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Die Schatten der Welt liegen auf der Allee hinter unserem Haus. Vorne geht ein Feldweg, wie vergessen von der Menschheit; knorrige Wurzeln durchbrechen den Asphalt, der wie verirrtes Band in die Felder gestreut worden ist. Dahinter beginnt die Vergangenheit.

Wenn erste Sommersonnenstrahlen durch klarsten blauen Himmel brechen. Ein Himmel, wie zurückgelassen von damals, als Stille sich über die weiten Wiesen zog. Als hohes Gras im Wind ging und Mohn noch im Licht der Morgentauensonne glitzerte.

Im Garten dreht sich ein Windrad aus Plastik, bedruckt mit roten Blumen. Ein Windrad, gesteckt in das alte Beet mit den Himbeersträuchern, die grün sich hinaufwinden in das Grün der Sträucher und Bäume, die schon jeden Weg bedeckt und zugewuchert haben. Ein Haus daneben wie verwunschen fast. Bäume, die so nah an Mauern lehnen, dass sie bald die Fenster verdunkeln und ihr Duft noch durch den letzten Giebel unserer Dachkammer zieht. Ein Frühling, in dem wir erwachen vom fliegenden Gründuft generationenalter Bäume. Bäume, die fast unter morsche Dachziegel greifen.

Haus in deinen letzten Atemzügen, nur Augenblicke noch, bis du mehr Ruine noch als Haus sein wirst. Stattliches, eitles Haus in deinen letzten Atemzügen. Deine alten Bäume, die in jeder Sommernacht bunte Laternen getragen haben, wenn wir draußen saßen unter dem Ruf der Tiere aus dem Wald. Bist vergangen schon und ich wende mich noch so viele letzte Male um, um dich noch einmal zu sehen… ein letztes Mal zu sehen, bis es dich nicht mehr geben wird als nur in meinen flatterhaften verwischten Träumen. Dich einmal noch sehen als eitle alte kleine Dame, deren Rosenduft durch die kältesten Winternächte noch zieht und sich erst weit am anderen Ende des Flusses verlieren mag.

Ein letzter Augenaufschlag, der letzte rauschende Moment vor dem Fall, wenn jedes Instrument ausklingt, seine letzte Note angeschlagen hat und sich das leise Säuseln bald mit dem ewigen Rauschen des Windes vermischt. Ich gehe fort von dir in die Welt, um nie mehr wiederzukehren; nie mehr wiederzukehren an den Ort, der aufgehört hat zu existieren.

Ort, an dem ich sicher war. Ort, an den ich immer wieder zurückkehrte, wenn die Stürme der Welt mich niedergerissen hatten. Auch dich haben sie getötet, am Ende. Auch du bist so still und einsam an ihnen zu Grunde gegangen. Dein letzter Augenaufschlag.

Dann wenn dein Blick brechen wird, hebt sich der Vorhang über dem Alleenhof. Da ist nicht mehr Baum, noch Allee und Wiese und Feld. Milde Winde sind schal geworden, knisternde Wintersonntage dunkel. Unser Asphaltweg wird einst Straße sein und fernes Autorauschen auch an der kleinen Lichtung vorbeiziehen, auf der du damals vor so ewigen Generationen gestanden hast. Wo du mich leben gelehrt hast. Stundenlang mich bewacht hast, wenn ich in deinen Bäumen gesessen, Blumen gebunden und auf Grashalmen gespielt habe. Dort habe ich mit der Sonne gesprochen und sie durch grüne Blätterdächer beobachtet. Gab es doch nie einen Ort auf der Welt wie dich. Nirgendwo mehr haben Herbststürme mich so sicher fühlen lassen, haben Gewitterregen mich so fasziniert.

Die Welt nicht mehr ohne deine Brille zu betrachtet ist wie neu sein auf der Welt. Seltsame Welt, plötzlich so laut und ungestüm. Wie ein Tier, das sich unseren Asphaltweg hinaufbeißt und sich vor unserer Tür zum Schlafen legt. In unserer letzten Nacht in unserem Zimmer unter dem Dachgiebel habe ich es unter uns atmen hören und als ich aus dem Fenster lugte, sah ich den großen Hund auf dem Rosenbeet legen. Eine Pfote schon auf dem kleinen Anbau gelegt, in dem ich manchmal als Kind gespielt habe, wenn Großvater vergaß, sein Arbeitszimmer abzuschließen. Der ruhige Atem zog hinauf bis unter unser morsches Dach und vermischte sich dort mit deinem dunklen Rosenduft, bis nichts mehr zurück blieb als eine dunkle Angst und die Erkenntnis, dass ich dich in dieser Nacht für immer verloren habe.

Ich saß die ganze Nacht auf unserem alten Fensterbrett. Das alte Fensterbrett, für das ich so lange wachsen musste, bis ich hinüberschauen konnte. Als die ersten Sonnenstrahlen über den alten Wuchergarten gingen, begann ich zu packen. Nicht einmal mehr deine Sonnenaufgänge, deine ersten Morgengerüche sind die gleichen geblieben, wie sie es einmal gewesen sind. Da vor unserer Tür reckte sich der große Hund, hob seine Pfote von unserem Anbau und schlich davon, um in der nächsten Nacht wiederzukommen. Um irgendwann unseren kleinen Anbau mit seiner mächtigen Pfote zerdrücken zu müssen. Irgendwann seine Schnauze bis in unser kleines schiefes Wohnzimmer stecken wird, wo hinter dem Bücherregal eine Mäusefamilie wohnte.

Noch hat die Stadt unseren Alleenhof nicht erreicht und dennoch höre ich an jedem Morgen die Unruhe der Welt näher an uns heranrücken. Noch immer liegt hinter der Stadt die kleine Seifenblase mit dem Wald und dem Fluss und den weitesten Feldern auf ewigen Hügeln. Und in der Mitte der kleinen Seifenblase, dort wo keine Geräusche mehr von draußen ankommen mögen, dort liegt der Alleenhof. Unser dunkles verwinkeltes Haus, in dem sich drei Stockwerke einander verfangen haben, sich kaum selbst ordnen können in den kleinen Mauern. Und unsere Schuppen und Scheunen, in denen ich die alten verstaubten Gerätschaften gefunden habe, die mein Großvater benutzt hat. Alte Gerätschaften, deren Sinn ich nie erkannt habe und die für mich immer bleiben werden wie Überbleibsel einer Welt, die viel weiter fort sein muss als nur ein paar Jahre in unserer Seifenblase.

Und hinter dem Haus liegt unsere Allee. Auf ihr zu gehen ist ein bisschen wie mit einem Korb voller Äpfel zu wandern; ein alter Weidenkorb über den Arm genommen und Baum um Baum an sich vorüberziehen lassen. So ein bisschen wie mit sich und er ganzen Welt sehr zufrieden zu sein, ein bisschen nachdenken und über sich lachen können. Es ist ein bisschen wie sich selbst wichtig sein, allein sein in der Welt und nur die eigene Stimme zu hören.

Und am Ende unserer Allee ist schon ein kleines Stück von der Welt. Nur so klein, dass man kaum je merkt, dass es wirklich schon zur Welt gehören mag. Vielleicht ein bisschen vergessen und ein bisschen unser Eingang in die Seifenblase. Am Ende unserer Allee ist da der Friedhof und früher habe ich stundenlang hinter dem Hügel verbracht, dort wo die alten Grabsteine lagen. Die Grabsteine all der Menschen, die vor 200 Jahren gestorben sind und die niemand mehr kennt und ich habe jeden Grabstein gelesen. Über die raue Oberfläche gewischt und das Moos abgezupft. Blieb doch oft kaum mehr als verwaschene Buchstaben, die ich kaum mehr unter meinen Fingern ertasten konnte.

Und dann lag vor mir die Kirche, alte kleine Kirche, aus unbehauenen Steinen ungelenk aufeinander gesetzt. Hinter ihr lag dann schon ein bisschen mehr von der Welt. Da gab es den kleinen Dorfplatz, auf dem schon lange nichts mehr herrscht denn die große Stille der Wochenenden. Der Dorfplatz, der manchmal aufbrach in Schreien und Laufen und Rufen, wenn wir Kinder uns auf ihm die Knie wund schlugen. Wir Kinder sind nicht mehr dort. Wir sind fort oder tot oder erwachsen geworden.

Hier wachsen die Häuser aus dem Boden, säumen kleine Dorfstraßen, auf denen hin und wieder kleine Autos fahren mit kleinen Menschen darin. Sie haben kaum mehr gesehen als das kleine Dorf in ihrem Leben und haben sie mehr gesehen, so sind sie zurückgekehrt. Sie sind enttäuscht zurückgekehrt, um wieder im Schatten der kleinen schiefen Kirche zu leben und die kleinen Dorfstraßen entlang zu fahren.

Dahinter gibt es nichts mehr. Da sind nur noch lange Straßen, die an endlosen Feldern entlang führen und uns irgendwann in die Stadt spülen, wo wir für einen Tag, für ein paar Stunden, in dieses seltsame Ameisenvolk eintauchen, das uns so seltsam scheint. Dies Volk, das von Dingen spricht, deren Bedeutung wir nicht kennen. Ein bisschen zu langsam, ein bisschen zu ungelenk und ein bisschen zu naiv ziehen wir durch die Straßen, um zu arbeiten und zu kaufen und Stadt zu sehen, wie sie sich nur hier und jetzt offenbaren kann.

Mein kleines altes Rosenhaus an der Allee. Du hast mich doch immer wieder aufgefangen nach den Tagen in der Stadt. Du hast mich rein gewaschen von dem dunklen Ruß, der an meinen Haaren und an meiner Haut klebte. Du hast mich mit deinem Rosenwasser bestäubt und mich in deine Mohnfelder gesetzt, wenn ich so unruhig war wie die Stadt selbst es nur sein kann.

Heute Nacht habe ich das erste Mal das große Untier vor unserer Haustür liegen sehen, seine Pfote auf unseren kleinen Anbau gelegt. Es hat den Ruß aus der Stadt mitgebracht und dein Rosenwasser ausgeschüttet. Mein Alleenhof, klein bist du geworden. Hast mich beschützt über die Jahre hinweg, in denen ich groß und immer größer geworden bin. Die Jahre, in denen ich dich verlassen habe, um doch immer wieder zu kehren, wenn mein Schiff an irgendeiner Klippe zerschellt war. Doch heute Nacht hatte ich das erste Mal das Gefühl, dass du leer geworden bist. Bist irgendwann gestorben, als ich fort war. Ich habe es nicht erkannt, als ich wieder in deiner Stube stand. Ich stand unter dem Bild der Steilküste und hinter mir ging die Uhr. Schien doch alles so zu sein wie einst. Ich saß auf meinen Koffern und sah nicht, dass du schon gestorben warst.

Heute Nacht habe ich dich in unserer Kammer unterm Giebel geträumt. Ich erwachte dann, als ich den Atem des Untieres hörte. Da wusste ich, dass du nicht mehr hier bist. Deine Mauern sind Hülle geworden, Hülle voll Liebe zwar. Aber sie können mich nicht mehr wärmen vorm rasselnden Rußstädte-Atem des Untieres. Als ich heute vor die Tür trat und meine Koffer an unserem kleinen Feldweg aufgereiht habe, sah ich in den Himmel. Dünn ist sie geworden unsere Seifenblase. Die bunten Regenbogenschlieren wabern wie von Sturm getrieben. Angst hast du mir gemacht.

So verlass ich dich, bevor die kleine Seifenblase sich im Fluss auflöst und davon geschwemmt wird, bevor das Untier unsere kleine Dachkammer entdecken kann. So gehe ich fort, um nie mehr wiederzukehren, um heimatlos zu werden in der Welt.

Impressum

Texte: Das Copyright am Foto liegt bei mir. Es zeigt das einsame Gartentor in unserem verwilderten Garten, zu dem der Zaun heute fehlt.
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2009

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