Unvergessene Kinder
Lesen, ich lese gerne, ich lese viel. Manchmal fallen die Worte durch meinen Kopf, wie durch ein löchriges Sieb. Zuviel gelesen, Zuviel gelebt. Doch dann setzt sich ein Buch fest und behauptet seinen Platz. Die Gedanken kreisen und fordern Beachtung, berühren eigene Befindlichkeiten, wecken Erinnerungen.
Ein Buch lässt mich nicht los und zwar nur ein Detail daraus. Autor und Titel sind unwichtig, ich glaube nicht, dass es auf die Bestsellerliste kommt. Was mich bewegt sind meine Empfindungen dabei und die Erinnerungen.
Im Buch wird ein etwa sechsjähriger Junge geschildert, der bei den Großeltern aufwächst. Eine schwierige Kindheit. Nun soll er nach all den Jahren zum ersten Mal seine Mutter sehen, die zu Besuch kommt. Die Sehnsucht nach ihr war immer da. Er wartet auf die heiß ersehnte, zur größten Schönheit hochstilisierte Mutter, auf die im Herzen erhoffte Liebevolle.
Sie kommt. Nach sechs Jahren sehen sie sich endlich. Endlich! Doch das ganz Große, das inzwischen superlativ Erhoffte, findet nicht statt. Es kommt nur Kälte und Ablehnung herüber. Es ist als ob ein Kind noch einmal verlassen wird.
Ich konnte mich so sehr in diesen Jungen hineinversetzen, dass ich ihn bis heute nicht vergessen habe. Es ist nur ein Buch, doch Bücher bewegen uns, besonders da, wo unsere eigenen Empfindlichkeiten zuhause sind.
Das Gelesene deckte Erinnerungen auf, an meine Zeit als Sekretärin im Kinderheim Haus Sonnenberg, sechzig Mädchen und Jungen im Alter von zwei bis achtzehn Jahren.
Fast zehn Jahre saß ich auf meinem Platz in meinem Büro. Für alle, die vorbeigingen gut zu sehen. Irgendein Kind drückte sich immer an der Glastürscheibe die Nase platt. Zehn Jahre Verlässlichkeit für Kinder, die ein Kommen und Gehen der Bezugspersonen in Kauf nehmen mussten.
Meine Kleidung war so angepasst, dass klebrige, schmutzige Kinderhände auf meinem Schoß keinen sonderlichen Schaden anrichten konnten. Wenn immer es ging war ich in den Aufenthalts- und Schlafräumen. Mit der Heimleiterin Schwester Dora, einer alten Diakonieschwester, die Ihre letzten Jahre hier absolvierte, verstand ich mich einmalig. Wir waren auf einen Wellenlänge und hatten die gleichen Arbeitsansichten.
Vorher hatte ich in einer großen Firma für Röntgengeräte gearbeitet. Die Akten, die über meinen Schreibtisch gingen, hatten hauptsächlich technischen Inhalt. Jetzt, im Haus Sonnenberg, waren die Akten zu Kindern geworden, Kinder die zunehmend meine Gedanken einnahmen, obwohl ich zuhause meinen Mann und meine Tochter wusste.
Zweimal im Monat war Besuchszeit im Haus Sonnenberg für die Verwandten der Kinder. Alle warteten voll Sehnsucht auf diese Besuche. Kommt mein Vater, meine Mutter, meine Schwester, meine Oma? Voll Verlangen wurde aus dem Fenster geschaut. Mit der Zeit wurde dieses Warten zu meinem Warten. Ich fieberte mit meinen Kindern dem Besuch entgegen und war tief frustriert, wenn er ausblieb.
In der Wartezeit auf ihre Angehörigen hoben die Kinder sie zu wahren Göttern empor. Besonders Mütter, die sich lange nicht blicken ließen, wurden träumerisch immer schöner und liebevoller ausgemalt. Die Sehnsucht ließ die Träume zu wunderbaren Gebilden heranreifen.
Es ging soweit, das ein Junge, Jannis, der besonders gute Schulnoten hatte, später nur Kohlenträger wie sein Vater sein wollte. Ein Vater der sich selten blicken ließ. Später traf ich Jannis auf der Autobahn als Anhalter wieder. Er war zum Hippy und drogenabhängig geworden.
Ich habe mir oft Gedanken gemacht, ob die riesigen Erwartungen über Familienleben später der eigenen Ehe mit Kindern standhalten würden. Zu hohe Erwartungen an Partner werden in der Realität oft enttäuscht.
Erinnerung an Angelika, sie verbrachte fast ihre gesamte Kindheit im Heim. Angelika, aggressiv, unzugänglich, in Therapie, sehr masculin betont. Sie bekam niemals Besuch von ihren Angehörigen, obwohl alle in derselben Stadt wohnten. Ich schrieb ihr unermüdlich über Jahre Karten von meinen Reisen, zu ihren Klassenfahrten, ins Krankenhaus, egal zu welcher Angelegenheit. Es gab nie ein Feedback. Jahre später, als ich im Schwimmbad mit Badekappe im Bikini, unter der Dusche stand, sprach mich eine seltsam bekannte junge Frau an. Angelika!. Sie sah gut aus, war Kassiererin in einem Supermarkt, War zufrieden mit ihrem Mann und den beiden Kindern. Was mich total umhaute war, als sie mir sagte: Ich habe noch sämtliche Karten, die Sie mir einmal geschrieben haben.
So könnte ich noch weitere Erinnerungen auskramen. An Herbert und Carsten etwa, die beide in die schöne Delphine verliebt waren. Delphine der schöne Star, Fünfzehn, schon vollbusig, mit superlangen Haar und sehr groß. Die beiden dreizehnjährigen kleinwüchsigen Bengels beschafften sich Schuhe für Männer mit sehr hohen Absätzen. Nun stolzierten sie um den Star herum wie Störche am Teich. Sie wurden so zu Rivalen, dass Carsten eines Tages mit einem blauen Auge zur Schule musste. Erst als Delphine wegen ungebührlichem Verhalten, Trebe, in ein anderes Heim verlegt wurde, beruhigten sich beide wieder. Die Schuhe wurden vorübergehend nicht mehr gebraucht. Ob Delphine für die spätere Partnerwahlen ausschlaggebend war, wer weiß es.
So sind diese Kinder noch heute unvergessene Kinder. In stillen Stunden gehe ich manchmal in Gedanken durch die Räume von Haus Sonnenberg, sehe meine Kinder fest und ruhig an und kenne fast all ihre Namen.
In einsamen Stunden dürfen wir daran denken, wir sind nicht vergessen. Wir wissen nur nicht, wer gerade an uns denkt.
Ein weiter Weg von dem Jungen im Roman, der auf seine Mutter wartet, zu meinen Erinnerungen. Durch das Kinderheim weiß ich, was warten auf einen bestimmten Menschen heißt. So hat mich ein Buch berührt und diese kleine Geschichte zum Leben erweckt.
Tag der Veröffentlichung: 24.01.2010
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