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Ihre Straße führt hin zur Kirche, doch das soll hier für den Fortgang unserer Geschichte nicht weiter von Bedeutung sein, bis auf den Umstand, dass sie sich schließlich an eben diesem Glockenturm aufhängen wird. Gerade dies jedoch hat ihrem Leben der Ironie folgend letztendlich Bedeutung verliehen. War es doch das einzige, was sie je tat, was sie auch nur aus der Masse der anderen herausheben konnte. Was ihr letztendlich die Wahrnehmung und Anerkennung verschaffte, nach der sie im Leben gesucht hatte; zumindest in ihren zutiefst wachen und den verschwommensten Momenten gesucht hatte. Doch aus das soll für uns ohne Bedeutung sein. Wir werden Luise bereits lange vor ihrem Tod verlassen.

Sie lebt in der letzten Hochhaussiedlung am Ende der Stadt, dort wo gleich dahinter das Naturschutzgebiet anfängt und wo der Militärflughafen liegt. Die letzte Siedlung, die sich aufwirft wie ein Gebirge, um dann verklingend und vergessend hinabzustürzen ins Grün. Ein bisschen falsch wirkt sie da, die Hochhaussiedlung, am Rand vom Naturschutzgebiet. Wo man immer spazieren gehen kann. Aber Luise ist ja dort aufgewachsen und mit ihr sind hundert andere kleine braunhaarige Kinder dort aufgewachsen, die merken es nicht mehr, dass es falsch ist.

Aber früher sind sie alle an den Sonntagen im Sommer mit der Familie dort gewesen, zum Picknick machen. Und die hundert braunhaarigen Kinder sind schwimmen gegangen oder haben fangen gespielt und manchmal gelacht oder geweint und gestritten.
Dort in der Straße, wenn man aus dem Küchenfenster ein wenig um die Ecke schaut, ist Luise zur Schule gegangen, mit den anderen, die auch braune oder blonde oder schwarze Haare hatten. Später sind sie dann mit dem Bus in die Stadt gefahren; auf den breiter werdenden Straßen in den anschwellenden Organismus der Stadt eingedrungen wie durch ein Nasenloch. Um so näher man dem Herzen kommt, um so schneller treibt es das Blut durch die Adern, bis sie schließlich draußen irgendwo blind versiegen. Aber das hat niemand von ihnen bemerkt, denn sie waren ja schon oft in der Stadt gewesen. Auch Luise hat es nicht gemerkt.

Es hat eigentlich niemand erkannt, dass auf einmal etwas anders geworden war. Die Kinder sind irgendwann weggegangen, in die Städte weit auf der anderen Seite des Flusses, einige sind geblieben. Luise ist geblieben, bei der Mutter und den Geschwistern. Es ging ja nicht, dass sie auch fortzog. Sie konnte nicht einmal ein kleines eigenes Zimmer bezahlen; nicht in den Gedärmen der pulsierenden Stadt und nicht draußen; schon allein wegen dem Kind. Und so ist Luise dann da geblieben, mit dem Kind.

Ein paar von den Kindern aus der Straße haben ihre Ausbildung in der Stadt gemacht; in den verwinkelten Bürohäusern, die keinen Namen mehr haben oder auf den Märkten. Die meisten von ihnen sind jetzt wieder hier in der Straße. Sie fahren gemeinsam mit Marie zum Amt und sagen dort, dass sie ja eine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Aber das interessiert meistens keinen, niemand möchte Leute ohne Berufserfahrung einstellen. “Es ist schwer.” sangen sie. “Wenn man bleiben will, ist es schwer.” Luise möchte auch eine Ausbildung machen.

Früher hat Luise auch Träume gehabt, als sie noch in der Schule war. Eigentlich sah doch auch alles gar nicht so schlecht aus. Sie hat viel gearbeitet, ihr Fachabitur gemacht und wollte eigentlich Erzieherin werden und am liebsten sich noch spezialisieren auf schwer erziehbare Kinder. Doch das ging dann nicht mehr, als sie schwanger geworden ist. Eigentlich gut, dass es nicht früher passiert ist. So hat sie wenigstens noch ihren Abschluss gemacht, das hätte sonst auch nicht mehr funktioniert. Und zum Glück, dass der Vater von dem Baby nicht mehr da ist. Am Ende war es sehr schlimm mit ihm. Irgendwann ist alles schief gelaufen. Das merkt Luise doch.

Am Anfang hat sie schon noch ziemlich viele Bewerbungen geschrieben. Sie wollte ja arbeiten. Einmal hat Luise dann für zwei Monate Krankheitsvertretung in einer Kindertagesstätte am anderen Ende der Stadt gemacht. Es war immer ein ziemlich umständlicher Weg, besonders morgens, wenn sie um sechs anfangen musste. Aber Luise hätte das weitergemacht. Dann ist nur die kranke Kollegin wiedergekommen und niemand hat Luise mehr gebraucht.

Luise hat irgendwann wieder angefangen, Bewerbungen zu schreiben. Bewerbungen für eine neue Ausbildung, egal was. Aber die meisten haben ihr nicht geantwortet und die, die ihr geantwortet haben, sagten sie passe nicht ins Profil.

Das Kind ist jetzt schon ziemlich groß geworden. Eigentlich ist es auch groß genug für den Kindergarten. Luise weiß noch nicht, ob sie das bezahlen kann. Vielleicht gibt die Oma ein bisschen was dazu. Damit ihr Kind auch mit den anderen braunhaarigen und blonden und schwarzhaarigen Kindern spielen kann; und ein bisschen was lernt. Luises Mama hat früher immer zu gesagt, sie soll mal was Besseres werden. Luises Mama ist Verkäuferin und seit sie mit ihren Kindern alleine ist, ist es noch schwerer geworden. Luise wollte was erreichen. Deswegen hat sie auch ihr Fachabitur gemacht. Das hat nur irgendwie nicht gereicht.

Sie hat auch mal überlegt, ob sie jetzt studieren geht und Pädagogin wird oder so. Aber wenn sie studieren geht, verdient sie ja noch immer kein Geld und das brauchen sie und ihre Mutter doch gerade am Dringensten.

Am meisten will sie Geld für ihr Kind. Dann kann es vielleicht das Abitur machen und dann was Rechtes studieren. Aber das weiß Luise noch nicht. Es ist ja noch so klein, das Kind.

Luise fühlt sich manchmal schon alt; zu alt, um was Neues anzufangen. Sie hat doch schon alles versucht. Irgendwie ist das jetzt ihr Leben. Hier in der Hochhaussiedlung, in der alten Wohnung mit der Mutter und den Geschwistern. Sie wünscht sich oft, dass es anders gekommen wäre. Nicht alles war schlecht. Das mit dem Kind war schwer, aber eigentlich war es immer auch schön. Und das Kind hergeben, das will sie nicht mehr. Aber nur, dass es mit der Arbeit ein bisschen besser geklappt hätte.

Ihre Mutter liest die Zeitung nicht mehr. Für sie ändert sich ja nichts mehr. Und für Luise ändert sich auch nichts mehr. Außer, dass sich die Bezüge ändern und dass das Amt auf dem Berg zugemacht hat. Jetzt muss sie immer in die Weststadt fahren und das ist ein ziemlich weiter Weg.

Jetzt ist noch mehr los auf dem einen Amt in der Weststadt, weil doch alle dahin müssen. Die haben da alle so viel zu tun, keine Zeit für Luise, keine Zeit für niemanden. Hört ihr ja keiner richtig zu da. Und helfen tut ja auch keiner. Luise fährt nicht gerne aufs Amt. Auch früher ist sie nicht gerne hingefahren, aber sie hat es doch immer gemacht, weil sie gedacht hat “Jetzt, jetzt bekommst du vielleicht was.” Das denkt sie heute nicht mehr und sie weiß auch nicht mehr genau, warum sie noch aufs Amt fährt.

Sie spricht mit niemandem darüber. Luise will auch nicht darüber sprechen. Wenn man das alles ausspricht, was man denkt, dann wird es noch schlimmer. Dann klingt es in den Ohren, in den Ohren von einem selbst und auch von dem, mit dem man spricht. Und wenn man etwas ausspricht, dann ist es mehr wahr, als wenn man es nur denkt. Und dann macht es viel mehr Angst. Das weiß Luise, aber nur dort, wo man Gedanken ganz leise andenken kann, ohne dass sie einem weh tun.

Draußen, hinter dem Naturschutzgebiet steht ein großes Gut. Dort bauen sie Kartoffeln und Möhren und Kohlrabi an. Und verkaufen Blumen. Luise ist mal hingefahren und hat nachgefragt. Vielleicht kann sie im nächsten Sommer dort anfangen. Erst mal als Aushilfe, drei oder vier Tage die Woche. Auf dem Feld arbeiten, in den Gewächshäusern und vielleicht mal mit auf den Wochenmarkt fahren. Und wer weiß, wenn sie gut arbeitet, dann ja vielleicht mehr. Nur: das denkt sie ganz allein bei sich. Und sie sagt es auch niemandem. Luise weiß ja selbst, dass das nicht klappen wird.

Irgendwie lebensfeindlich, denkt sie manchmal, wenn sie im Bus sitzt und durch die immer gleichen Straßen fährt, die sich wie ein endloses Mosaik immer wieder aneinander reihen.

Manchmal sitzt sie dann abends allein in ihrem Zimmer. Allein sein heißt sich allein fühlen, das sind die Momente, in denen das Kind schläft. Wenn sie aus dem Fenster sieht, kann sie bis ans Ende der Straße schauen. Auf dem Marktplatz strahlen Scheinwerfer nach oben, wenn es dunkel wird. Der Glockenturm der Kirche hebt sich dann wie ein körperloser, freischwebender Geist aus den dunklen Schatten der Hochhaussiedlung hervor. Aber das merkt Luise nur ganz tief drinnen.

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Texte: Das Copyright am Foto liegt bei mir
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2009

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