konnte ich erkennen, dass es sich hierbei wohlmöglich um den Wohnwagen eines Zauberers handeln musste. Ich näherte mich der Tür. Sie stand einen Spalt weit offen, sodass ich das schwache Licht erkennen konnte, welches im Innern vor sich hin loderte. Die Flamme wehte aufgebracht in einem Ölkännchen vor sich hin. Ich berührte die Tür. Mit einem Knarren schob ich sie weiter auf. Sie ließ sich schwer öffnen. Eine alte, modrige Tür, die beim Öffnen über den Boden schleifte. So eine hatte ich in dem alten Haus gesehen, wo mein Vater nun mit Frau Roma sicher auf mich warten würde. Sie würden sich Sorgen machen, ohne zu wissen, wo ich hingegangen war. Frau Roma konnte es sich denken. Sie wusste es. Sie hatte mich ja darum gebeten, dass Refugium zu betreten. Mein Vater aber... ich war mir sicher, dass er mir kein Wort vom Refugium glaubte. Er hielt mich für krank. Ich hatte ihn mit Frau Roma darüber reden hören, dass ich den Tod meiner Mutter wohl nicht verkraften würde. War das so? War ich deshalb hier? Weil ich mich von der Außenwelt abschotten wollte? Warum hatte Frau Roma ihm nicht die Wahrheit gesagt?
"Ellie?"
Ich blinzelte mit den Augen, dann bemerkte ich, dass ich mich in der Tür des Wohnwagens befand. Vier Paar Augen ruhten auf mir. Ein Paar, das ich kannte. Ein Paar, das mir fremd war. Ein weiteres Paar war geschlossen. Ich näherte mich Belle und dem Fremden. Eindeutig konnte ich an ihm erkennen, dass es sich um den Zauberer Flynn handeln musste. Er trug einen schwarzen, sauberen Zylinder. Das Einzige an ihm, was nicht altmodisch und verdreckt wirkte. Ein löchriger dunkler Anzug zierte seinen schmalen Körper. Schwarze, lange Haare bahnten sich ihren Weg, unter dem Zylinder hervor. Er hatte sie zu einem dünnen Zopf zusammengebunden. Seine Augen weiteten sich als er mich sah. Dunkle Rußflecken bedeckten sein Gesicht. Er rieb sich die Hände an der schmutzigen Hose und streckte mir nun seine noch dreckigere rechte Hand entgegen. "Hallo Ellie.", sagte er. "Ich bin der Zauberer Flynn. Ich habe dich ins Refugium gerufen." Mein Herz fing an schneller zu pochen. Tausend Fragen schnellten durch meinen Kopf. Tausend Bilder türmten sich vor mir auf. Tausend Dinge, die ich hätte niemals sehen wollen und hier Stand die Person allen Übels. Die Person, die mir all dies angetan hatte. Ich würde ihn zur Rechenschaft ziehen für das, was ich durchmachen musste. Gerade als ich anfangen wollte zu sprechen, erfüllte ein Keuchen und Jammern den Raum. Ich erschrack, wandte mich um. Sah zu Belle. Ich musterte sie. Das erste Mal, seit ich diesen Wohnwagen betreten hatte, sah ich zu Belle, nach der ich gesucht hatte. Ihre langen, blonden Haare waren stellenweise verschmutzt mit Flecken aus dunklen Ruß. Ihr hübsches Kleid löchrig. Tiefe Schriemen konnte man deutlich darunter erkennen. Getrocknetes Blut zierte ihren Körper. Einen ihrer glitzernden Tanzschuhe musste sie auf ihrer Flucht verloren haben. Ihr Fuß war ganz schwarz vor Dreck. Mit ihrer dünnen Hand hielt sie die von Chris. Er lag auf einem alten, grauen Sofa, dessen beste Zeit bereits gekommen war. Lange Spiralen luckten an einigen Stellen hervor. Seine Augen waren fest geschlossen, während er sich verzweifelt versuchte in alle Richtungen zu krümmen. Ein wirrer Traum schien ihn gefangen zu haben und nicht mehr freigeben zu wollen.
"Was ist mit ihm?", fragte ich und konnte meine Augen nicht von Chris abwenden. Sein Gesicht war entstellt, verbrannt. Seine Uniform nur noch ein Flicken auf Stoff.
Belle schluckte. Sie rang nach Luft. Ihr stand die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben, dennoch versuchte sie mir zu antworten. Flynn legte ihr eine Hand auf die Schulter, als Zeichen der Unterstützung. Er schien sie gut zu kennen. Dann erhob Belle den Kopf und sah mir tief in die Augen. Tränen rannen ihr über die zerkratzen Wangen, als sie mir erzählte, was passiert war.
"Wir waren im Circuszelt als das Feuer ausbrach.", erzählte sie. "Chris hat gerade die neue Aufführung geprobt. Schließlich sollte bald wie jedes Jahr die Königin unseren Jahrmarkt besuchen. Du warst so lange weg, Ellie. Wir dachten, du hättest uns im Stich gelassen." Mein Herz hüpfte vor Anspannung. Das hatte ich vor gehabt. Aber ich konnte es ihr nicht sagen.
"Kurz nach deinem Aufbruch haben wir bemerkt, dass du das Double von Parn verloren haben musstest. Parn war von einen Augenblick auf den Nächsten verschwunden. Wir hatten schreckliche Angst, denn wir wussten, dass die Königin ihn zu sich geholt haben musste. Sie wusste von nun an, wer gegen sie aufbegehrt." Belle's Augen waren ganz geschwollen von den vielen Tränen. Sie machte keine Anstalten, sie sich aus dem Gesicht zu wischen. "Parn kam in Gestalt eines riesigen Drachen. Er brannte alles Nieder mit seinem flammenden Atem. Mit seinen langen Krallen tötete und verletzte er unzählige Bewohner des Jahrmarktes. Uns blieb keine andere Wahl als zu fliehen. Fliehen, so schnell wir konnten. Teddy und Chris schickten mich hierher, zu Flynn. Er sollte den Wagen bereit machen, um mit uns zu fliehen, aber Chris wollte nicht. Er hatte Hoffnung in dich. Er wusste, du würdest zu uns zurückkehren, also brachte er mit Teddy die Truhe tief in den Wald. Er hoffte, Parn würde sie nicht finden. Ich hatte furcht. Ich suchte nach ihnen. Konnte nicht still sitzen, nicht warten. Schnell hatten Flynn und ich Chris und Teddy gefunden. Jedoch wurden wir angegriffen. Wir rannten so schnell wir konnten, doch Teddy fiel und blieb zurück." Belle's Stimme erstarb in einem Jammern und Schlurchzen.
"Sie macht sich schreckliche Vorwürfe, weil sie Teddy nicht retten konnte.", erklärte Flynn. Tröstend legte ich meine Hand auf Belle's Schulter. "Teddy geht es gut. Ich habe ihn in Sicherheit gebracht."
Belle vergrub ihr Gesicht in den Händen, ohne ein Wort zu sagen. Ich wusste, dass sie mir dankbar war.
"Was hat euch angegriffen?", wollte ich wissen.
"Es war Parn. Jedoch nicht in Gestalt eines Drachen. Er war kaum wiederzuerkennen. Schaut man Parn ins Gesicht, so blickt man in den Tod. Chris wollte ihn zur Vernunft bringen. Er bat ihn darum, Teddy gehen zu lassen. Doch Parn ließ sich nicht abbringen. Es war ein schrecklicher Anblick, wie er Chris in Flammen aufgehen ließ. Nur mein Zauber, konnte uns aus dieser schrecklichen Lage befreien."
Meine Hände zitterten. Schweiß rann mir die Stirn hinunter. Ich fand keine Worte für das Handeln von Parn. Ich fand keine Worte dafür, wie sehr es mir leid tat, Parn's Double fallen gelassen zu haben. Ich fand keine Worte, denn ich gab mir die Schuld.
Ich lehnte mich an die Außenwand des hölzernen Wohnwagens. Es fiel mir schwer zu begreifen was hier vor sich ging. Vorwürfe plagten mich, obwohl ich nichts an der Situation hätte ändern können. Ich wusste, dass die Königin Efrem nur auf einen Fehler gewartet hatte. Vielleicht nicht unbedingt auf meinen, aber auf einen Fehler hatte sie gewiss gewartet. Gedankenversunken starrte ich in den Himmel. Er war noch ganz schwarz vom starken Brand. Selbst ein Ortsfremder würde an der Luft sofort erkennen, dass hier ein Chaos gewütet haben musste. Ich blinzelte und versuchte nicht an zu Hause zu denken. Doch meine Gedanken ließen nicht locker. Die Erinnerung an das Mädchen mit ihrem kleinen Bruder, hier im Refugium, drängte sich immer wieder in mein Gedächtnis. "Hallo Ellie.", erklang eine Stimme hinter mir. Ich wandte mich um und sah, wie Flynn knarrend die Tür des Wohnwagens aufschob. Ich antwortete ihm nicht, sondern nickte nur. Eigentlich war ich gerade nicht in Stimmung Gespräche zu führen und ich glaube, Flynn war ein Meister in alten Wunden zu stochern, bis sie wieder anfingen zu bluten. "Alles in Ordnung?", fragte er. Ich nickte wieder stumm. "Sieht nicht so aus.", stellte er fest. "Ich habe nur an zu Hause gedacht.", begann ich und konnte gar nicht fassen, dass gesagt zu haben. Flynn legte mir seine Hand auf die Schulter, so wie er es bei Belle getan hatte um sie zu trösten. Er stellte sich neben mich. Jetzt erst bemerkte ich, wie erschreckend groß Flynn war. Fast zwei ganze Köpfe war er größer als ich. Er sah mit ernster Mine zu mir herab, dann begann er zu erzählen: "Ich denke auch oft an mein zu Hause, an meine Eltern und meine Geschwister. Ich hatte zwei kleinere Brüder." Da aus seiner Stimme die Traurigkeit deutlich herauszuhören war, entschied ich zu fragen: "Was ist passiert?" "Kurz nachdem ich aufgebrochen war um Zauberer zu werden, legte sich dieser Schatten über das Refugium. Unsere geliebte Königin Efrem sprach einen bösen Zauber, der uns alle an das Refugium band, auf ewig. Ich entschied mich, mich einer Wiederstandsbewegung anzuschließen. So stoß ich auch auf den Circus und lernte Chris und Bell kennen. Bei einem Angriff auf die Königin schlug jedoch ein Zauber von mir fehl. Anstatt mich zu töten, entschied die Königin Efrem, mir das Liebste zu nehmen, was ich hatte: Meine Familie." Nun war ich es, die Flynn traurig ansah. Ich wusste genau, wie es war, einen Teil seiner Familie zu verlieren. Die Königin war grausam und ich verstand nicht, wieso sie so etwas machen konnte. "Ich denke jeden Tag an sie. Ein toller Zauberer bin ich, wenn ich es nicht einmal schaffe, meine Familie zu beschützen." "Da hätte kein Zauber der Welt helfen können, Flynn." Belle's Stimme erklang in der Tür des Wohnwagens. Ich fragte mich, wie lange sie dort schon gestanden hatte. Flynn ging zu Belle hinüber und nahm sie schweigend in den Arm. Er streichelte ihr sanft über den Rücken und beteuerte: "Ihr habt mir ein zu Hause gegeben, nachdem ich alles verloren habe." Ich wusste, dass es Zeit für mich war, die Beiden alleine zu lassen und obwohl ich noch so viele Fragen hatte, tat ich es auch.
Schweigend ging ich in den Wohnwagen. Chris lag noch immer schlafend auf der Couch. Sein wirrer Traum schien sich beruhigt zu haben. Zögernd setzte ich mich neben ihn und sah ihm lange dabei zu wie er so ruhig schlief. Es war für mich ein wohltuendes Gefühl ihn atmen zu hören. Sein Atem ging laut und ungleichmäßig. Ich blickte mehrfach auf die große Standuhr in der Ecke des Innenraumes. Jeder Gong ließ mich aufschrecken, obwohl ich wusste, dass ich den Bereich um den Wohnwagen noch nicht verlassen durfte. Flynn hatte mir erzählt, er hätte den Wohnwagen mit einem Zauber belegt, der ihn unsichtbar wirken ließe. Sobald dieser Zauber erlischt, würden wir uns auf den Weg machen, um Teddy von dort abzuholen, wo ich ihn zur Rast gelegt hatte. Ich machte mir sorgen, dass Teddy in der Zwischenzeit aufgewacht war und sich nicht mehr an dem Ort befinden würde. Außerdem hatte ich Angst, dass Parn ihn vielleicht geschnappt und fortgebracht hatte. Um Null Uhr in der Nacht sollten wir aufbrechen, meinte Flynn, denn dann würde die dunkle Nacht den Wohnwagen nicht so einfach zu erkennen geben. Flynn bestand darauf mit dem Wohnwagen zu reisen. "Wir werden eine weite Fahrt vor uns haben.", erklärte er, als ich fragte warum wir uns einen Klotz ans Bein hängen. Dann, nach unzähligen Stunden alleine im Wohnwagen, schlug die Uhr die vierundzwanzigste Stunde. Wie auf Komando stieß die Tür des Wohnwagens auf und Flynn und Belle stürmten herein. "Wir müssen los." war das Einzige was er zu sagen vermochte. Dann wühlte er aufgebracht in einer hölzernen Kiste, kramte ein Lenkrad hervor und stieß es auf einen Besenstiel in der Nähe eines riesigen Fensters. "Auf gehts.", rief er und der Wohnwagen gewann an Fahrt.
Die Fahrt kam mir erschreckend lang vor. War ich tatsächlich diesen weiten Weg alleine gelaufen? Es wunderte mich, wie schnell die Zeit in der eigenen Orientierungslosigkeit vergehen konnte. Wär ich diesen Weg bei klarem Verstand gelaufen, so hätte ich es sicher nie so weit gebracht. Der Wohnwagen beschleunigte. Jeder Stein ließ die Räder des alten Wagens erzittern. Lautes Donnern ertönte bei jeglichen Unebenheiten auf der Fahrbahn. Mochte der Stock noch klein sein, viele würde der Wohnwagen nicht ertragen können. Ein Schauder lief mir den Rücken hinauf, bei dem Gedanken hier bei Nacht rasten zu müssen. In einem zur hälfte abgebrannten Wald, dessen Bäume die Seelen der Toten in ihren Zweigen gefangen hielten und diese nicht freigeben mochten. Ich presste mein Gesicht an eins der kleinen Fenster, um besser in die Dunkelheit spähen zu können. Hier, im Refugium, hieß es, würden die Seelen, dessen Körper ermordet wurden, erst Ruhe finden, wenn sie durch den Tod des Sünders erlöst würden, so hatte mir Flynn erzählt. Es würde also bedeuten, man müsste Parn umbringen, damit die Bewohner des Circuszeltes und des Jahrmarktes frei sein könnten. Doch so, wie die Lage momentan stand, konnte keiner darauf hoffen gegen Parn etwas ausrichten zu können. Ein Lichtfunkte tänzelte weit oben in den Zweigen eines Baumes, ein weiterer, unzählig viele. Desto mehr wir den noch lebenden Teil des Waldes verließen, desto deutlicher erkannte ich die verlorenen Seelen. Goldene, glimmernde Lichter umschlungen die knochigen und letzten Äste der Bäume, die das Feuer in Frieden gelassen hatte. Als würden die Seelen an ihrem Leben klammern, so umkreisten sie die Bäume, griffen nach ihnen, wollten sie nicht los lassen, aus Angst davor nie mehr zurück zu können. Doch eine der vielen Seelen löste sich von einem Zweig. Sie humpelte, schien verletzt. Sie war die kleinste von allen Seelen. Langsam kroch sie den langen, dürren Baum hinunter, näherte sich dem Wohnwagen, drückte sich gegen das Fenster. Sie leuchtete so stark, sie schien gerade erst gestorben zu sein. Vor ein paar Minuten vielleicht. Ich merkte, wie Bell neben mir ans Fenster trat. Sie schob mich ein wenig zur Seite. Drückte ihre Nasenspitze gegen die Scheibe und strich mit den Fingerspitzen über das Glas. Ich bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmen konnte. Dann sah ich wie Tränen über ihr Gesicht rannen. Erschrocken betrachtete ich die einsame Seele genauer. Dann erkannte ich in der gold schimmernen Seele die Silhuoette einer kleinen Gestalt. Belle sackte neben mir zu Boden. “Teddy.”, wimmerte sie. Jetzt erst bemerkte ich, dass der Wohnwagen stand.
Stillschweigend fuhren wir durch die Dunkelheit. Ich hatte das Gefühl, die Zeit würde uns einen Streich spielen. Der volle Mond stand hoch am Himmel und dennoch gelang kaum ein Licht durch den düsteren Wald. Die Sonne war seit geraumer Zeit verschwunden und es kam mir vor, als würde sie sich weigern aufzugehen. Als hätte sie Angst vor dem was geschehen war. Es schien, als wollte sie die Welt in Dunkelheit tauchen, um ihr etwas Zuflucht zu gewähren, oder uns Reisende in Angst zu versetzen. Die dürren Äste der Bäume griffen nach dem Wagen, als würden sie ihn versuchen zu fangen, als würde sie uns von unserer weiteren Fahrt abbringen wollen, oder als würden sie in uns Retter ihrer verlorenen Seelen sehen. Hin und wieder schlug ein Ast auf das modrige Dach des Wohnwagens und ließ uns alle aufschrecken. Es durchbrach die schweigende Stille, die uns umgab, seit wir Teddy's Seele im Baum zurückgelassen hatten. Jeher hat es sich Belle in einem alten Sessel gemütlich gemacht. Nach vorne gebeugt ließ sie sanft ihre Fingerspitzen über das Gesicht von Chris streifen. Er war in einen tiefen, aber ruhigen Schlaf verfallen. Ihren Blick hatte sie abgwandt von seinem Gesicht, als könne sie die vielen Wunden nicht ertragen, die sich in seine Haut gegruben hatten. In Gedanken versunken, abgetaucht in eine weit entfernte Welt, starrte sie auf den staubigen Teppichboden. Ihre Müdigkeit war ihr deutlich anzusehen, doch ich wagte nicht, sie anzusprechen, oder mich ihr zu nähern. Zu groß waren meine Schuldgefühle, denn ich hatte das Gefühl Teddy in den Tod getrieben zu haben. Eine tolle Hilfe war ich dem Trupp.
Ich strich mir eine Haarsträne aus dem Gesicht. Sie schien aus meinem Zopfband gerutscht zu sein. Seit Stunden stand ich hier am Fenster und blickte zum bedeckten Himmel. Wann würden wir diesen trostlosen Wald wohl endlich verlassen? Gab es außerhalb des Refugiums überhaupt einen Ort ohne Wald? Oder bestand etwa das ganze Refugium nur aus Wäldern? Was für ein irrsinniger Gedanke für immer in einem Wald leben zu müssen, in dessen Bäume Seelen gefangen waren. Niemals würde ich meine Ruhe hier finden können. Ich blickte zu Flynn. Konzentriert, als wäre nichts gewesen, saß er an seinem Steuer und lenkte den Wohnwagen durch die Tiefen des Waldes. Desto mehr ich ihn aus meinem Blickwinkel beobachtete, desto mehr hatte ich das Gefühl zu ihm gehen zu müssen. Ich entschied mich meinen Platz am Fenster zu verlassen. Obwohl ich mich bemühte leise zu sein, zerstörten meine Schritte die unangenehme Stille. Wie in Traunce erhob sich Belle's Kopf. Sie blickte kurz in meine Richtung. Als ich ihren Blick versehentlich erwiederte, wandte sie sich ab und starrte erneut auf den moosgrünen Teppichboden. Ich wollte sie ansprechen, wollte mich entschuldigen, sie trösten, aber ich hatte das Gefühl, als würde ich nicht das Recht dazu haben. Unsinn. Ich hatte versucht Teddy zu retten, habe ihn aus den Flammen geholt und seine Wunden behandelt. Es war nicht meine Schuld, oder? Ich zog mir einen hölzernen Stuhl vom Tisch bei Seite. Die Stuhlbeine schrabten leicht über den Boden. Nun sah auch Flynn kurz zu mir rüber. Ich war tatsächlich nicht gut darin leise zu sein. Nun trug ich den Stuhl neben Flynn und ließ mich auf ihm nieder. Er sagte nichts. Konzentriert beobachtete er die Straße. Eine viel zu gewaltige Konzentration, die nicht hätte nötig sein müssen. Dort draußen war nichts. Nichts, außer eine steinige, vom Bäumen umgebene Straße, die sich in der Dunkelheit verlohr. Eine lange Zeit war verstrichen, als Flynn endlich das Gespräch eröffnete. "Sie schläft endlich.", sagte er. Ich wusste, dass er Belle meinte, also brauchte ich mich nicht nach ihr umzudrehen. Ich glaubte ihm. "Ja.", antwortete ich. "Es ist nicht deine Schuld. Red es dir nicht ein." Erstaunt riss ich meine Augen auf. Ich musste schlecht aussehen, wenn mir meine Gefühle schon ins Gesicht geschrieben waren. "Teddy war Parn's bester Freund. Natürlich waren wir alle mit Parn befreundet, aber Teddy hatte ihn nie aufgegeben, nachdem...naja, du weißt schon – er so geworden ist. Wir haben alle geglaubt, Parn würde vor Verstandlosigkeit zu Grunde gehen, doch Teddy war es, der immer wieder sagte: Jemand wird kommen und Parn helfen. Er wird die Königin zur Vernunft bringen und uns alle befreien." Flynns Augen starrten in die Dunkelheit. Seine Hände ruhten auf dem Lenkrad, dennoch bewegte es sich wie von Zauberhand. "Ellie. Ich habe dich gerufen, weil dein Herz gebrochen ist. Es war eine Leichtigkeit eine Verbindung zu dir aufzubauen." Erschrocken blickte ich auf, direkt in sein Gesicht. Diese Worte schienen ihm so leicht über die Lippen gegangen zu sein. Zu leicht. Als wäre ich nur eine Marionette, die er ausgewählt hat, um für ihn zu kämpfen. "Ich weiß was du nun denkst.", begann er "Aber so ist es nicht. Natürlich brauchten wir Jemanden der uns hilft und du hast mich nicht abgestoßen. Deine Gedanken waren verwirrt. Ich konnte in deine Träume blicken und sie verändern. Ich konnte dich in das Kinderzimmer locken und dir die Melodie von unserem Jahrmarkt einflößen. Ellie, sei mir nicht böse. Ich hätte jeden anderen nehmen können, aber der Zugang zu dem Refugium befindet sich nunmal in dem Haus und du warst am einfachsten zu überzeugen." Ich konnte es nicht fassen, wollte ihm derart böse Wörter an den Kopf werfen. So einiges fiel mir ein, aber ich tat es nicht. Zu erschrocken war ich über das, was Flynn mir angetan hatte. "Du hast die Hilflosigkeit ausgenutzt in der ich war, als ich um den Tod meiner Mutter getrauert habe, um mich in diesen Horrorfilm zu bringen?" Mein Herz pochte vor Wut und brachte meine Stimme zum erzittern. "Das ist..." "Das Beste was ich für dich tun konnte, Ellie.", unterbrach mich der Zauberer. "Ich gebe dir die Möglichkeit deine Vergangenheit zu ändern, wenn du uns hilfst das Refugium zu befreien." Noch immer fassungslos starrte ich in das kantige und zugleich schmale Gesicht des Zauberers. Es hatte eine bleiche Farbe angenommen, die mir zunächst nicht aufgefallen war. Seine Pupillen waren geweitet und in einem pechschwarzen Ton. "Ich verstehe nicht."
Der Zauberer sprach mit tiefer Stimme: "Das Refugium ist ein Ort der Magie. Ich kann deine Vergangenheit bis zu jenen Zeitpunkt zurück setzen, bevor deine Mutter den Unfall hatte." "Das geht?" In mir erregte sich ein Gefühl der Freude, der Hoffnung. Meine Gedanken waren verwirrt, aber ich konnte nicht anders, als ihm in meiner Einsamkeit zu glauben. "Aber natürlich.", sprach Flynn. "Du musst nur tun, was ich dir sage." Auffordernd sah ich ihn an. "Bring mir das Herz der Königin Efrem, und ich kann den Zauber sprechen, der alles so macht, wie es war. Das wünschst du dir doch, oder?"
"Ja."
Flynn ließ sich vor mir zu Boden sinken. Das Lenkrad bewegte sich wie von Zauberrei und fuhr den Wohnwagen durch die Nacht. Er zückte seinen dürren Zauberstab, der an die Äste der Seelebäume erinnerte und griff mit seiner freien Hand nach meinen rechten Arm. Den Stoff meines dünnen Pullovers zog er etwas höher. Dann drückte er den Zauberstab auf die Adern an meinem Handgelenk. Ich fühlte mich wie gelähmt, als der Stab über meine Haut strich. Worte der Macht aus einer fremden Sprache umspielten Flynn's Lippen. Jedes Wort ließ meine Adern pochen. Bald brannte mein Handgelenk, als hätte man Säure darauf vergossen. Ich wollte schreien, wollte mich wehren, mich losreißen von alle dem, doch der Zauber hielt mich in seinem Bann und so erstarb jeder Schrei der von meinen Lippen ging. Eine Spur von Blut sickerte aus meinen Adern und verschwand in der Spitze des Zauberstabes. Flynn's Augen hatten die selbe blutrote Farbe angenommen. Er ließ den Zauberstab sinken. Erschrocken blickte ich auf die Wunde an meinem Handgelenk. Es hatte sich eine Kruste in Form eines Auges gebildet. Fassungslos starrte ich darauf. Der Schmerz war verschwunden. "Du wirst mir das Herz der Königin Efrem bringen. Egal wie schwer, diese Aufgabe für dich ist. Du wirst dich den Gefahren stellen, selbst dann, wenn du bis zum Tod dafür kämpfen musst. Solltest du vorhaben aufzugeben oder mit Jemanden darüber sprechen wollen, so wird das Auge auf deinem Handgelenk deine Seele verschlingen und dich auf Ewig in einen Seelenbaum gefangen halten. Du bist von nun an eine Gefangene des Refugiums."
Fortsetzung folgt...
Tag der Veröffentlichung: 08.11.2012
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