Es ist noch früher Morgen, als die Sonne zum ersten Mal vorsichtig an den Seiten meiner dicken Vorhänge entlang sickert. Sie sind schwer und zäh wie mein ganzer Körper, der sich zwischen Nacht und Tag schwerfällig aus dem Schlaf löst. In die Schwere meines Körpers webt sich eine tiefe anspruchslose Zufriedenheit mit einer solchen überwältigenden Intensität, dass ich für eine winzige Sekunde das Gefühl habe, aufspringen zu müssen, um sie ertragen zu können. Dann ist der Moment vorbei und es bleibt nichts zurück als die süße Schwere meines Körpers. Ich frage mich, ob ich mich später an diesen Moment als einen der Augenblicke in meinem Leben erinnern werde, an dem ich widerspruchslos glücklich gewesen bin.
Schwer wie Zement drücken meine Beine und mein Bauch in die Matratze. Ich fühle mich zu wohl in meinen Decken mit deinem Geruch in meiner Nase, als dass ich jetzt schon ganz aufwachen mag. Ich bin noch zu müde, um diesen Moment um den Preis des anbrechenden Tages loszulassen. Ich heiße die erdrückende, wunderbare Schwere willkommen, sauge sie ganz in mich auf, bis nichts von mir bleibt als ein Stein, der immer tiefer in die Matratze sinkt. Versuchsweise bewege ich meine Fingerspitzen, sie strecken sich vorsichtig in den ersten Sonnenfleck, der über mein Bett flackert. Mein Magen rollt in Rebellion gegen das Erwachen und klammert sich mit einer Kraft an die Bewusstlosigkeit des Schlafes, dass mir schlecht wird. Ich habe diese Übelkeit nie so sehr mit offenen Armen willkommen geheißen wie an diesem Morgen mit dir neben mir.
Im Schlaf drehst du dich auf die andere Seite und ziehst mir die Decke von den Schultern, um dich tiefer einzuwickeln. Deine Hand baumelt über der Bettkante. Ich liege neben dir, beobachte dich und beobachte die frühen Sonnenstrahlen. Sie sind die ersten Vorboten einen zähen und süßen Sommertages, der schwer auf den staubigen Straßen liegt. Ich horche auf den Rhythmus unserer beider Atem. Asynchron. Mein Herz stolpert, als wäre ich über etwas gestürzt. Angst packt mich in den schutzlosen Momenten der Glückseligkeit heftiger als zu jeder anderen Zeit.
Die Angst rauscht jetzt in meinen Ohren, dass nicht nur unser beider Atem seit gestern Nacht aus dem Gleichgewicht geraten ist. Vielleicht zerfällt diese wunderbare ganzheitliche Zufriedenheit in mir mit dem Anbruch des Tages in eine endliche gauklerische Illusion, deren Halbwertzeit wir schon lange überschritten haben. Glückseligkeit ist fragil wie Glas. Ich wünsche mir mit dem verletzten, kompromisslosen Egoismus eines Kindes, dass du niemals aufwachen wirst und dass der Tag nie ganz über die Nacht siegen wird, damit ich diesen Moment festhalten kann.
Die Sonne tropft wie schwerer Sirup gemächlich durch die Fensterritzen, verklebt meine Gardinen und fließt zäh an meinen Vorhängen nach unten, bis sie auf meinem Teppich eine klebrige gold-braune Pfütze bildet. Ich bin aus einem tiefen Traum aufgewacht, der schwer war wie von Sonne getränkte weiße Wolken. Seine Schatten in meinem erwachenden Bewusstsein sind Vorboten für den heißen, vibrierenden Sommertag, der vor meinem Fenster aufzieht.
Meine Lehrbücher liegen aufgeschlagen auf meinem Teppich, wie ich sie gestern dort habe liegen lassen. Heute erscheint es mir, als sei seitdem eine ganze Ewigkeit vergangen. Der gehetzte Mensch, der ich gestern war, ist irgendwo in meiner Erinnerung verloren gegangen. Ich fühle mich, als könnte ich das erste Mal seit ewigen Zeiten durchatmen und wenn ich jetzt meiner innere Uhr lausche, rennt sie mir nicht mehr davon. Sie ist einfach stehen geblieben. Und es macht mir keine Angst. Von meiner gehetzten Geschäftigkeit ist heute morgen nichts mehr übrig geblieben. Noch nie sind mir meine Abgabetermine, meine Referate, meine Vorlesungen und meine Zukunft in einer vom Wettbewerb gekrümmten Welt so unwichtig gewesen. Ob es eine Sünde ist, so selbstzufrieden zu sein?
Auf den glänzenden Einbänden meiner Lehrbücher spiegelt sich die erste Reflexion der Sonne. Sie tropft gemächlich in die wachsende Siruppfütze unter meinem Fenster. Die fließt wie unabsichtlich über meinen Teppich; als ob sie ein Gefälle hinunter flösse, auf meine aufgeschlagenen Bücher zu. Sie leckt schon an den Füßen meines Bücherregals, das sich in die Ecke neben meinem Fenster presst.
Ich verlagere meine Atmung von der Brust in meinen Bauch, um das Gleichgewicht zurückzugewinnen, dass wir beide gestern Nacht noch hatten. Ich lege die Hand auf den Magen und konzentriere mich auf auf das Heben und Senken meiner Bauchdecke. Mein Körper ist zuerst misstrauisch, denn es ist lange her, dass ich ihn beachtet habe. Meine Atmung holpert in meinem Bauch, bis sie an Zuversicht gewinnt, dass heute morgen mein Körper dem Verstand die Kontrolle abgenommen hat. Ich horche und fühle erstaunt wie ein Kind, das die Welt kennen lernt, wie sich meine Atmung verlangsamt. Ich atme im Takt mit deinem ruhigen Atem, mit dem du im Schlaf die Stille meines Zimmers bereicherst. Vielleicht bleibt das Glück ja noch eine Weile länger bei mir.
Die Sonnenstrahlen fließen wie Sirup an meinen Gardinen herunter und nähren die beständig wachsende Pfütze auf meinem Teppich. Sie breitet sich allmählich aus, um alles zu verschlucken, was bis gestern noch so selbstverständlich mein Leben gewesen ist: die Stapel von Büchern und Aufsätzen, die sich auf meinem Boden, dem Tisch und den Regalen türmen. Ich habe die meisten davon nie zu Ende gelesen, weil mir die Bildungsfabrik immer wieder neue Bücher und Aufsätze wie von einem Fließband in mein Zimmer spülte, die nach mir griffen und verlangten, gelesen zu werden. Mein Feuer, meine Lust aufs Lesen, ist mit dem Jahren zu einer zehrenden Glut von Zwängen geworden. Jede Theorie verlangte mit dem gleichen selbstbewussten, arroganten marktschreierischen Gehabe danach, von mir gelesen und verstanden zu werden. Und bevor ich ein Buch nur aufgeschlagen hatte, schrie mir ein weiteres ins Ohr. Das ewige 'Du musst, du musst' der Bücher ist heute Nacht verstummt und ist am Morgen zu einem flüsternden 'Entscheide selbst' geworden. Seitdem du gestern die Bücher für mich zugeschlagen hast, habe ich gelernt, was es heißt, frei zu entscheiden. Heute entscheide ich mich dafür, etwas nicht zu tun und das erfüllt mich mit der ängstlichen, selbstsüchtigen Vorfreude, etwas Verbotenes zu tun.
Es ist noch viel Zeit, meine Bücher vom Boden zu sammeln, bevor die zähe Siruppfütze an ihren Einbänden leckt und sie verklebt. Ich habe noch Zeit, die Kapitel zu Ende zu lesen, die mein Professor mir aufgegeben hat. Ich werde nichts davon tun. Heute werde ich in keine einzige Veranstaltung an der Uni gehen. Ich habe Bedeutenderes vor, als über meinen Büchern zu sitzen und Präsentationen zu hören. Mit dir zu sein, ist größer als alles, was mein Verstand fassen kann.
Noch sind die Wolken grau. Die frühen Sonnenstrahlen kleiden die Kastanie vor meinem Fenster in erste Versuche von Grün. Es wird nicht lange dauern, bis sie ganz hinter dem Horizont aufgetaucht sein wird. Sie leckt die graue Haut von Himmel und den Bäumen, bis sie neu gehäutet Blau, Weiß und Grün strahlen. An Tagen wie diesen sind die Farben so intensiv, dass ich glaube, sie in der heißen Luft vor Lebenskraft surren hören zu müssen.
In meinen Bücher steht zwischen den Zeilen geschrieben, dass es in der modernen Leistungsgesellschaft keine Zeit mehr für Gefühle gibt. Ich fand immer, dass das Blödsinn ist. Heute morgen aber glaube ich, dass sie recht hatten. Mein Ausbruch aus der Leistungsgesellschaft hat mich mit einen so tiefen und erschütternden Gefühl von Zufriedenheit getränkt, dass ich nicht mehr sicher sagen kann, ob ich wirklich Gefühle gehabt habe, als ich noch als ein Teil der Maschine der Leistungsgesellschaft funktioniert habe.
Die Bücher bleiben stoisch liegen angesichts der Tatsache, dass eine riesige Siruppfütze stetig auf sie zufließt. Vielleicht sind sie zu selbstverliebt, um erkennen, dass sie unter Lebensgefahr stehen. Keines dieser Bücher hat genug Verstand, um der Lawine Platz zu machen, gegen die sie nicht bestehen werden können. Dabei lehren sie mich beständig, dass ich meinen Verstand gebrauchen muss, wenn ich im Alltag bestehen will. Er gewährleistet, dass ich meine Entscheidungen herrlich an die gesellschaftlichen Anforderungen anpassen kann. Er ist mein Garant dafür, dass ich in der Welt vor meiner Haustür in der mir zugedachten Weise reibungslos funktioniere.
In ihm trage ich alle Erwartungen des Alltags mit mir herum: immer ein bisschen besser zu sein als andere, wie auch andere genauso immer ein bisschen besser als ich sein müssen. Wir sind jung, wir sind innovativ, wir sind flexibel. Wir passen uns allen Anforderungen an wie sich Wasser an die Form einer Schale anpasst, in das man es gießt. Doch wie ich es heute morgen betrachte, ist eine einzige Siruppfütze allem Verstand überlegen. Sie überflutet meine Lehrbücher mit einer stetigen, unaufgeregten Unvermeidlichkeit. Sie wächst mit dem Stand der Sonne in mein Zimmer hinein und deckt alle Argumente mit einer erstickenden Zuckerkruste zu.
Ich lege mich auf die Seite und ziehe meine Beine an die Brust. Vor meinem Zimmerfenster ist die Welt aufgewacht. Menschenschritte eilen über Bürgersteige. Stimmenfetzen, deren Bedeutung ich nicht verstehen kann, sickern mit der Sonne durch meine Gardinen. Das erste morgendliche Verkehrschaos der Autos und Busse stolpert im Rhythmus der Ampelphasen über die Kreuzung. Draußen in der Welt muss ich jeden Tag einen Spagat über eine Kluft machen, der meine Sehnen überstreckt. Mir scheint ständig, dass eine Stimme mir zuruft, die ich kaum verstehen kann, weil sie sich wie ein Echo ständig selbst überlagert. Eine einzige Stimme ruft mir wie von beiden Ufern der Kluft immerfort zu. Doch was sie von mir fordert, ist an jedem ihrer Ufer grundverschieden. Auf der einen Seite soll ich unverwechselbares Individuum sein, um in der individualisierten Gesellschaft anerkannt zu werden. Auf der anderen Seite muss ich mich den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft anpassen wie ein Chamäleon.
Ein unterdrücktes Gefühl in mir wirft mir vor, dass ich kein Rückgrat hätte. Das Verlangen, dem Vorwurf zu widersprechen ist so stark, dass ich mich dem Verlangen bedingungslos ergeben möchte. Aber da ist noch ein anderes Gefühl in mir, es ist uneingebildet, fast gleichgültig, aber stark. Wie kannst du einem Vorwurf widersprechen, den du dir selber machst? Fragt es mich achselzuckend. Ich kann es nicht leugnen, dass ich am Ende doch nur ein Kind der Leistungsgesellschaft bin. Ich lege mich auf den Bauch, damit mein Rücken nicht mehr so weh tut. Ich habe beschlossen, dass ich heute starr sein will wie ein Stück Holz, das auf der einen Seite so gewachsen ist, dass es an deine Seite passt.
Mich zusammenzurollen wie ein Fötus ist wie das Ende eines langen Rennens, das in meinen Beinen brennt. Das Gefühl meiner an die Brust gepressten Beine gibt mir eine Zuversicht, die neu für mich ist. Ich klammere mich weder an die eine noch die andere Seite der Kluft, die immer weiter auseinander bricht. Statt dessen stürze ich als Stein wie im freien Fall in den Abgrund. Der Schwindel überkommt mich mit einer so beängstigenden Kraft, dass ich meine Augen schließen muss, damit mir meine Übelkeit nicht die Sinne raubt. Ist das das Gefühl, dass man hat, wenn man den einen falschen Schritt tut, der einem den Boden unter den Füßen weg reißt? Ist das die wilde Angst vor dem unvermeidlichen Fall? Ist das das Ende? Es ist fast, als fühlte ich die warme Luft im freien Fall an meinen Ohren vorbei zischen.
Ich habe mir die Luft immer als kalt und schneidend vorgestellt, wenn ich falle. Ich öffne meine Augen, als ich merke, dass irgendetwas nicht stimmt. Das Zischen der warmen Luft ist noch immer da. Das ist nichts, was ich mir vorgestellt habe. Es ist regelmäßig, bläst warme Luft an mein Ohr. Ich fühle mich fast ein bisschen lächerlich, als ich erkenne, dass du das bist. Dein warmer Atem an meinem Ohr und manchmal so etwas wie ein Murmeln im Schlaf. Ich frage mich, ob du manchmal im Schlaf redest. Du seufzt irgendetwas im Halbschlaf und wirfst deinen Arm über meine Hüfte. Ich schaue hinunter in den Abgrund. Zuerst ist es nur ein unerklärliches Gefühl, das sich etwas geändert hat. Deine Körperwärme strahlt sich in mein ganzes Bett aus und als mich deine Wärme umfängt, erkenne ich, was es ist, dass mich stört. Ich kann den Boden des Abgrundes kaum sehen, er liegt wie im schwarzen Nebel. Aber trotzdem kann ich erkennen, dass er statisch zu sein scheint. Und obwohl ich mit flatternder Angst den Moment erwarte, in dem sich der Nebel lichtet und ich auf den Boden aufschlage, bleibt er in der immer gleichen Entfernung unter mir. Ich falle nicht, ich schwebe.
Die Kastanie vor meinem Fenster malt ihre Schatten auf meine weiße Wand und über mein Bücherregal. Das Licht fängt sich in einer großen glitzernden Fläche auf meinem Teppich und wird an meine Gardinen zurückgeworfen. Verwirrt richte ich mich auf, so weit dass mit deinem Arm auf meinen Hüften möglich ist. Ich versuche zu erkennen, was es ist, das da auf meinem Teppich das Sonnenlicht reflektiert, wahrscheinlich mit diesen dicken Sorgenfalten auf der Stirn, die ich von meinem Vater geerbt habe; die wir beide tragen, wenn wir uns etwas nicht erklären können. Ich bin mir absolut sicher, dass ich gestern nichts dorthin gelegt habe.Irgendetwas Großes glitzert unter meinem Fenster wie Glasstaub.
Die bücherbegrabende Siruppfütze – ich hätte sie und meine Lehrbücher auf dem Boden fast vergessen. Ich stelle fest, dass es ist ein schönes Gefühl, vergessen zu können, als ich es auf mich wirken lasse. Selbstvergessen sinke ich in meine Kissen, während die Sonnenflecken über mein Bett und meinen Teppich tanzen.
Ich strecke nachlässig und hölzern meinen Arm so weit aus, wie ich nur kann und betrachte die Sonnenallergie auf meiner Hand . Schon als Kind hatte ich nach langen Sommertagen die Hände voller roter Flecken. Ich wende meine Hand vor meinen Augen, die Flecken heben sich gegen die leichte Bräune meiner Haut ab.
Meine Fehler haben mich noch nie so beruhigt wie heute. Da gibt es etwas in mir, das nicht reibungslos funktioniert. Es funktioniert so wenig, dass jeder meine Funktionsfehler auf meiner Haut sehen kann. Meine roten Flecken auf den Händen sind ab heute meine Rebellion gegen die äußeren Zwänge der Leistungsgesellschaft, immer funktioneren zu müssen. Ich war noch nie so stolz darauf, ich selbst zu sein. Es erschüttert mich ein bisschen, was du alles mit mir tust, während du vollkommen ahnungslos neben mir liegst und schläfst.
Zwei Straßen weiter schlägt eine Kirchenturmuhr fremd acht Mal. Ich bin heute nicht Teil dieser Welt, in der sie läutet. An anderen Tagen fahre ich um diese Zeit mit dem Fahrrad zur Uni. Sie teilt die äußeren Erwartungen an mich in Zeitintervalle von 90 zu 30 Minuten. 90 Minuten Vorlesung, dann 30 Minuten Pause. 90 Minuten Vorlesung, 30 Minuten Pause. Es hat mich früher nicht gestört.
Doch dieser Mensch wohnt nicht mehr bei mir. Ich bin nicht ordentlich, ich bin nicht organisiert. Ich bin nicht angenehm. Ich bin heute nicht die, die Firmen in ihren Stellenanzeigen suchen. Es ist etwas Neues in mein Leben gestolpert. Mit deinen zerschlissenen Hosenbeinen und verwuschelten Haaren hast du meine Welt durcheinander geworfen, in der alles seine wunderbare Ordnung hatte. Deine Nicht-Konformität pflanzt sich in meinem Herzen fort, wo sie meine innere Uhr zum Stillstand gebracht und Platz für eine unendliche Ruhe geschaffen hat.
Heute ist der erste Morgen seit Langem, an dem ich ausgeschlafen aufgewacht bin. Ich übe das erste Mal bewusst den süßen Luxus des Widerstandes. Ich gehe nicht zur Vorlesung. Statt dessen beobachte ich die glitzernde Siruppfütze, die die Sonne immer weiter in mein Zimmer tröpfelt. Sie wälzt sich zäh und klebrig auf meine Bücher auf dem Boden zu wie sich langsam erkaltende Lava auf ein Dorf am Vulkanhang zuwälzt. Ich bleibe liegen und werde mich nicht dafür rechtfertigen.
Ich habe jahrelang in den Vorlesungssälen, der Bibliothek und an meinem Schreibtisch von der Leistungsgesellschaft, dem flexiblen Menschen und der individualisierten Gesellschaft gelesen. Ich hatte die Theorie so perfekt verstanden. Dann hat deine Praxis von der Freiheit all meine Gedankenkonstrukte zerworfen. Dass du so ruhig mit dem Gewissen schlafen kannst, dass du meine ganze Welt in Frage gestellt hast, macht mich sprachlos.
Ich habe den Telefonhörer zur Seite gelegt und unter mein Sofakissen gesteckt. Die Gesellschaft funktioniert heute ganz gut ohne mich. In der Welt vor meiner Haustür muss jeder die Verantwortung für die eigenen erzwungenenHandlungen übernehmen. Ich möchte heute nur Verantwortung für dich übernehmen. Die Welt vor meiner Haustür hat sich große Mühe gegeben, mich ihr Untertan zu machen. Sie weiß noch nicht, dass sie es nicht geschafft hat. Die Kirchenglocke schlägt ein Mal. Viertel nach acht. Heute wird mein Klappstuhl im Hörsaal leer sein und als von den Anderen unerkanntes Zeichen meiner persönlichen Rebellion 90 Minuten lang leer bleiben.
Unser beider Atem geht beruhigend nebeneinander. Die Sirupsonne schmilzt ihre riesige Pfütze durch meine Vorhänge. Ich bin im freien Fall in deinen Frieden. Dein Dasein macht mich so reich, wie ich lange Jahre nicht mehr gewesen bin. An diesem zähen Sommermorgen haben wir uns wie Insektenlarven in meiner Bettdecke verpuppt.
Ich möchte hier mit dir Zeit verbringen wie eine Raupe, die drei oder vier Wochen in ihrer Puppe versponnen an einem Zweig hängt. Wir haben uns letzte Nacht ein letztes Mal gehäutet und spinnen uns heute in unseren Kokon ein. Lass uns zusammen in meine Bettdecke verpuppt eine Verwandlung durchmachen, an deren Ende ich die ersten Flügelschläge in die Freiheit machen werde.
Mein dickes Fensterglas dämpft und schluckt die Geräusche, die von draußen hineinkommen wollen. Die Autos werden zum fernen Rauschen, die Stimmen der Menschen sind vollkommen verstummt. Die einzigen Geräusche sind unser synchroner Atem und das Rascheln meiner Decken und Kissen, wenn du dich bewegst.
Mein Fensterglas spaltet die Welt vor meinem Fenster in das Schöne und das Hässliche. Das Schöne lässt es in Fülle herein, das Hässliche hält es von mir fern. Ich will mich trauen, die Sonne hereinzulassen, die beständig an meinem Fenster leckt. Mein Fenster lässt das Licht hinein, aber blockt alle Zwänge ab.
Ich schäle mich aus meinen Decken. Deine Augen wandern hinter deinen Lidern hin und her, als überlegtest du, ob du weiterschlafen oder aufwachen möchtest. Ich möchte dich in meiner Selbstsucht bitten, nie aufzuwachen, damit meine neu erwachte Zufriedenheit nicht zerbricht. Aber du hast mich gestern gelehrt, was Freiheit bedeutet. Es tut mir weh, zu akzeptieren, dass es deine Entscheidung ist, ob du jetzt aufwachen möchtest oder nicht, und nicht meine. Ich erwarte mit bebender Unruhe den Moment, an dem du deine Augen öffnen wirst. Dann liegt es an dir zu entscheiden, ob meine widerspruchslose Zufriedenheit über den Tagesanbruch hinaus lebensfähig sein wird. Kannst du fortführen, was du gestern begonnen hast? Ich lege mein Schicksal aus freien Stücken in deine Hände.
Die Sonne glitzert hinter meinen Vorhängen.
Es hat keinen Sinn mehr, mich vor dem unausweichlichen Ausbreiten des zähen Sommertages zu verstecken. Ich stehe auf und strecke meine Zehen in die zähe Siruppfütze auf meinem Teppich. Sie hat meine aufgeschlagenen Bücher verschluckt und in Zucker konserviert für den Tag, an dem ich mich entscheide, sie aus der erkalteten Zuckerlava zu hauen. Ich stapfe zum Fenster, die Füße tief bis zu den Knöcheln im zähen Sirup, der an meinen Füßen kleben bleibt und zwischen meinen Zehen quietscht. Die Sonne spielt noch ein bisschen mit meinen Händen, die die Vorhänge gegriffen haben. Dann ziehe ich die Gardinen bei Seite und lasse den Tag hinein. Ich heiße das Schöne willkommen und Sonnenlicht flutet in mein Zimmer.
Du blinzelst ein bisschen und versuchst so etwas wie ein Lächeln zwischen Traum und Wachheit. Als du langsam die Augen öffnest, wünsche ich mir, dass du noch für so einiges der Grund in meinem Leben sein wirst. Aber das sage ich dir lieber erst mal nicht. Das Braun deiner Augen ist die perfekte Ergänzung zum Grün, Blau und Weiß meiner Welt. Gerade besteht sie aus nichts mehr als aus meinem in Sirup getauchten Zimmer und dem Sommerbild aus Himmel mit Kastanienbaum, das von meinem Fenster wie von einem Bilderrahmen eingefasst wird.
Die Welt vor meiner Haustür ist hoch komplex. Aber heute morgen schäme ich mich nicht mehr für meine eigene Einfachheit, mit der ich ihren Ansprüchen nicht genügen kann. Du bricht die Komplexität der Welt für mich auf ein lebenswertes Maß herunter.
Unsere großen Träume sickern tröpfchenweise in unsere Realität. Und Sonnenlicht flutet wie goldener Sirup durch mein Fenster. Weißt du, ich glaube, ich könnte unseren gemeinsamen Ansprüche genügen.
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2009
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Widmung:
Ich wünsche mir für diese Kurzgeschichte von euch Verbesserungsvorschläge, Ideen, Lektorat in welcher Form auch immer.
Ich mache mir besonders Sorgen über meinen roten Faden und meine Leserführung. Kann man sich in meinen Text einfühlen? Macht es Spaß ihn zu lesen oder langweilt man sich schnell?
Bitte zögert nicht, mich mit ellenlangen Kommentaren zuzuschütten! Danke euch allen.