Im Viertel
“Mörder!” So ein Wort tut viel mehr weh, wenn es mir so gegenübersteht, dachte er sich. Und wird zugleich so viel wahrer. Gewinnt Realität dadurch, dass es da vor ihm steht. Losgelöst von einer Stimme, losgelöscht vom Menschen, entmenschlicht.
Es tut viel mehr weh, wenn er jetzt durch die weiß getünchte Unterführung geht. Hinter ihm stehen die alten Hochhausblocks mit den gleichen alten Balkonen, manchmal sind Blumen darauf, manchmal gar nichts und vor ihm noch einmal die gleichen dreckigen Häuserblocks. Und dazwischen die weiß getünchte Unterführung.
Hier hat er mit den Jungs Klingelstreiche gemacht und die Mädchen geärgert. Und jetzt fühlt er sich nicht mehr geborgen, wenn er durch das Viertel geht.
Vor ein paar Tagen hat jemand in schwarz “Mörder” an die weißgetünchte Unterführung gemalt. Als er es das erste Mal gesehen hat, war es wie geschlagen zu werden. Wie einen Stoß im Herzen, der ihn nach hinten schleudert, auf den Boden wirft, keuchen macht. Panisch macht.
Er geht immer noch jeden Tag durch die Unterführung. Er geht, weil es noch immer jeden Tag der kürzeste Weg zur U- Bahn- Station ist und auch, damit niemand merkt, dass er Angst hat. Und manchmal ist es schon fast gar nicht mehr schlimm, wenn er morgens durch die Unterführung schleicht. Wenn fast noch niemand wach ist in den großen dreckigen Häusern, dann schweigt auch die Wand. Dann schreit sie ihm nicht “Mörder!” entgegen. “Mörder!” noch so lange, bis er in die Bahn gestiegen ist. Erst dann wird es langsam leiser. Wenn sich die Türen geschlossen haben, das leise Summen des Motors nach und nach alles andere übertönt und wenn er sich sicher sein kann, dass er niemanden der Menschen mehr kennt, die mit ihm in der U- Bahn sitzen.
In dem Moment entkrampft er sich meist ein bisschen und nur ganz leise dämpft der Schrei in seinem Kopf noch nach: “Mörder!” Aber das hört niemand mehr. Das hört nur noch er und dann verzieht er manchmal den Mund. Spiegelt er sich in den Fenstern der Bahn, sieht es aus wie ein selbstgefälliges Grinsen. Dann sagt er sich nämlich, dass es ihm nichts anhaben kann, dieses Wort. Aber das sagt er sich meist nur, wenn das Wort weit weg ist.
Und am Abend kommt er wieder unter der Unterführung entlang. Das Wort wartet meistens schon auf ihn und er schleicht ein paar Mal um die Straßen. Wenn er sicher ist, keinem Menschen zu begegnen, huscht er hindurch und nach Haus. Einmal ist er einem Nachbarn begegnet in der Unterführung.
Und er hatte das Gefühl, dass der ganz genau spürte, dass er gemeint war. Und fühlte sich wie gebrandmarkt, wie mit einem Mahl auf der Stirn. Und neben sich das Wort, das schrie und er getraute sich nicht, den Kopf zu wenden. Nicht zu dem Nachbarn, um nicht den Vorwurf in seinen Blicken zu sehen und nicht zum Wort, um nicht zu sehen, wie es auf ihn wies.
Er wusste ziemlich genau, wer das Wort geschrieben hat. Der Schreiber hat oft zu ihm gesagt: “Mörder!”. Im Treppengang, wo alle es hören konnten. Aber da stand das Wort noch nicht in der Unterführung. Jetzt hörte es nicht nur der Treppengang. Jetzt hörte es das ganze Viertel.
Und wenn er an der weiß getünchten Wand vorbei läuft, dann ist es mehr als ein Schrei. Das ist es wie der Schrei aus vielen Mündern und er sieht dann alle Gesichter. Die Kinder von der Ecke, die alte Frau, die unter ihm wohnt und den Nachbarn mit dem kleinen Dackel. Er sieht alle, die mit ihm sein Leben teilen im Viertel - sein Leben teilen, ohne je aktiv daran teilgenommen zu haben. Irgendwann kennt man jedes Gesicht, ohne doch je ein Wort miteinander gewechselt zu haben.
Er sieht alle Gesichter und alle schreien ihn an: “Mörder!” Und dieser Schrei hallt so weit durch die Straßen und fast bis in die Stadt hinein, dass ihn jedes Mal ein eisiger Schauer überläuft. Für einen kurzen Moment wird die Pein so groß, dass er zu zerspringen glaubt. Und doch geht es jedes Mal wieder vorbei. Sobald er aus der Unterführung wieder in den nieseligen Morgen tritt, bleibt dieses klingende Rauschen in seinen Ohren, das ihn bis in die Bahn begleitet. Und in einer zweiten, noch grausigeren Ebene, rufen die Stimmen weiter.
Die dumpfen Schreie eines Einzelnen haben sich an einer weißgetünchten Wand vervielfältig zum Schrei Hunderter. Ein Wort, das jedes Gesicht aus der Straße in sich aufgesogen hat und sich so über sich selbst erhoben hat; sich über die Menschen erhoben hat. Menschen, die nun kaum mehr sind als Instrumente, denen sich das Wort bedient, um gehört zu werden.
Aus dem Mund eines Einzelnen ist es hinausgeklettert an die Öffentlichkeit. Der Sterblichkeit hat es sich entwunden, der Sprache entfremdet. Nie mehr verklingt es im Treppenhaus, es klagt immer weiter an und klagt noch viele Zeiten an der weißgetünchten Hauswand. Es wird so lange klagen, wie es Menschen geben wird, die es lesen können. Bis irgendwann neue Worte über das alte gewachsen sind oder bis es langsam verblasst und lange nachdem die Realität schon in jagenden Schritten hinvongeeilt ist, langsam seinen letzten Atem aushaucht und zur Ruhe kommt.
Ein Wort gleichsam gegen Widerspruch erhaben geworden. Niemand mehr, dem man über den Mund fahren könnte. Niemand mehr, den man verbieten könnte, denkt er sich oft, wenn er durch den Nieselmorgen zur Bahn geht. Nur ein stummes, schreiendes, entmenschlichtes Wort. Plötzlich eigenständig und lebensfähig ohne Körper, der es ausspricht. Geboren und dann selbstständig den Atem geschöpft und sich fest verwachsen an der weiß getünchten Wand, um immer hier zu bleiben. Immer anzuklagen, immer Zeugnis zu geben, immer zu warnen.
Er fühlt sich so machtlos. Es ist kein Mensch mehr da, den er verachten kann. Kein kleiner Mensch mehr, den er verlachen kann; den er aus dem Weg schiebt, wenn er die Treppen hinunter läuft. Und keines seiner vielen Worte, die er in so vielen Jahren gelernt hat, fein akkurat in die passenden Schubladen eingeordnet hat - keines seiner Worte bringt ihm noch etwas. Das schwarze Wort an der weißgetünchten Wand schreit ihn an -”Mörder!”- sobald er es sieht und seit der letzten Nacht auch, nur wenn er daran denkt. Und dann fürchtet er sich manchmal vorm Schlafen; fürchtet sich vorm Schlafen wie vorm Wachen. So laut das Wort. Und gleichzeitig viel zu laut, um selbst hören zu können. So bleibt er stumm. Geht schweigend vorbei an dem Schreienden und schaut sich um; ein bisschen verstohlen zu allen Seiten.
Schaut sich um, dass ihn niemand erkennt. Und tut so, als sei alles wie immer. Dabei dröhnt es in seinem Kopf.
Und wieder in seinem Leben hat er das Gefühl, verloren zu haben. Über ihm Wort und ein paar zerbrochene Sprossen darunter er auf dem Boden kauernd. Gestürzt aus dem Gleichgewicht, gestürzt aus der Gleichheit in den Abgrund, den machtlosen Abgrund. Und jedes Mal, wenn er den Blick nach oben wendet, thront über ihm der König: das Wort.
Texte: Das Cover zeigt das "Central" - den Stadtkern der südafrikanischen Stadt Port Elizabeth, der früher von der weißen, europäischen Oberschicht bewohnt wurde. Bis heute hat es sich nach und nach multikulturell durchzogen und ist für mich zum spannendsten Viertel der ganzen Stadt geworden. Im direkten Zusammenhang mit meiner Geschichte steht es jedoch nicht
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Rebecca, weil sie an die Geschichte dachte, als ich es nicht tat.