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Tag 4



Tag 4
Ich liebe die Kirschblütenzeit. Für mich gibt es nichts schöneres als die Kirschbäume voller Blüte sehen zu können. Wenn der Wind durch die Äste fährt und die kleinen rosa Blütenblätter mit sich zieht, sie tanzen lässt, wenn es aussieht, als würde es rosa schneien. Dann bin ich am glücklichsten. Nichts auf dieser Welt konnte in diesem einem Augenblick schöner sein.
Am heutigen Tag ist es nun endlich wieder so weit, die Kirschbäume erblühen in ihrer vollen Pracht. Doch es wird wohl das letzte Mal sein, dass ich diesen Moment erleben darf. Dabei bin ich, ich Mimi, doch gerade siebzehn Jahre alt. Mein Leben hat gerade erst begonnen, dass ist doch nicht fair. Nur schert es den Tod wohl ganz und gar nicht, was ich denke.
Genau jetzt beginnt mein Countdown, zum Ende. Heute ist mein viert letzter Tag an dem ich leben darf. Das ist einfach nur komisch, nicht genug zum lachen und zu wenig um zu weinen. Doch meine Entscheidung ist schon lange gefallen, ich werde in keinen Krankenhaus, nicht in einem Krankenbett sterben, niemals. Am heutigen Tag, besser am heutigen Morgen, kann ich frische Luft atmen, sie genießen und darf sogar etwas frösteln dabei. Ich hänge nicht am Tropf, ich muss keinen weißen Kittel tragen. Niemand will so sterben, da bin ich sicher. Warum sollte ich es dann wollen? Meine Familie, die würde es sicherlich gern so wollen, aber die wird es eh nicht merken. Ich habe ihr verboten mich zu besuchen, diese Trauermienen, als wäre ich schon tot, ich konnte sie nicht mehr ertragen. Das habe ich ihnen vor drei Tagen gesagt.
Da wusste ich leider noch nicht, dass in drei Tagen mein viert letzter Tag auf dieser Erde sein würde. Aber ich glaube, ich hätte es ihnen trotzdem gesagt. Sterben hin, sterben her, es muss einen ja nicht jeder gleich so angucken, als könnte man jede Sekunde den Löffel abgeben. Im Moment geht es mir jedenfalls noch gut, auf meiner Bank hier in mitten all der Kirschbäume.
Hier weiß niemand, dass ich todkrank bin und hier interessiert es auch niemanden, selbst wenn sie es wüssten, immerhin bin ich ihnen eine völlig Fremde. So komisch es auch klingen mag, genau das habe ich jetzt gebraucht.
Desinteresse ist eine Wohltat, nach all dem Aufhebens um mich, den gestellten Ärztelächeln, der unerträgliche unentwegt freundlichen Art meiner Eltern und den immer netten Worten, egal was man ihnen zuvor an den Kopf geschmissen hat. Wenn ich die Augen jetzt schließe, höre ich nur vereinzelte Gespräche, Schritte und den Wind.
Doch schon wird meine wundervolle Ruhe gestört, da hat sich gerade doch tatsächlich jemand neben mich gesetzt. Ich öffne lieber erst nur ein Auge, um zu sehen, ob es sich lohnt dem unverhofften Nachbarn Aufmerksamkeit zu schenken oder eben nicht.
Ja, ein mit beiden Augen ist lohnenswert. Neben mir sitzt ein junger Mann, vielleicht 18 oder 19 Jahre alt, mit dunkelbraunen Haaren und tiefblauen Augen. Er sitzt einfach da, starrt ins Leere und rührt sich kein Stück. Schon ist der Blick auf ihn nicht mehr wirklich lohnenswert, wenn er rein gar nichts tut.
Ich wende mich gerade ab, da spricht er einfach zu mir, mit einer weichen, tiefen und sehr sanften Stimme.
„Auch hier um der Welt ein bisschen zu entkommen?“
Ich bin verdutzt und antworte mehr aus Reflex als aus dem Willen heraus ihm darauf eine Antwort geben zu wollen.
„So könnte man es sagen, ja...“
Er streckt mir eine Hand entgegen und ich kann mich nicht ganz daran hindern zu denken, dass sie der Tatze eines Löwenjungen erinnert.
„Eden... Hi.“
Ich ergreife und schüttle sie.
„Mimi... Hi zurück...“
Er grinst und zeigt dabei eine schneeweiße Reihe aus makellos wirkenden Zähnen.
„Nicht besonders gesprächig, was?“
Ich ziehe meine Augenbrauen, so wie ich es immer tue, wenn ich nicht so genau weiß was ich nun unternehmen oder sagen soll.
„Schon gut, ich werde dich schon nicht zum Sprechen zwingen, versprochen.“
„Ich rede eben einfach nicht so gern, weißt du.“
„Na jetzt wohl schon...“
Ich ziehe schon wieder die Augenbrauen hoch, irgendwie kommt das in letzter Zeit ziemlich oft vor, wenn ich mal so darüber nachdenke.
„Du bist schon etwas merkwürdig, oder?“
Ich lege meine Stirn in Falten.
„Und du nicht gerade von der höflichen Sorte Mensch, nicht wahr?“
„Es kommt immer auf den an, mit dem man sich unterhält...“
Mein Blick schweift kurz ab und klärt sich dann wieder. Wenn ich mich im Augenblick sehen könnte, würde wohl erst ein erstaunlich großes Fragezeichen zu sehen sein, dann eher etwas wie Wut. Jetzt fange ich, etwas, was auch in letzter Zeit häufiger geschieht, an zu sprechen ohne zuvor über meine Worte nachgedacht zu haben.
„Das ist ja völliger Blödsinn! Wenn Worte unhöflich oder gar beleidigend sind, dann bleiben sie es auch, vollkommen egal, zu wem man sie sagt.“
Manchmal kann ich mich selbst erstaunen mit dem was ich von mir gebe. Ich sollte wohl wirklich einmal anfangen viel mehr mein Mundwerk zu gebrauchen, als ich es tue. Doch dann fällt mir wieder ein, das mir nicht einmal mehr dafür genug Zeit bleibt.
„Na siehst du, sprechen ist doch gar nicht so schwer.“
Er grinst wieder sein schneeweißes Grinsen.
„Also wenn ich schon komisch bin, dann bist du eindeutig um einiges komischer.“
„Das war jetzt aber unhöflich...“
Ich fange an zu lächeln und dann aus vollem Herzen zu lachen. So gut habe ich und laut habe ich seit Monaten nicht mehr gelacht.
„Ist schon ein Weilchen her, dass du lachen konntest, hm?“
Jetzt kann ich ich nicht mehr lachen, es geht einfache nicht mehr.
„Kann gut sein... Aber darüber will ich jetzt garantiert nicht sprechen.“
Jetzt zieht er die Augenbrauen hoch, aber bei ihm bedeutet es glaube ich Verwunderung.
„Ich wollte dir nicht zu nahe treten...“
Ganz toll, jetzt habe ich auch noch, an meinem viert letzten Tag auf der Erde, jemanden gekränkt.
„Schon gut.“
Seine Augenbrauen senken sich und er zieht sie zusammen, aber das bewirkt nicht, das er wütend dadurch aussieht, sondern viel mehr nachdenklich.
„Sag mal, wenn ich jetzt aufstehe und einfach davon gehe, dann würde ich dich nie wieder zu Gesicht bekommen, stimmt's?“
„Na, in so einer großen Stadt, ist das doch ziemlich wahrscheinlich, oder?“
„Das habe ich wirklich nicht gemeint... Und ich glaube, dass weißt du auch ganz genau was ich meinte und was nicht.“
Seine Augen erscheinen mir gerade wie Röntgenapparate. Wie kann er mich nur so schnell durchschauen? Langsam wird mir das wirklich viel zu viel. Ich winde mich hier einfach aus dem Gespräch und verschwinde, ehe er noch mehr Fragen stellt die ich lieber nicht beantworten will.
„Nein, das tue ich nicht! Ich weiß auch gar nicht wie du auf diese Idee kommst... Ist mir auch egal, ich muss jetzt eh los...“
Perfekt, jetzt nur noch aufstehen und wütend davongehen.
„Hey!“
Mir wird schwindelig und vor meinen Augen verschwimmt alles. Als wäre die Welt wieder einmal gegen mich. Endlich wird mir dann doch schwarz vor Augen.
Langsam kehre ich dann doch zu Bewusstsein zurück und als ich die Augen ganz aufschlage, erklingt diese weiche, tiefe und sehr sanfte Stimme von Eden.
„Wir kennen uns er eine halbe Stunde und schon liegst du mir in den Armen...“
„Mmh... Blödmann.“
Da ist es wieder, sein Schneesturmlachen. Doch es wird von seinem eindeutig besorgten Blick, in den tiefblauen Augen überschattet, was ich doch sehr schade finde, immerhin gefällt mir es wenn es echte Freude zeigt am besten. Nur langsam wird alles wieder klarer. Mein Po ist irgendwie fürchterlich kalt. Daraus kann ich nur schließen, was sich bestätigt sobald ich mich leicht umsehe, das wir auf der Erde liegen. Na ja, eigentlich sitzt er eher auf der Erde und hält mich in seinen Armen ganz fest.
So fest, als könnte ich jeden Moment kaputt gehen, ließe er nur ein wenig lockerer. Ich rieche sein Parfume, sehr lecker, aber was genau, kann ich einfach nicht sagen.
Was mache ich hier eigentlich? Ich liege in den Armen eines Fremden! Schnell aufrappeln und immer an meinen Plan von gerade denken. Es ist geschafft, ich stehe schon einmal, aber natürlich bleibt Eden nicht einfach sitzen sondern steht mit mir auf. Noch immer sind seine Augen so unheimlich sorgenvoll.
„Wir sollten lieber einen Krankenwagen rufen.“, sagt er mit seiner noch immer so weichen, tiefen und sehr sanften Stimme.
Okay, Panik!
„Nein!... Ich meine, nein, mir geht’s doch wieder ganz prima. Das war nur der Kreislauf, nichts ernstes...“
Vielleicht glaubt er mir ja, unwahrscheinlich zwar, aber möglich. Ich würde ihm ja sehr gern in die Augen sehen, damit ich sehen kann, ob er mir Glauben schenkt oder nicht, aber ich kann nicht. Im Grunde hasse ich nämlich es zu lügen und meine Augen verraten immer ob ich Wahrheit oder Lüge spreche.
Also wende ich mich ab und will einfach gehen, aber da spüre ich plötzlich eine Hand, die sich irgendwie anfühlt wie die eines Löwenjungen, groß und irgendwie noch etwas tapsig, auf meinem Oberarm. Ein Blick auf die Hand und dann unweigerlich in seine so tiefen blauen Augen.
„Ich lad' dich ein, zum Essen, wie wär's?“
Genau jetzt, wo ich eigentlich gerade ablehnen will, knurrt mein Magen so laut, das es ziemlich lächerlich wäre, würde ich ihm ernsthaft erklären wollen, ich hätte keinen Hunger. Nein zu sagen ist nun also keine Option mehr. So nimmt er einfach meine Hand in seine und zieht mich hinter sich her.
Mein Gesicht wird ganz heiß. Nur kann ich einfach den Blick nicht von ihm lassen oder mich gar ganz losreißen, ich komme mir ein wenig hypnotisiert vor, wie das Kaninchen vor der Schlange, so in etwa jedenfalls. Hand in Hand laufen wir durch die Stadt, in welcher ich seine Hand dann nur noch fester drücke, um ihn nicht aus zu verlieren. Manchmal verstehe ich mich selbst nicht so recht. Auf einmal zieht er mich in eine kleine Seitenstraße und weiter in einen ebenso kleines Café.
Schnell geht er zu einem kleinen Tisch ganz hinten und ich trotte ihm – notgedrungen da er mich einfach nicht los lässt – hinter her.
Erst als wir angekommen sind am Tisch lässt Eden meine Hand wieder los und wartete bis ich mich hingesetzt habe, ehe er dann auch seinen Platz einnimmt.
Kaum haben wir Platz genommen, kommt auch schon eine Kellnerin auf uns zu gewackelt. Sein ist nicht besonders ansehnlich und auch nicht besonders freundlich. Ich finde es nebenbei auch ziemlich spannend, wie tief man doch seine Mundwinkel nach unten tragen kann.
Mit schnarrender, gelangweilter und reichlich hoher Stimme fragt sie:
„Was darf's sein?“
Gerade bekomme ich den Mund einfach nicht auf. Ich glaube ich habe in der Vergangenheit einfach zu wenig mit anderen gesprochen. Wirklich, im Augenblick fühle ich mich irgendwie als wäre ich stumm. Doch mein Gegenüber ergreift das Wort für mich.
„Zwei Mal das Frühstück... Bitte.“
Im Vergleich zu dieser Kellnerin hat Eden wirklich eine Engelsstimme.
Sie nickt und geht davon.
Jetzt sind wir wieder allein und immer noch ist mein Mund wie versiegelt. Vielleicht bin ich ja wirklich einfach stumm geworden. Gott nein, das stimmt nicht und ich weiß es, manchmal habe ich wirklich absurde Gedanken.
An mein Ohr dringt ein tiefes Basslachen. Eden. Ich ziehe die Augenbrauen hoch und blicke ihm ins Gesicht.
„Was denn?“
Ich klinge verwirrt und bin es auch. Lacht er gerade über mich?
„Du bist eben einfach süß, wenn du nachdenkst.“
Er zuckt nur mit den Schultern und lächelt mich weiter strahlend schneesturmartig an.
„Mehr nicht, einfach nur süß...“, meint er.
Plötzlich wird mir wieder so verflucht heiß.
„Und wenn du rot wirst genauso.“
Jetzt ist er um geschätzt 300 Grad heißer. Doch die Rettung naht, ehe er mich noch azu bringen kann in Ohnmacht zu fallen. Die Kellnerin mit dem Essen naht.
„Jetzt bezahlen oder später?“
„Später.“, sagt er nur knapp. Ich würde sagen, er kann dieser Frau genauso wenig leiden, wie ich. Aber sie ist auch einfach unsympathisch.Das Essen ist echt köstlich. Gut, momentan dürfte für mich alles köstlich sei, denn wenn man eine halbe Ewigkeit nichts als Krankenhausessen zu sich hatte nehmen können, verkümmertem einen irgendwie die Geschmacksknospen ein wenig. Besser ich esse einfach kontinuierlich weiter, damit er nicht wieder auf die Idee kommt mit mir zu sprechen und ich äußerlich wie innerlich verglühe. Leider kann ich nicht ewig immer nur weiter essen und so sitze ich sehr schnell vor einen Teller auf dem kein Krümmel mehr an Essbarem zu finden ist.
Jetzt muss ich aber wirklich weg von ihm. Ich mache Anstalten mich zu erheben, doch genau in diesem Augenblick erhebt Eden seine Stimme und setzt unser Gespräch weiter fort.
„Wo wohnst du eigentlich? Oder hast du kein Zuhause?“
Voll ins Schwarze. Aufstehen, wie geht das gleich?
„Ja, also... Weißt du... Ich...“
Na prima, jetzt kann ich wieder sprechen, kriege aber keine zusammenhängende Sätze mehr zusammen, von Sinn ganz abgesehen.
„Ja, ich höre?“
Nein, im Grunde habe ich kein Zuhause, denn sobald ich dahin gehen würde, würden sie mich sofort wieder ins Krankenhaus bringen und aus wäre es mit meinem einzigen Wunsch, nicht dort zu sterben. Aber das kann und will ich ihm nicht sagen. Also verfalle ich schlicht wieder in meine altgediente Mundversiegelung und gucke auf meinen Teller.
„Ah ha.“
Das hört sich ja an, als hätte ich gerade etwas sinnvolles gesagt.
Ich kann leider auch nicht besonders gut schweigen, ebenso wie ich nicht gut lügen kann und auf komplett leere Teller zu starren macht auf Dauer auch nicht besonders viel Freude.
Kopf hoch, an seinen Augen festkleben und ohne nachzudenken sprechen, guter Plan.
„Was meinst du denn bitte mit 'Ah ha'?“
Na immerhin, die vollständigen und sinnvollen Sätze klappen wieder.
„Nur so.“
„Wie nur so? Man sagt nichts einfach nur so.“
Ich sollte mich in dem Punkt lieber mal an die eigene Nase packen.
„Brauchst du nun einen Schlafplatz, ja oder nein?“
Ja, den würde ich jetzt ziemlich dringend brauchen, aber ich kenn' ihn ja im Grunde nicht. Auch egal. Sollte er ein Verrückter Massenmörder sein, habe ich eben statt vier nur noch einen Tag gelebt, was habe ich noch groß zu verlieren?
„Ja, brauch ich.“
„Na siehste, war das jetzt so schwer?“
Ich ziehe den Mund kraus, das tue ich immer dann wenn ich schmolle.
„Doch war es.“
Wieder ernte ich von ihm sein Schneesturmlachen. Wie auf Kommando oder als wäre sein Lachen ein vereinbartes Zeichen für ihren Auftritt, erscheint die Kellnerin neben uns.
„Jetzt bezahlen?“
Ohne große Worte legt Eden das passende Geld auf den Tisch, kein Trinkgeld, wir stehen synchron auf und gehen.
Kurz werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Es ist schon nach Zwölf, sie werden nun alle wissen, dass ich weg bin, doch daran will ich lieber keine weiteren Gedanken verschwenden.
„Wohin jetzt?“
„Willst du noch einmal zum Park?“
Ich lächle ihm zu, so breit ich nur kann.
„Ja!“
Er hält mir seinen Arm hin und ich hake mich ein und wir gehen los. Es ist seltsam so mit ihm zusammen zu gehen, aber ich kann mich auch nicht einfach losmachen von ihm. Seine Wärme tut mir gut. Erst als wir uns im Café ist mir wirklich aufgefallen, wie kalt mir eigentlich gewesen ist und auch jetzt ist es nicht wirklich viel wärmer.
Er ist aber auch eine wirklich schöne Heizung. Jetzt werde ich von meinem eigenen Gedanken rot, ich spüre wie mir der Kopf schon wieder so heiß. Lieber daran denken, was es für ein schöner Spaziergang gerade ist, unter den Blütendächern der Kirschbäume und dann auch mit einem...
„Wir sollten lieber zu mir in meine Wohnung gehen, du siehst nämlich gerade aus, als ob die wirklich gleich zu einem Eiszapfen wirst.“
Ich nickte nur stumm und juble innerlich, denn im Augenblick bin ich mir nicht sicher, ob ich meinen Großenzeh noch spüre. Da hilft mir auch kein Eden als Heizung.
Er lächelt mir sanft zu, jetzt sieht es eher nach behaglich fallenden Schneeflocken aus, wenn er lächelt. Okay, seltsamer Gedanke, aber so empfinde ich es eben. Mit mir am Arm biegt er kurzerhand in einen Nebenweg des Parks ab. Es ist allen Anschein nach gar nicht so weit bis zu seiner Wohnung, zumindest nicht so weit, wie ich es gedacht hätte vor einem relativ kleinen Mehrfamilienhaus.
Unsere Verhakung löst er und beginnt in seinen Taschen zu krame, dabei werden seine Bewegungen immer hektischer und seine Augen panischer.
„Ich vermute du bist garede von der 'Schlüssel – weg – Panik' befallen?“
Aufgelöst wird mir zugenickt.
Ich muss einfach kurz lachen, denn so sieht er jetzt einfach süß aus. Es fühlt sich an, als würde ich auftauen aus meinem Winterschlaf der Gefühle. Erstaunlich dazu brauchte es wohl nur einen Menschen wie Eden. Schade eigentlich, dass ich ihm erst jetzt über den Weg laufe. Ich strecke meine Arme aus und ergreife seine Oberarme.
„In dieser Stimmung findest du nichts mehr...“
Meine rechte Hand versenke ich in der, von mir aus, linken Jackentasche und finde sogleich kaltes Metall. Nun muss ich die Schlüssel nur noch herausziehen.
„Hier haben wir den bösen verschwundenen Schlüssel schon...“
Irgendwie sieht er etwas schockiert aus, aber ihm scheint es noch in viel größerem Maß peinlich zu sein, als dass ihn mein schneller Fund schockt. Seine Wangen sind jetzt noch röter, als sie es zuvor waren, als er so hektisch seinen Schlüssel gesucht hat.
„Danke.“, meint er nur kurz und will eindeutig das Thema nicht mehr anschneiden.
Ich zucke nur, betont lässig, mit den Schultern und lächle charmant, wusste gar nicht das ich das überhaupt kann.
Er grinst zurück und ich kann mich dem Eindruck nicht erwehren, dass er dabei irgendwie ganz schön verschlagen aussieht. Endlich schließt Eden dann die Tür des Hauses auf, wir treten ein und eine Welle warmer Luft rauscht über mich hinweg. Es riecht hier nicht schlecht und der Flur sieht auch ziemlich sauber aus, allerdings ist es ganz schön dunkel hier und einen Lichtschalter sehe ich auch nicht in der Nähe.
„Meine Wohnung ist im fünften Stock...“
Schon läuft er los, direkt auf die nahe Treppe zu. Natürlich gibt es hier keinen Fahrstuhl, das Haus ist nicht mehr das jüngste und überhaupt, es waren ja 'nur' fünf Stockwerke. Ich stehe hier allerdings schon viel zu lange herum, er hat sich schon einen beachtlichen Vorsprung erarbeitet. Schnell versuche ich nun ihm hinter her zu kommen, doch meine Ausdauer hatte in den letzten Monaten ganz schön gelitten. Also keuche ich ihm zum Schluss nur noch hinter her und das Gefühl beschleicht mich, die Treppen enden nie mehr. Vorbei ist es mit meiner Coolness, was für ein schneller Abschied.
„Nicht besonders in Form, was?“
Schneesturmlachen.
„Ach... halt doch... die Klappe...“, besser kriege ich meine Antwort einfach nicht hin, keine besonders überzeugender Auftritt. Gerade zieht er nun beide Augenbrauen hoch, was das bei ihm zu bedeuten hat sollte ich noch herausfinden, gerade bin ich mir nämlich nicht sicher, was ich davon halten soll.
Ich schaffe die letzte Stufe und sehe mich um. Zwei Türen, eine rechts, eine links. Okay, welche Tür ist seine? Meine Augen wandern von der einen zur anderen und wieder zurück. Ich spüre, wie er hinter mich tritt. Seine Wärme strahlt noch immer auf mich ab, als wäre er eine Heizung und nun wallt sein Duft wie eine Welle über mich und schleicht sich ganz heimlich in meine Nase. Eden gibt kein Wort von sich, geht an mir vorbei und zur linken Tür. Nein, das hätte ich vermutlich ziemlich falsch geraten. Das Geräusch wie der Schlüssel sich im Schloss dreht und es schließlich klickt als Zeichen, das die Tür nun offen ist, höre ich ganz deutlich.
„Tritt nur ein...“, wieder einmal raubt mir sein Lächeln beinahe die Sicht.
Doch ich zaudre, da ist er wieder, der gesunde Menschenverstand, der mir sagt, du kennst ihn gerade ein paar Stunden, vier Tage hin vier Tage her...
„Jetzt komm halt rein...“
Weil ich mich aber noch immer nicht rühre zieht mich Eden dann einfach am Unterarm hinter sich her, schiebt mich in den Flur und macht die Tür zu. Gut, ich habe versucht vernünftig zu sein, hat nicht geklappt. Er läuft jetzt an mir vorbei, ich allerdings bleibe stehen und sehe ihm nur nach.
Die Wohnung ist eher klein, wenn man durch die Tür tritt steht man schon fast im Wohnzimmer. Der Raum der vor mir liegt ist quadratisch, wirklich eher klein und gelb gestrichen. Ein Sofa, davor der Fernseher, zwei Pflanzen wo mich lieber niemand fragen sollte was das für Pflanzen sind und ein kleiner Tisch an dem zwei Stühle stehen, mehr nicht.
Langsam bewege ich mich nun doch und kann so gut sehen, das von diesem Raum noch drei Türen abgehen. Auch wenn die Einrichtung eher spartanisch ist, irgendwie wirkt alles doch ziemlich gemütlich und...
„Hier ist das Bad, da das Schlafzimmer und hier hinter ist die Küche.“, reißt Eden mich unverhofft aus meinen Gedanken. Im Uhrzeigersinn deutet er auf die Türen und was sie verbergen.
„Okay...“
Meine Augen wenden sich von der Einrichtung und dem Raum zurück zu ihm und seinem Gesicht. So kann ich gerade noch sehen, wie sich seine Augenbrauen kräuseln. Irgendwie hat er wirklich eine interessante Mimik.
„Was ist den mit dir los? Ist dir schlecht?“
Seine Stimme klingt ganz schön besorgt. Und wo er es gerade erwähnt...
„Ja, ein wenig...“
Er kommt geradewegs auf mich zu, ergreift meine Schultern. Jetzt liegen seine Hände wie die eines Löwenjungen, warm und sanft auf meinen Schultern und spenden mir irgendwie Ruhe.
„Du bist irgendwie grün...“
Seine Stimme klingt mir in den Ohren, melodisch, tief und kaum mehr als ein Flüstern. Ein bisschen jagt mir das gerade einen Schauer über den Rücken.
„Komm setz' dich auf's Sofa.“
„Mhm...“
Mehr kommt mir einfach nicht über die Lippen, denn dummerweise habe ich das ungute Gefühl, dass sobald ich den Mund richtig öffne, ich mich übergeben muss. Also lass ich mich von Eden zum Sofa mit den cremefarbenen Kissen komplementieren und einfach drauf fallen. Er geht leicht in die Knie und schaut mir mit seinen unheimlich blauen Augen direkt in meine.
Mich völlig aus der Fassung zu bringen, darin ist er wirklich Spitzenklasse, darüber kann ich fast meine Übelkeit vergessen.
„Ich mach dir mal einen Tee... Schön sitzen bleiben und ganz tief atmen.“
Er lächelt, aber eigentlich auch wieder nicht, das ist eindeutig nichts ein Schneesturmlachen. Dieses hier ist sogar weniger als sanfter Schneefall, fast gar nicht da. Doch wenn ich ganz genau hinsehe ist dieses Geheimlächeln schon fast schöner als der Schneesturm. Ganz tief atme ich ein und aus und ganz langsam wird das flaue Gefühl in meinen Magen wieder besser. Ich hasse e krank zu sein, wirklich.
Mit einer dampfenden Tasse Tee aus der Küche. So kann ich einen kurzen Blick darauf erhaschen. Sie ist schlauchförmig, klein, blassgrün gestrichen und tierisch voll. Alles ist in Buchholz gehalten, natürlich bis auf den Kühlschrank.
„Hier, ich hoffe mal es hilft dir...“
Oh ja, das tue ich ganz genauso, aber immerhin, ich glaube ich kann meinen Mund wieder gefahrlos zum Sprechen öffnen, ohne mich gleich darauf zu übergeben.
„Danke...“
Okay, nicht viel gesagt, aber es ist ein Anfang.
„Nichts zu danken...“
Ein schwaches Lächeln verzieht meinen Mund. Diese Art zu lächeln ist nun selbst mir etwas ganz Neues. Eine sehr seltsame Mischung aus Dankbarkeit, Unverständnis darüber, warum er so unheimlich freundlich zu mir ist und etwas, was ich im Augenblick nicht so richtig bestimmen kann.
Ich hebe die Tasse langsam zum Mund. Der Tee riecht ziemlich gut, nach Erdbeeren, Blaubeeren und Preiselbeeren. Ganz vorsichtig nehme ich einen Schluck der noch sehr heißen Flüssigkeit. Es ist einfach ein fantastisches Gefühl, als mir der Tee die Kehle hinab rinnt. Um diesen Moment ganz auskosten zu können, schließe ich die Augen. Ein solcher Moment, noch etwas was ich schmerzlich vermissen werde, wenn ich gehe. Ich liebe einfach dieses ganz bestimmte Gefühl, die Stille, wenn Tee meinen Hals hinunter läuft. Und wieder muss ich einfach daran denken, das es nicht fair ist, dass ich schon jetzt gehen muss.
Ich spüre wie ein Blick auf mir Ruht und da es hier nur noch eine weitere Person gibt steht außer Frage wer mich anblickt. Ich weiß einfach das Eden mich gerade röntgt, dazu muss ich nicht einmal meine Augen öffnen. Wenn ich nun also den dummen Fehler begehen würde und meine Augen öffne, dann würden seine unheimlich blauen Augen mich wieder hypnotisieren und ich würde ihm alles erzählen. Dabei wäre es mir ziemlich egal, das er ein Fremder ist, den ich gerade seit heute Früh neun Uhr kenne. Beruhigend das ich alle Konsequenzen bereits kenne, ohne es ausprobiert haben zu müssen. Vielleicht habe ich ja hellseherische Kräfte oder...
„Machst du die Augen auch mal wieder auf?“
Die Ungeduld in seiner Stimme kann niemand überhören und das bringt mich zu dem Schluss, das er durchaus weiß was sein Blick mit mir anstellte... Unfaire Mittel sag ich nur.
„Dann, wenn ich es will...“
Oh, das klang jetzt sehr erwachsen.
„Sei mal nicht so zickig.“
„Mhm...“
Eine Antwort die mehr als nur einen einzigen Laut umfasst hätte wäre nämlich ganz eindeutig ganz schön zickig ausgefallen und das will ich nun auch nicht.
„Wie alt bist du?“
Diese Frage klingt dann aber sehr ernst gemeint , weshalb ich wohl auch riskieren kann ihm ehrlich zu antworten.
„17 und du?“
Schön neutral bleiben und die Augen geschlossen halten.
„Ich bin 19...“
„Na, dann bist ja wirklich nicht besonders viel älter als ich.“
Dieser etwas sinnlose Kommentar ist mir einfach von den Lippen geflutscht, ganz ohne das ich das so sagen wollte. Meinen Worten folgt dann auch sogleich sein grandioses Basslachen.
„Ja, das ist ein wahres Wort...“
Ich muss nun einfach die Augen öffnen, auch wenn es mir etwas gegen den Strich geht. Aber ich kann einfach nicht mehr widerstehen. Sein Kopf liegt, wie ich jetzt endlich sehen kann, oben auf der Rückenlehne des Sofas, mit dem Gesicht zu mir, sehr nah ist er und diese furchtbar blauen Augen...
Genau wie er lege ich meinen Kopf auf die Lehne und wende mich ihm zu. Eine Weile sehen wir uns einfach in die Augen, unsere Nasen berühren sich schon fast. Mein Herz wird ganz ruhig und mein Magen hat schon lange keinen Muks mehr von sich gegeben. Wir lächeln uns nicht an, aber das würde irgendwie gerade auch nicht passen.Alles ist völlig still, keiner von uns bewegt sich oder blinzelt auch nur ein Mal. Es ist wie ein unendlicher langer Moment, noch dazu, genauso schön wie lang. Doch er vergeht, wie eine Blüte, viel zu schnell und viel zu abrupt. Doch ich werde ihn mir erhalten, wie ein Foto eines unvergesslichen Urlaubs. Das wichtigste ist doch irgendwie, dass ich ihn überhaupt haben durfte.
„Ich... werde Essen machen.“, meint Eden ganz leise.
Eilig, dabei aber irgendwie fahrig, wuselt er davon und verschwindet schließlich ganz in der Küche. Ich glaube ich sollte mir noch einmal viel öfter sagen, dass ich ihn erst seit heute kenne und dann auch noch in nicht einmal mehr ganz vier Tagen sterben werde. Für irgendwelches Verlieben habe ich wirklich keine Zeit. Um etwas zu tun zu haben schlürfe ich etwas an meinem Tee.
„Sag mal...“
Mein Kopf hebe ich, damit ich ihm auch ins Gesicht, bloß nicht in die Augen, sehen kann. Er steht im Türrahmen der Küche, mit dem rechten Arm stützt er sich daran ab, den Linken hat er auf die Türklinke gelegt und das rechte Bein hat er lässig mit dem linken gekreuzt. Eine ziemlich coole Pose. Natürlich will ich ihm da nichts unterstellen, aber ich glaube fast, diese Pose hat er aus irgendeinem Film unterstellt, immerhin steht man gewöhnlich eher weniger ausgerechnet so in einer Tür.
„... ist du Fleisch?“
Oh, ohne Fleisch wäre mein Leben öd und leer, denke ich mir. Aber das käme mir doch etwas zu seltsam herüber, also antworte ich stattdessen:
„Ja, esse ich.“
Ich lächle ihm, dezent huldvoll, zu und nehme einen weiteren Schluck.
Schon ist er wieder in der Küche verschwunden. Dieser Kerl... Himmel er macht mich einfach ganz kirre.
Konzentriere dich auf irgendetwas anderes, irgendwas nichts sagendes... Nur leider finde ich da gerade rein gar nichts, was mich ernsthaft ablenken könnte. Außerdem knurrt mein Magen jetzt wieder, genauso laut wie heute früh schon. Er scheint ja gar nicht genug davon zu bekommen, ordentliches Essen zum verdauen zu bekommen. Der leckere Geruch der aus der Küche, trotz verschlossener Tür zu mir wabert, mach das ganze auch nicht besser.
Also stehe ich auf und laufe zu der Tür, hinter welcher die leckeren Gerüche ihren Ursprung haben. Als ich die Küchentüre dann schließlich öffne, schlägt mir die ganze Wucht des fantastischen Geruchs entgegen. Gebratenes Huhn, Gemüse und der typische Geruch, der entsteht, wenn man Reis kocht.
„Hey, du solltest doch sitzen bleiben hab ich gesagt...“
Er klingt gerade erstaunlich verärgert, nicht in einer scherzhaften Art und Weise, aber seine Augen lächeln, wie verwirrend.
„Aber es riecht einfach zu gut um sich das nicht anzugucken.“
„Das würde ich zwar als Argument zulassen, allerdings, zieht es bei mir nicht.“
Eden legt den Kochlöffel weg, schiebt mich wieder zurück ins Wohnzimmer und drückt mich in die Sofakissen.
„Jetzt aber... Sitzen bleiben und warten.“
Er sagt es in sehr ernstem Ton, doch seine Augen lächeln munter weiter, das wird auch mit der Zeit nicht weniger verwirrend. Der Meister der gegensätzlichen Zeichen, sein Name ist Eden. Sobald ich ein paar Minuten alleine im Raum bin, merke ich, wie sich meine Augenlider von ganz allein zuklappen. Sie fühlen sich im Augenblick an, als wären sie tonnenschwer. Diese unnachgiebige Müdigkeit kommt aus dem Nichts, aber widerstehe kann ich und will ich ihr irgendwie nicht.
Mein Schlaf ist sehr tief, Traumlos und sehr erholsam. Ich fühle mich einfach sehr geborgen und zum ersten Mal seit Wochen endlich nicht mehr einsam oder unverstanden. Das Gefühl ist echt und warm, ich will es mir erhalten, solange es noch geht.
Eine Hand, ich spüre sie an meiner Schulter. Sie ist ganz warm, wie die eines etwas tapsigen Löwenjungen, sie rüttelt ganz sanft an mir, rüttelt mich aus dem Schlaf.
„Na du bist mir eine... Dann wenn du endlich essen darfst schläfst du einfach ein...“
In seiner Stimme liegt ein leises Lächeln. Ganz leise, sanft und tief ist eine Stimme, damit ich nicht einfach aus dem Schlaf gerissen werde. So wäre ich gern noch sehr viel öfter in meinem Leben geweckt worden. Aber eigentlich habe ich gerade keine Lust wirklich wach zu werden.
„Hmpf...“
Erneut rubbelt er mir, nun etwas energischer an der Schulter. Ausdauer hat er, das muss man ihm wirklich lasen.
„Dein Essen wird noch kalt.“
Dummerweise ist mein Hunger doch nicht verschwunden, denn gerade meldet sich mein Magen wieder zu Wort. Ich muss mich also geschlagen geben und öffne nun doch, widerwillig, die Augen, allerdings lasse ich mir dabei auch reichlich viel Zeit.
Die Welt ist noch ganz verschwommen vor meinen Augen, also blinzle ich ein paar Mal. Na endlich, alles wieder glasklar.
„Ah, da bist du wieder...“
Er ist wieder ganz nah bei mir, steht über mich gebeugt vor dem Sofa. Wieder einmal sehen wir uns in die Augen und er entwaffnet mich damit einfach völlig. Wieder einmal an diesem Tag muss ich meinen Mund öffnen und etwas sagen, worüber ich vielleicht doch noch einmal hätte nachdenken sollen, aber was solls, bei den Augen kann ich einfach nicht anders als sprechen ohne nachzudenken.
„Ja, aber nur dank dir...“
Okay, Mimi, Mundwerk wieder schließen, hoffen das er das jetzt nicht falsch verstanden hat und aufhören ihm immer wieder freiwillig in die Augen zu gucken.
Er strubbelt mir leicht und liebevoll mit seiner großen Löwenjungen Hand durchs Haar... Moment, liebevoll, nein, ich meinte freundlich. Liebevoll wäre ja reiner Humbug, da habe ich mich getäuscht.
„Na, jetzt mach schon, ich habe auch Hunger.“
Also raffe ich mich auf, tapse den kurzen Weg zum Tisch hinüber und lasse mich dann auf den, für mich bereits zurück gezogenen, Stuhl fallen. Aktuell bin ich zwar anwesend, aber noch lange nicht wach. Erst als ich schon etwas sitze, fällt mein Blick auf das Essen vor mir.
„Das hast du gekocht?!“
Die Frage war eher rhetorisch zu verstehen, natürlich hatte er das gekocht. Aber was ich da mit meinen Augen sehe ist ohne Frage meisterlich. Es ist ein im Grunde einfaches Essen, aber wirklich viel besser könnte es kein Koch mit Sternen. Im Reis sind kleine Pinienkerne zu sehen, die genau die richtige goldbraune Farbe haben. Die Soße ist cremig und hat einen grandiosen Glanz. In ihr das knusprig braun gebratene Hähnchen, glänzende Kaiserschoten, rote Paprika, winzig klein geschnittene glasige Zwiebeln und kleingehackte Petersilie.
„Ja, auch ein Kerl in meinem Alter ist in der Lage, mehr als nur eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben.“
„Also wirklich, ich muss zu geben, das ist wirklich, jam!“
Er grinst mir, ein wenig frech, zu, ich grinse zurück, wir tun uns auf und fangen an zu essen. Es ist nicht nur vom Anschauen eine Pracht sondern auch vom Essen. Um Längen besser, als das was wir im Restaurant gegessen haben.
Die Hälfte von meinem Essen schlinge ich in mich hinein, ohne auch nur ein Mal aufzusehen. Mein Hunger wird aber dann doch langsam kleiner, denn mein Magen füllt sich rasch. Erst jetzt schaffe ich es, mehr als nur mein Essen anzuschauen, was heißt, ich sehe zu Eden hinüber. Erstaunt muss ich sehen, er ist bereits fertig. Hatte er sich nicht sogar noch einmal mehr aufgetan als ich? Nun, er schien wohl sogar mehr Hunger gehabt zu haben, als ich es hatte. Nun beobachtet er mich, die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt, die Hände ineinander verschränkt und den Kopf dann darauf gelegt. Seine Augen, ich muss mich hüten in sie zu schauen, erinnere ich mich selbst. Denn im Moment liegt in seinem Blick etwas, was mich doch wieder veranlasst, mich nur meinem Essen zuzuwenden. Erneut beginne ich es in mich hinein zu schaufeln, nicht mehr weil ich so hungrig bin, sondern um etwas sinnvolles zu tun und einen Grund zu haben nicht in das tiefe Blau seiner Augen zu sehen. Leider muss ich schon sehr bald erkennen, mein Plan hat einen gravierenden Fehler, denn, mein Teller wird jetzt nur noch schneller leer und mein Magen einfach so voll, dass ich mir sicherlich keinen Nachschlag nehmen kann. Was bedeutet, als das letzte Reiskorn vom Teller gekratzt ist, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als wieder aufzusehen. Ich hätte wirklich besser planen müssen.
„Hat's dir geschmeckt?“
Gott sei dank, er fängt an zu sprechen, peinliches Schweigen finde ich so ziemlich das furchtbarste, was es geben kann.
„Ja hat es... oder war das jetzt eine rhetorische Frage?“
Ich bin mir nicht sicher, was sein Gesichtsausdruck zu bedeuten hat und bin verwirrt, doch er grinst nur etwas frech zu mir hinüber.
„Was glaubst du?“
Ich kneife leicht meine Augen zusammen, das tue ich immer, wenn ich merke, das mich jemand hinter das Licht führen will.
„Ich denke du bist doof.“
Er lacht in sich hinein. Sein ganzer beginnt davon zu vibrieren.
„Man, du bist echt niedlich.“
Oh je, es ist wieder so unerträglich heiß im Raum... Nein, ich lass mir das jetzt nicht anmerken.
„Werde hier mal nicht unsachlich.“
Wieder lacht er in sich hinein, etwas weniger, als noch zuvor, aber immer noch gut zu erkennen.
„Lass uns aufräumen.“
Seine Worte klingen ziemlich lässig, nur all seine Bewegungen und Handlungen, macht er für meinen Geschmack etwas zu schnell und ein wenig zu fahrig, um wirklich lässig zu wirken. Ob ich ihn auch irgendwie aus dem Konzept bringe? Aber das ist doch Blödsinn, was könnte ich denn bitte machen, dass ihn irgendwie verwirrt oder nervös macht? Ich meine ich...
„Hey, jetzt steh halt auf und hilf mir... Vorhin wolltest du doch auch so dringen herumlaufen...“
Ich schnappe mir die Wasserflasche und die Gläser und trage sie hinüber in die Küche. Abermals bin ich überrascht. Hier sieht es nicht aus, als hätte auch nur irgendjemand gekocht. Keine Spritzer, keine Fettspritzer. Alles Sauber und aufgeräumt. Wie lange habe ich denn geschlafen? So schnell bekommt man die Küche nämlich sicher nicht so blitzblank.
„Wie lange habe ich geschlafen?“
Eden ist gerade dabei die Spülmaschine einzuräumen und stockt, nur für einen ganz kurzen Moment, in seiner Bewegung, um sie dann, sichtlich bemüht sich nichts anmerken zu lassen, weiter einzuräumen.
„Och, nur ein paar Minuten... 20 vielleicht... Auf jeden Fall nur kurz.“
„Aha...“
Das war gerade glatt gelogen. Ihm steht die Schuld der Lüge schon beinahe ins Gesicht geschrieben. Ja, er strahlt sie aus. Gut, ich kann in jedem Fall sicher sein, dass er bis jetzt nichts gesagt hat, was er nicht ehrlich meinte, denn offensichtlich war er ein miserabler Lügner. Aber warum hat er gerade jetzt gelogen? Ich kann es nicht so richtig verstehen. Aber wenn ich ehrlich bin, fehlt mir im Moment einfach die Energie die Wahrheit zu ergründen. Dazu ist er mir zu stur und zu unergründlich, als dass ich jetzt die halbe Nacht dazu verwenden will mit ihm zu diskutieren. Auch wenn ich diesen blauäugigen Kerl gerade ein paar Stunden kenne, ich glaube ich weiß gut genug, dass er ich weiß: Er ist nicht das übliche Schema eines Mannes in seinem Alter.
Deshalb, bleibt mir jetzt nur noch eins: Themenwechsel.
„Wohnst du hier eigentlich allein?“
Na ja, ich hätte glaube ich ein besseres Thema finden können.
„Ja.“
Das saß. Ich habe nicht gewusst, das ein Wort so unheimlich viel aussagen kann. Oder gar, das es so treffen kann. Er hat es mit erstaunlich viel Kälte in seiner doch sonst so engelhaften Stimme gesagt. Sein Ton ist irgendwie blechern, keine Freundlichkeit oder Wärme. Ohne das ich es will, schmerzt es mich doch sehr, dass er so zu mir spricht. Ich spüre, wie mir dieser seltsame Schmerz im Gesicht steht. Ich fürchte der Umstand sehr bald sterben zu müssen hat mich zu einem ganz schön großen Sensibelchen gemacht.
„Es... tut mir leid, ich wollte nicht...“
Erst jetzt sieht er wieder zu mir auf. Ihm stehen Erstaunen und ein gewisser Grad Reue ins Gesicht geschrieben. Wenigstens bin ich nicht die einzige die ein bisschen dünnhäutig zu sein scheint, das erleichtert mich ein wenig.
„Nicht schlimm... Wirklich, bin ja nicht aus Zucker.“
Okay, das ist jetzt eine wirklich ziemlich blöde Situation. Er räuspert sich.
„Weißt du, es gibt einen Unterschied zwischen Einsamkeit und dem Alleinsein... Einsam kann man auch in Mitte einer riesigen Menschenmenge sein, selbst in der Familie und unter Freunden... Aber das Alleinsein, das sucht man sich selbst aus, das will man.“
Wow, Philosophie zwischen Geschirrspüler und Herd.
„Und? Willst du allein sein?“
Die Worte klingen ein wenig schmerzhaft in meinen Ohren nach.
„Ich wollte es, sehr lange wollte ich es und eine ganze Weile bin ich es auch schon so ziemlich... Aber ich bin nicht mehr sicher, ob ich es wirklich noch will...“
Jetzt wird er mal zur Abwechslung knallrot.
„Und du?“
„Gott, du ahnst nicht wie sehr ich einfach nur für mich sein wollte!... Nur... Ich glaube so richtig will ich es nicht mehr...“
Mein Herz ist gerade so leicht wie eine Feder. Seines wohl auch, denn wir Beide haben den gleichen Ausdruck im Gesicht. Ich bin gerade sehr beruhigt. Einfach nur glücklich und irgendwie zufrieden. Solche Gefühle kannte ich schon gar nicht mehr.
Hier stehen wir also, ich weiß gerade nicht was ich sagen soll, er schon. Eden atmet tief ein und wieder aus. Ein kurzer musternder Blick fliegt über mich hinweg.
„Willst du vielleicht ein Bad nehmen?“
Ich glaube jetzt schon fast, dass er hier die übersinnlichen Fähigkeiten hat.
„Unglaublich gern!“
Ich strahle von Ohr zu Ohr. So breit habe ich glaube ich selten Gelächelt. Der Laut der jetzt allerdings von ihm kommt hört sich fast an wie ein verschlucktes Husten, es könnte aber auch ein nicht ganz unterdrücktes Auflachen gewesen sein.
„Na dann...“
Er geht an mir vorbei, sehr nah, die Küche ist schließlich nicht besonders breit, sodass ich seinen Duft erneut in mich aufsaugen kann und zugegeben ich genieße es sehr. Schnell laufe ich hinter ihm her, zum Bad. Es ist die zweite Tür von links aus gesehen. Das Badezimmer ist genau wie das Wohnzimmer quadratisch, es hat dunkelgraue Bodenfliesen und an den Wänden ist es weiß gefliest. Kein Tanzsaal, aber eindeutig groß genug um keine Platzangst zu bekommen.
„Du kannst die gelben Handtücher benutzen, eine Ersatzzahnbürste müsste im Spiegelschrank über dem Waschbecken im untersten Fach liegen... Wenn du willst gebe ich dir einen von meinem Pyjamas... Du kannst natürlich auch einfach in den Sachen schlafen die du gerade an hast... Ganz wie du es willst.“
„Ich nehme das Angebot mit dem Pyjama gerne an...“
Ich zwinkere ihm zu, auch etwas was ich so eindeutig nicht von mir kenne. Ich zwinkere eigentlich niemals niemandem zu.
„Gut...“
Er geht und kommt nur ein paar Augenblicke später mit einem Pyjama in der Hand zurück Blau, mit dem üblichen Karomuster. Ich nehme ihn meinen Schlafanzug für die Nacht aus den Händen, der Stoff ist sehr weich und kuschelig, ich meine sogar, dass er ein bisschen wie Eden riecht, aber das dürfte Einbildung sein. Er lächelt mal wieder, wie heute schon so wunderbar oft, sein Schneesturmlächeln.
„Okay... Na dann... Viel Spaß.“
Ich muss mir eingestehen, das Lachen und die Art dieses im Grunde ja Fremden, ich mag sie unheimlich gern und genieße sie sehr. Die Tür ist zu, ich bin allein, doch dieses Mal fühlt es sich gar nicht so allein an, eher als ob es genau das Richtige wäre.
Sobald ich den Wasserhahn an der Badewanne aufdrehe strömt brausend Wasser in die Wanne. Meine Augen suchen m´nach etwas, was Schaum produzieren könnten. Finden tun sie eine Flasche mit hellblauem Gel, etwas davon landet sogleich im Badewasser. Innerhalb von kürzester Zeit türmen sich kleine Hügel aus Schaum in der Wanne und außerdem riecht mittlerweile der ganze kleine Raum nach ihm, lecker, aber ich kann einfach nicht sagen nach was genau. Aber auch wenn ich jetzt nachlesen könnte, ich will wenn dann schon lieber selbst herausfinden, wonach er riecht.
Langsam ist es genug Wasser, aber bevor ich den Hahn zudrehe, zeihe ich mich aus und steige ins Wasser. Erst als ich ganz sitze, drehe ich das Wasser ab. Ich liebe es sehr, wenn alles an einem warm ist und man ganz leicht im Wasser zu schweben scheint. Das werde ich vermissen.
Erstaunlich eigentlich, noch heute Früh, als ich aus dem Krankenhaus abgehauen bin, hätte ich Stein und Bein geschworen, ich hätte nichts mehr was ich vermissen würde. Doch wenn man die Momente, die man sonst einfach nur erlebte und vergaß, zum letzten Mal erlebte, wurde einem wirklich bewusst, wie sehr man sie liebte und wie gern man sie hatte im Leben.
So oder so, der Tag hatte sich heute wirklich so anders entwickelt, von dem was ich mir vorgestellt hätte, dass ich es noch gar nicht richtig fassen kann.
Ich halte mir die Nase zu, die Luft an und tauche völlig ins heiße Wasser ein, die Augen fest geschlossen. Meine Haare, das spüre ich, schweben um meinen Kopf wie eine dunkle Nebelwolke. Jetzt, genau in diesem Moment, bin ich einfach wo ich wirklich sein will. Ein wenig gönne ich mir absolute Stille. Nur einfach im Wasser schweben und nichts denken, einfach nur genießen was ist, etwas anderes bleibt mir auch nicht, denn meine Zeit rinnt mir durch die Hände wie Sand.
Die Luft geht mir aus, also tauche ich auf, schnappe nach Luft und reibe mir das Wasser aus den Augen. Das ganze Badezimmer voll mit Nebelschwaden, der Badezimmerspiegel ist völlig beschlagen und mir ist schon jetzt richtig heiß und dieses mal wirklich.
Langsam beginnen meine Hände auch zu schrumpeln. Also sollte ich wohl nicht mehr so lange im Wasser bleiben. Schnell wasche ich mir noch die Haare und verweile noch etwas in der Wanne, die absolute Wärme um mich herum ist einfach so angenehm. Heraus aus dem Wasser wickle ich mich sofort in eines der Handtücher, sie sind sehr weich, flauschig und anschmiegsam, außerdem riechen sie auch wieder nach Eden.
Gerade fühle ich mich sehr frisch, durch gewärmt und einfach zufrieden.
Schnell rubble ich mich trocken und ziehe den angenehm warmen Pyjama an, welcher mir mindestens zwei Nummern zu groß ist. Ein bisschen sehe ich aus als wollten mich die Ärmel des Pyjamas auffressen... Aber na ja, dem geschenkten Gaul sollte ich wohl wirklich nicht ins Maul schauen. Meine noch ziemlich nassen Haare kann ich aber nicht so lassen. Nur widerstrebt es mir ziemlich in fremden Schubladen nach einem Föhn zu suchen, man weiß ja nie was man da so finden könnte. Also besser nachfragen.
„Sag mal...“
Ich stehe im Türrahmen und schaue zu Eden hinüber. Er sitzt auf dem Sofa und guckt fern. Sobald ich gesprochen habe, dreht er den Kopf vom Fernseher zu mir und wieder höre ich diesen seltsamen Laut, der sich anhören könnte wie ein Husten, aber jetzt n´bin ich mir wirklich sicher, dass es ein unterdrücktes Lachen ist. Aber ich ignoriere das jetzt einfach einmal.
„... besitzt du einen Föhn?“
„Mhm...“
„Das machst du jetzt um mich zu ärgern, stimmt's?“
„Mhm...“
Es folgt ein etwas gemein klingendes Kichern.
„Wo ist er?“
Das ist jetzt zwar etwas kindisch, aber auch irgendwie süß... Ich sollte aufhören, das von ihm zu denken.
„Der kleine Schranke hinten in der Ecke, die unterste Schublade.“
„Danke.“
Auf dem Absatz drehe ich mich um, um wieder zurück ins Bad zu gehen.
„Du siehst wirklich süß aus, besser als ich in dem Teil...“
„Oh... ähm... Danke.“
Tür wieder zu. Warum macht er denn jetzt soetwas? Das ich jetzt natürlich wieder knallrot angelaufen bin, hat er hoffentlich nicht gesehen.
So schnell es geht trockne ich mir die Haare und schaue auf die Uhr, die hier im steht. 23.15 Uhr. Wie konnte dieser Tag bloß so unheimlich schnell vergehen? Ich habe das Gefühl ich bin gerade erst ein paar Stunden auf den Beinen, und nicht schon den ganzen Tag. Ich gehe wieder zurück ins Wohnzimmer. Der Fernseher läuft noch und dudelt auch irgendeinen Film vor sich hin, aber Eden ist schon auf dem Sofa eingeschlafen. Er schläft ein bisschen so wie er klingt, wie ein Engel. Himmel, ich muss mit solchen Gedanken aufhören. Aber dummerweise muss ich ihn wecken.
Ganz leicht ruckle ich an seinem Oberarm, so wie ich es immer mache, wenn ich versuche jemanden zu wecken.
„Hey, aufwachen...“, sage ich ganz leise.
„Mhm... Nein...“, nuschelt er mir zu und dreht sich ganz auf die Seite.
„Doch... Du musst doch in dein Bett.“
„Mhm... Nein... Ich hier, du im Schlafzimmer...“
„Aber...“
„Schlafen... ich hier du im...“
„Ja, schon klar... Dann gute Nacht.“
„Träum schön...“,murmelt er noch und ist dann schon wieder völlig weg.
Weshalb auch ich den Fernsehen ausschalte und in sein Schlafzimmer verschwinde.
Es ist jetzt schon halb Zwölf, ich liege hier im Bett eines Fremden und dieser Fremde schläft wegen mir, in seiner eigenen Wohnung auf dem Sofa.
Ich, Mimi, 17 Jahre und ein paar Monate alt, werde in gut drei Tagen sterben und fange jetzt erst an richtig zu leben.
Na ja, besser spät als nie.

Tag 3




Tag 3
Ich bin wach, vollkommen und endgültig wach und das um sechs Uhr früh.
Ich liege als warme Kugel unter einer dicken Decke, in einem weichen Bett, in einem Zimmer das ganz und gar sehr lecker riecht, ich aber nicht sagen kann wonach. Das hier ist nicht das Krankenhaus, nicht das Bett in dem ich Wochen zu gebracht habe, ich habe es nicht geträumt, ich bin wirklich hier, habe ihn wirklich getroffen. Mein Herz macht einen leisen Sprung.
Mein Kopf ist noch im Halbschlaf, viel zu langsam für die Flut an Gedanken, Erinnerungen, Informationen,Bilder und Gerüche die jetzt alle wieder durch mein Hirn strömen und mich förmlich überfluten. Im Grunde bin ich zwar wach, aber trotzdem will ich die Augen noch nicht öffnen, fest verschlossen lässt sich dieser Augenblick hier noch etwas verlängern. Nur noch ein bisschen die Stille genießen und das es hier wirklich und absolut gar nicht nach Krankenhaus riecht. Ich höre auch Eden nicht, er schläft bestimmt noch, nicht wirklich verwunderlich, wenn ich an die aktuelle Uhrzeit denke.
Aber ewig kann ich hier nicht einfach liegen bleiben. Also öffne ich dann doch die Augen. Noch ist es ziemlich dunkel, aber immerhin schon hell genug um den Raum um mich herum deutlich genug zu erkennen. Wieder ein Quadrat, die Farbe dürfte die Selbe sein, wie die im Wohnzimmer, so genau kann ich das jetzt nicht erkennen und gestern Abend habe ich nur noch das Bett gesehen. Wirklich viel Möbelar hat er auch hier nicht stehen. Er hat wohl eine minimalistische Ader. Ein Schrank und das Bett in dem ich liege, zugegeben recht gemütlich, immerhin ein großes Doppelbett, was auch noch ziemlich gut riecht, eine Mischung aus Eden und dem Geruch frischer Wäsche. Außerdem noch ein Standspiegel und ein Garderobenständer an dem eine jeweils eine dicke braune und eine dicke blaue Jacke hängen. Zu beiden Seiten des Bettes liegen noch kleine Teppiche, vermutlich damit man nicht gleich beim Aufstehen einen Kälteschock erleidet.
Auch wenn hier nicht wirklich viel Einrichtung vorhanden ist, mir gefällt es sehr gut. Es ist nicht überladen, aber auch nicht zu wenig, sodass es karg aussehen könnte.
Hier kann ich mich doch ehrlich zuhause fühlen, ohne zu vergessen wer ich bin.
Dummerweise wird mir jetzt klar, dass es gefährlich ist mich zuhause zu fühlen. Ich bin eine Todeskandidatin, das darf ich mir doch nicht erlauben. Nur was kann ich gegen Gefühle tun, die immer ihr Eigenleben haben und die man so schlecht kontrollieren kann?
Mein Blick fällt aber noch einmal zurück zum Garderobenständer, da hängen doch nicht nur zwei Jacken, sondern wie es aussieht auch meine Sachen. Er muss sie hier hin gehängt haben, als ich schon geschlafen habe. Himmel mir wird wieder so warm am Kopf...
Er hat mich ja dann gesehen wie ich geschlafen habe, das finde ich jetzt glaube ich nicht so besonders prickelnd, aber na gut, wirklich schlimm ist es ja auch nicht. Dieser Kerl ist ja eigentlich sogar einfach zu gut um wahr zu sein. Bringt mir meine Sache, kocht, behandelt mich einfach so nett...
Er ist ja auch sehr nett, so nett, das ich ihn einfach nicht nicht leiden kann...
Aber das hat nichts zu bedeuten. Ich kann ihn gut leiden, mehr nicht. Immerhin hat er mich aufgenommen, als ich nirgends unter konnte und hat mir geholfen mich wieder etwas zu erholen und... Also nein, ich habe mich nicht in ihn verguckt, ich bin auch nicht verliebt oder so etwas, einfach nur ein guter Bekannter. Schließlich kenne ich Eden auch gerade erst einen Tag.
Ich schüttle meinen Kopf, nur um sicher zu gehen, dass ich wach man, sehe wieder zur Garderobe, setze mich auch und wieder ein Blick zu meinen Sachen, mit einem Aufstöhnen lasse ich mich nach Hinten fallen und schließe die Augen.
Was mache ich mir da gerade eigentlich vor? Jetzt auch noch anzufangen mich selbst zu belügen wäre wirklich dämlich. Dazu ist im meinem Leben wirklich keine Zeit mehr.
Natürlich mag ich ihn mehr als mir lieb sein kann, besonders wenn man einen Kerl gerade erst so kurz kennt. In meinem Kopf herrscht jetzt selbstverständlich grandioses Chaos. Ich weiß nicht wohin mit mir und fühle mich dumm. Ich hätte es bemerken müssen, Gestern schon. Ich hätte etwas dagegen unternehmen müssen, bevor es so weit kommen konnte. Aber das habe ich nicht.
Wieder setze ich mich auf, schaue mich erneut um und schwinge dann die Beine aus dem Bett. Mein Kopf ist überfüllt, ausverkauft könnte man sagen und das um 6 Uhr 30 am Morgen. Erst einmal sollte ich ganz aufstehen und mich anziehen, wenigstens äußerlich versuchen Ordnung zu schaffen. Allerdings ist die Wärme der Bettdecke noch wein bisschen zu verlockend, weil ich noch einmal ganz kurz mich einfach nur geborgen fühlen will schlüpfe ich doch noch einmal darunter und liege noch fünf Minuten im Bett. Doch mehr Zeit gönne ich mir nicht, genug die Stille des Raumes förmlich geatmet.
Im gleichen Moment in dem ich mich aus dem Bett völlig erhoben habe ist mir tierisch kalt. Der Boden macht dieses Gefühl auch nicht besser, denn der ist noch um so einiges kälter. Ich beeile mich durch den Raum zu kommen, meine Sachen zu schnappen und dann nicht minder eilig wieder zurück zum Bett zu kommen. Im Stehen kann ich mich einfach nicht anziehen, dazu bin ich auch irgendwie noch zu schlapp. Also versuche ich mich auf dem Bett sitzend anzuziehen. Mein Shirt ist dabei noch die leichteste Übung. Allerdings stellt sich die Hose dann doch als eine Schwierigkeit heraus.
Erst das eine Hosenbein möglichst weit nach Oben ziehen, dann das andere, auf Knien auf das Bett und den Rest der Hose versuchen über den Hintern zu bekommen. Nach ein paar etwas strapaziösen Verrenkungen ist es geschafft und endlich bekomme ich den Knopf der Hose ganz zu und kann mich wieder normal hinsetzen. Diese ganze doch etwas seltsame Prozedur hat immerhin nur zehn Minuten gebraucht. Ein bisschen bin ich stolz auf mich, muss über diesen Stolz kurz grinsen und stehe dann wieder auf. Dank mein kleinen sportlichen Kleideranzieherei ist mir jetzt auch wieder warm. Nur ist die äußere Ordnung wirklich nur Außen. Innerlich ist immer noch Chaos.
„Denk einfach an etwas anderes...“
Na prima, jetzt fange ich schon an Selbstgespräche zu führen.
Mit einem Seufzen lasse ich mich nach Hinten auf das Bett fallen und starre zur Decke hinauf. Ob sie wohl nach mir suchen? Ob sie vielleicht doch noch nicht wissen, dass ich weg bin? Doch eigentlich ist es klar, dass sie es schon längst wissen. Doch es ist schon gut wie es jetzt ist, wenn ich ganz ehrlich bin, will ich es nicht anders. Ich liebe meine Eltern, aber in letzter Zeit waren sie einfach zu unehrlich, zu aufgedreht. Sie dürften wohl gewusst haben, dass ich sterben werde. Kein Wort kam ihnen über die Lippen, aber man konnte es ihnen ansehen. Falsche Lächeln geheuchelte Sanftheit. Die Beiden haben versucht mich in Watte zu verpacken, damit ich bloß nicht spüre was mir doch längst klar war oder das ich gar bemerke, dass sie sich unglaubliche Sorgen machen. Aber wozu?
Ich bin zwar noch nicht erwachsen, aber auch schon lange kein Kleinkind mehr. Man spürt es, wenn der Körper langsam aufgibt und Kämpfen nicht mehr möglich ist. Doch nein, niemand wollte es mir bestätigen. Ich weiß nicht was das hat bezwecken sollen, vielleicht das ich sterbe während ich schlafe, damit ich bis zum letzten Moment noch Hoffnung habe. Doch vorgestern Abend kam eine Ärztin in mein Zimmer. Ich kannte sie schon vorher, sie ist noch ganz jung, hat sicherlich noch einige Illusionen und will wirklich helfen und etwas verändern. Jedenfalls war sie immer bei der Visite dabei. Nur habe ich gesehen, wie gequält ihr Blick auf mir gelegen hat, dass ich wusste, jetzt stimmt etwas wirklich ganz und gar nicht.
Als sie dann im Zimmer stand, mit diesem Ausdruck in den Augen und auf ihren Zügen, da habe ich mir irgendwie mehr sorgen um ihre Gesundheit gemacht als um meine, denn sie sah da nicht gerade fit aus. Aber ich habe mich erinnert, das sie schon gut eine Woche vorher so seltsam aussah.
„Ich... ich kann das nicht mehr... Deine Eltern wollen nicht das du es weißt, aber damit kann ich einfach nicht leben, wenn ich du wäre, würde ich alles wissen wollen...“, ganz schnell waren ihre Worte von ihren Lippen gekommen, hektisch fast, als wolle sie keine Minute verschwenden. „Deine Krankheit, wir können sie einfach nicht bekämpfen, die Schäden die diese Stoffe schon verursacht haben, die sind nicht zu reparieren... Wir geben dir noch gut vier Tage, ab Morgen... So lange wird das Medikament, was wir dir gegeben haben noch vorhalten, doch wohl keinen Tag länger... Es tut mir so leid!“
Nicht habe ich gesagt, einfach nur völlig leer da geseßen und nichts gedacht, sie nur angesehen.
„Ich...“
Doch mehr war nicht mehr über ihre Lippen gekommen, sie war einfach aus dem Zimmer gerauscht und hatte die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen, ohne Acht auf Lautstärke oder etwas derartiges.
Danach hatte mich die Erkenntnis überfallen, meine Eltern haben mich einfach belogen. Erst da habe ich verstanden, warum sie derartig traurig gewesen waren, dass ich sie einfach weggeschickt habe, deshalb hatten sie mich so übermäßig verabschiedet. Sie hatten es gewusst, dass sie mich nicht wiedersehen würden. Aber auch die schmerzhafte Erkenntnis, dass mein Leben sobald schon zu Ende sein würde, hatte mich überfallen. Ich hatte ja wirklich gewusst, dass es zu Ende ging, doch mit dieser Geschwindigkeit hatte selbst ich nicht gerechnet. Quälende Gewissheit hintergangen worden zu sein, ließ mich von da an nicht mehr los. Nicht nur von meinem Körper betrogen, sondern auch noch von meinem Elten, das war und ist einfach zu viel des Guten. Nach diesem Abend schrie alles in mir förmlich, dass ich gehen muss. Weg von all dem was mich gefangen gehalten hat über so viele Wochen. Da wollte ich nicht bleiben. Diesen Entschluss bereue ich nicht.
So bin ich dann am gestrigen Morgen, sehr früh einfach gegangen. Keine Nachricht, kein Abschied und mitgenommen habe ich nichts außer der Kleidung ich dich jetzt trage. Ein schweres Seufzen kommt mir über die Lippen, aber wirklich, ich habe nichts getan, was ich vor mir selbst nicht rechtfertigen könnte. Für mich hat diese Ärztin alle Regeln gebrochen, sie hat ihre Karriere und alles was sie bis dahin erreicht hat für mich aufs Spiel gesetzt, aber genau das hat mir das leben gerettet. Ja, ich werde sterben, aber ich habe die Möglichkeit bekommen, selbst zu entscheiden, wie genau das aussehen soll. Und ich kann meine letzten Stunden noch nutzen und nicht sterben ohne etwas gelebt zu haben.
Aber mehr kann ich darüber nicht nachdenken, ich bin einfach leer gedacht.
Langsam aber sicher bin ich wirklich wach und da. Aber weil ich nicht mehr über mich und meine Situation nachdenken kann, kommt Eden wieder völlig in mein Bewusstsein. Dann wieder meine Krankheit, dass mein Tod nur so kurz entfernt ist. Wenn ich so daran denke, ist es nur so unglaublich wenig Zeit die mir bleibt, viel zu kurz und doch noch so lange. Ich verwirre mich jetzt selbst. Aber jetzt sollte ich endlich etwas tun, mich bewegen, also stehe ich auf, schleiche hinaus ins Wohnzimmer und zum Sofa hinüber, vorsichtig um wirklich keinen überflüssigen Laut von mir zu geben, schaue ich hinab.
Eden schläft noch wirklich tief, ganz friedlich sieht er aus, mit einem sehr sanften Gesichtsausdruck, ein bisschen sieht er aus wie ein schlafender kleiner Junge. Mich beschleicht ein unglaublich schlechtes Gewissen. Er hat mit aufgenommen und umsorgt, dabei weiß er nichts über die Person, über mich. Auch dafür mag ich ihn so sehr, zu sehr für einen Tag.
Ich drehe mich um und lasse mich zu Boden sinken, lehne meinen Rücken an die Rückwand des Sofas an, winkle meine Beine an meinen Körper an und umschlinge sie mit meinen Armen, um meinen Kopf darauf legen zu können. In meinem Kopf schwirrt es. Was soll ich denn jetzt nur machen? Wohin soll ich gehen? Und verdammt noch mal, war schlägt mein Herz so rasend schnell wenn ich ihm ins Gesicht sehe?
Er dreht sich geräuschvoll auf dem Sofa und murmelt dabei etwas, ich kann es nicht verstehen, aber dafür verstehe ich etwas ganz anderes. Dieser Kerl ist so unglaublich nett und herzensgut, aber ich ziehe ihn gerade mit in mein eigenes Unglück hinein. Wenn ich sterbe, was ja wirklich nicht mehr lange hin ist, dann wird er es sehen, er wird dabei sein. Das könnte ihn brechen, ich könnte ihn brechen damit! Mein schlechtes Gewissen wird nur noch größer und auf einmal habe ich auch ein ziemlich heftiges und schmerzhaftes Ziehen im Bauch. So kann ich nicht weiter machen. Ich muss eine Entscheidung treffen. Drei Tage leben und am ende einen Mann verletzten, der es wirklich nicht verdient hat oder einfach gehen.
Ich kann es nicht zu lassen, ich kann ihn nicht verletzen. Also muss ich gehen, wenigstens diesen einen Menschen kann ich beschützen vor dem Leid das ich verursachen würde. Wenn ich jetzt einfach verschwinde wird ihn das sicherlich nicht so besonders schmerzen, er kennt mich schließlich nicht wirklich, ich bin ihm eine gänzlich Fremde. Suchen wird er mich ganz sicher auch nicht, das ist eine Person die man einen Tag kennt nicht wert. Da bin ich mir zumindest halbwegs sicher mit oder versuche mir das einzureden. Ich bin traurig, ich weiß, das was ich vorhabe ist das einzig Richtige, aber das ändert nichts daran, dass ich eigentlich bleiben will. Doch trotzdem raffe ich mich auf. Erneut fällt mein Blick auf das so selig schlummernde Gesicht, doch schnell löse ich mich davon und schleiche zur Tür.
Im Flur gibt es eine zweite Garderobe, daran hat er meine Jacke angehängt, doch meine Schuhe sehe ich nirgends, vermutlich hat Eden sie vor die Tür gestellt, damit sie nicht den Boden hier verdrecken. Vorsichtig versuche ich meine Jacke ganz leise vom Garderobenhaken zu bekommen, möglichst ohne ein zu lautes Geräusch zu provozieren. Nur scheint der Reißverschluss meiner Jacke von diesem Plan nur sehr wenig zu halten. Er klimpert laut am Metallgestell der Garderobe.
Erschrocken werde ich ganz steif. Ein etwas furchtsamer Blick hinüber zum Sofa, nein, er schläft noch immer. Meine Muskeln entspannen sich wieder. Jetzt muss ich nur noch die Tür auf bekommen, wozu ich die Klinke der Tür langsam herunterdrücke, wobei diese unheimlich unangenehm laut quietscht. Warum muss man eigentlich immer dann dermaßen Lärm machen, wenn man genau das Gegenteil zu erreichen versucht. Offensichtlich hilft es gar nicht, wenn man alles langsam und vorsichtig macht, in jedem Fall nicht gegen Krach. Gut dann anders.
Ganz schnell öffne ich jetzt die Tür und das verursacht dann wirklich mal keine echten Geräusche. Ich gehe aus der Tür, sehe kurz zurück zum Sofa und schließe dann die Tür. Mir ist kalt, nicht nur weil ich auf Socken im reichlich kalten Flur stehe. Schnell ziehe ich meine dicken Winterschuhe an, erst den den Linken, dann den Rechten. Meine elende Klimperjacke ziehe ich danach auch noch an. Schon wird mir wieder wärmer. Ich will jetzt nur noch schnell aus dem Haus.
Die Treppe poltere ich herunter, reiße mit viel Schwung die Tür auf und lasse sie auch mit ganz viel Schwung und laut zuschlagen. Erleichtert in der Kälte stehend atme ich auf. Es ist toll wieder Krach machen zu können. Gut... Wohin jetzt?
Okay, erst weglaufen und dann überlegen wohin eigentlich ist nicht die beste Reihenfolge, das sollte ich mir wirklich langsam klar gemacht haben.
Es ist auch immer noch ganz schön früh am Morgen und die Luft ist noch glasklar und sehr kalt. Der strahlend blaue Himmel scheint mir förmlich entgegen zu lächeln, es ist irgendwie ein sehr schöner Tag heute, keine Wolke am Himmel.
Mir ist jetzt einfach nach laufen, ganz egal wohin, Hauptsache ein ganzes Stück von meinem schlechten Gewissen weg. Also gehe ich einfach los, in irgendeine Richtung, nur erste einmal nur ganz langsam, ein wenig als ginge ich in Zeitlupe. Das dürfte jetzt ganz schön bescheuert aussehen, doch das kann mir ziemlich egal sein. Desto weiter ich gehe, desto belebter werden die Straßen, erstaunlich wie viele Leute um diese Zeit bereits auf den Beinen sind. Aber so wirklich Lust, mich in ein Menschengetümmel zu stürzen habe ich im Moment wirklich nicht, so biege ich einfach in eine sich gerade auftauchende Nebenstraße ab. Immer versucht so weit es geht von Straßenlärm, lauten Stimmen und Schritten wegzukommen. Immer weiter die kleinen Straßen entlang, eine ganze Weile lang, um dann schon wieder unter Kirschbäumen zu stehen. Wie hieß das gleich noch... Alle Wege führen nach Rom. In meinem Fall, alle Wege führen zur Kirschallee. Es ist aber auch ein einfach magischer Ort, in dieser grauen Stadtwelt ein wahrhafter Farbtupfer, ein kleines Stück Seelenfrieden, jedenfalls für mich. Noch einige Meter wandere ich die Allee hinunter um mich dann auf eine der Steinbänke zu setzen. Ganz tief atme ich ein und aus, schließe die Augen, sauge den Duft der Blüten ein, stütze meine Hände hinter mich auf die restliche Sitzfläche auf, lehne mich zurück, lege den Kopf in den Nacken und öffne die Augen wieder.
Azur blauer Himmel über mir, ganz kleine Fetzen von schneeweißen Wolken, die rasend schnell vom Wind verweht werden. Im Kontrast dazu die braunen Äste und die rosa Blüten. Wirklich wunderschön.
Wieder einmal ist mir so unheimlich bewusst, dass die, die hier im Moment sitzt schlicht ganz und gar nicht die ist, die noch vor einem dreiviertel Jahr hier gesessen hätte. Es hat ja schon vor dem Krankenhaus angefangen, ich weiß beim besten Willen nicht mehr warum. Die Veränderung hat sich einfach eingeschlichen in meinen Geist, ganz leise bin ich zu einer kritischeren, hellhörigeren Person geworden. Das hat natürlich nahtlos immer wieder Streit mit meinen Eltern provoziert. Doch das hat mir nichts ausgemacht, solange ich damit erreichen konnte was ich wollte. Aber ich gebe zu, da war ich bestimmt nicht immer fair. Nur kann ich eben jetzt die Welt anders sehen.
Es gibt keine schönen oder hässlichen Menschen mehr, nur noch die, die etwas zu erzählen haben und die, deren Leben einfach gänzlich leer ist. Leider weiß ich nicht, zu welchem Typ ich selbst gehöre.
Wenn man in die Augen eines dir unbekannten sieht, dann ist darin viel mehr zu lesen als man denken möchte. Du kannst darin einfach alles entdecken, was er fühlt, denkt, ja selbst Erinnerungen die von Bedeutung sind spiegeln sich in den Augen eines jeden Menschen wieder. Nur sieht man dann in Augen eines dir bekannten Menschen, sind sie leer, egal wann du hineinschaust. Denn er will verbergen vor dir, was er denkt und fühlt und gibt sein Inneres nur Preis wenn es wirklich nötig ist, vielleicht weil er dich mit seinen Gedanken verletzen könnte oder weil er nicht zeigen will das manches ihn selbst verletzte. Er will verbergen was er in sich trägt um in seiner Welt nicht zu unterliegen.
Weil ich dieses Pärchen, was gerade auf dem Weg in meine Richtung geschritten kommt, nicht kenne, kann ich sehen, dass sie Dinge vor einander verbergen, Geheimnisse Wünsche, Ängste, Dinge, die den Anderen belasten könnten.
Im Augenblick bin ich die Fremde in dieser Welt, ich kann sehen, was wirklich ist, doch die, die hier zuhause sind, sehen nur was sie wirklich sehen wollen. Es ist kein Frevel das zu tun, es ist eben einfach menschlich.
Nur darum sind Kinder so wunderbar uneigennützig ehrlich. Sie kennen das Spiel des Lebens noch nicht und basteln sich keine Realitäten selbst zusammen, wie sie sie gerne hätten. Sie sehen was wirklich ist und sagen auch genau das und nur das.
Die Großen, die Erwachsenen, unterschätzen, was ein Kind vermag, was es sehen kann.
Alle glauben, die Kleinen sind noch jung, die merken nicht, wenn Mama und Papa sich anschreien, wenn Papa eine Frau irgendwie nicht anschaut wie er sollte, wenn Mama Abends eine ganze Flasche Wein trinkt.
Unsere Kinder sind doch irgendwie die Spiegel unserer Welt.
Man kann sie nicht täuschen, auch wenn wir das gern glauben würden, man kann sie nicht einfach so verändern wie wir sie gerne hätten. Doch eines, das ist sehr wohl möglich, ein jedes Kind kann sich entscheiden so zu sein, wie ihn die Erwachsenen gerne hätten. An diesem Punkt des Entschlusses, hören Kinderaugen auf die Wahrheit in die Welt zu schreien und der Weg zu einem Menschen wie die Eltern es sind, steht nichts mehr im Weg.
So erzählt jedes Gesicht seine ganz eigene Geschichte. Aber das kann man erst sehen, wenn man einfach keine andere Möglichkeit mehr hat. Wenn man einfach nur noch wissen will, was Wahrheit heißt.
Wenn man nicht mehr zu verlieren hat, in meinem Fall, wenn man sterben wird.
Meine Hände kribbeln jetzt langsam ganz schön, sie sind eingeschlafen unter dem Gewicht meines Oberkörpers. Also richte ich mich wieder gerade auf, reibe meine Hände ineinander, damit dieses fiese Kribbeln aufhört und beschließe nun doch weiter zu gehen, meine Beine verlangen noch immer nach Auslauf.
Im Augenblick sind meine Gedanken eindeutig zu düster, ich brauche jetzt dringend Beschäftigung, damit diese endlosen Gedanken für einen Moment aufhören in meinem Kopf herumzuwirbeln. Eigentlich will ich noch immer nicht mit hunderten Menschen auf einem Fleck sein, aber ein derartiges Getümmel beschäftigt mich genug, damit ich nicht mehr weiter denken kann. Menschenmassen haben mich noch immer vom Denken abgehalten.
Meine Füße scheinen noch vor meinem Kopf zu wissen wohin mein Weg mich führen soll und bewegen sich noch vor dem bewussten Gedanken in die richtige Richtung. Immer nur dorthin gehen, wo der meiste Lärm seinen Ursprung hat. Es dauert gar nicht lang, bis es immer lauter und voller um mich herum wird, es fehlt nur noch eine Abbiegung, dann dürfte ich im Zentrum des Menschenauflaufs sein. Einmal tief einatmen und schon stürze ich mich hinein.
Durch den Strom aus Menschen mit Tüten schlänge ich mich hindurch. Es brummt mir in den Ohren, das hört sich so an als würde ich in einem Bienenstock stecken. Selbst wenn ich jetzt auf die Schnapsidee kommen würde wieder hier raus zu wollen, ich käme nicht weit. Die Menschenmasse zieht mich mich ohne Erbarmen mit sich.
Schon jetzt ist mir völlig klar, das Ablenkungsmanöver ist erfolgreich.
Ersteinmal orientieren, den Menschen ausweichen, die mir wie Geisterfahrer entgegen kommen und das Gefühl von Freiheit genießen, besser das Privileg jetzt mal nicht denken zu müssen. Aber das Hochgefühl weicht gerade der Enge. Es werden immer nur mehr Menschen, die sich eng aneinander drücken. Mir wird das zusehends zu viel, mein Atem wird schneller und ich merke, wie mein Puls sich beschleunigt. Ich muss jetzt doch hier raus, egal wohin, solange ich den Massen für einen Augenblick entrinnen kann.
Das nächst beste Geschäft ist meines.
Noch bevor ich lesen kann welchen Laden ich betrete stehe ich mitten in einem sehr großen Elektronikgeschäft. Hier sind eindeutig viel weniger Menschen, hier bekomme ich richtig Luft, hier kann ich für ein bisschen bleiben. Der kritische Blick des Sicherheitsmannes hier im Eingang entgeht mir natürlich nicht. Ich stehe ihm hier wohl zu lange im Eingang herum. Damit er mich nicht am Ende wieder heraus komplementiert gehe ich schnell ganz und gar in den Laden hinein.
Zuerst lande ich bei den Digitalkameras. Hier stehen lauter Leute herum, die sich sehr konzentriert über die Pixelzahl von so einem Gerät austauschen ob sie mehr oder weniger braucht und ob der Zoom groß genug ist. Davon habe ich wirklich gar keine Ahnung, deshalb auch uninteressant. Durch die dicht stehenden Reihen gehe ich weiter zu den Handys.
Groß, kleine, mit Touchscreen, mit normalen Tasten, zum Klappen, zum aufschieben, was das Herz begehrt. Ein Stück weiter vor mir, zankt sich ein Pärchen recht lautstark. Da muss ich einfach stehen bleiben und zuhören. Ich will nur zu gern wissen, wie es ist, wenn man sich um Kleinigkeiten kappelt.
„Ich will dieses blöde Ding nicht!“
Ruft die junge Frau, wasserstoffblonde Haare, Smoky Eyes, dezenter Rouge und zart rosafarbener Lipgloss.
„Das ist nicht blöd!“
Jetzt kommt wohl auch der Kerl in Fahrt. Er hat struffliges dunkelbraunes Haar, einen Dreitagesbart, Lederjacke, weißes T-Shirt, Bluejeans.
„Es sieht einfach nur hässlich aus!“
Sie hält es ein Stück hoch, sodass auch ich es begutachten kann. Also wirklich schön ist es wirklich nicht, da stimme ich mit ihr überein. Schwarz, irgendwie klobig und einfach zu groß für eine Frauenhand.
„Es geht hier doch aber nicht darum wie es aussieht! Sondern einzig drum was drin steckt!“
Ah ja, das mit den inneren Werten, glaubt er da jetzt selbst dran?
„Für mich geht es sehr wohl ums Aussehen, damit kann ich mich doch nicht sehen lassen!“
Na, das war jetzt aber ein schwaches Argument.
„Das Handy hier hat aber ganze acht GB-Speicher, eine sechs Megapixel Kamera und im Set damit wäre das Headset enthalten... Und dafür nur 199,99 Euro! Das ist ein Schnäppchen.“
Okay, jetzt hört sich der Kerl an als würde er einen Werbespot dafür drehen und dafür Werbung machen... Aber es hört sich nicht gerade an, als würde er nachgeben wollen.
Hat wohl auch die Frau verstanden und wechselt jetzt die Strategie. Sie schiebt ihre Hand... Okay, ich gucke jetzt lieber nicht hin, wo genau sie ihre Hand platziert... Auf jeden Fall sagt sie jetzt, mit der Hand an welcher Stelle auch immer:
„Ich will doch bitte ein anderes Handy kaufen... Schatz...“
Um noch eines drauf zulegen klimpert sie mit ihren schwarz geschminkten Wimpern verführerisch. Gegen diese Waffen kann er sich erst gar nicht wehren, also wenn er sich jetzt nicht erweichen lässt sich doch ein anderes Modell zu suchen, dann bleibt nur eins was er ist, schwul.
„Okay, Schatz, wir suchen dir eines, was dir viel besser gefällt...“
Er klingt jetzt butterweich und hat ein ganz schön abwesendes Lächeln auf seinen Lippen. Was der wohl gerade denkt? Wobei, will ich vermutlich lieber gar nicht wissen. Die Frau kichert noch einmal mädchenhaft und die Beiden ziehen die Reihe der Handys weiter hinunter.
Ich halte fest, wenn Frau nicht mehr mittels Diskussion kriegt, was sie unbedingt haben will, dann werden gnadenlos die Schwachstellen des heterosexuellen Mannes ausgenutzt und für den eigenen Willen benutzt. Egal wie, am Ende bekommt Frau was sie will, die Wahl der Mittel ist dabei mehr als unfair.
Ich glaube, die Kerle bekommen das nicht einmal bewusst mit.
In jedem Fall weiß ich jetzt, wie man von einem festen Freund bekommen kann, was man gerne will und dabei definitiv gewinnt.
Aber dieses Wissen wird mir nicht mehr viel nützen, mein Countdown ist schließlich schon in vollem Gange und nicht mehr aufzuhalten.
Energisch schüttle ich den Kopf um diesen bedrückenden Gedanken aus meinem Kopf wieder zu verbannen. Schnell wieder weiter gehen und nicht verweilen, mein Hirn braucht dringend eine ordentliche Beschäftigung.
Weiter geht es durch die Reihen der Waren, von den Handys zu den Mp3-playern.
Hier stehen, wieder ein Stück vor mir drei Jungs in meinem Alter herum. Sie bewundern gerade ausgiebig ganz neues Modell einer wohl sehr bekannten Marke, die mir irgendwie rein gar nichts sagt, weshalb ich ihre Euphorie nicht verstehen kann.
„Ey, denn kann ich mir im Leben nicht leisten...“
Das war der Kleinste aus der Gruppe aus den drei Kerlen, kurze Haare, Babyface, normale Jeans, normales T-Shirt, normale Jacke, nichtssagend irgendwie.
„Oh, das Problem teile ich echt nicht mit dir...“,
Der Einwurf kam vom Größten der Drei, er grinst sehr breit, wobei seine wasserblauen Augen ein bisschen gemein Schimmer. Markantes Gesicht, braune sehr kurze Haare, hellblaue Jeans, weißes T-Shirt, Sweatshirtjacke,. Er sieht nicht schlecht aus.
„Angeben musst du nun auch wieder nicht... Du kannst dir das Teil doch im Moment noch genauso wenig leisten...“
Auftritt der Nummer Drei der Gruppe. Mittelgroß, schwarzes mittellanges Haar, braune Augen, dunkler Teint, teure Kleidung. Eindeutig der ansehnlichste von den Dreien und sieht auch aus, als hätte er das meiste Geld.
„Und du kannst das, oder was?“
Nummer eins und Nummer zwei haben es jetzt gerade geschafft im Chor und sogar der genau gleichen Tonlage zu sprechen.
„Ja.“, meint Drei schlicht.
Er schnappt sich eine Schachtel des ausführlich bewunderten Gerätes, klemmt ihn sich unter den Arm und geht los. Die anderen Beiden trotten hinter ihm her. Die sehen nicht so besonders begeistert aus. Würde ich aber auch nicht, immerhin hat der eine sie gerade völlig Bloßgestellt. Hat ja aber zum Glück fast niemand mitbekommen.
Ich gehe in die genau entgegengesetzte Richtung der Jungs, weiter zu den Fernsehern.
Ich bin dabei ein Monstrum von einem Fernseher zu bewundern. Sollte man den wirklich in eine Wohnung stellen, ist eine kleine Wand fast ganz voll. Der Preis ist ähnlich beeindruckend wie das Gerät selbst.
Hier werden doch tatsächlich 9999 Euro dafür verlangt, sehr beeindruckende Summe.
Über das riesige Bild flimmert im Moment einer dieser niedlichen animations Filme mit den Viechern mit den großen Augen.
Von dem irgendwie unrealistisch riesigem Gerät wende ich mich den kleineren, dafür erstens bezahlbaren und dazu noch sehr viel praktischeren Modellen zu. In dem Moment fangen die Nachrichten an.
Eine dieser faltenfreien, völlig perfekt frisierten Moderatorinnen erscheint im Bild und beginnt mit ihrer Begrüßung:
„Guten Tag meine Damen und Herren und willkommen zu den Nachrichten um zwölf...“
Was? Es ist schon zwölf, Himmel, die Zeit vergeht viel zu schnell! Ich muss wieder weiter und irgendwas richtig spannendes machen.
„.. Ein Skandal bahnt sich an...“
Irgendwie hält mich diese Zeile dann doch noch auf, ich will ein bisschen wissen, welcher Prommi sich wieder daneben benommen hat.
„Der Topmanager Richard S. Wurde gestern Mittag im Krankenhaus St. Georg operiert, wie verlässliche Krankenhausquellen verlauten lassen...“
Bitte was? Mein Herz gerät in den falschen Rhythmus und stockt kurz. Warum zum Teufel... Richard S. das ist doch mein Vater... Warum ist er bitte im Krankenhaus und lässt sich operieren? Okay, ich muss weiter zuhören, zumal mir nicht so richtig klar ist, warum das jetzt ein Skandal sein soll...
„Es wurde uns berichtet, das ihm beide Nieren entnommen worden sind und eine Spenderniere transplantiert wurde...“
Meine Stirn lege ich wieder Falten. Warum wurden ihm die Nieren bitte entfernt, und woher...
„Diese Operation soll wohl bereits seit Wochen geplant gewesen sein... Nur wurde uns ebenfalls berichtet, dass Richard S. eine Tochter haben soll, die an der genau gleichen, mysteriösen Krankheit erkrankt ist... Doch soll die Spende, die von einem anonymen Spender gekommen ist zu keinem Zeitpunkt der Tochter zugedacht gewesen sein... Auch wenn sie wohl perfekt sowohl für Richard S. als auch für seine Tochter gepasst hätte... Ohne die Spende wäre er wohl verstorben, doch das lässt nur einen Schluss zu, wie uns auch von der Quelle berichtet wurde, seiner Tochter wird das gleiche Ende drohen... Nur hat die Familie wohl eine besonders seltene Blutgruppe, die nicht kompatibel zu anderen Blutgruppen ist, was eine weitere Spenderniere wohl unwahrscheinlich werden lässt...“
Länger höre ich einfach nicht zu. Sie spricht noch eine ganze Weile weiter, doch meine Ohren sind taub.
Mein eigener Vater lässt mich sterben... Nur damit er sein Leben weiterführen kann... Als sie sich von mir verabschiedet haben, da wussten sie das schon, er würde leben und ich sterben, weil er nicht bereit ist etwas für einen anderen zu opfern.
Was ist das für ein Vater, was ist das für ein Mensch? Er ist sich selbst mehr wert, sein eigenes Leben ist ihm wichtiger, als das seiner einzigen Tochter, seiner einzigen 17-jährigen Tochter. Ein widerlicher, ein selbstsüchtiger, ein ekelhafter Lügner.
Ich bleibe taub, kann mich nicht rühren, bin leer.
So kurz vor meinem Ableben muss ich erkennen, das mein Vater nicht mein Vater ist, sonder ein mir völlig fremder Mann, dem anders Leben nichts bedeutet. Ein Mistkerl.
Langsam gehe ich zum Eingang zurück. Hier kann und will ich nicht länger bleiben.
Aber der Gedanke lässt mich nicht los, egal wie sehr ich nur daran denken will, dass mein Leben nicht mehr lang genug dauert um jemanden zu hassen, denn man eigentlich lieben sollte. Es ist wie ein Karussell, dass sich nicht mehr aufhören will zu drehen.
Mein Vater will mich sterben lassen und meine Mutter schaut zu!
Gerade wäre die Option einfach auf der Stelle tot umzufallen ganz praktisch, dann müsste ich mir nicht so einen Kopf um diesen Mist machen. Aber es würde schon jemand reichen der mich einfach nur sehr fest im Arm hält. Nur bin ich allein und habe niemanden... Aber ich lebe, ich bin noch da und so lange das noch so ist, will ich genießen was mir bleibt. Meine Eltern sind nicht mehr meine Eltern, fein, aber mein Leben gehört immer noch mir.
Am Ausgang muss ich wieder an dem Wachmann vorbei, der jetzt aber ganz entspannt mit einem Angestellten plaudert. Na ja, der Aufmerksamste ist der aber nicht wirklich. Erneut muss ich mich in die Menschenmassen werfen, aber ich nehme den Kampf auf und winde auch recht schnell meinen Fluchtweg.
Es ist eine kleine Seitenstraße, immer noch sind hier einige Menschen, aber sehr viel weniger, als noch ein Stück hinter mir. Je weiter ich in diese Straße hineingehe, desto größer wird der Kontrast zu dem lärmenden Gewühl aus dem ich komme. Keine riesigen Häuser mit ebenso riesigen Geschäften reihen sich hier aneinander, sondern viel mehr kleine Häuser mit nicht mehr als drei Stockwerken und kleinen ganz privaten Läden. Es kommt mir fast wie eine Parallelwelt vor. Gut, es ist einfach nur eine kleine Einkaufstraße, ganz nah an der großen und doch scheint diese andere Rieseneinkaufstraße sehr weit entfernt zu sein. Hier ist alles gemütlich, einladend und einfach angenehm langsam.
Ich laufe an den Schaufenstern vorbei und bleibe ab und an stehen um die Auslage ein bisschen zu beschauen. Dabei fällt mir ein, ich habe nicht einen Cent in der Tasche. Das dürfte meine Suche nach einem Schlafplatz für heute Nacht ein bisschen schwieriger machen. Welches Hotel gibt einem Mädchen ohne Geld schon ein Zimmer und hofft dann das sie doch noch bezahlen kann, keines.
Na aber es wird sich schon eine Möglichkeit finden, hoffe ich einfach mal.
Immer weiter die Straße entlang, bis die Läden langsam aber sicher weniger werden und nur noch Wohnhäuser an beiden Seiten der Straße stehen, ebenso so niedrig wie die Häuser zuvor. Auch diese Straße gehe ich hinab, bis die Häuser einer kleinen Allee aus Pappeln weicht. Die Sonne die nun auf mich hinab scheint ist angenehm warm auf meinem Gesicht. Die Luft wird wieder klar.
„Hey du! Mädchen in der schwarzen Jacke...“
Verwundert bleibe ich stehen und sehe mich um, hat diese Frauenstimme mich gerade gerufen?
„Ja, du die jetzt etwas verplant in der Gegend herum stehst, dich habe ich gerade gemeint...“
Wieder sehe ich mich um und finde jetzt auch die Quelle der Stimme.
Sie sitzt vor einer Staffelei und scheint noch ziemlich jung zu sein, ich würde auf Mitte zwanzig tippen. Sie hat einen dunklen Teint, volle Lippen unter denen es im Sonnenlicht glitzert, ein Piercing, was ich sehe als ich etwas näher komme. Das Haar ist rabenschwarz und in viele kleine geflochtene Strähnen unterteilt die locker um ihr Gesicht fallen. Doch damit sie nicht in ihre Augen fallen hat sie sie mit einem weinrotem Haarband gebändigt. Eine weit geschnittene Jeans, schwarzes T-Shirt und eine smaragdgrüne Jacke runden das Bild einer Künstlerin, jedenfalls in meinen Augen, ab.
Auch wenn ich ein Mädchen bin, ich finde sie ziemlich hübsch, nicht das was man allgemein vielleicht als hübsch bezeichnet, aber eben besonders. Nur interessiert mich das was sie auf der Staffelei stehen hat auch ein wenig. Nur ist ihre Leinwand leer. Eine Straßenmalerin ohne Beweise ihres Könnens? Eindeutig die ungewöhnlichste Vertreterin dieses Berufsstands die ich bis jetzt je gesehen habe. Ur habe ich eh kein Geld und wem sollte ein vermutlich mehr oder wenig mir ähnlichem Portrait schon nutze sein? Mir selbst ja genauso wenig.
„Tut mir leid... Ich habe so gar...“
Prinzipiell hätte ich den Satz gern zu Ende gebracht, doch die junge Frau lässt mich nicht.
„Kein Geld? Keine Zeit? Komm schon, du sollst mir Modell sitzen und dafür werde ich dir ganz sicher kein Geld abknöpfen... Zeit kann man immer haben, besonders wenn man der Kunst eine Muse sein kann... Und Geld... Ich könnte dir sogar welches geben... Keine Millionen, aber ein bisschen...“
Okay, jetzt bin ich doch schon einigermaßen Perplex.
„Ich, ähm...“
„40 Euro...“
Gut, das ist schon etwas, dafür könnte ich vermutlich eine Nacht lang ein Hostel bezahlen oder wenigstens etwas zu essen, definitiv ein Argument doch etwas Zeit hier zu 'verschwenden', allein schon weil sie wirklich nach Künstlerin und nicht nach Geldabschneiderin aussieht.
„Gut, wo soll ich mich hinsetzen?“
Ein leichtes verschmitztes Grinsen sehe ich über ihr Gesicht huschen.
„Auf die Mauer da...“, mit zielsicherem Griff lässt sie ihre Hand in einem Korb verschwinden und zieht ein Kissen heraus. „Setzt dich da am besten drauf, ist gemütlicher.“
Mein Blick findet die kleine Mauer aus rotem Backstein, sie führt einmal die ganze Allee entlang und begrenzt einen kleinen Park. Das Kissen hat einen tiefen violett Ton ist ganz weich und dick, gut, damit ich nicht an der Mauer festfriere. Also setze ich mich und sehe wieder in ihre schönen dunklen Augen.
„Als erstes, wie heißt du eigentlich?“
Ihre Stimme ist ziemlich angenehm, ganz weich, hell und unbeschwert.
„Mimi und du?“
„Claire... Gut, dann haben wir die einzigen Formalitäten schon geklärt... Ich fange jetzt an, aber bitte bleib so wie du gerade bist... Musst bitte relativ still da sitzen, sonst wird das nichts.“
„Okay...“
Im ganz still einfach nur da sitzen bin ich unheimlich schlecht, nach einer Weile kann ich einfach nicht mehr unbewegt dasitzen, war schon in der Schule mein Problem. Doch ich werde mein bestes geben und versuchen nicht zu zappeln, nur juckt es mich schon jetzt in den Füßen damit zu wackeln. Also muss ich meinen Kopf wirklich beschäftigen. So wandern meine Augen auf die Hände von Claire, die schon jetzt mit viel Schwung über die Leinwand sausen.
Nach einigen stillen Momenten fängt sie dann aber Gott sei Dank doch an zu reden, ich hatte schon gefürchtet, dass ich hier jetzt die ganze Zeit in Stille herum sitzen müsste.
„Ich sitze hier schon seit mindestens vier Stunden herum, beobachte die Leute die vorbeigehen und im Ernst, mir ist in der ganzen Zeit absolut niemand begegnet, den ich auch nur im Ansatz hätte zeichnen wollen um daraus dann ein echtes Bild zu machen...“
Die Bewegungen ihrer Hand werden etwas zackiger.
„Aber du, du siehst spannend aus... Eine ganz interessante Aura, du nimmst nichts einfach so hin und hast unheimlich wache Augen... Du schaust dir unsere Welt hier wirklich an... Außerdem bist du auch einfach hübscher als die die hier vorbei gekommen sind...“
„Danke...“
Jetzt wird mir zum gefühlt hundertsten Mal verflucht heiß.
„Dein Blick, dein Gang, da macht dich einfach irgendwas an dir unheimlich anders, aber nur im Positiven. Genau das will ich zeichnen, das will ich auf die Leinwand bannen, was ich hier vor mir sehe, in dir...“
„Aber du zeichnest schon mich, nicht wahr?“
Das war halb ernst und halb im Scherz gemeint. Was mich schon selbst etwas erstaunt, immerhin mache ich sonst eigentlich nie Witze, nie... Aber ich muss wohl erkennen, das nie, nicht immer heißt niemals damit anzufangen. Claire fängt an zu kichern.
„Du solltest einen Maler nicht bei der Arbeit zum lachen bringen...“
Wieder kehrt sie zurück zur Ernsthaftigkeit.
„Och, komm schon, wenn das Modell fröhlich ist, wird das Bild gleich viel besser...“
Ihr ganz offen getragenes Grinsen ist beeindruckend. Es zieht sich fast über die gesamte breite ihres Gesichtes.
„Stimmt, gute Laune macht dich schöner...“
„Okay, ich sollte wirklich öfter in den Spiegel schauen.“
Doch anstatt etwas zu erwidern sieht sie mir nur in die Augen und sehr direkt, hinein. Als würde sie darin mehr als nur das Offensichtliche sehen können, sondern viel mehr, bis ganz tief hinab in meine Seele. Ein bisschen gruselig ist es schon so sehr das Gefühl zu haben, geröntgt zu werden. Aber erstaunlicherweise nicht unangenehm.
Ihre Hand wird noch einmal etwas langsamer, die Bewegungen gezielter, genauer.
Eine Weile guckt sie in mein Gesicht, eine Weile auf die Leinwand, dann lässt sie den Bleistift tanzen und wieder kehren ihre Augen zurück in mein Gesicht, Leinwand, Tanz... So zieht sich das eine ganze Weile hin, immer der gleiche Ablauf, Gesicht, Leinwand, Tanz... Immer und immer wieder, genau weiß ich nicht wie lange sie das so macht, aber vermutlich über eine Stunde. Doch endlich legt sie ihr Zeichenwerkzeug weg und schaut das Bild eine Weile an, um noch einem kritisch mein Gesicht zu mustern und wieder auf das Bild zuschauen.
„Okay... Das Grundgerüst steht...“
„Kann ich es sehen?“
„Nein.“
„Wieso denn nicht?“
„Es ist eben noch lange nicht fertig.“
Himmel wie eigenwillig, na ja, der Beweis, sie ist eine echte Künstlerin.
„Du kannst es sehen, wenn ich es vollendet habe.“
„Und wann ist es dann fertig?“
„Ganz einfach, wenn ich es sage das es fertig ist.“
Ich muss anfangen zu lachen. Ich kenne sie erst eine oder zwei Stunden und wir können uns schon zanken als würden wir uns bereits Jahre kennen. Eine Begegnung wie die jetzt hat man auch nicht alle Tage, das wird mir fehlen...
Auch Claire fängt jetzt an zu lachen.
„Also sonst verspreche ich ja nichts, aber ich sage dir, du wirst es zu sehen bekommen, sobald es wirklich zeigenswert ist... Aber erst einmal bekommst du dein Geld von mir, hast du dir ja auch reichlich verdient...“
Etwas klingt, hört sich an wie ein uraltes Telefon. Mit etwas hektischen Bewegungen kramt sie in ihrer Hosentasche und fördert schließlich ein Handy zu Tage. Nicht besonders groß, kein Touchscreen, einfach nur silbern mit Tasten, doch trotzdem dürfte es nicht ganz so alt sein.
Es klingelt erneut.
„Entschuldige, ich geh da lieber mal ran, sonst zerklingt er uns noch den Kopf...“
„Kein Problem...“
„Ja, hallo?... Oh hi...“
Sie lächelt über das ganze Gesicht, plus die Augen, also wirklich echte Freude, von wem auch immer auf der anderen Seite zu hören.
„Ich habe endlich ein echtes Modell gefunden...“
Jetzt ernte ich ein erstaunlich breites Lächeln.
„Okay, langsam, noch einmal... Was ist... Ja, okay... Ich... Nein mache ich doch gar nicht... Ja, so ist es...“, kurz ein Blick zu mir, wobei sie auch wieder leicht lächelt, nur sieht es irgendwie abwesend aus. „... Ich, ja auch... Ich sag schon nichts... Okay, ja mach ich... Ja, schon gut, vergesse ich schon nicht... Okay, bis denn...“
Schon hat sie wieder aufgelegt.
Telefongespräche machen dummerweise immer nur dann Sinn, wenn man beide Seiten hören kann, sonst ist es meistens nur eine wirre Wahl an Worten, im Klartext habe ich also nur Bahnhof verstanden. Aber mich lässt das Gefühl nicht los, dass es irgendwie nur um mich ging, langsam werde ich glaube ich paranoid, damit sollte ich dringend aufhören.
Trotzdem würde es mich wirklich brennend interessieren wer das jetzt war. Ihr Freund wird es wohl nicht gewesen war, dafür klang sie eindeutig nicht liebevoll genug und es klang ja auch, als hätte sie denjenigen schon ein Weilchen nicht mehr gesprochen...
„Ich habe dir einen Vorschlag zu machen...“
Und ich hab meinen gedanklichen Faden verloren.
„Ich zeige dir meine Galerie, dann kannst du dich davon überzeugen, dass ich nicht nur Mist zusammen kritzle...“
„Ja, klar, ich komme mit...“
Das war gerade fast wie ein Reflex, habe gar nicht darüber nachgedacht, ob ich wirklich mit will. Wenn ich noch mehr Zeit hätte, würde ich eindeutig anfangen an diesem doch etwas fragwürdigen Reflex zu arbeiten. So was könnte einem schnell Schwierigkeiten bringen, aber was habe ich schon zu verlieren und ich mag Claire, also ist im Grunde nichts einzuwenden gegen einen Ausflug zu ihrer Galerie, dann habe ich auch endlich wieder ein Ziel und laufe nicht einfach so durch die Stadt.
„Hilfst du mir den ganzen Kram einzuräumen? Dann können wir schneller los.“
Mit ihren langen schlanken und irgendwie elfenhaft wirkenden Händen macht sie ein Geste als würde sie all ihre Sachen, Malzeug, Hocker, Staffelei und Korb in einen Kreis einschließen.
Dieses Mal denke ich über meine Antwort kurz nach, nur hätte ich das jetzt wirklich nicht gemusst, immerhin würde ich doch eh mit ihr mitgehen, da war es nun wirklich kein Problem, wenn ich ihr helfe. Auch an mein Timing müsste ich bei mehr Leben arbeiten.
„Ja, sicher doch, mach ich.“
Ein wenig packt mich die Ehrfurcht vor der Staffelei, ich weiß auch nicht so wirklich warum. Claire gibt mir aber auch gar nicht erst die Möglichkeit mein Bild vielleicht doch früher zu sehen, denn die Leinwand hat sie sich schon längst geschnappt und in ein großes Tuch eingewickelt. Sie ist schnell das muss ich ihr lassen.
Ich nicht sonderlich, weshalb sie schon fast alles zusammengepackt habe, ehe ich gerade die Staffelei in die Hände nehme. Vorsichtig schaue ich diese an und sehe, das man sie klappen kann, was ich dann auch tue und endlich der Künstlerin überreiche. Claire lädt alles auf einen kleinen Holzwagen.
Mit den Augen suchte sie noch einmal alles ab, ob wirklich alles verstaut war.
„Wir müssten alles haben, dann los.“
Mit festem Schritt ging sie los und zog hinter sich den Wagen her. Mir bleibt nichts anderes übrig als neben hier her zu gehen. Ich kann es nicht leiden nicht genau zu wissen, wo es hingehen soll. Außerdem fühle ich mich gerade verflucht klein. Claire ist mindestens einen Kopf größer als ich und hat gefühlt mindestens einen halben Meter mehr Beinlänge, denn mit ihrem Schritten kann ich schlicht nicht wirklich entspannt Schritthalten. Ich falle unangenehm schnell zurück und muss jetzt neben dem Wagen laufen und auch der rollt erstaunlich fix vor sich hin. Nur zu geben, dass ich zu klein bin um mit der großen Frau mithalten zu können, werde ich garantiert nicht.
Ganz ehrlich, wer will das schon?
Kurz schaut sie zu mir zurück und verzieht die Lippen. Ich kann mich ja täuschen, aber muss sie da gerade ein Lachen unterdrücken? Ich weiß es nicht, aber vermutlich schon. Doch egal ob gelacht oder nicht, sie wird langsamer und endlich schaffe ich es neben und nicht hinter ihr zu laufen, ohne anfangen zu müssen zu joggen. Viel besser so, ich gebe es zu.
„Wie alt bist du eigentlich?“
Ich sehe zu ihr hoch, in die schönen, aber sehr durchdringenden Augen.
„17 Jahre und wie alt bist du?“
„Fragt man denn erwachsene Frauen nach ihrem Alter?“
„Du fragst mich und ich frage dich zurück, das ist nur fair.“
Oh ja, das klang jetzt sehr erwachsen.
„Okay, du kannst Recht haben...“, sie kichert leise, „... Ich bin 24 und stolz drauf...“
Wieder ein erstaunlich breites Grinsen von ihr.
Ich sage nichts weiter dazu. Auch wenn sie einige Jahre älter ist als er, ich muss doch wieder an Gestern denken, an Eden... Doch nein, ich denke nicht an einen Jungen den ich nicht wieder zu Gesicht bekomme und den ich ja auch nicht wirklich kenne. Energisch Schüttle ich den Kopf, damit mir die verflucht blauen Augen aus dem Kopf gehen.
„Hast du was gegen mein Alter?“
Ein bisschen habe ich gerade das Gefühl aufzutauchen.
„On, nein, ich war nur gerade völlig in Gedanken...“
„Das solltest du lieber lassen, wenn du Draußen herumläufst... Am Ende rennst du noch gegen eine Straßenlaterne oder einen Poller oder gegen irgendeinen Fußgänger, gibt es ja einige hier...“
Ich lache, sie mit mir, mein Herz wird wieder leichter und mein Kopf scheint wieder alle allzu traurigen Gedanken weg zu schleißen.
„Ja, den Rat werde ich mir zu Herzen nehmen...“
Wir gehen weiter, still nebeneinander, aber es ist kein bedrückendes Schweigen, eher in dem Bewusstsein, dass gerade nichts gesagt werden musste.
Die Allee endete und wir biegen in eine Gasse ab, die wieder auf eine sehr belebte Straße führt, anscheinend müssen wir auch ein Mal quer hindurch. Wieder muss ich mich in eine Menschenmasse begeben. Drauf bedacht niemanden umzurennen oder auf die Füße zu treten, dabei aber Claire nicht aus den Augen zu verlieren, schlängle ich mich durch den Strom aus Menschen. Nach einer Weile des menschlichen Slaloms werde ich von Claire an meiner linken Hand ergriffen und in eine kleinere Seitenstraße gezogen. Ein Glück, denn langsam machte sich wieder diese bedrückende Platzangst in mir breit.
„Wir sind gleich da... Ich hoffe mal du wirst keine Einwände dagegen haben, wenn ich etwas zu Essen koche... Ich für meinen Teil habe nämlich einen mörderischen Hunger...“
„Keine Einwände, mein Magen macht auch schon ganz schön Krach...“
Was mir irgendwie gerade erst richtig aufgefallen ist. Es ist nämlich bereits Nachmittag und ich habe noch rein gar nichts gegessen. Wir stehen jetzt vor einem großen betongrauen und irgendwie schon etwas grusligen Gebäude. Sieht etwas aus wie eine Fabrikhalle, nicht unbedingt das typische Haus einer doch ziemlich bunten Künstlerin... Verströmt auch irgendwie nicht besonders viel Wärme oder gar Gemütlichkeit. Das einzig wirklich farbige an diesem Haus ist die große Tür aus Eisen. Sie wurde in einem hellroten und sehr knalligem Farbton lackiert.
Sie schließt die Tür auf, lässt sie nach Hinten schwingen, wobei das Eisenungetüm ganz ohrenbetäubend quietscht. Mir wird von ihr der Vortritt gegeben. Also trete ich ein.
Es ist groß, sehr groß, offen und überall in dem riesen großen Raum stehen dunkelgraue Sälen, ganz hinten führt eine freischwebende Glastreppe in das obere Stockwerk. Doch das beeindruckendste an diesem Raum ist, das überall Bilder frei hängen. Meinen Kopf lege ich in den Nacken um zu sehen wie das geht. An der Decke hängt eine Konstruktion aus Metall Stangen, an denen Ösen für die Nylonfäden angebracht sind, an denen die Bilder hängen. In den verschiedensten Größen hingen Leinwände im mindestens 500 Quadratmeter großen Raum, sehr kleine, wirklich große und irgendetwas dazwischen. Einer der beeindruckendsten Anblicke die ich je gesehen habe. Einen besseren Ausdruck an künstlerischem Schaffen ist mir vorher nicht untergekommen. Gut ich bin auch noch nicht so besonders alt, was aber nichts daran ändert, dass es mir einfach unglaublich bedeutend vorkommt.
„Wow... Das ist einfach nur toll.“
Etwas besseres fällt mir nicht ein, was ich dazu sagen könnte.
Breit lächelt sie mir wieder zu und ich lerne dieses Lächeln langsam genauso gern zu mögen wie das Schneesturmlachen.
„Wie wäre es, wenn du dich hier ein Weilchen umsiehst und ich verschwinde nach Oben und mache uns was zu essen.“
Ich nicke, sie gluckst und geht ein Mal quer durch den Raum, die Treppe hoch und verschwindet im oberen Stockwerk.
Sobald ich sicher bin, dass sie ganz weg ist, muss ich etwas einfach nur kindisches machen.
„Hallo?... Lo... Lo...“
Ha, ich wusste doch, hier gibt es ein kleines Echo. So, kindliche Neugierde befriedigt, jetzt wende ich mich ihren Bildern zu. Am einfachsten wird es sein, wenn ich im Uhrzeigersinn einmal die äußere Runde mache und mich dann dem inneren Kreis zuwende.
Das erste Bild bannt mich gleich mal eine Weile. Es ist irgendeine der griechischen Göttinnen, eine Statue aus Marmor, welche auf einem Sockel, ebenfalls Marmor, steht in den Himmel blickt, hinter ihr strahlend blauer Himmel, unter ihr tief grünes Gras. Ich mir ziemlich sicher, das die Haltung dieser Göttin aus der Fantasie von Claire stammt, aber wenn man vor diesem mannshohen Bild steht komme ich mir vor, als stehe ich genau in diesem Moment vor der Statue in einem Park. Gott, diese Frau kann malen!
Gut, langsam reiße ich mich von diesem Anblick los und gehe weiter. Die Bilder die folgen sind allesamt Landschaften. Toskana, das Meer mit Palmen, eine weite grüne Ebene und noch viel mehr. Die verschiedensten Jahreszeiten und Lichtverhältnisse. Alle Bilder sind wirklich wunderschön und hinterlassen Eindruck. Erst danach kommen erste Portraits, meist recht kleine Leinwände, die die Personen abbilden als wären sie echt. Doch auch das man sieht es ist kein Foto, sondern ein waschechtes Gemälde. Menschen mit tiefen Falten, mit einfach leuchtenden Augen, ohne und mit Lächeln auf den Lippen oder in den Augen. Kleine Kinder, die so lächeln wie es nur Kinder könne, ein Lächeln das Eisberge schmelzen lässt. Menschen die eigentlich alt sind und doch nicht so aussehen, junge Menschen, denen man ansieht das sie schon viel zu viel in ihren wenigen Lebensjahren erlebt und gesehen haben. Jede nur erdenklich Haut-, Augen- und Haarfarbe. Welche mit beeindruckend großer und süßer kleiner Nase, Narben im Gesicht, schlechter und guter Haut, Punker und Bürohengste.
Eine Sammlung der unterschiedlichsten Menschen, in der keiner wie der andere ist, selbst wenn sie einiges verbinden könnte. In jedem Fall haben sie alle irgendetwas ganz spezielles, was einem so selten auffällt, wenn man an ihnen vorbei geht. Doch Claire scheint einen sehr guten Blick für das besondere zu haben.
Was noch folgt ist moderne Kunst. Leider kann ich der nicht so viel abgewinnen wie all ihren Bildern zuvor. Es sind eben einfach nur Muster, Formen und Farben. Sicherlich gut gemacht, aber einfach so wenig ausdrucksstark für mich.
Die große Runde schließt mit einer riesengroßen Leinwand, auf die einfach leuchtend blaue Farbe aufgetragen wurde und in die Mitte ist mit silberner Farbe ein, im Vergleich zur Größe der Leinwand, ein Stern gezeichnet.
Also gut, jetzt kommt...
Aber dazu komme ich nicht mehr, denn von der Treppe ertönt die weiche, helle und wunderbar unbeschwerte Stimme Claires.
„Kommst du hoch? Essen ist fertig.“
Auch gut, dann eben Essen, ist meinem Magen auch im Augenblick viel lieber. Aber mir ist gar nicht aufgefallen, wie schnell die Zeit vergangen ist oder das überhaupt Zeit vergangen ist, ich war zu sehr mit dem ergründen dieser Bilder beschäftigt.
Am oberen Absatz der Treppe die ich nun erklimme, sehe ich hinab. Von hier oben sieht ihre Bildersammlung noch etwas beeindruckender aus, fast schon wie ein kleines Labyrinth, das ist bestimmt auch volle Absicht.
Die Wohnung in die ich eintrete ist immer noch ziemlich groß, aber sehr viel gemütlicher als der Raum unten. Die großzügige Küche geht fließend in das Wohnzimmer über. Die Couch darin ist knallrot, ein sehr ähnlicher Farbton wie der der Eingangstür. Die gemütlich dicken Polster sind breit genug um auch als Schlafplatz dienen zu können. Ein kleiner Tisch steht davor, ein Zeichenblock, ein Kohlestift, ein Bleistift und Wasserfarben liegen darauf.
Ich muss einfach grinsen, das Klischee einer Vollblutkünstlerin, voll und ganz erfüllt.
Zwei Türen führen vom großen Raum ab, vermutlich zum Bad und zum Schlafzimmer.
Auf einem großen alten Kirschholztisch, der mindestens zwölf Essern Platz bieten würde, stehen zwei Teller mit sehr köstlich duftendem Essen. An beiden Seiten des Tisches stehen jeweils lange Holzbänke auf denen knuffige dicke Kissen liegen, im genau gleichen Farbton wie der, der Couch liegen.
Ich setze mich einmal mal vor einen der Teller und rieche sogleich Basilikum, Tomate und sehe dann auch Hackfleisch. Spagetti Bolognese, mein eindeutig liebstes Essen. Claire stößt auch wieder zu mir, doch jetzt mit anderen Sachen. Eine graue Jogginghose, schwarzem Tanktop und die Haare nach oben gebunden.
„Ich kann jetzt nur hoffen, dass du Spagetti Bolognese magst, ist nämlich das Einzige Essen das ich kochen kann ohne zum Telefon zu greifen mit einer Karte eines freundlichen Lieferservice in der Hand...“
„Ich liebe es!“
„Na dann habe ich Vogel ja auch mal einen Wurm erwischt.“, sagt sie mit einem ihrer Lächeln über das ganze Gesicht, plus die Augen.
Ich versuche auch möglichst elegant auszusehen, während ich mir die Nudeln in den Mund stopfe und mir dabei auch nicht die Soße über das gesamte Gesicht zu spritzen. Claire isst um einiges langsamer, sieht dabei dann auch ehrlich elegant aus.
Trotz meiner Bemühungen spritze ich ständig Soße auf den Tisch, na immerhin nicht mir ins Gesicht. Ein bisschen komme ich mir vor wie ein Kind das noch nicht den Bogen heraus hat wie es mit seinem Besteck umgehen soll und eigentlich ein Lätzchen braucht. Schnell habe ich meinen Portion verputzt und den Teller gänzlich leer zurückgelassen. Mein Bauch ist indes wegen Überfüllung geschlossen. Ich bin jetzt sehr satt und ein bisschen träge und erinnere mich erst im aller letzten Moment, dass aktuell zurücklehnen keine besonders gute Idee ist.
„Willst du mir jetzt vielleicht verraten, warum ein so junges Mädchen wie du, hier allein auf der Straße herumläuft, aussieht als wüsste es nicht wirklich wohin sie gehen sollte und ganz eindeutig kein Straßenkind ist...“
Das kommt jetzt unerwartet.
„Ich... eigentlich lieber nicht.“
Was sollte ich ihr auch bitte erklären? Du, ich bin aus dem Krankenhaus abgehauen und ach ja, in zwei Tage segne ich das Zeitliche. Eher nicht.
„Bist du weggelaufen?“
Sehr direkt schaut sie mir in die Augen und scheint ergründen zu wollen, was ich gerne nicht preisgeben will.
„Irgendwie schon...“
Ist ja im Grunde auch die volle Wahrheit. Ich muss ja wirklich nicht verraten von wo ich weggelaufen bin.
„Dann musst du, egal was es ist, dringend klären. Ich weiß wovon ich rede. Alles andere kann und wird dich sicher nicht glücklich machen.“
„Ich will einfach noch ein bisschen meine Ruhe haben, nicht mehr... Noch zwei Tage und ich schwöre dir, ich gehe zurück... Meine Eltern denken eh, ich würde einen Kurzurlaub machen... Sonst gäbe es doch längst eine Suchmeldung... Denkst du nicht?“
Gut, ich bin jetzt ein wenig ins Freierfundene abgedriftet, aber so ganz unwahr ist es dennoch nicht. Mich hat es eh schon gewundert, das es keine Meldung gibt, das ich verschwunden bin, aber ich tippe einfach einmal das nach dem einen Skandal sie keinen zweiten wollen...
„Ich glaube dir das jetzt mal...“
„Kannst du, ehrlich.“
Claire sieht mich erneut ziemlich kritisch an und räumt dann doch die Teller ab.
Ich stehe mal von der Bank auf und lasse mich nach kurzem Weg in die Kissen der Couch fallen, wirklich sehr gemütlich. Die junge Frau kommt zu mir hinüber und setzt sich ans entgegengesetzte Ende der Couch.
„Wie lange bist du denn schon weg von Zuhause?“
„Erst seit gestern.“
Was genaugenommen so nicht ganz stimmt.
„Warum?“
Man, sie ist hartnäckig.
„Ich brauchte einfach Luft...“
„Wovon?“
„Von allem und allen eben...“
„Du weichst mir aus.“
Natürlich tue ich das. Ich will kein Mitleid, nur weil ich jung bin und sterben werde, ich will keine Blicke, als wäre ich Tod, sowie ich sie von meinen Eltern bekommen habe, sowie die Ärzte sie mir gaben.
„Manche Dinge sind eben nur für einen selbst und für niemanden sonst...“, kommt es mir wie von selbst von den Lippen geflutscht.
Mein Gegenüber sieht jetzt irgendwie etwas beleidigt aus. Ihre Nase ganz leicht kraus gezogen, die Mundwinkel minimal nach unten gezogen und in ihren Augen blitzt der Trotz es im Grunde trotzdem wissen zu wollen, egal was ich sagen mochte.
Weil ich auf dem Thema lieber nicht weiter verharren will, sehe ich mich im Raum noch einmal um, um vielleicht etwas Neues zu entdecken über das man sprechen kann und wirklich ich finde etwas nicht unspannendes.
„Hast du einen Hund?“
In der Ecke ganz hinten, nach dem die Küchenzeile geendet ist, stehen zwei Näpfe.
„Lady Hemingway ist heute nicht da...“, meint sie ganz trocken.
Doch dieses Trockenheit kann ich nicht teilen. Ein glucksen schleicht sich über meine Lippen, doch geradeso kann ich mir ein lautes Lachen noch verkneifen. Ich versuche tapfer weiter neutral zu gucken, doch meine Mundwinkel zucken immer wieder nach oben.
„Wer ist den Lady Hemingway?“
„Mein Mops.“
Ich pruste los, alle Dämme brechen.
„Das ist kein Stück lustig...“, sagt sie, ohne das es ihr dabei gelingt ernst dreinzuschauen oder es gar ernst zu meinen.
Ich lache noch ein bisschen weiter, bis mir die Tränen kommen und ich die Ränder mit den Fingern abtupfen muss um nicht wirklich Tränen zu vergießen.
„Sie ist bei einem Kumpel... Ich habe sie verliehen, er will unbedingt Tierliebe bei einem Mädchen heucheln um Eindruck zu machen... Ich bin mir allerdings fast sicher, dass sie ihn einfach beißen wird...“
„Gibt es denn auch noch einen Sir Hemingway?“
„Nein...“, sagt sie mit vor der Brust verschränkten Armen bestimmt, sieht gleich danach aber etwas geknickt aus. „Aber einen Sir Charles... Ist ihr Sohn, noch ganz jung.“
Ich muss wieder loslachen.
„Ich finde die Namen gut.“, sie klingt jetzt etwas beleidigt.
„Na, du hast sie ihnen ja verpasst, wenn du sie nicht magst,w er sollte sie sonst mögen, nicht wahr... Stell dir vor unsere Eltern würden unsere Namen nicht mögen, wäre ja auch irgendwie seltsam.“
„Hmpf...“
„Ich würde liebend gern Lady Hemingway und Sir Charles kennenlernen...“
Ich lächle ihr zu, ich mag Hunde ja auch sehr gern, aber diese Namen sind einfach zu gut um nicht darüber zu lachen.
„Na mal sehen.“ sagt sie wieder mit dieser kraus gezogenen Nase, die Mundwinkel ganz leicht nach unten gezogen, aber in ihren Augen nicht mehr wirklich Trotz, viel mehr ein bisschen Belustigung. Sie selbst muss die Namen wohl auch ein wenig lustig finden.
„Du? Kann ich mir die Bilder unten noch einmal weiter ansehen?“
„Ja, aber sicher doch, ich komm auch mit runter.“
Wie beide stehen auf, gehen runter und ich gehe in Richtung des inneren Kreises der Bildersammlung, sehe aber Claire dann einfach nicht mehr. Na ja, ich sehe mir die Bilder eh lieber ohne sie an, immerhin kann ich so ausgiebig das angucken was ich mag, ohne das mir die Künstlerin über die Schulter guckt.
Weitere Langschaften kann ich betrachten, doch nun nicht mehr die üblichen, sondern Straßenkreuzungen, Hochhaus Ansammlungen, Fußgängerzonen. Es sind auch ganze Menschengruppen gemalt, Momente einfach festgehalten, ohne genau zu zeigen, wer die einzelnen Personen sind.. Auch ein einziges Stillleben ist ausgestellt, eine Schale voll Obst. Das sieht ein bisschen lieblos aus, vermutlich hat ihr das so gar keinen Spaß gemacht zu malen...
Der Mitte der Ausstellung nähere ich mich nun und komme dann endlich ganz in ihr an. Vor mir liegt ein kleines Rondell in dessen Mitte eine Bild hängt, mit einem Portrait. Ein Kerl, den ich gestern traf und heute früh schlafend zurück ließ.
Eden.
Er lächelt sein Schneesturmlachen, seine unheimlich blauen Augen scheinen schelmisch zu blitzen, als wäre es der ganz reale Mann.
Ich laufe vor ihm weg und er ist trotzdem wieder da. Auch wenn es nur ein Bild ist und nicht wirklich er. In meinem Magen zieht es wieder ganz gewaltig. Ich vermisse ihn, das ist so irrational, unnötig und überhaupt ich sollte es nicht. Er ist doch noch immer ein Fremder.
Jemand tritt hinter mich.
„Claire...“, denn ich gehe davon aus, dass sie es ist, „... Wann hast du das gemalt?“
Ich drehe mich nicht um, seine Augen, auch wenn nur in Ölfarbe, schaffen es wieder mich zu bannen.
Es kommt keine Antwort.
Plötzlich schließen sich zwei Arme um meine Schultern, drücken mich mit dem Rücken an eine männliche Brust und mir steigt ein Geruch in die Nase, den ich so unheimlich gern mag und lecker finde, von dem ich aber immer noch nicht sagen kann wonach es riecht.
„Hab dich...“
Himmel, weiß er überhaupt wie sehr er mich gerade hat?“
„Wie hast du...“
„Claire... Ich hatte sie heute Nachmittag angerufen... Sie gefragt ob sie ein Mädchen gesehen hat, nach deiner Beschreibung...“
„... Da war ich sogar dabei...“
Er hat mich gesucht, wirklich gesucht. Bestimmt schon nach dem er aufgestanden ist und gesehen hat, dass ich weg bin...
„Warum bist du weggelaufen?“
Seine Stimme ist immer noch die selbe, doch in ihr liegt Verwirrung ein ein wenig auch Verletzlichkeit. Als hätte er Angst, ich sei seinetwegen gegagen. Das trifft mich, ich wollte doch genau das Gegenteil.
„Ich... Ich kann...“
Doch meine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern, ich kann nicht mehr sprechen, ich kann das einfach nicht erklären, wie sollte ich es können? Ich kann ihm nicht sagen, dass er ein Mädchen in den Armen hält, dass dem Tod näher als dem Leben ist.
Noch etwas fester drückt er mich an seine Brust.
„Noch einmal lasse ich dich nicht so einfach wegrennen.“
Das ist keine Drohung, auch wenn ich es sicherlich dafür halten könnte. Nein, eher ein Versprechen, dass er wohl kaum so einfach brechen wird.
„Und wenn es einfach zu deinem Besten ist?“
Diese Frage muss ich stellen, sie ist was ich unbedingt wissen muss.
„Dann bin ich eben nicht an meinem Besten interessiert.“
Das nimmt mir allen Wind aus den Segeln um ihm zu Widersprechen.
„Ich bleibe, da kannst du laufen so weit du willst.“
„Wir kennen uns nicht.“
„Und das heißt was?“
„Vielleicht bin ich verrückt.“
„Ich vielleicht genauso.“
Er macht es mir wirklich nicht leicht, sich von ihm zuverabschieden.
„Ich kann einfach nicht!“
„Du kannst!“
„Ich will nicht!“
„Du willst.“
Was ich jetzt im Moment vor allem will, ist nicht anzufangen zu weinen. Meine Augen sind nämlich vor Überflutung, Überschwemmung und Überlastung geschlossen. Wenn ich nicht aufpasse brechen die Dämme.
„Komm mit zu mir... Claire kannst du morgen immer noch besuchen.“
Ein Nicken ist alles was ich im Moment tun kann. Würde ich sprechen, könnte man die Tränen in meiner Stimme schon fast hören. Er soll es nicht sehen uns nicht hören.
Wir stehen noch ein bisschen einfach so da, er hinter mir, seine Arme unvermindert fest um meine Schultern geschlungen, ganz nah. Endlich kann ich meine Tränen besiegen, jedenfalls für den Augenblick.
Er löst sich von mir, doch ich hake mich gleich unter, sonst würde ich wirklich aufhören daran zu glauben, das er echt real sein kann. Claire winkt uns vom oberen Absatz der Treppe aus zu, ihr wunderbares breites Lächeln, plus die Augen, auf dem Gesicht. Sie hat mich schon ziemlich hinters Licht geführt.
Draußen ist es ganz furchtbar kalt, ganz furchtbar dunkel, aber ich habe meinen Wärmepol, der mich alle Kälte vergessen lässt.
Wir sagen kein Wort zueinander, einfach nur hier sitzen und nebeneinander her laufen, das reicht völlig aus, für den Moment. Ich weiß nicht genau wie lange es braucht bis wir wieder vor seinem Haus stehen, doch nicht allzu lang. Er schließt die Türen unten, dann bei seiner Wohnung auf, ich lege meine Jacke ab, auch die Schuhe lasse ich einfach hinter mir zurück und setzte mich auf sein Sofa.
Eden folgt mir, setzt sich ganz nah neben mich.
Eine Müdigkeit überfällt mich, die vorher noch nicht da gewesen ist. Ganz plötzlich bin ich unendlich müde, meine Augenlider sind schwer, mein Körper und Mein Kopf ebenso. Ich kann mich nicht mehr wirklich rühren.
Warum muss mein Leben so unfair sein. Als ich noch so viel Zeit zu haben schien konnte mein Herz keinen Jungen wirklich lieben lernen, aber jetzt, wo mir nur noch zwei Tage bleiben, kann ich mich einfach so verlieben.
Ich sinke gegen seine Schulter, meine Augen fallen einfach zu und ich spüre wie er einen Arm um mich legt.
Bevor ich einschlafe fließt eine einsame Träne meine Wange hinunter, ich spüre sie, ihren Weg hinab bis zum Kinn, wo sie mir schließlich auf mein Shirt tropft. Gestern dahabe ich noch nichts zu verlieren gehabt und jetzt habe ich das Gefühl alles zu verlieren was ich nur verlieren kann. Heute habe ich so viel gewonnen und muss es so schnell verlieren, das ich gefühlt nur noch Sekunden genießen kann.
Mein Leben ist nicht fair.

Tag 2




Tag 2
Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er voller Nebel, sehr seltsames Gefühl. Besonders, wenn ich weiß, dass es gar nicht so sein kann. Ich denke im Augenblick eh nur Unfug vor mich hin, denn ich bin gerade erst aufgewacht. Nur heute nicht in einem Bett, sondern halb auf einem Sofa liegend in den Armen eines Mannes.
Wir sind wohl abends wirklich Beide eingeschlafen und nicht mehr vom Sofa aufgestanden. Aber das macht mir gar nicht, denn ich habe mich selten so geborgen gefühlt. Seine Löwenjungen Hände halten mich ganz fest und doch dabei noch immer sehr sanft. Wie konnte er mich nur einfach wieder suchen? Wie soll ich das jetzt machen? Noch einmal wegzulaufen, dass kann ich nicht tun. Wäre ja auch ziemlich albern, immerhin würde es mit dem gleichen Ende wie Gestern auch schon.
Ach, ich will jetzt gar nicht nachdenken, ich will jetzt einfach aufwachen und genießen, das ich an seiner Brust liege.
Wie ruhig ein Herz schlagen kann, schon ziemlich beeindruckend. Schließlich hört man nicht jeden Tag ein anderes Herz so nah bei sich schlagen...
Meine Augen sind offen, heute will ich die Welt in mich hineinsaugen und alles wahrnehmen, was nur ich wahrnehmen kann. Noch immer mag ich diese vollkommene Stille, doch die habe ich lange genug genossen.
Eden streicht mir sanft über den Oberarm und ich zucke tierisch zusammen.
„Tut mir leid... Wollt' dich nich' erschrecken...“, nuschelt er vor sich hin und hebt leicht den Kopf.
„Morgen... Ach, war nicht schlimm...“
Wobei mein Herz gerade Haken geschlagen hat. Ich habe gedacht, er schläft noch, dabei war er auch wach. Schade, hätte ihn gern geweckt.
„Gut geschlafen?“
Ich muss ernsthaft kurz überlegen. Ein guter Beweis dafür, das ich noch immer nicht wach bin.
„Ja, du bist eben ein gutes Kissen...“
Meine Augen finden seine Augen in dem unordentlichen Gewirr seiner Haare und dann sehe ich auch das Lächeln, dass ich so gut leiden kann. Schneesturmlachen.
„Immer gern zu Diensten...“
Ich grinse ihm zu, so breit ich nur kann und lege meinen Kopf doch wider flach auf seine Brust. Gut, ich will ganz viel in mich aufsaugen, aber irgendwie will ich erst noch den Moment hier genießen.
Ein ganz leichtes Seufzen kommt aus seiner Kehle und ich ziehe leicht die Augenbrauen zusammen. Ob es ihn ihn noch immer beschäftigt warum ich nun gegangen bin? Da brauche ich doch eigentlich nichts vermuten, immerhin war das erst gestern, da hat er das ja sicher nicht einfach vergessen. Aber ehe wir uns wieder einem, für diese frühe Uhrzeit viel zu schweren Thema, widmen, will ich ihn lieber davon ablenken und damit auch mich.
„Hat mein perfektes Kissen vielleicht auch etwas im Repertoire, was man zum Frühstück essen könnte?“
Wieder musste ich seine Augen erst suchen, wirklich diese völlig verwuschelten Haare waren wie ein Suchbild, das es immer in diesen Kindermagazinen gab. Doch am Ende stach dieses unheimliche Blau auch immer heraus. Im Moment funkelten sie mich auch ganz schön an. Wieder klebte ich an ihnen fest und wusste nicht mehr, wie ich von ihnen loskommen sollte.
„Ja, das Kissen hat Brötchen und Marmelade im Haus...“
Er zwinkert mir zu, ich glaube gerade habe ich ein ziemlich dämliches Lächeln auf den Lippen.
„Gut, dann würde ich das gern esse, mein Magen sagt mir nämlich gerade, dass, ich unbedingt etwas essen sollte...“
„Dann sorgt mal das Kissen dafür, das du nicht noch am Ende verhungerst.“
Irgendwie lasse ich mich nur ungern von ihm trennen, er ist so schön warm und immer noch, riecht er so hervorragen. Aber da ist Eden jetzt recht strickt. Bestimmend, aber nicht grob setzt er sich mit mir zusammen auf, löst seine Arme von mir und geht geradewegs in Richtung der Tür hinter der sich die Küche versteckt. Erst als er ganz in den Raum hineingegangen ist, kann ich meine Augen wieder von ihm lösen. Ich komme mir wirklich vor, als hätte man mich hypnotisiert. Wie können Augen mich bitte so bannen?
Jetzt da ich allein bin, habe ich auch wieder nur mich und meinen Kopf.
Gefährlich, denn die Frage was ich tun soll, sie steht immer noch im Mittelpunkt all meiner Gedankengänge. Ich weiß es ist nicht richtig sie zu ignorieren, doch wenn ich mir ihr stelle, wäre die Konsequenz, dass ich mich doch wieder von ihm verabschieden müsste. Egal was er versprochen hat, egal was ich will. Mein Schicksal zu teilen, würde hießen, ihn zu verletzten und wenn ich eines nicht will dann ihn verletzten, immerhin sind es noch zwei Tage die mir belieben, in diesen will ich leben und dabei niemandem schaden.
Doch mir nutzt es nicht, immer nur gedanklich um den heißen Brei herum zu denken.
Deshalb stehe ich auch auf und gehe zu ihm in die Küche. Meine Beine fühlen sich allerdings etwas wacklig an, gerade haben sie nicht so viel Kraft wie ich es gern hätte, das sie sie haben. Doch noch habe ich ja genug Zeit, damit mein Körper wach genug ist um unterwegs zu sein.
„Kann ich etwas tragen?“
Nun stehe ich im Türrahmen, mit der Pose, die er schon Vorgestern mir zeigte. Ich weiß auch nicht, aber gerade will ich ein bisschen albern sein. Er sieht mich und muss anfangen zu lachen.
„Siehst sehr cool aus...“, er lacht immer noch und scheint gerade auch nicht so schnell wieder damit aufhören zu wollen. Also gehe ich in die Küche ganz hinein, pikse ihm in die Seite und meine nur:
„Genauso wie du... Also kann ich nun etwas tragen?“
Mit diesen furchtbar blauen Augen sieht er mich an. Warum muss ich denn immer wieder in diese Augen sehen... Jetzt weiß ich nicht mehr was ich sagen wollte.
„Ja kannst du...“
Ich muss mich innerlich wieder zusammenreißen, blinzle kurz und sehe dann, das er mich einen Korb in die Hände gedrückt hat. Himmel, seine Hypnose wieder nur wirksamer, anstatt mit der Zeit die ich mehr mit ihm verbringen an Wirkung zu verlieren. Wie unfair.
Wieder einmal gehe ich hinter ihm her und schelte mich erneut innerlich, endlich anzufangen ihm nicht so direkt in die Augen zuschauen, das ist bis jetzt doch noch immer schief gegangen.
Den Korb stelle ich auf den kleinen Tisch und sehe, das er schon die Teller und alles was man eben zum Frühstück braucht darauf gestellt hat. Sogar Orangensaft gibt es.
„Du bist wirklich perfekt ausgestattet...“
„Tja, irgendwer muss ja der Servicewüste entgegenwirken...“
Wieder eines dieser wunderbaren Lächeln. Dann aber setzen wir uns und widmen uns den Brötchen. Ich habe schon ewig kein so leckeres Frühstück mehr gegessen. Salami, Marmelade, Schokoladenaufstrich, alles da. Wobei ich kurz vergesse, dass ich gerade ein Brötchen gegessen habe und mein Glas mit Orangensaft an die Lippen lege. Ich verziehe das Gesicht und muss das Glas gleich wieder wegstellen. Das schmeckt also wirklich noch immer grässlich, hätte mich mir wirklich denken sollen...
„Alles in Ordnung?“
Seltsam, er klingt ehrlich sehr besorgt.
„Ja, ja alles gut... Die Mischung Orangensaft- Schokoladenbrötchen schmeckt nur wirklich nicht besonders toll...“
Wieder muss er lachen und ich mit. Ich kann mich ja täuschen, aber ich habe das Gefühl, gerade sind wir beiden ein wenig seltsam. Warum er so fast schon überdreht ist, weiß ich nicht genau, aber ich tippe, er versucht gerade auch nicht zu viel nachzudenken. Wir sind heute Morgen nicht unbedingt wie wir immer sind. Er hat etwas von seiner Leichtigkeit verloren und ich weiß, ich habe da einen großen Anteil dran. Was meine Stimmung nicht unbedingt hebt. Dabei wollte ich ihn nur beschützen. Doch ewig werden wir es sicherlich nicht durchhalten, so zu sein.
Halbwegs unbeschwert essen wir weiter.
Erst alle wir beide sehr satt sind lehne ich mich zurück und sehe zu ihm hinüber. Unsere Mienen sind erstaunlich ernst gerade. Ich habe mir mal wieder etwas vorgemacht. Man kann zwar einiges, was unangenehm ist im Leben vermeiden, doch in meinem Fall, ist die Wahrheit wirklich nicht zu meiden. Denn ich will, dass es wieder ist, wie e war, bevor ich so dumm war zu glauben, ich könnte einfach gehen.
„Du wirst mir sagen müssen warum...“
Eden spricht mit seiner weichen tiefen und sehr sanften Stimme nur sehr leise.
„Ja, ich weiß...“
Gerade bin ich klug genug ihm nicht in die Augen zu schauen.
„Wann willst du mir es sagen?“
Ungeduld, ganz eindeutig, die höre ich in seiner Stimme.
„Bald...“
Jetzt ist der Magnetismus, mit dem seine meine Augen anziehen doch zu groß. Wieder sitze ich da und starre in dieses tiefe Blau.
„Bald... Was ist denn bald?“
Dir vermutlich nicht schnell genug, liegt es mir schon auf der Zunge, doch noch bevor ich noch irgendetwas antworten kann, klingelt es an der Tür. Wir Beide zucken zusammen. Es ist doch gerade erst acht Uhr früh, wer sollte denn jetzt schon etwas von ihm wollen. Wegen mir dürfte hier ja sicher niemand klingeln.
Wieder klingelt es, was mein Gegenüber dann doch dazu bewegt auf zustehen und zur Tür zu gehen. Wie gut, dass der Tisch genau gegenüber dem Flur und damit der Tür ist. Als er fast dort ist, klopft es auch noch.
Er öffnet die Tür und ist ein bisschen verdutzt, als er Claire davor stehen sieht, was man an seiner Stimme einfach hören kann, na ja, ich höre es zumindest.
„Morgen, was machst du denn hier?“
„Ich habe ein Anliegen...“
Die Frau geht mit ihrem, immer noch beeindruckenden, Lächeln an ihm vorbei und nun sehe ich, dass sie eine große Tasche dabei hat. Ein bisschen sind ist jetzt nicht nur Eden verdutzt.
„Guten Morgen ihr Lieben...“, meint Claire fröhlich.
Ich frage mich wie man um diese Tageszeit schon so wach sein kann.
Eden kommt zurück und setzt sich wieder, wie beide sehen Claire an und ich glaube wir denken auch das gleiche. Sie hat uns gerade, auch wenn sie uns überfallen hat, davor gerettet zu ernst zu werden.
„Ich muss mit Lady Hemingway wohin, und dann hat heute die neue Besitzerin von Sir Charles auch noch beschlossen ihn nicht mehr haben zu wollen, ich weiß auch nicht wieso... Na ja, jedenfalls kann ich ihn nicht mitnehmen... Also könnt ihr auf ihn aufpassen?“
Ja, nun, ich bin final überrumpelt.
„Du weißt doch, Claire, ich kann wirklich nicht gut mit Tieren...“, sagt Eden etwas kleinlaut.
„Ach was, du bist nur zu feige es mal auszuprobieren!“
„Claire, nein bin ich nicht!“
„Und du...Mimi?“
„Ähm, ich...“
Ganz toll, jetzt sehen mich beide an. Ich weiß auch was sie wollen, der eine, das ich sage ich kann auch nicht gut mit Tieren und die andere dass ich ehrlich bin und sage, ich wollte die beiden Hunde eh einmal kennenlernen.
„... kann auch nicht so...“
Aber noch bevor ich meine Schwindelei zu ende bringen kann kläfft ihre Tasche.
„Du hast sie mitgebracht...“, meint Eden wenig begeistert.
„Na sicher doch...“, grinst Claire und öffnet den Reißverschluss.
Ein kleiner Mops springt sofort heraus und ein großer folgt. Der kleine ist noch wirklich sehr jung... Ein Minimops. Gott ist der niedlich. Sofort kommen die Beiden auch auf mich zu gelaufen.
Ich knuddle sie und muss den Winzling von Mops einfach hochnehmen. Begeistert schleckt er mir über die Hand und versucht auch in mein Gesicht zu schlecken, doch das weiß ich zu verhindern. Erst jetzt merke ich dass mich wieder Beide angucken. Okay, jetzt zu leugnen das ich gut mit Tieren zurecht komme wäre wirklich sinnlos.
„Ja, ja, du kannst nicht gut ihnen, schon klar, sieht man dir auch total an...“
So viel Sarkasmus in nur einem Satz, Hut ab für Claire.
„Na ja...“
„Okay, ist ja gut... Wir passen auf diesen Winzling von Hund auf...“
Claire schnappt sich die Lady und die scheint das weniger gut zu finden, als es ihr Sohn findet.
„Prima... Dann hole ich ihn morgen Nachmittag ab...“
„Hey, Moment, du hast gesagt heute musst du mit ihr wohin und heute passen wir auf sie auf!“
Eigentlich hätte er es doch wissen müssen, wer mich schon gestern so geschickt austrickst, der wird das doch heute nicht weniger geschickt tun.
„Zugestimmt ist zugestimmt... Bis Morgen dann... Ach ja, hier noch ein Hundebettchen für ihn...“
Sie zieht es aus der Tasche, und noch zwei Näpfe, plus eine Dose Hundefutter, winkt uns dann fröhlich zu und verschwindet schließlich aus der Tür. So stehen wir dann also hier, ich mit einem Energiebündel von Hundchen auf dem Arm und ein ziemlich perplexer Eden neben mir.
„Na ja...“, sagt er.
„Ja...“, ist das Einzige was mir dazu einfällt.
Sir Charles ist indes immer noch darauf aus mir einmal quer durchs Gesicht zu schlecken und ich kann das nur knapp verhindern. Ich setze ihn ab und er rennt einen Kreis um mich herum. Sehr niedlich, nur wohl nicht so besonders intelligent.
„Ich räume den Tisch ab...“
Eden wuselt umher und versucht dabei nicht auf den Minimops zu treten, der einfach überall zu sein scheint. Ich gehe in der Zeit ins Bad, kämme meine nicht minder verwuschelten Haare und finde in meiner Jackentasche sogar noch einen kleinen Kajal, wenigstens etwas muss ich doch nach einer Frau und nicht nach einem halben Geist aussehen.
Im Wohnzimmer bietet sich mir dann ein herrlicher Anblick, Eden hält den kleinen Mops von sich weg, während der ihm mit vollem Elan über alles schleckt was er mit der Zunge erreichen kann. Darüber muss ich jetzt einfach lachen und gehe zu ihnen hinüber.
„Du kannst wirklich nicht gut mit Tieren...“
„Ja, ich meinte das sehr wohl ernst.“
Ich nehme ihm das Hundchen ab und setze ihn wieder auf den Boden ab.
„Also, ich glaube, wir sollten Raus... Immerhin, der Tag sieht doch ziemlich schön aus.“
„Oh ja, unbedingt, ich will dieses aufgedrehte Teil nicht zu viel in meiner Wohnung haben...“
Im Körbchen finde ich auch noch eine Leine, die ich dem Winzling umlege und als dann auch Eden fertig ist gehen wir hinaus.
Es ist noch immer kalt, wirklich kalt, aber die Sonne scheint und über diesem strahlend blauen Himmel ziehen sich einzelne kleine Wolken oder gar ganze Gruppen, die aussehen wie Schafherden. Ein durch und durch wunderschöner Tag. Ich kann nur hoffen, dass es mir noch vergönnt ist, dass das Wetter weiter so bleibt.
Wir gehen einfach nur eine Weile vor uns hin. Wieder einmal völlig still. Ich weiß, dass ich meine Wahrheit nicht nur bald sondern sehr zeitnah preisgeben muss. Mir bleibt fast keine Zeit mehr.
„Ich will mit dir mal an einen meiner liebsten Plätze in dieser Stadt...“
„Okay, gern...“
„Aber dafür werden wir den Sir hier, irgendwo unterbringen müssen...“
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen, so wie ich es immer tue wenn ich nicht ganz mit dem einverstanden bin, was ich höre. Wir können den kleinen Hund ja nicht einfach irgendwo anbinden und dann wieder mitnehmen, den nimmt am Ende noch irgendwer einfach mit.
Eden sieht mir meine Meinung wohl an.
„Na rein nehmen können wir ihn nicht.“
Ich grinse ihm zu und als wir uns dem Stadtzentrum nähern kaufe ich mir, von dem Geld, was ich noch von Claire bekommen habe, eine große Tasche. Eden schüttelt nur den Kopf und wir gehen, durch lauter kleine Seitenstraßen in die ziemlich entgegengesetzte Richtung zum Zentrum. Das beruhigt mich ungemein, denn schon wieder mich in diese Menschenmassen zu stürzen, danach verlangt es mir so ganz und gar nicht, lieber habe ich es, wenn nur ein paar Leute um mich herum sind.
„Ich gehe da schon eine ganze Weile immer wieder hin. Ich weiß auch nicht, aber mich beeindruckt dieser Ort immer wieder...“
Noch bin ich nicht ganz so sicher, ob mir dieser Ort wirklich gefallen wird, denn eigentlich kann ich Museen und Kunstsaugstellungen nicht besonders leiden. Gut, die Galerie von Claire Gestern bildet da jetzt eine Ausnahme, aber trotzdem, sonst mag ich es eben gar nicht.
Nur führt er mich zu nichts künstlerisch wertvollem oder zu irgendeiner historischen Ausstellung in einem verstaubten Museum, wie ich jetzt feststelle.
Vor uns öffnet sich die kleine Straße in einen großen Platz. Hier mitten in der Stadt steht eine Kirche, die ich noch nie gesehen habe. Sie ist hoch, aus grauem Stein und ihre Türme sind sehr spitz. Wie kann die mir denn noch nie aufgefallen sein?
„Das ist St. Nikolaus... Sie hat den ersten und den zweiten Weltkrieg fast unbeschadet überstanden und ist dabei schon mehr als dreihundert Jahre alt...“
Mit großen Augen sehe ich hinauf. Wenn sie von innen so beeindruckend ist wie von Außen, dann kann ich verstehen, warum er sie zu seinem liebsten Ort erwählt hat. Sir Charles kläfft kurz, doch lässt das schnell wieder sein. Ob sich der kleine Hund im Angesicht dieses großen Bauwerks wohl noch bewusster als klein sieht? Mir geht es zumindest so.
„Bist du religiös?“
Die Frage ist mir mal wieder einfach so von den Lippen gerutscht. Habe ihm wieder den fehler gemacht ihm in die Augen zu sehen. Ganz unbewusst, aber unbewusst oder nicht, seine Magie scheint hervorragend bei mir zu funktionieren.
„Nein, ganz und gar nicht... Aber das Gefühl und die Atmosphäre, die dieses Gebäude hat, das hilft irgendwie... Ansonsten meide ich die Kirche und die Religion... Hat und wird mir nie etwas gutes bringen... Du?“
Ganz leicht schüttle ich den Kopf, nun wieder vom Bauwerk gebannt, sehr viel besser, als von seinen Augen, da kann ich viel besser denken.
„Meine Familie glaubt nicht an Gott... Aber manchmal ist es keine schlechte Vorstellung, dass alles einen Plan verfolgt...“
Besonders wenn man in meinem alter sterben muss. Nur ich habe noch nie an etwas glauben können, was ich nicht greifen kann oder zumindest irgendwo wirklich bewiesen sehe. Das hat mir niemand jemals beigebracht. So kann ich nicht an Schicksal glauben, nur an Zufall... Und wäre es der Plan Gottes, dass ich sterben muss, am besten noch für die Sünden meines Vaters, dann wäre ich ihm ziemlich böse.
Immerhin kann ich wirklich nichts dafür, das mein Vater allen Anschein weder Gewissen noch Anstalt besitzt. Was er tut, darauf hatte ich noch nie Einfluss, immer war ich die, die vor Tatsachen gestellt wurde. Vor die Tatsache hier her umzuziehen, die Tatsache, dass ich nicht wieder zurückgehen könnte, vor die Tatsache, dass ich vergiftet wurde und das nur aus Versehen, denn es hatte Vater treffen sollen, was es ja dann allen Anschein nach doch noch getan hatte und vor die Tatsache das mein so kurzes Leben zu Ende gehen würde, egal was ich auch tun würde.
So viele Tatsachen und um keine hätte ich je geboten.
Nur was beschwere ich mich? Ich habe in den vergangenen zwei Tagen mehr gewonnen, als ich es je für möglich gehalten hätte... Nur der Gedanke, dermir kam, bevor ich einschlief, der hängt mir immer noch nach... Mein Leben ist nicht...
„Lass uns hineingehen, da tauen wir dann auch wieder auf.“
So greife ich den Sir, stecke ihn in meine Tasche und erlegt den Kopf auf den Rand dieser.
Eden ergreift meine Hand und da wird mir wieder so heiß... Himmel, wie alt bin ich? Ich werde doch wohl damit zurecht kommen, wenn mich ein Kerl an die Hand nimmt, ohne gleich anzufangen zu glühen.
Im Inneren ist es ziemlich dunkel und sehr Still. Das Holzportal und die schmalen Fenster halten das meiste Licht fern. Doch das mindert gar nicht was meine Augen,sobald sie sich an das Dunkel hier gewöhnt haben erblicken.
Es ist wirklich imposant. Die Decke ist hoch, verwinkelt und reich bemalt. Der lange Gang, der zum Altar führt ist von schweren dunklen Holzbänken gesäumt und dort wo der Pfarrer stehen müsste steht ein Tisch, oder eher Altar, auf dem ein Kreuz und zwei Kerzen an beiden Seiten stehen. Der Raum ist leer, kein Mensch sitzt auf den Bänken, und auch kein Mann der Kirche ist zu sehen. Weiter hinein führt mich Eden und dann in eine der vordersten Reihen der Bänke.
Wirklich bequem sind die nicht, aber man hat eine ziemlich gute Rundumsicht. Ich lege den Kopf in den Nacken und betrachte die Decke, während der Hund in meiner Tasche erstaunlich still geworden ist. Ob auch Hunde Ehrfurcht kennen? Vermutlich eher nicht.
„Du bist mir noch eine Antwort schuldig...“, hauch mir Eden ins Ohr.
Jetzt kribbelt mein ganzer Körper.
„Ich weiß...“, wispere ich zurück, nehme meine Augen aber nicht von der Deckenbemalung.
„Falls du sie vergessen hast... Was heißt bald?“
Ob er nur hier hergekommen ist, damit ich noch weniger als sonst lügen konnte? Ich meine, an einem solchen Ort, egal wie gläubig man war oder nicht, da log man einfach nicht.
„Das du nicht mehr lange warten musst...“
Meine Stimme ist noch immer nicht mehr als ein Flüstern.
„Sag mir wann und ich höre auf dich zu fragen...“
„Noch heute... Aber nicht jetzt und nicht hier... Ich sage es, wann ich es will...“
Oh Gott, warum habe ich das jetzt gesagt. Heute, das ist, heute... So schnell wollte ich eigentlich nicht die Wahrheit sagen. Aber ganz ehrlich, wann soll ich es dann machen? Morgen ist mein letzter Tag, da wäre es schon fast zu spät. Außerdem klang das gerade auch geflüstert nicht gerade erwachsen...
„Na dann weiß ich woran ich bin...“
Meinen Kopf drehe ich in seine Richtung, ich habe nicht gemerkt, dass er so nah bei meinem Ohr war, jetzt ist er ist eher meinen Lippen ganz nah. Wie gut das es hier so stockdüsterer ist. Denn gerade wird mir, zum gefühlt hundertsten Mal, verflucht heiß.
„Weißt du wohl...“, flüstere ich und merke es kaum.
Er kommt meinen Lippen jetzt noch ein Stück näher. So nah, das sie sich fast berühren. Doch im nächsten Moment fängt Sir Charles an zu quietschen. Ich würde sagen, er fühlt sich vernachlässigt. Da entfernt es sich wieder und steckt die Hand in meine Tasche um den Kleinen Hund zu streicheln. Nein, das war gerade kein Kuss, war es nicht.
Ich muss mich dringend ablenken!
Wieder an die Decke schauen und hoffen, dass mein Gesicht jemals wieder seine normale Gesichtsfarbe bekommt. Ich spüre wie Eden die Hand wieder aus der Tasche nimmt und einfach neben mir sitzt. Ohne ein Wort oder eine Berührung. Einfach nur dasitzen und nichts tun oder sage.
Ich spüre schon fast das alter der Steine, die so viel bereits erlebt haben und so vieles wahrscheinlich noch erleben werden.
Wenn ich mir überlege, wie viele Paare hier schon geheiratet haben, wie viele Trauerfeiern hier schon gehalten wurde, wer hier einfach nur Schutz vor Wind und Wetter gesucht haben könnte... Wie viele Pfarrer hier schon ihr Amt innegehabt haben. Da kommt einem doch Zeit nur als eine Messgröße vor, ohne wirkliche Bedeutung. Ich meine, was macht die Zeit schon mit einem solchen Gebäude, bei guter Pflege? Nichts. Sie steht hier und ist all denen zu Diensten, die sie brauchen. Was ist dagegen ein kurzes Menschenleben?
Als 17.jährige sollte ich mir nicht schon so viele Gedanken über die Vergänglichkeit des Lebens gemacht haben. Ich sollte mir mehr Gedanken darüber machen, ob ein Junge auf mich steht oder ob die Zicken aus der Klasse mich endlich in Ruhe und Frieden lassen, aber nicht darüber wie ich mich beerdigen lassen würde. In meinem Alter hätte ich den Tod noch nicht einmal überdacht haben. Niemand hätte entscheiden dürfen, dass meinem noch nicht einmal erwachsenen Leben ein Ende gesetzt werden soll. Weder der der mich ohne Absicht vergiftet hat, noch und besonders nicht mein Vater.
Diese ganze Sache hat mich erwachsener gemacht als mir es lieb ist.
Ich mache mir über Dinge Gedanken, die mich noch nicht einmal interessieren sollten. Ich habe so gehofft, dass ich erst mit 83 Jahren auf einer Steinbank sitze und in den Himmel schaue und denke, Gott, das werde ich vermissen... Weil mit 83 kann man sich langsam überlegen, dass das Ende nicht fern sein dürfte, aber nicht mit 17, nicht wenn man noch keine wahre Gelegenheit hatte zu leben.
„Woran denkst du?“, zieht mich eine tiefe, weiche und sehr sanfte Stimme aus meinen Gedanken.
„An die Zeit...“
Das fasst es wirklich ganz gut zusammen.
„An die Zeit?... Wie das denn bitte?“
„An die Zeit die wir haben und die die uns verschlossen bleibt...“
Wieder sehe ich zur Seite, in sein Gesicht, nicht in seine Augen.
„Das klingt nicht nach Gedanken die besonders erfreulich sind.“
Wieder sieht er so seltsam besorgt aus.
„Ich glaube, dass sein sie auch nicht...“
Seine Augen blitzen auf.
„Dann solltest du an etwas schöneres denken! Betrüblich kann das Leben noch oft genug sein.“
„Woran soll ich dann denken? Woran hast du gedacht?“
Wenn ich zu traurige Gedanken habe, dann soll er mir doch bessere verschaffen, denn allein kann ich das nicht im Augenblick.
„Das Leben.“
„Ist das jetzt wirklich besser?“
Er klang nämlich gerade nicht unbedingt viel besser als ich.
„Leben, das Lebendige... Wie schön es ist... Daran dachte ich.“
„Nein, klingt ähnlich unfröhlich wie meine Gedanken.“
Er muss leicht grinsen, wieder dieses sanfte Schneefallen.
„Na ja, ist auch nicht ganz so fröhlich, aber sicher um einiges besser als deine Gedanken, also fröhlicher... Immerhin dachte ich an die Schönheit des Lebens.“
Ich ziehe die linke Augenbraue hoch, was ich immer tue wenn ich dem Gegenüber ganz klar merken lassen will, wie wenig ich ihm oder auch ihr, gerade Glauben schenke. Egal was er sagt, bei seinen Worten waren seine Augen eben einfach dunkel und wenig fröhlich.
„Sag nichts...“, meint er ganz leise und seufzt.
Ich zucke also einfach nur mit den Schultern und sehe ihn einfach an, wenn ich nichts sagen soll, von gucken hat er nichts gesagt. Ich bin einfach mal neugierig ob meine Augen ihn wenigstens etwas hypnotisieren können. Immerhin können Frauen das doch eigentlich immer besser, nur habe ich davon nie Gebrauch gemacht. Wozu auch, Jungen gab es für mich immer, nur vermutlich nie, weil es dabei wirklich um mich ging.
Eine ganze Weile sehen wir uns an.
„Du wirklich tolle Augen...“, nuschelt er leicht und ich muss sehr breit, so breit ich kann grinsen.
Seine Blick war gerade irgendwie glasig. Als könnte er die Worte die aus seinem Mund gekommen sind nicht recht kontrollieren, das sagt mir sein Blick. Jetzt bin ich schon ein bisschen stolz. Ich kann ihn auch nieder gucken oder dazu bringen irgendetwas wirklich unpassendes zusagen. Na ja, sein Kompliment finde ich zwar nicht unpassend, aber sagen wollte er das bestimmt nicht.Ich bin mal gnädig und schlage meine Augenlider nieder, sodass er sich losreißen kann und tatsächlich schüttelt er gerade den Kopf, wie ich es sonst immer tue.
Etwas strafend schaut er mich an, doch das ist mir ziemlich egal, immerhin macht er das doch ständig mit mir.
„Danke für das Kompliment...“
„Keine fairen Mittel...“
Ich muss jetzt ernsthaft ein allzu lautes Lachen unterdrücken.
„Gebe ich gern zurück.“
Er verzieht das Gesicht, eine Mischung aus leichten Ärger und dem Willen gerade nicht lachen zu wollen, würde ich jetzt aus dem Stegreif tippen. Ich mag seine Mimik noch immer sehr, ohne Frage. Vor allem weil er genauso verflucht stur sein kann wie ich.
„Du bist ganz schön vorlaut.“
Unschuldig klimpere ich mit den Wimpern, auch nicht gerade etwas, was ich normalerweise tue, doch was ist in diesen meinen letzten Tagen schon wirklich Normalität?
„Gerne, besser als Schweigsam und mäuschenhaft.“
Der Ärger in seinen Zügen verfliegt langsam und weicht jetzt fast ausschließlich dem Versuch nicht zu lachen. Ich denke, der Ärger kam nur daher, dass ich ihn aus dem Konzept bringen konnte. Worauf ich noch immer sehr stolz bin.
„Ich würde ja jetzt gern sagen stimmt nicht... Aber das wäre gemein und falsch...“
„Ja, das stimmt...“
Widerwillig muss er nun doch lachen und ich freue mich über das neuerliche Schneesturmlachen.
„Langsam sollten wir gehen, ich habe eine Idee wohin wir noch können...“
„Na dann werde ich mich überraschen lassen.“
Sir Charles quietschte auch erfreut, als sie aufstanden und hinaus gingen, ihm war es wohl doch zu langweilig geworden in dieser Tasche sitzen zu müssen. Der Minimops schien mehr Aufmerksamkeit gewöhnt zu sein und jetzt etwas mehr davon zu wollen. Der Welpe wollte spielen.
Sobald ich ihn auf die Stufen der Kirche abgesetzt hatte rannte er, wie von Tarantel gestochen los, jagte ein Handvoll Tauben und kam mit dem gleichen Tempo zurück, wie er davon gespurtet war. Es war schön ihm zu zu sehen.
Magst du immer noch keine Tiere?“
„Ja, aber für den Winzling mache ich glaube ich eine Ausnahme...“
„Sehr großzügig von dir...“
Wir grinsen uns zu.
„Ja, nicht wahr.“
Im Laufen schnappe ich mir Sir Charles und halte ihn solange fest, bis ich es geschafft habe ihm die Leine wieder anzulegen. Es bliebt wieder ganz still zwischen uns. Ich weiß nicht genau, was ich denken soll. Sicher, ich habe einige Gedanken die ich noch zu Ende bringen sollte, aber meine Angewohnheit unangenehmen Dingen einfach aus dem Weg zu gehen, kann ich nicht völlig ablegen. Es ist als würde ich meine Leichtigkeit einbüßen. Aber das darf nicht sein, nicht jetzt. Ich habe nicht mehr viel Zeit, aber die will ich...
„Um die Jahreszeit gibt es so etwas eigentlich gar nicht, aber der ist das ganze Jahr über offen...“
Mir ist nicht einmal aufgefallen, dass wir so weit gelaufen sind.
Es erstaunt mich aber gleich noch viel mehr, wovor ich nun Seite an Seite mit Eden stehe.
Eine Kirmes. Bunt, laut und in der Luft liegt die seltsame Geruchsmischung aus Zuckerwatte und Bratwurst. Zugegeben die Mischung hat meinem Magen noch nie wirklich gut getan, aber die gehört dazu, ganz eindeutig.
Ich weiß nicht einmal mehr wie lange ich schon nicht mehr auf einer Kirmes gewesen bin, dass muss Jahre her sein.
„Eden, du bist eine Wunderkiste...“
Warum muss ich denn ständig Sachen laut sagen, die ich denke, daran hätte ich auch noch gearbeitete mit mehr Zeit eindeutig. Aber die Bemerkung bringt mir immerhin ein Schneesturmlachen ein. Und dass ist die Peinlichkeit schon fast wieder wert.
„Hey, ein Aufstieg vom Kissen zur Wunderkiste...!
Auch wenn er nicht weiß, was ich für ein, ich nenne es einfach mal Problem, habe, er sorgt dafür das ich etwas erlebe was ich erleben wollte. Das Leben.
Erstaunlich viele Menschen tummeln sich zwischen Schießbuden, Ständen bei denen man Dosen umwerfen soll um etwas zu gewinnen was man im Leben nicht braucht und nicht einmal im Tod, kleinen Buden in denen Süßigkeiten verkauft werden, die jedem Zahnarzt Schweißperlen auf die Stirn getrieben hätten und schließlich natürlich auch noch allerlei Ständen voll mit herzhaften Leckereien. Gerade bin ich einfach so aufgedreht das ich kaum weiß wohin mit mir. Es gibt so vieles zu sehen und nur so wenig Zeit.
Hunger habe ich zwar noch nicht, aber nachher wird irgendetwas hier gegessen, vom restlichen Geld das mir Claire gegeben hat.
Nicht nur die Stände und Buden sind unheimlich bunt, auch die Menschen die in ihnen stehen.
In der einen Bude sehe ich einen Mann der das Dosenwerfen beaufsichtigt, von dem man im Leben nicht glauben würde, dass er auf einem Kirmesplatz arbeitet. Eine teure Brille auf der Nase, schicke Kleidung am Leib und mit einem strengen Blick auf seine Kundschaft blickend würde ich ihn viel eher für einen Lehrer oder Chef von irgendwas halten.
Der Kerl in der der darauffolgenden Bude sieht allerdings wie das lebendig gewordene Klischee eines Mannes aus, der auf einer Kirmes sein Geld verdient. Ein bisschen schmierig, nicht nur von seinem Benehmen sondern auch von seinem Aussehen, zerschlissene Jeans, löchriges T-Shirt und leicht rote Nasenspitze. Hätte ich mir einen Arbeiter hier vorstellen müssen, so hätte er aussehen dürfen.
Ich laufe vor, Eden hat den Sir auf den Arm genommen und ist einfach merkwürdig still geworden. Sieht mich immer nur an, wie ich mich umsehe und vor den Dingen oder bei den Menschen stehen bleibe, die mich interessieren. Als ich zu ihm zurück sehe verschwindetet ein seltsamer Schimmer im tiefen Blau seiner Augen nur sehr langsam. Was ist bloß los mit ihm heute? Ob es immer noch so sehr an ihm nagt, das ich gegangen bin? Toll, jetzt muss ich wieder daran denken, und damit werde auch ich wieder ernst.
„Dir scheint es zu gefallen...“
Seine Engelsstimme klingt beschwert.
„Dir nicht...“
Er verzieht in noch nie dagewesen Grad die Mundwinkel, zieht sie hoch und doch wieder nicht, so kann ich wirklich nicht sagen, ob es ein Lächeln oder etwas anderes ist. Der Ausdruck ist nichts halbes und nichts Ganzes.
„Doch tut es...“
„Sieht nicht so aus.“
Jetzt steigert er sich etwas, ein halbes Schneesturmlachen, ich bin fast sicher.
„Tut es aber...“
Mir fällt was doofes ein.
„Sieht aber nicht so aus...“
„Tut es a...“
Einen Moment zieht er verwirrt aus und zieht dann seine rechte Augenbraue hoch. Hätte nicht gedacht das man auch die rechte Augenbraue allein hochziehen kann. Wenn ich das versuche klappt das nie, aber er...
„Machst du dich gerade lustig über mich?“
Ich grinse ihm frech zu.
„Vielleicht... Vielleicht auch nicht.“
Mit zwei Schritten ist er erstaunlich nah bei mir. Wieder einmal muss ich feststellen, dass er ein gutes Stück größer ist als ich. Er sieht zu mir hinunter und kommt ganz nah an mein Gesicht mit seinem heran.
„Vorsicht, das kann ich ganz genau so...“
Sein Atem lässt meine Haut kribbeln und mir wird ganz heiß.
„Was... meinst du?“
Plötzlich, jedenfalls kommt es mir so vor, steht er wieder ein gutes Stück von mir weg.
„Sag ich nicht.“
Ja, jetzt klingt er mal wirklich wenig erwachsen, aber das hilft mir nicht. Ich bin sehr verwirrt.
„Na komm schon!“
Sein Grinsen kann ich zwar mehr als gut leiden, aber gerade ist es nicht nett sondern viel mehr gemein. Ich kräusele meinen Mund, sowie ich es immer tue, wenn ich will, dass mir eine Information nicht vorenthalten wird.
„Nö...“
Jetzt geht er vor und um ihn nicht zu verlieren muss ich hinter ihm her laufen.
Was war das denn jetzt bitte? Ich verstehe gar nichts mehr. Wollte er sich gerade dafür rechen, dass ich ihn ein bisschen hinters Licht geführt habe? Oder war das jetzt etwas anderes? Toll, er hat es geschafft, dass ich mich wie ein kleines ein bisschen doofes Mädchen fühle.
Doch bevor ich meiner leichten Gekränktheit Luft verschaffen kann stehen wir vor einem großen Karussell. Nicht so eines das nur Kinder fahren können ohne lächerlich zu sein. Nein an dem hie hängen dutzende von Sitzplätzen, wie Schaukeln an lange metallenen Ketten. In allen Farben des Regenbogens erstrahlen Lichter.
„Willst du eine Runde damit fahren?“
Ich lache auf, ein bisschen überdreht wieder.
„Ja, auf jeden Fall.“
Sobald ich seiner Mimik wieder ein wenig Aufmerksamkeit schenke muss ich mich schon wieder fragen ob das ein Lachen ist? Oder ob er etwas anderes unterdrückt. Himmel der Kerl macht mich wirklich kirre.
Der Mann der in einem kleinen Häuschen sitzt und kassiert ist erneut eine Figur die hier so ganz und gar nicht rein zu passen scheint.
Ein Mann mit eindeutig asiatischen Zügen, allerdings mit Kleidung im Stil einer amerikanischen Gangsters und dazu auch noch eine Baseballcap verkehrt herum auf dem Kopf und großen Schmuck um den Hals. Also ehrlich, das geht doch nicht. Oder sehe nur ich, das er aussieht wie ein Witz?
Eden wird von dem Kerl, so in meinem Alter vermutlich etwas älter, sogar berüßt.
„Hey, Alter, Was geht?“
„Nichts so richtig, Hiro...“
Also ein Japaner, nein,das macht es nicht besser.
„Ein mal eine Runde.“
„Alter, du willst doch nicht im Ernst Karussell fahren!“
Ich gehe einfach mal demonstrativ direkt neben Eden. Er zwinkert mir zu.
„Hiro nicht so schwer von Begriff, für sie.“
Meine Güte, Hiro könnte mich eindeutig weniger deutlich mustern. Wäre zumindest höflicher.
„Ach so...“, zwinkert er Eden zu.
Lieber gar nicht darüber nachdenken was der Kerl gerade denkt.
Schon wechselt ein kleines altrosa Tickt den Besitzer, nur Geld sehe ich nicht wandern.
„Das geht auf mich, Alter, eine Fahrt is' keine Fahrt...“
Es scheint wirklich nur mich zu stören, dass ein Japaner sich anhört wie diese seltsamen Gettorapper. Das passt einfach nicht zusammen, zumal die Stimme von Hiro einfach auch zu hoch, zu piepsig und zu wenig männlich ist, um jemals wirklich cool wirken zu können. Würde er in seiner Muttersprache oder wenigstens in halbwegs normalem Deutsch sprechen, könnte er eindeutig weniger lächerlich sich anhören. Nur will ihm das wohl niemand sagen.
„Dann danke ich dir...“
„Immer wieder...“
„Bis die Tage dann...“
„Kein Stress, Alter... Können ja ma' chillen...“
„Ja, machen wir mal...“
Zum ersten Mal meine ich einen Unterton in Edens Engelsstimme zu hören der unehrlich klingt. Er sagt ja meint nein und lässt sich das kaum anmerken. Aber weil ich ihn anscheinend immer nur mit seiner durch und durch ehrlichen Stimme habe sprechen hören, kann ich das vollkommen leere Versprechen aus den normalen Worten herausfiltern.
Jedenfalls wird mir jetzt das Ticket in die Hand gedrückt und ich gehe zu einem der Plätze, sobald ich sitze und zwar so sicher wie es möglich ist, kann ich Eden wieder erspähen. Immer noch hat er den kleinen Sir auf dem Arm und sieht zu mir hinauf. Das seine furchtbar blauen Augen haben mich fixiert und scheinen mich nicht mehr gehen lassen zu wollen. Ein Glück das auf die Entfernung seine Hypnose nicht wirkt
Das Karussell beginnt sich zu drehen. Hinter mir giggelt es vor sich hin. Zwei Mädchen die nebeneinander auf zwei Plätzen sitzen und Hand in Hand darauf warten, dass sie richtig beginnen zu fliegen. Vor mit sitzt ein Vater mit seiner kleinen Tochter. Die Kleine dürfte gerade erst fünf Jahre alt sein, der Vater aber ist auch noch ziemlich junge. Er sieht sehr liebevoll zu seinem Töchterchen hinab, während die schon anfängt freudig mit den Beinen zu schlenkern.
Immer schneller wird die Drehung und immer weiter der Kreis in dem ich fliege. Von hier aus kann ich die halbe Kirmes überblicken. Von Oben ist das treiben in den kleinen Gassen nicht weniger beeindruckend.
So frei habe ich mich nicht mehr gefühlt seit ich klein war. Den Wind im Gesicht, die Beine ohne Halt und die Haare in wildem Durcheinander im Gesicht. Leichter könnte mein Herz kaum sein. Ohne mein bewusstes Zutun dringt lauthals ein Lachen aus meiner Kehle. Wirklich nicht besonders erwachsen, aber wozu erwachsen sein, wenn man einfach nur Spaß haben kann? Wer Karussell fährt ist doch eh nicht besonders erwachsen und muss es nicht sein.
Ich weiß noch, wie viele Gesichter ich in der Stadt gesehen habe, die einfach nur leer waren. Wenn man alles vergisst und abgibt, was ehemals einmal das Kind in einem ausgemacht hatte, dann konnte man einfach nur noch traurig sein. Ist jedenfalls meine persönliche Meinung die meisten würden diese Gedanken eh nur als blöde Träumerei einer Teenagerin abtun.
Die Drehung ist auf dem schnellsten Punkt und ich sehe nun wirklich einmal den gesamten Rummel, denn das Karussell ist klug platziert, genau in der Mitte des großen Platzes. Der Himmel strahlend blau, die Erde bunt, voll, laut und eng und doch, ich kann es nur genießen.
Das Leben in der ganzen Vielfalt.
Mein Flug wird wieder flachen denn auch die Drehung wird langsamer, wieder nur den halben Rummel, dann nur noch ein paar Dächer der Buden und schließlich wieder nur den Blick den alle inne haben. Mein Herz ist ein kleines bisschen wehmütig. So frei sein zu können ist sehr berauschend.
Wieder sorgt mein Kopf dafür, dass ich ziemlich schnell auf dem Boden ankommen, denn er denkt einfach ohne mich daran, dass ich so etwas wie gerade nie wieder erleben werde. Egal wie sehr ich es wollen mag, nach Heute und Morgen wird nichts mehr zu erleben sein. So sehr ich es auch verdrängen und vergessen will, es hängt mir nach, den Gedanken an den Tod kann ich einfach nicht abschütteln.
Durch die Menge die sich nun um das große Karussell gestellt hat muss ich mich wieder durchkämpfen. Also werfe ich mich hinein und habe Eden völlig aus den Augen verloren. Nett sind die Leute auch nicht besonders, drei Mal bekomme ich einen Ellenbogen in die Rippen, ständig tritt irgendwer mir auf die Füße oder versucht mich zur Seite zu schubsen. Ich verliere ganz den Überblick und weiß nicht mehr wohin.
Eine Hand legt sich um meinen Unterarm, wie die eines Löwenjungen ein bisschen groß und tapsig bei dem was sie tut. Sie zieht mich aus der Menge. Leider folgen meine Füße nicht so schnell meinem Kopf wie ich es gern hätte. Die Konsequenz, ich stolpere über meine eigenen Füße.
Falle gegen einen warmen Körper und schmeiße ihn zu Boden, ich falle natürlich gleich hinter her.
„Ich kann mich erinnern das wir das so in der Art schon einmal hatten...“
Ein Basslachen ertönt und klingt in meinen Ohren. Eden.
Ich liege wieder in seinen Armen.
„Ja, ich erinnere mich dunkel.“
Mir ist auch wieder so verflucht warm. Himmel, ist mir das peinlich.
„Alles ganz bei dir?“
Das einzige was einen Kratzer hat ist mein Selbstvertrauen, sonst alles ganz...
„Ja, bin ja weich gefallen.“
Wieder ein schwerer Fall in Sachen Sprechen ohne zu denken, aber seine Augen sind auch einfach zu verlockend.
„Herrje ein Abstieg, zurück zum Kissen.“
Wieder ein Basslachen.
„Geht's dem Kissen gut?“
Auch wenn ich gerade feststelle das mein Hintern zusehends unangenehm kalt wird, rühre ich mich noch nicht vom Fleck.
„Ja, alles ganz...“
Wäre ja auch noch schöner, hätte ich ihm jetzt auch noch was gebrochen.
Wie schon beim letzten Mal rapple erst ich mich auf, ist einfacher, erst dann Eden und zu guter Letzt wuselt auch noch der Minimops zwischen uns herum. Allen anderen war es völlig egal, ob wir uns verletzt haben, die kümmern sich nur um sich. Endlich habe ich mal etwas gefunden, was ich nie vermissen werde, den unheimlichen Egoismus der sich breit macht. Es ist doch traurig, dass sich die Menschen nicht mehr um andere kümmern, sondern lieber nur noch an Elend vorbei gehen, dabei möglichst versuchen nicht hinzusehen und sobald es nicht mehr sichtbar ist alles vergessen haben. Als wäre nichts gewesen.
Wie traurig diese Welt doch geworden ist. Zwischenmenschliche Beziehungen sind nicht mehr wichtig, was zählt ist Profit. Manchmal...
„Komm... Ich will wenigstens ein Mal beim Dosen umwerfen gewinnen.“
De Aufforderung das ich mit ihm gehen soll, ist wohl eher eine rein aus Höflichkeit, denn selbst würde ich nicht mit wollen, er zieht mich einfach mit, sodass ich einfach nur mitgehen kann.
Eden sucht sich genau den Stand aus, in dem der Mann mit der teuren Brille und dem völlig falschen Auftreten für einen Mann in einer solchen Bude steht.
„Fünf Bälle...“
„Fünf Euro.“
Meine Güte ganz schön teuer.
„Hier...“
„Erfolg.“
Na, das war jetzt aber nicht besonders überzeugend.
Der Ball saust in hohem Bogen direkt in die Mitte der Dosenpyramide. Es macht tierisch Krach, als die Pyramide in sich zusammenfällt. Mit einem Wurf alle Dosen abgeräumt. Das freut den Besitzer des Standes ganz offensichtlich nicht. Er zieht die Mundwinkel leicht hinab, kräuselt zwischen den Augenbrauen die Haut und in seinen strengen Augen blitzt Missfallen. Ganz sicher, er wird Eden im leben nie ins Herz schließen.
„Willst du jetzt etwa noch weiter werfen?“
Eden legt seine Stirn in Falten, so wie er es glaube ich immer tut, wenn er sich ärgert.
„Na sicher doch, immerhin habe ich ja wohl fünf und nicht nur einen Ball bezahlt.“
Das dürfte der Budenbetreiber anders sehen.
„Du hast doch schon den Hauptgewinn!“
„Geben sie mir mein restliches Geld zurück?“
Jetzt mag er Eden noch viel weniger.
„Nein.“
Eine Spur zu trotzig verschränkt Eden die Arme vor der Brust, woraufhin ich mir dringend das Lachen verkneifen muss, das ist nicht gerade leicht.
„Dann werfe ich noch vier Mal.“
Ich bin mal gespannt wer hier diesen Kampf gewinnt.
„Das erlaube ich dir nicht.“
Jetzt klingt der Mann mit den leicht grauen Haaren allzu kindisch.
„Ich habe bezahlt, da habe ich ein Recht die Bälle auch zu benutzen und nicht nur das Geld dafür ausgegeben zu haben!“
„Fein, hier hast du dein blödes Geld und...“, er donnert zwei Zweieurostücken auf die Holztheke und dazu noch ein Stofftier. „... dein Gewinn... Aber dafür ziehst du jetzt leine.“
Eden drückt mir das Stofftier in die Arme, was der kleine Mops zu ihren Füßen mit einem irgendwie schwer beleidigt klingenden Jaulen quittiert. Als ich mir das Stofftier genauer ansehe sehe ich auch warum. Es ist ein Mops. Nicht nur der Kerl passt hier nicht, sondern auch seine Gewinne. Man gewinnt doch sonst immer nur Teddybären oder irgendwelche Stofftiger, aber doch keinen Stoffmops. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern jemals ein Kuscheltier gesehen zu haben das ein Mops ist.
„Was ein Idiot...“, brummelt Eden.
„Du bist süß.“
Meine Augen müssen sich gerade täuschen, denn sie meinen zu sehen, das er leicht rosa um die Nase wird.
„... Männer sind nicht süß.“
Jetzt muss ich lachen.
„Wenn du dich ein bisschen aufregst bist du es noch viel mehr.
„Meine eigenen Sprüche gegen mich zu verwenden ist nicht fair.“
Dafür erntet er nur erneut ein breites Grinsen von mir.
„Gleiches Recht für alle.“
Es macht erstaunlich viel Spaß ihn aufzuziehen.
„Ja, ja, ist schon klar.“
Ich gehe durch die kleinen und zusehends enger werdenden Gassen, sehe mich weiter aufmerksam um und entdecke immer wieder kuriose Dinge die meinen Blick anziehen. Aber ersteinmal haben wir uns an einem Bratwurststand etwas zu essen gekauft. Damit gehen wir dann weiter durch die Gassen aus Ständen. Ein Beispiel für eine Kuriosität einer Bude hier ist ein Stand in dem man Schraubenzieher gewinnen kann, wenn man es schafft einen Schraubenzieher in die Mitte einer Zielscheibe zu werfen.
Oder einen Hau den Lukas Stand für Frauen. Ein Hammer wie man ihn nimmt um Nägel in Wände zu bekommen und eine Skala die von kleinem Mädchen, über Weiß- was – sie – will, hin zu kommt – ihr – nicht – zu – nahe reicht.
„Dafür kannst du doch kein Geld ausgeben.“
Eden klingt eindeutig etwas genervt.
„Du durftest Dosen um schmeißen, jetzt darf ich auch das hier machen.“
Ich höre gar nicht mehr was er grummelt, drücke ihm einfach den Stoffmops in den Arm, was wiederum ein empörtes Jaulen vom Sir nach sich zieht. Also hebe ich den Minimops auch vom Boden und drücke ihn in den anderen Arm Edens.
Die Bude hier gehört einer Frau. Die Wangen dick und rot, das Haar so blond wie Stroh und ein irgendwie dauerhaft abwesend wirkendes Lächeln auf den Lippen. Ich tippe, das da zu viel Glühwein schuld ist, den hat sie nämlich neben sich stehen.
„So meine Liebe, ein Mal richtig draufhauen.“
Da fällt mir ein, das morgen mein letzter Tag auf dieser Welt ist, das mein Vater das weiß und mich einfach sterben lässt und dass meine Mutter mich genauso sterben lässt, indem sie rein gar nichts tut. Der Hammer in meiner Hand wird gerade zum Freund. Ich haue so stark ich kann auf das Feld das die Blume auslöst, die dann an der Skala empor fliegt und anzeigt was man ist.
Bei mir klingelt sehr laut der obere Gong. Das höchste was möglich ist erreicht. Meine sehr gerechte Wut ist leider noch lange nicht verfolgen, aber zumindest habe ich so etwas davon abbauen können.
„Wow, da hast du ja nicht nur fest sondern brutal zugeschlagen...“
Die dicke Frau hinter der Theke ist eindeutig ehrlich beeindruckt.
„Na so fest ich eben kann.“
Etwas verängstigt schaut sie mich an. Ob mir das was ich innerliche fühle auch in den Augen habe, wenn ja, hätte ich vor mir selbst vermutlich Angst.
„Hier, Süße, der Button ist für dich...“
Ein quietsche rosa Button mit der Aufschrift: I am no princess, ist also mein Gewinn. Ich mache den sogleich an meine neue Tasche, sehe dabei kurz ins Gesicht von Eden, wieder sieht er ehrlich besorgt aus, doch das über gehe ich jetzt einfach. Immer noch gehe ich dem Unangenehmen gern aus dem Weg.
Eine weitere kleine Weile schlendern wir über den Platz.
Aus dem Nichts ergreift Eden wieder meine Hand, den Stoffmops habe natürlich wieder ich in meinen Armen, den noch immer schwer agilen Mops hält er.
„Lass uns gehen...“
Ein gut vernehmliches Seufzen fliegt von meinen Lippen.
„Ja, gut...“
Das ungute Gefühl, dass ich mich nicht mehr lange darum drücken kann ihm meine Wahrheit anzuvertrauen, beschleicht mich. In meinem Magen rumort es und es zieht ziemlich. Was aber nicht unbedingt an dem unguten Gefühl liegen muss. Egal, einfach nur laufen.
Der Himmel über uns wird langsam dunkler. Bald dürfte es stockdunkel sein, und ich muss schon wieder einen Tag verabschieden. Alles in der Welt würde ich lieber tun, aber nichts kann ich tun um es aufzuhalten. Gut, es sein denn ich würde einen Weg finen erst die Erde und dann die Zeit anzuhalten. Dann natürlich würde jeder auf der Welt ewig leben und alle wären glücklich. Dummerweise passiert so etwas nur in Märchen und Fantasy Büchern. In meinem furchtbar realem Leben bleibt mir nichts als die Momente in mich zu sagen, zu verschließen und am Ende zu hoffen, dass ich so viel erlebt habe wie ich nur konnte.
Der Weg zurück ist gar nicht weit. Zumindest nicht für mich, denn nach den vergangenen Tagen bin ich es gewohnt viel zu laufen. Außerdem habe ich in den zurückliegenden Monaten so wenig Bewegung bekommen, dass ich das jetzt ausgiebig und gern nachhole.
Lauter kleine Bäume säumen unseren Weg, an denen schon hunderte kleiner Knospen ihren Weg zum richtigen Blatt machen wollen. Alles sieht um mich herum nach Neuanfang aus, aber meine Blüte verwelkt. Langsam werde ich selbst für mich zu melancholisch. Ich lebe doch noch, dann soll ich auch wirklich leben und nicht traurig vor mich hin denken.
Hinter mir klimpert es wieder. Ich sehe mich um. Eden sucht in seinen Taschen nach seinem Schlüssel, während Sir Charles seine Beine mit der Leine umwickelt, indem er sich in Kreisen um ihn herum schlängelt. Das vertreibt fürs erste jeden ernsten Gedanken, bei dem Bild kann man nicht ernst sein. Ich lache und gehe zu den Beiden hin.
„Zu eins, nicht schon wieder die Panik der Schlüsselsuche...“
Wieder ergreife ich seine Oberarme und schiebe meine Hand in seine Jackentasche. Den Schlüssel finde ich mit einem Griff. Dadurch bin ich ihm nun aber selbst sehr nah gekommen. Gerade kann ich einfach nicht von ihm weggehen oder den Schlüsselbund nun auch tatsächlich herausziehen. Dafür fesselt er mich zu sehr mit seinen unwirklich blauen Augen. Dem Eindruck, dass er absichtlich so getan hat den Schlüssel nicht zu finden, den kann ich nicht loswerden. Kein Wort bekomme ich über meine Lippen, ein wenig wieder wie diese alt bewehrte Mundversiegelung vom ersten Tag. Unsere Gesichter nähern sich, doch mit einem Ruck fällt er fast auf mich.
Er ist ja nicht dick, aber Gott er ist schwer.
Der kleine Sir hat wohl beschlossen auszuprobieren was passiert wenn er mal richtig zieht.
Eden strahlt noch immer diese wunderbare Wärme ab. Nur wenn ich noch länger so dastehe falle ich entweder um oder breche mir irgendetwas. Also stelle ich Eden halbwegs fest auf die Beine, scheue Sir Charles in die entgegengesetzte Richtung, sorge dafür, dass der Kleine sitzen bleibt und muss dabei auch noch einen Lachanfall unterdrücken.
Erst dann können wir ins Haus. Immerhin ist der Schlüssel aufgetaucht, ich irre mich nämlich, er wollte zu keiner Zeit nur mir nahe sein. Die Treppe ist aber noch immer nicht mein Freund. Mein Herz rast am letzten Absatz und ich keuche vor mich hin. Meine Haltung leidet ein bisschen und auch ansprechen sollte er mich jetzt nicht. Ich kriege so schon keine Luft.
Nur noch die Schuhe ausziehen und dann gehen ich hinein, hänge die Jacke an die Garderobe und schleppe mich zum Sofa. Wirklich meine Kondition ist völlig dahin.
Sobald ich sitze lege ich meinen Kopf auf die Rückenlehne oben auf, schließe meine Augen und atme einfach ganz tief. Die Geräusche die ich von Eden höre sind eindeutig, er gibt dem Hundchen sein Fressen und breitet sein Hundebett richtig aus. Ich öffne ein Auge, um zu sehen was auf diese Geräusche folgt. Der Stoffmops wird kurzerhand zur Gesellschaft des lebendigen. Dieser widmet sich dann auch sehr leidenschaftlich dem Kuscheltier, indem er an einer der Pfoten herum nagt.
Schnell schließe ich meine Augen wieder, denn Eden dreht sich zu mir.
„Fang jetzt bloß nicht an einzuschlafen... Der Tag ist fast um und du schuldest mir noch etwas...“
Mein Herz macht einen kühnen Sprung, seltsames Gefühl.
„Ich schlafe nicht...“
Auch wenn er jetzt zu mir geht, ich sehe ihm nicht in die Augen oder öffne meine.
Ich spüre, er setzt sich neben mich und sieht mich an.
„Dann kannst du ja sprechen.“
Mein Mund ist aber schon fast zu trocken um zu sprechen.
„Am Liebsten würde ich aber nichts sagen...“
Immerhin ich schaffe es noch ehrlich zu sein. Habe ja eh kein Talent zu lügen.
„Ist mir klar, ist mir aber auch im Augenblick völlig egal.“
Natürlich ist ihm das egal, aber ich habe Angst vor dem was er sagen wird.
„Du bist sicher, du willst wissen was ist?“
„Ja.“
Langsam öffne ich die Augen, starre noch einmal ein wenig an die Decke und erst dann in seine Augen.
„Ich bin krank... Wirklich krank... Nichts psychisches.“
So weit so gut, da habe ich aber etwas vergessen.
„Das ist noch kein Grund zu verschwinden.“
Doch da ist er wieder, der sorgenvolle Schimmer in seinen wunderbaren Augen.
„Doch ist es...Ich wollte dich nicht belasten... Auch weil wir uns doch noch gar nicht wirklich kennen.“
Langsam wird es doch mit meinem Mund. Nur gerade fühle ich mich so gesprächig, wie ich es noch Vorgestern war, gar nicht. Es soll sich einfach nichts verändern, aber das ist Blödsinn und ich weiß das gut genug.
„Ich halte was aus, versprochen.“
Ich lächle so wie ich es immer tue, wenn ich weiß, dass jemand etwas ernst meint, aber ich in dem Fall nicht glaube das es stimmt.
„Wenn morgen der Tag zu Ende geht, dann werde ich nicht mehr da sein... Ich sterbe.“
Stille. So still war es noch nie hier. Es ist als würde selbst mein Herz aussetzen um nicht am Ende noch hörbar laut zu Pochen. Seine tief blauen Augen liegen auf mir, sehen für den Moment einfach leer aus.
Erst ein paar Minuten wird die Stille durchbrochen, allerdings nicht durch Eden, sondern Sir Charles, der wohl eingeschlafen war und nun sehr laut begann zu schnarchen.
„Du wirst... sterben...“
Zur Abwechslung war mein Kopf einfach nur still, keine Regung.
„Ja...“
„Du bist erst 17...“
„Das ist egal... Und ändert nichts...“
„Du wolltest mich beschützen als du gestern abgehauen bist...“
„Ich habe es zumindest versucht.“
„Man kann nichts tun? Gar nichts ich meine, etwas...“
Ich sehe zu Boden, das Entsetzen in seinen Augen, ich kann es nicht ertragen.
„Nichts... Sie haben wohl keine Möglichkeit mehr.“
„Das ist...“
„Nicht fair...“, widerwillig sehe ich zurück in seine Augen, immer noch Entsetzen. „Es ist wie es ist... Wenn du willst das ich gehe... Ich... würde es verstehen.“
Erneut einfach nur Stille. Zu gern würde ich wissen, was er denkt. Denn seine Augen werden glasig, als würde ihm gerade hunderte Dinge durch den Kopf gehen. Unwohl ist nicht einmal annähernd das wie ich mich gerade fühle. Nicht nur das ich ihm gerade den Schock seines Lebens verpasst haben dürfte, ich merke jetzt auch selbst wie seltsam unwirklich meine Geschichte klingt. So etwas darf doch eigentlich nichts ein. Wie schön wäre es, wenn es wirklich nicht ist wie es ist. Eine Regung, eine Bewegung, eine Hand wie die eines Löwenjungen an meiner rechten und an meiner linken Schulter, ein Ruck und meine Lippen liegen auf seinen.
Er küsst mich!
Meine Verwirrung ist perfekt. Ich erwidere seinen Kuss und er hält eine kleine Weile an, eher er ihn löst und mich an seine Brust drückt, seine Arme sehr fest um meine Schultern legt und sein Gesicht halb in meinen Haaren versenkt.
„Ich lass dich nicht allein.“, ein ganz leises Nuscheln ist das nur, aber ich höre es und kann es kaum glauben.
Zaghaft lege ich meine Arme um seine Mitte und drücke mich an ihn.
Meine Augen es ist wie eine Sintflut, alle Dämme brechen und mir kullern Tränen die Wangen hinab. Ich merke ganz genau welche Wege sie nehmen. Sein T-Shirt wird ganz nass, aber er lässt mich nicht los, er hält mich einfach nur fest und ich kann meine Tränen einfach nicht zum Erliegen bringen.
Ich muss immer weiter weinen und denke dabei einfach nichts, nur dass ich mich an ihm festhalten muss, sonst glaube ich, dass ich einfach in lauter kleine Einzelteile zerfalle. Die Sturzbäche fließen solange, bis ich leer geweint bin und einfach an seiner Brust einschlafe.
Eines habe ich geschafft, meine Angst, dass sich etwas verändern könnte, sie ist mit all dem salzigen Wasser aus meinen Augen davon getrieben.
Das einzige was ich kurz vom dem Einschlafen noch fühle ist Dankbarkeit, dass er mich hält, so fest, dass ich weiß, ich bin noch immer da.

Tag 1



Tag 1
Ganz warm liege ich als Paket in Edens Armen. Meine Rechte Gesichtshälfte ganz fest an seine Brust gedrückt, die Beine angezogen, den Arm auf dem ich nicht liege um seinen Bauch geschlungen und gerade schon wieder so elendig wach.
Wenn ich mal ausschlafen will kann ich es nicht, ganz toll... Na ja, so ist das leben.
Aber gut nicht zu ändern, liegen bleiben kann ich ja wenigstens. Wir haben schon wieder auf seiner Couch geschlafen, zum Glück ist die so weich, sonst wäre das eine ganz schöne Quälerei. Wobei, gut für Rücken ist es bestimmt trotzdem mich, aber darum muss ich mich heute sicher nicht mehr kümmern.
Gestern war so ein seltsam leerer Tag. Ich weiß auch nicht warum. Meine Gedanken das was ich getan habe, das war irgendwie nicht so ganz ich. Was Angst doch tun kann. Und ich hatte gestern höllische Angst. Die Wahrheit hätte so unglaublich viel verändern können. Er hätte mich einfach fort schicken können oder mich fragen können warum ich es zu lasse das wir uns so anfreunden. Ja, gut, der Kuss gestern Nacht, der ist nicht mehr besonders freundschaftlich gewesen, aber bis dahin waren wir Freunde, sind es noch. Hätte ich gewusst was meine Wahrheit verändert, ich hätte sie früher preisgeben.
So habe ich jetzt noch diesen einen Tag in dem ich nichts mehr fürchten muss. Keine Wahrheit die mir meine Kehle zuschnürt, keine Angst die mich davon abhält zu genießen was ich wirklich genießen will. Fair ist nichts in meinem Leben, aber immerhin gibt es mir zum Schluss noch eine Chance für mich lebendig zu sein.
Vorsichtig strecke ich meinen Kopf so weit ich nur kann um in sein Gesicht zu sehen.
Noch strahlt mich kein Blau an. Heute schläft er wirklich noch, zum Glück, sonst müsste ich mir überlegen, jetzt schon, was ich ihm sagen soll. Ein Danke wäre nicht annähernd genug, aber mehr würde mir jetzt so spontan nicht einfallen.
Zurück mit dem Ohr an seiner Brust muss ich mich ehrlich fragen woher all diese Tränen kamen. Ich habe seit Jahren nicht mehr geweint. Nicht als meine geliebte Nana gestorben ist, nicht als ich von allem weg musste was ich geliebt habe, nicht als ich wusste, wie krank ich bin und schließlich genauso wenig als die Nachrichten mir eine Nachricht verkündet haben, die ich nicht mehr verdauen kann.
Aber als er mich so gehalten hat, so fest wie schon lange niemand mehr, das konnte ich einfach nicht anders. Alle Wut, alle Zorn, auf meine Eltern, das Leben musste raus. Da habe ich erst gemerkt, wie viel Trauer in mir steckt. Aber wirklich alles ist davon geschwommen und nichts mehr übrig geblieben.
Ich kann nicht verzeihen, aber vielleicht einfach vergeben. Was bringt mir jetzt noch Hass? Gar nichts, er macht mein Herz nur schwer und meine Gedanken dunkler als gut für mich ist. Egal was man mir angetan hat, ich kann daran nichts mehr ändern.
Eden atmet tiefer ein, zuckt ein bisschen, er ist wach.
„Guten morgen.“
Na das ist doch mal ein ganz guter Anfang.
„... Mhm... Morgen...“
Sein Nuscheln kann ich ja mittlerweile ganz gut verstehen.
„Hoffe ich war nicht zu schwer...“
Ich sollte nicht schon wieder mit drum herum reden anfangen.
„... Du bis' eine Feder... Keine...“, ausgiebiges Gähnen, sieht aus wie ein Blizzard, „... Sorge.“
„Na dann ist ja wirklich alles gut...“
Stille, ich weil ich immer noch keinen Plan habe was ich ihm sagen soll, er, weil er vermutlich einfach noch hundemüde ist und wenig Lust darauf hat zu sprechen. Also schweigen wir ein wenig, bis er mir mit der Hand durchs Haar streicht und mein Kinn etwas nach oben drück, da wehre ich mich mal nicht.
Jetzt strahlt mich das blau allerdings an, ich kann meine Augen nicht abwenden, unfair.
„Geht es dir gut?“
Wenn ich jetzt keine ordentliche Antwort gebe denkt er noch, meine Krankheit hat sich aufs Denkvermögen niedergeschlagen. Erst mal räuspern sonst kommt nur ein ersticktes Quietschen aus meinem Mund, denke ich zumindest.
„Ja, es ist alles in Ordnung... Gestern...“
Warum schüttelt er denn jetzt den Kopf?
„Nicht bedanken, hätte ich das nicht gemacht wäre ich ein miserabler Mensch...“
Okay, jetzt habe ich gefühlt meine Zunge verschluckt. Wie soll ich denn da noch etwas drauf erwidern?
„Ich...“
Nein, mir fällt wirklich nichts ein.
Wobei, doch etwas fällt mir sehr wohl ein. Erst einen dann seinen anderen Arm wegschieben, dann sich aufsetzen und beide Hände an jeweils eine Wange legen. Ich beuge mich vor uns nähere mich seinen Lippen, er ist immer noch so warm und riecht immer noch so wunderbar, wobei ich noch immer nicht herausgefunden habe wonach. Ich küsse ihn, eine ganze Weile sogar, wobei er sich dagegen wirklich nicht wehrt, ganz im Gegenteil.
Als ich mich löse sind seine Augen gleich wieder in meinen. Ob er mich versucht damit in dieser Welt zu halten? Es macht ganz den Eindruck.
„... muss dir wohl doch danken...“
Auch wenn jetzt schon einige Zeit dazwischen vergangen ist, den Satz wollte ich doch zu Ende bringen, auch wenn ich einfach nicht das ausdrücken kann, was ich ihm so gern sagen würde. Ich muss einfach hoffen, er versteht was ich vergeblich versuche zu sagen.
„Okay...“
Schneesturmlachen. Wie sehr ich das mittlerweile liebe.
„Du hast nicht zufällig noch Brötchen?“
Da war kurz ein sehr seltsamer Ausdruck in seinen Augen. Würde nur zu gerne wissen was das jetzt war.
„Nein, leider nicht... Wir können ja nachher was essen gehen...“
Sah er gerade unehrlich aus?
„Okay... Aber ich glaube, ich werde noch mal dein Badezimmer in Beschlag nehmen...“
Er nickt, lächelt ganz leicht und lässt mich aufstehen. Wobei ich da mich erst einmal aus falten muss, ich habe mich ganz schön verknotet. Als ich es dann endlich, unfallfrei, geschafft habe wieder auf festem Boden zu stehen gehe ich hinüber zu Sir Charles. Er hebt den Kopf und scheint regelrecht zu grinsen.
„Ja, du zeigst mir auch, was Leben ist... Danke dir dafür...“
Das kann wirklich nur er gehört haben, denn meine Stimme habe ich so leise gestellt dass ich sie selbst kaum noch höre, wusste gar nicht das ich das kann.
Erst dann gehe ich ins Bad.
Noch einmal baden, noch einmal federleicht dahin schweben und sich ganz und gar geborgen fühlen, dass ist mein gutes Recht heute. Also drehe ich wieder den Wasserhahn auf, schnappe mir die Flasche mit seinem Duschgel und kippe etwas davon ins Wasser.
Schnell habe ich mich aller Kleidung entledigt, erst Hose, dann Shirt und zuletzt natürlich der Unterwäsche. Die Badewanne hat sich schnell gefüllt. Ich tauche ganz und gar ein, habe das Wasser natürlich längst abgedreht und lege meinen Kopf, mit geschlossenen Augen, an den Rand.
Ich meine Geräusche zu hören, die nach dem laufenden Fernseher klingen. Er muss sich wohl die Zeit vertreiben.
Mit einem tiefen Atemzug tausche ich noch einmal ganz unter.
Es ist so surreal, ich habe mich verliebt, ich habe ihn geküsst, ich habe mein Leben was ich haben will. Warum bloß bekommt man das was man wirklich will, erst so spät? Wenn es schon fast zu spät ist? Ich weiß es nicht, aber warum mich beschweren? Es ist alles da, ich kann es noch ein letztes Mal nutzen!
Sobald ich wieder oberhalb des Wassers bin muss ich nach Luft schnappen und mir besagtes auch aus den Augen reiben.
Danach mache ich alles so schnell ich es kann. Keine Zeit mehr verschwenden. Anziehen, Haare kämmen, Haare föhnen, Kajal um die Augen und wieder zurück ins Wohnzimmer. Sobald ich heraus komme, verstummt der Fernseher. Ein bisschen seltsam, aber gut, darüber denke ich jetzt einfach nicht nach.
Eden ist auch schon angezogen und der Minimops wuselt um seine Füße. Ich mag das Bild.
„So, wollen wir schon los laufen?“
Egal wohin, einfach nur ein bisschen Bewegen.
„Nee, noch nicht sofort, Claire kommt gleich vorbei und holt den Winzling...“
Schade, ich habe ihn ins Herz geschlossen.
„Okay, gut, dann warten wir also...“
Weil stehen für mich ein wenig zu anstrengend auf Dauer ist, setzte ich mich noch einmal neben Eden. Kann nicht schaden. Sobald ich sitze legt er mir einen Arm um die Schulter und zieht mich an sich. Herr Gott er bringt mich immer noch völlig aus dem Konzept.
Nur etwas muss ich noch sagen, wobei ich ihm dabei lieber nicht in die Augen schaue, das machte es doch irgendwie leichter in ganzen verständlichen Sätzen zu sprechen.
„Kannst du mir etwas versprechen?“
Seine Augen mir gerade, er ahnt was er versprechen soll und will nichts versprechen.
„Ja, kann ich... Wenn ich weiß was ich versprechen soll...“
„Versprichst du mir, da zu sein und bei mir zu bleiben, aber nichts zu unternehmen... Ich weiß, dass man mir nicht mehr helfen kann...“
Jetzt schreien seine Augen mich schon fast an.
„Ich verspreche, nichts zu tun, was sinnlos oder überzogen wäre...“
Also... Ich bin jetzt wirklich nicht sicher was genau er jetzt versprochen hat. Ein bisschen fühle ich mich jetzt hintergangen. Er hat aber eigentlich genau das gesagt was ich wollte das er versprich. Oder?
„Gut...“
Also wirklich, wie kann er so treu gucken und dabei so sehr die Botschaft senden genau das Gegenteil davon zu meinen was er sagt. Mir bliebt nichts anderes als noch einmal nachzuhaken, so kann ich das doch nicht ganz stehen lassen.
Nur macht mir die Türklingel einen Strich durch die Rechnung. Claire hat wirklich ein verflucht gutes Timing, jedenfalls für Eden. Ich finde das jetzt nicht so toll. In beeindruckend schnellen Tempo ist er an der Tür und öffnet sie. Eindeutig, er geht gerade einem Gespräch mit mir aus dem Weg. Das macht ihn jetzt nicht gerade glaubwürdiger.
„Morgen ihr Lieben...“
Claire scheint ja sehr beschwingt zu sein. Immer noch finde ich, dass man nicht schon um diese Uhrzeit derartig agil sein sollte. Ich würde sagen, sie steht immer nur um diese Zeit auf.
„Morgen...“
Eden und ich haben es jetzt doch tatsächlich synchron Claire zurück zu grüßen.
Sie tritt ein, er schließt die Tür und Beide kommen ganz hinein ins Wohnzimmer.
„Hoffe der Sir war nicht ungehobelt.“
Wenn man sie so reden hört könnte man glatt glauben, der Sir wäre ein Mensch...
„Nee, er war artig...“
Bei Eden bleibt allerdings kein Zweifel, was der Sir ist. Tierlieb wird er wohl nie werden.
„Na das höre ich doch gern...“
Endlich bequemt sich der, um den es gerade geht, auch zu ihnen.
„Ahhhh da ist er ja.“
Schon verliert der kleine Mops mal wieder den Boden unter den Füßen und sitzt im Arm von Claire.
„Er sieht sehr fröhlich aus...“
Ich darf jetzt nicht lachen, aber der Blick von Eden verleitet schon sehr... So zweifelnd habe ich glaube noch keinen Kerl dreinschauen sehen.
„Na ja, er ist halt ausgelastet... Wir sind gestern ziemlich viel gelaufen.“
Ein sehr breites Lächeln, eben ein Claire Lächeln, für Eden, dann wandert der Blick zu mir und ich lächle ehrlich zurück.
„Sehr schön, dann habe ich ja die richtigen Hundesitter ausgesucht.“
„Ja, hast du wohl...“
Ich stehe jetzt auch mal auf, immerhin sieht das sonst so aus, als wolle ich mich nicht der Runde anschließen. Was ja nicht so ist.
„Er wird sich freuen seine Mama wieder zu sehen... Werde ihn wohl doch einfach behalten...“
Ich weiß worauf sie hinaus will, Eden nicht.
„Ja, mach das, ist doch bestimmt auch besser für den Winzling...“
Sie war eben nicht deutlich genug.
„Na ja, aber eigentlich braucht er schon ein anderes Zuhause, es ist schon wichtig für ihn...“
Ja, jetzt wird es schon eindeutiger.
„Dann solltest du eben nach einem neuen Besitzer suchen, der nicht gleich bei der ersten Schwierigkeit den Kleinen wieder zurück gibt.“
Da muss Claire noch eine Schippe deutlicher werden. Ich halte mich da raus, immerhin will die Künstlerin ihm ja den Hund andrehen und nicht mir.
„Aber dann muss es wirklich jemand sein, den er sehr gut leiden kann und wo er sich wohl fühlt...“
Wir machen Rückschritte.
„Ja, den wirst sicherlich finden.“
Er lächelt ihr wohlwollend, so ein Lächeln habe ich bei ihm auch noch nicht gesehen, zu. Jetzt sieht sein Gegenüber eindeutig deprimiert aus. Verständlich wenn er einfach nicht verstehen will.
„Ja, Eden, wird sich schon finden...“
Heute ist es eben wohl nicht so ganz der richtige Moment um zu versuchen einen kleinen Mops an den Mann bringen zu wollen. Aber daraus kann man ihr wirklich keinen Vorwurf machen, sie weiß es ja nicht und wird es heute auch nicht mehr erfahren.
„Na siehst du...Immer positiv denken...“
Er ist schon süß wenn er einfach nicht rafft worum es gerade geht.
„Ja... Also ich werde jetzt mal zurückgehen, sonst ist die Lady allzu ungehalten.“
Dafür dass sie die beiden Lady und Sir genannt hat, müsste man ihr einen Preis überreichen.
„Gut... Dann versorge mal deine Lady...“
Nur was jetzt kommt, ist nicht so besonders schön
„Bis dann Claire...“
Ich schnappe mir den Minimops, knuddle ihn auch noch einmal und setze ihn dann für einen Moment auf den Boden. Mit einem leichten Lächeln umarme ich die junge Frau ganz fest. Ein Abschied ist nie schön,besonders nicht, wenn er für lange ist, aber jetzt weiß ich, noch viel unschöner ist es, wenn der Abschied für immer, ein sehr endgültiges immer, ist. Erst nach ein paar Augenblicken lasse ich sie los.
„Für so wenig Person hast du ganz schön viel Kraft...“
Sie klingt ein bisschen atemlos.
„Ja, nicht immer auf den Einband achten...“
So altklug habe ich gar nicht klingen wollen, na, jetzt ist es auch schon zu spät.
„Eindeutig... Okay... Bis die Tage, immerhin muss ich dir dein Bild noch zeigen...“
Schade dass ich es nicht mehr sehen werde.
„Ja, na klar doch...“
Es gab noch einen kurzen Drücker für Eden, schon hatte sie Sir Charles wieder vom Boden aufgesammelt und ging zur Tür hinaus.
„Es ist besser wenn sie es nicht weiß.“
Ich sage das ganz leise, ein bisschen, um mir es selbst zu bestätigen, ein bisschen, damit er mir auch zustimmen kann. Ich hoffe zumindest, dass er mir zustimmt.
„Ja, ist es...“
Ein wenig stehe ich noch da und sehe zur Tür, als er mir eine Hand auf die Schulter legte und mich noch einmal zu sich zieht. Ich umarme ihn nur zu gern.
„Wir sollten mal los gehen...“
Ich nicke nur still, wir lösen uns und gehen zum Flur, ohne Schuhe und Jacke wäre es doch etwas kühl. Sobald alles angezogen ist geht es die Treppe hinunter, ich poltere extra laut, und zur unteren Haustür hinaus, auch hier mache ich noch zusätzlich viel Lärm. Musste ich einfach noch einmal machen.
Wir gehen dann auch einfach los, in irgendeine Richtung.
„Wie kommt Claire eigentlich ohne Schlüssel immer schon direkt vor deine Haustür?“
Ich meine etwas in seinen Zügen sehen zu können, was nach wenig über Freude für diese Tatsache aussieht. Ich fände es vermutlich auch nicht so besonders toll, wenn eine Freundin von mir ohne dass ich etwas zu kann vor meiner Tür steht.
„Wenn ich das wüsste... Du glaubst gar nicht wie oft ich sie dass schon gefragt habe, aber zur Antwort bekomme ich immer nur, dass das ihr kleines Geheimnis ist... Ich habe schon öfter vermutet dass sie meinen Schlüssel irgendwie nachgemacht hat und nur aus reiner Höflichkeit noch an meiner Haustür klingelt...“
Das Missfallen steht ihm jetzt doch ganz offensichtlich in den furchtbar blauen Augen.
„Ach nein, bestimmt nicht... Ich meine hat sie sicher nicht gemacht...“
Wenn ich mir da nur ehrlich so sicher wäre, ein bisschen würde ich ihr so etwas doch zutrauen.
„Egal was sie macht, sie steht immer schon vor der Eingangstür egal wie ungern ich sie gerade einlassen will...“
Ob sie ihn schon einmal in einer noch unangenehmeren Situation überfallen hat?
„Sag ihr das doch...“
Ich ernte einen sehr empörten Blick.
„Was glaubst du denn was ich ständig mache? Aber unsere Künstlerin hört ja nicht.“
Warum auch, wenn sie nicht hören will, hört sie nicht, dafür dürfte sie eben viel zu stur sein, nur Eden steht ihr in dem Punkt wohl eher in nichts nach.
Aber das Thema jetzt noch weiter zu vertiefen war nicht ratsam.
Also muss ich mir ein anderes Thema oder eine andere Beschäftigung suchen. Für dem Moment, reichte s sich umzuschauen, denn wir laufen gerade in ein mir bis dahin weitgehend unbekanntes Stadtviertel hinein. Hier war es ziemlich leer und sah auch sonst ganz schön trostlos aus. Eine Brücke über die die S-Bahn fahren dürfte und ein paar verwilderte Grundstücke ringsherum, die zwar eingezäunt aber völlig verwahrlost sind. Gastlich ist anders.
„Ich bin zwar auch für einfach mal loslaufen und sehen was dann kommt, aber in dieser Gegend würde ich irgendwie ungern bleiben... Was soll hier schon sein?“
Jetzt sieht Eden mehr als erfreut aus, wieder schafft er es mich allein mit seiner Mimik zu verwirren.
„Ja, aber wie hast du noch gerade vorhin gesagt? Nicht nach dem Einband beurteilen...“
Jetzt wird mein eigener Spruch gegen mich verwendet.
„Ach komm schon, was kann ich denn hier bitte falsch beurteilen? Das ist ein verlassenes Viertel... Mit ein paar Häusern und ein paar kleinen Fabrikgebäuden...“
„Könnte man denken ja... Hast du schon mal die Zauberhafte Welt der Amélie gesehen?“
Ich ziehe die rechte Augenbraue hoch, so wie ich es immer tue, wenn ich glaube dass ich hinters Licht geführt werde.
„Nein, ich kenne auch keine Amélie und von der würde ich bestimmt auch nicht ihre Welt sehen wollen...“
Ein Schneesturmlachen. Warum lacht er denn jetzt? Lacht er über mich?
„Ich meinte einen Film und keine reale Persont...“
Oh man, jetzt wird mir wieder ganz heiß, aber dieses Mal ist es mir nur peinlich.
„Den habe ich auch noch nie gesehen... Aber der kommt auch bestimmt schon länger nicht mehr im Kino...“
Ein sehr breites Grinsen für mich.
„Siehst du und deswegen ist diese Gegend nicht ganz so trostlos, wie sie aussieht...“
Er ist wohl doch nicht so ganz planlos einfach losgelaufen.
Und die Idee einen derartig berühmten Film zum Ende hin zu sehen, ist gar nicht schlecht...
Mir fällt nur gerade auf, dass wir ganz schön früh schon aufgestanden sind. Ich bekomme das mit der Zeit schon nicht mehr so ordentlich hin, doch als ich auf seine Armbanduhr schaue steht der Zeiger gerade erst auf elf Uhr. Himmel, Claire war wieder viel zu früh da.
Wir gehen weiter und biegen in eine lange Straße aus ziemlich zerfallenen Wohnhäusern ein. Es scheint alles ganz grau zu sein, auch wenn die Sonne ihr bestes gibt um die Welt hell zu erleuchten. Das kümmert die Tristes hier allerdings kein bisschen, sie bleibt.
Früher war das hier bestimmt mal ein gar nicht so hässliches Viertel, aber als die jungen Menschen ausblieben dürfte es einfach ausgestorben sein und nun kümmert sich niemand mehr darum. Ist ja auch nicht gerade am Puls der Stadt hier, da ziehen die Jungen wahrscheinlich viel lieber weiter hinein in die Stadt.
Wir müssen aber schon ein Weilchen laufen, denn vom Haus indem Eden wohnt sind wir ein ganzes Stück weit weg. Aber das ist gut, ich finde laufen immer noch besser als mit irgendwelchen öffentlichen Verkehrsmitteln oder Autos zu fahren. Zu eng mit zu vielen Menschen auf einem Raum hocken zu müssen wird nicht mehr meine liebste Beschäftigung werden, ganz eindeutig nicht.
Bis zum Ende gehen wir diese traurige Straße hinab, nach rechts in eine weitere Straße, hier stehen an beiden Seiten lange Häuser, früher vermutlich Fabrikhallen, heute einfach nur zu groß geratene Häuser ohne Sinn. Auch diese Straße scheint kein Ende nehmen zu wollen, doch die gehen wir nicht bis ganz zum Ende, wie ich erfreut feststellen darf.
Eden lenkt mich in eine winzig kleine Seiten Straße. Dann erst sehe ich das Schild. In großen Lettern steht da geschrieben 'KINO'. Das ist nun doch überraschend. Hier würde doch wirklich niemand ein Kino erwarten. Vor allem wer fand denn das hier, gut Eden, aber sonst? Na ja, die Miete dürfte in diesem Teil der Stadt vermutlich ziemlich überschaubar sein.
„Und du bist sicher, dass das jetzt schon auf hat... Oder überhaupt irgendwelche Filme zeigt?“
So ganz kann ich das nicht glauben.
„Völlig sicher... Ein bisschen mehr vertrauen in mich bitteschön...“
Ich zucke immer noch wenig überzeugt mit den Schultern und lass mich mit ihm ziehen.
Das Kino schien im Keller zu sein, denn die Treppen führten hinab. Dort war es viel weniger muffig, als ich es gedacht hätte. Vor allem erstaunlich warm.
Der Raum ist nicht besonders groß, aber doch irgendwie gemütlich. Die Wände sind in sattem Rot gestrichen, er Boden mit weichem nicht weniger rotem Teppich ausgelegt und die Theke an der es Popcorn und sonstigen Süßkram geben dürfte sah aus, wie aus den alten Filmen, in denen die Schauspieler ins Kino gingen. Überhaupt fühle ich mich in der Zeit zurück versetzt.
„Das es so etwas noch gibt...“
„Habe ich dir doch aber von Anfang an gesagt...“
Jetzt klingt er aber ganz schön altklug.
„Nein, hast du im Grunde nicht, du hast mir nur gesagt, dass wir hier einen alten Film gucken können und nicht das es hier ein Kino gibt was so aussehen soll wie die Kinos früher...“
Ich grinse Frech und setze mich auf eines der roten Sofas welche hier herum stehen. Die dürften ihre besten Tage schon eine Weile hinter sich haben, aber gemütlich waren sie dann doch immer noch. Und das sie etwas abgenutzt waren passte irgendwie in das Bild was dieser Raum vermitteln wollte. Nur vielleicht etwas rot...
Er steht allerdings noch immer herum und scheint jemanden zu suchen. Ich höre Schritte und nun sehe ich auch jemanden.
„Oh, na dass ist doch mal eine Freude...“
Ein älterer Herr ist aus dem kleinen Flur leicht versetzt zur Süßigkeitentheke gekommen. Wasserblaue Augen, silbergraues Haar und Kleidung die wirklich nur alte Männer tragen. Aber es passte schon zu ihm. Doch das was ich am spannendsten finde, sind die unglaublich tiefen Falten in seinem Gesicht. Er ist nicht nur zerknittert, sondern sieht etwas aus, wie diese Faltenhunde, von denen mir gerade der Rassenname nicht einfallen will. Das tut aber seinem Aussehen keinen Abbruch. Denn er sieht aus, als hätte er viel gesehen und noch mehr erlebt im Leben. Aus Höflichkeit stehe ich dann doch wieder auf und gehe hinüber zu den Beiden.
„Ja, ich dachte ich komme mal wieder hier her, Eddie...“
Der Mann soll im Ernst Eddie heißen?
„Na das freut mich doch... Aber stell mich doch erst einmal deiner hübschen Begleitung vor...“
Der Alte hat einfach diesen bestimmten Charme, denn nur alte Männer haben können.
„Oh, ja na klar... Mimi, das ist Eddie... Eddie, das ist Mimi...“
Wenn ich mich nicht irre zieht Eddie gerade seine Stirn kraus, etwas schwierig zu sagen, weil er ja schon so viele Falten hat.
„Also ja, ich möchte lieber das man mich Eddie nennt, weil man mich schon so nennt seit ich 20 bin, aber eigentlich heiße ich Eduard... Aber du heißt wirklich nur Mimi oder?“
Dachte ich mir es doch, niemand hätte ihn zu seiner Geburt Eddie genannt... Immer ist er schon mindestens 70 Jahre alt, da nannte man seine Kinder bestimmt nicht nur Eddie. Heute ist das ja dann doch etwas anders...
„Ja, nur Mimi...“
Unauffällig ergreift Eden meine Hand.
„Gut... Was wollt ihr Beiden denn sehen?“
Kann man sich das im Kino denn aussuchen?
„Die Zauberhafte Welt der Amélie...“
Er zeigt ein erfreutes und noch sehr weißzähniges Lächeln.
„Na den lege ich doch nur zu gerne ein... Ist zwar noch lange kein echter Klassiker, aber ein guter Film... Wollte schon länger niemand mehr sehen...“
Tatsächlich, hier kann man sich seinen Film aussuchen.
„Dann gehen wir schon einmal vor... Popcorn gibt’s ja nur Sonntags...“
Okay, seltsames Kino, aber gut.
„Janz genau...“
Ich wundere mich gar nicht erst über seinen Dialekt und gehe mit Eden, Hand in Hand durch einen schmalen Gang, ebenfalls in sattem Rot. Eddie scheint ja wirklich sehr auf die Farbe Rot zu stehen. Es sei ihm gegönnt.
„Kennst du ihn gut?“
Im leichten Dunkel des Ganges kann ich seine wunderbar blauen Augen nicht so gut erkennen.
„Ziemlich gut... Habe das hier entdeckt da war ich gerade erst 15...“
Wieso geht man denn mit 15 Jahren in die Ecke der Stadt?
„Das ist ja dann wirklich ziemlich lange...“
Ich habe das Gefühl er wird mir sicher nicht sagen, warum er so jung hier herum streifte.
„Habe früher auch mal hier gearbeitet... Eddie ist echt ein ganz lieber Kerl... Nur Kenner wissen von dem Kino...“
Ich muss lachen.
„Hey, dann gehöre ich jetzt offiziell zu den Kennern...“
Ganz sanft stupst er mir mit einem freien Finger in die Seite, ein Glück, dass ich da nicht kitzlig bin.
„Hast du glaube ich schon immer...“
Selbst im Halbdunkel kann ich sein Schneesturmlachen sehen.
Wir betreten den kleinen Kinosaal und der sieht auch ein bisschen nach vergangenen Zeiten aus. Die Sitzen sind allerdings um Längen gemütlicher als die im normalen Kino... Und die Beinfreiheit erst. Hier bleibt man doch nur zu gerne sitzen.
Er legt einen Arm um meine Schulter, ich kuschle mich in seine Seite und seufze innerlich.
Das ich erst dem Tod ins Auge sehen muss, um wahrhaftig glücklich zu sein ist schon ganz schöner Mist.
Nur ein paar Minuten später wird der zuvor noch ein wenig erleuchtete Raum ganz und gar dunkel und auf einem kleinen Schlitz oberhalb des Raumes flimmerte der Film auf die nicht besonders große Leinwand.
Es ist, alswürde man in eine Gesichichte hineingesaugt die man einfach nicht so wirklich verstehen kann. Sie ist nicht so klar strukturiert, sie ist nichts, was man sofort verstehen kann, aber sie ist besonders. Das ist sicher kein Film, den ich mir allein und völlig freiwillig angesehen hätte, aber ich hätte es bereut. Auch wenn es nicht dem Klischee eines Filmes entspricht, die eine Jugendliche schauen sollte. Na ja, aber ganz ehrlich, was ist den bei mir gerade noch normal? Rein gar nichts, so viel ist klar. Also genieße ich, das die Bilder und mich immer ein wenig überfluten und ich diesen Film irgendwie einfach lieben muss und dabei schulde ich ja auch Eden Dank.
Wir bleiben sogar noch sitzen, als der Abspann beginnt und schauen ihn bis zum Schluss.
„Das war schön...“
„Ja, war es...“
Seine Hand liegt an meinem Kinn. Ich weiß was er vorhat und mache da gern mit. Einen Kuss. Nicht wie im Film, aber in der Realität mag ich dann doch lieber echte und keine Filmküsse... Jedenfalls keine von früher, gut, heute sind sie ja ziemlich echt, aber trotzdem ein realer Kuss ist etwas ziemlich anderes..
Erst danach stehen wir auf und gehen durch den schmalen dunklen Gang zurück in den Vorraum, in dem Eddie mit einer Zeitung auf einem der Sofas sitzt und eine Brille auf der Nase hat.
Sobald er uns hört sieht er auf.
„Hat es der jungen Dame gefallen?“
Ich weiß noch nicht ob mir die Bezeichnung junge Dame so wirklich gefällt.
„Ja, der Film war wirklich gut.“
Erneut wird mir sein breites und immer noch sehr weißzähniges Lächeln zuteil.
„Na das freut mich... Wollt ihr noch etwas bleiben?“
Eden schüttelt den Kopf, ehe ich noch darüber habe nachdenken können.
„Nein, wir wollen noch wohin.“
Wollen wir?
„Na dann sehe ich dich und die junge Dame ja mal vielleicht wieder.“
Nein, ich bin mir ziemlich sicher, das mir die Bezeichnung junge Dame nicht so besonders gefällt.
„Hm ja, bestimmt...“
Wir Beide wissen, dass er mich nicht wieder sehen wird.
„Sehr schön... Dann macht euch noch einen schönen Tag...“
Ich lächle dem Alten noch einmal zu und schon werde ich schon wieder aus dem Raum gezogen. Vermutlich will er das Thema wiederkommen oder eben nicht nicht vertiefen. Nur hat er mir auch gerade den Rücken zu gewendet, sodass ich nicht sehen kann, was in seinen Augen steht. Ob das Absicht ist? Nein sicher nicht, oder?
Erst als wir wieder zwischen den zwei großen Häusern vor dem Kino stehen sehe ich sein Gesicht wieder. Aber da gibt es jetzt schon nichts mehr zu lesen.
Ganz langsam nehmen wir den Weg, denn wir schon her genommen haben, vermutlich kennt er auch nur den einen. Und in dem Gewirr aus Straßen und Häusern würde auch ich eher ungern ausprobieren ob es noch einen anderen unbekannt Weg zurück gibt.
Nein, die Gegend ist auch in der vergangenen Zeit in der wir den Film geguckt haben nicht fröhlicher geworden. Ist ja auch eine leicht unrealistische Vorstellung das sich plötzlich alles verändert hat nur weil man ein Weilchen in einem dunklen Kinosaal saß.
Sobald es wieder freundlicher um uns herum wird, fängt Eden an sich ständig umzusehen. Leidet er jetzt unter plötzlichem und akutem Verfolgungswahn? Wobei, danach sieht er nicht einmal aus, eher danach, als würde er darauf achten wollen, dass etwas ganz bestimmtes nicht in der Nähe war. Ich finde das jetzt mal nur ein bisschen seltsam.
Wir gehen weiter und ich weiß schon jetzt, ich habe wirkliche keine Ahnung wohin es geht. Hätte mich wohl früher mehr mit dieser allen Anschein nach wirklich großen Stadt beschäftigen müssen. Nur hatte ich dafür nie ein Auge, ich habe es gehasst hier zu sein, an einem Ort an dem ich niemals sein wollte.
Aber dafür habe ich mich ja in den letzten Tagen ganz ausgiebig hier umgesehen und entdeckt, dass ich es hier doch ziemlich gern gemocht hätte.
Es geht immer weiter, um eine Ecke und dann stehen wir in einer weiteren kleinen Einkaufsstraße, die ich vorher auch noch nicht gesehen habe. Einige Läden, die ob der vielen Sonne große Markisen ausgefahren haben. Erstaunlich in wie vielen verschiedenen Farben es Markisen gibt. Schreiend rot, giftgrün, dunkelblau und alles passend zur Schaufensterdekoration... Ob die Besitzer der Läden dann immer eine neue Markise kaufen, sobald sich die Dekoration ändert? Bestimmt nicht, oder?
Er bleibt stehen und damit auch ich. Ein bisschen wie ein Auffahrunfall. Denn ich kann nicht schnell genug abbremsen und laufe einfach in ihn rein.
„Au... Ähm, gehen wir hier mal kurz rein...“
Ein Restaurant, mit weinroter Markise und zwei Staturen in weiß auf ebenso weißen Säulen vor der Tür. Ist das echter Marmor?
Aber gerade lässt er mir keine Zeit meine Gedanken weiter zu spinnen oder mich gar noch etwas genauer umzusehen. Warum hat er es denn gerade so eilig? Weil ich mich schon nicht in der Gegend umsehen kann, sehe ich in sein Gesicht. Etwas steht ihm im Gesicht, was ich bei ihm in den letzten Tagen auch noch nicht gesehen habe, etwas gehetztes steht ihm in seinen Zügen.
„Scusie, aber wir machen erst... Oh, Eden... Was machst du denn hier?“
Ein dicker kleiner Italiener kommt auf uns zugelaufen und natürlich er kennt ihn mal wieder.
„Toni... Ich muss mal ganz kurz mit dir reden...Mimi... Tut mir leid, setzt du dich kurz?“
Verwirrt nicke ich einmal und bin mir nicht sicher was ich davon halten soll. Toni ist vermutlich gerade ähnlich verwirrt, aber geht mit ihm mit, in die Küche. Ich setze mich mal auf einen der Stühle. Also das gerade war schon ein bisschen ein Italiener wie man sich einen so vorstellt. Na, aber dafür kann er ja nicht, freundlich sah er ja auch aus.
Gerade als ich dazu ansetze mich auch umsehen zu wollen, kommt ein anderer Kerl auf mich zu. Sieht wie ein Kerl aus, denn ich sonst eher nicht in einem italienischen Restaurant sehen würde. Eher in einem schicken Szenelokal. Einen schwarzen Anzug, schwarze Haare, kurz und nicht gekämmt, blutrote Krawatte. Ich will ja nichts böses denken, aber wenn ich noch einen Moment nachdenke sieht er wie doch nicht nach Szenegänger sondern nach Mafioso aus.
„Oh, was macht denn eine so hübsche Seniorina hier in unserem Lokal?“
Äh, schmieriges Lächeln und eindeutig zu musternder Blick.
„Auch Eden warten...“
Und schon wird der Blick nüchterner.
„Oh, wo ist er denn?“
Seine braunen Augen können absolut nicht mit den blauen die mich so hypnotisieren mithalten. Ich glaube das was mein Gegenüber sogar.
„In der Küche, er spricht mit Toni...“
So jetzt lächelt er gar nicht mehr.
„Ah... Dann werde ich...“
Ich werde wohl nie erfahren, was er wird, denn die Beiden kommen gerade wieder heraus.
„Oh Marco, genau richtig, zieh dich um und ab in die Küche, das Essen bereitet sich sicher icht von allein zu!“
So ein Aufschneider und dann der Koch...
„Mimi... Ich muss kurz weg... Nur ganz kurz... Eine halbe Stunde, eine Stunde, höchstens...“
Das hätte ich dann doch jetzt nicht erwartet? Mir bleiben nur noch ein paar Stunden und er lässt mich allein? Was kann so wichtig sein, bitte?
„Was...?“
In seinen Augen, da ist etwas, was nicht dahin gehört, aber ich weiß verdammt noch eins nicht was es ist.
„Toni bleibt bei dir... Ich komme wieder... So schnell ich kann!“
Ein flüchtiger Kuss und schon rennt er zurück in die Küche und ist weg. Der Tag ist schon seltsam. Aber hatte ich denn wirklich Normalität erwartet? Das passt doch gar nicht zu mir.
„So jetzt stelle ich mich mal vor... Antonio Medici... Aber du kannst mich ruhig Toni nennen... Ach und entschuldige meinen Koch, er weiß nicht was sich gehört.“
Spannend. Der Mann spricht lupenreines Deutsch, aber als wir rein kamen hatte er einen eindeutigen italienischen Akzent. Reine Fassade, damit die Gäste sich hier auch wirklich ganz wie in Italien fühlen. Schöne Scharade.
„Ich bin Mimi... Na, ich habe es ja überlebt... Weißt du wo Eden hin ist?“
Das brennt mir ziemlich auf den Nägeln. Ich meine, er weiß doch welcher Tag heute ist, warum geht er da einfach?
„Ähm, nein, tut mir leid, er wollte nur, dass ich kurz auf die aufpasse...“
Ein sehr routinierter Lügner. Kein Zucken im Gesicht oder ein gewisses Schuldgefühl in den Augen. Eiskalt ins Gesicht gelogen. Denn im Leben lässt er mich hier einfach nur aus reiner Freundlichkeit sitzen, wüsste er nicht wozu es gut ist... Es kann ja sein, das ich langsam unter Paranoia leide, aber hier ist einfach etwas im Busch.
„Hm... Okay...“
Nein, das gefällt mir gerade wirklich nicht.
Aber hilft ja nichts, wenn mir niemand sagen will was los ist kann ich das momentan nicht ändern.
Toni setzt sich zu mir und ich sehe ihm in die dunklen Augen.
„Ich würde dir ja etwas zu Essen anbieten... Aber wir machen erst um 18 Uhr heute auf... Deswegen ist noch nichts so richtig fertig...“
Na immerhin jetzt sieht habe ich wieder das Gefühl das er ehrlich ist.
„Ist ja nicht schlimm... Du kommst wirklich aus Italien oder?“
Enthusiastisches Nicken.
„Ich komme aus Sorrent...“
Ja, gut, ich habe keinen blassen Schimmer wo das ist.
„In der Nähe von Neapel...“
Gut das sagt mir schon eher etwas.
„Aber ich gehe da auch nur noch in meinen Ferien hin, wir haben dort noch ein Haus... Manchmal vermisse ich die Heimat, so schön sonnig und warm...“
Seine Augen werden ein wenig glasig, er denkt wohl an die Heimat.
„Ich war ja noch nie wirklich in einem anderen Land...“
Traurig aber wahr, meine Eltern haben immer lieber allein Urlaub gemacht... Ich durfte dann mit einem Kindermädchen zu Hause bleiben. Noch etwas was ich jetzt sehr gern nachholen würde, nur auch dafür ist absolut keine Zeit mehr übrig.
„Oh, das musst du, unbedingt... Die Welt ist so bunt.. Und von Sorrent aus, kannst du auch Nach Capri... So wunderschön...“
Capri, habe ich auch schon mal gehört, aber ich kann es nicht genau zuordnen.
„Na ja... Vielleicht irgendwann...“
Ich weiß wie es wirklich sein wird, genau wie vorhin bei Eddie.
„Ich habe Eden schon so verflucht oft eingeladen, aber er hat immer nur nein gesagt...“
Das überrascht mich.
„Ja?“
Wieso sollte Eden nichts ans Meer, wollen, wo er da vermutlich sogar fast kostenlos wohnen kann?
„Immerhin kenne ich ihn seit er 16 war... Hat damals für mich gekellnert...“
Noch etwas was ich nicht so richtig verstehe. Erst lungert er mit 15 Jahren in einem Kino herum, indem nur alte Filme gezeigt werden und macht dann mit 16 Jahren Kellner in einem Restaurant. Sicher, in dem alter machen viele Nebenjobs, aber so richtig klang es nicht danach, dass er das nur als Nebenjob zur Schule gemacht hat...
„Oh... Und jetzt? Also ich meine ist er immer noch dein Kellner?“
Freundlich lächelt er mir zu, denkt dabei aber noch irgendetwas. Seine Fassade ist sehr stabil, gerne würde ich mal wissen, warum er so geübt ist zu lügen.
„Nein, schon seit zwei Jahren nicht mehr... Aber ich mag ihn, ist ein guter Kerl.“
Ja, das ist er.
„Scheint fast so, als hättest du ihn adoptiert...“
Er lacht und ich weiß jetzt auch wie ein echtes lachen sich von ihm anhört, er macht beim lachen Geräusche die sich nach einem 'Chr' anhören, da muss man schon ein bisschen lachen allein darüber wie er lacht.
„Ja, vielleicht ein wenig... Aber wer kann diesem Kerl schon wirklich etwas abschlagen? Mir würde da keiner einfallen, außer Luigi... Aber der ist nur neidisch, dass er nicht so gut ankommt bei den Menschen und Eden schon...“
Na das hätte ich auch gewusst ohne das es mir Toni sagt.
„Tja... So ist es eben...“
Was besseres fällt mir einfach nicht ein. Ich will ja freundlich sein, zumal Toni mich ja auch sehr nett behandelt, aber das Eden nicht da ist, macht mich eben unruhig. Ich will ihn noch etwas haben, immerhin ist es es schon bald halb vier Uhr und ich will unbedingt noch etwas tun, bevor, naja, bevor es einfach zu spät ist...
Auch mein Gegenüber hat gerade zur Uhr gesehen und dann wieder zu mir.
„Ich sehe ganz kurz nach was in der Küche los ist, nicht weglaufen, gleich wieder da.“
Zwischen unseren Worten und meinen Gedanken ist gerade eine halbe Stunde vergangen... So besonders flüssig war das Gespräch wirklich nicht, was soll ich auch sagen, momentan ist mein Kopf eben nicht so besonders gefüllt. An nichts denken, erleichtert das fröhlich sein. Z viel daran zu denken heute noch zu sterben kann nicht so besonders gesund sein, für die Seele, meinem Körper ist meine Laune so was von völlig egal.
Langsam macht sich in meinem Magen doch Hunger breit.
Seit gestern habe ich nichts mehr gegessen... Aber eine gute Henkersmahlzeit hat noch der schlimmste Serienkiller sich verdient, ich also auch. Aber dafür ist ja dann doch noch etwas Zeit, zum Glück.
Der Raum ist, jetzt habe ich ja dann doch mal Zeit mich umzusehen, ziemlich groß, die Wände in einem creme Ton gestrichen, auf dem Boden ist dunkles Parkett verlegt und die Tische und Stühle sehen ziemlich teuer aus. Das ist kein billiges Restaurant würde ich tippen und als ich mir kurz die Speisekarte ansehe höre ich auf zu tippen und weiß, es ist nicht nur teuer, sonder utopisch teuer, jedenfalls für mich. Mein Taschengeld war nie besonders üppig.
Wieder ein Blick zur Uhr.
Erst zehn Minuten vergangen, seit ich das letzte Mal drauf geguckt habe.
Aber da höre ich ein kleines Poltern in der Küche, irgendeinen Fluch, ich höre nicht welchen, aber eindeutig nichts nettes und dann geht die Tür auf. Ein keuchender, jetzt immerhin nicht mehr gehetzt aussehender Eden steht da, die Hände leicht in die Seite gedrückt und versucht verzweifelt genug Luft in seine Lungen zu bekommen.
„Ich... hab... mich... beeilt.“
Okay, das macht mir jetzt etwas Sorge.
„Ja, das sehe ich...“
Schnell laufe ich hinüber und sehe, sonst scheint es ihm gut zu gehen.
„Ich bin wieder ganz und gar da... Nur... Ich habe... beschlossen... nie wieder rennen...“
Auf den Kommentar hin, muss ich einfach lachen.
„Den Plan würde ich glatt weg unterstützen...“
Auch Toni kommt jetzt aus der Küche, etwas hat ihn eindeutig verärgert.
„Ich sollte sehen das mein Koch entweder mehr Manieren lernt oder ich einen neuen finde...“
Ob Luigi das Poltern aus der Küche verursacht hat?
„Nimm meinen Roller... Dann kannst du aufhören so zu rennen... Natürlich, solange du ihn mir auch wieder bringst...“
Ein Schneesturmlachen für Toni.
„Oh, die bist ein Engel...“
Der Gesichtsausdruck von Eden ist gerade klasse, etwas abwesend aber doch sehr glücklich.
„Nein, nur ein Italiener der nicht will, das ein Neunzehnjähriger an einem Herzinfarkt verstirbt.“
Ganz fest wird er gedrückt, ich lächle noch, als meine Hand einfach geschnappt wird, ich mitgezogen werde und schon halb Draußen bin, warum hat er es denn jetzt schon wieder so eilig?
Da dreht er sich doch noch einmal um, fängt die Schlüssel die Toni ihm zuwirft und ruft noch:
„Bis dann!“
Schon stehen wir auf der Straße, und gehen zu einer, war irgendwie klar, Vesper. Zwei Helme, der Rote für mich, der Blaue für ihn, ich steige hinter ihm auf und klammere mich fest, er lässt sie an und wir brausen los.
Für meinen Geschmack fährt er etwas zu schnell. Aber das kann ich ihm wohl jetzt kaum sagen, aber sobald wir anhalten, sehr wohl, denn ich mag ja bald sterben, aber nur ungern schon jetzt gleich.
Die Straßenzüge rauschen vorbei und zum ersten Mal seit Monaten fahre ich mal wieder mit einem Roller, früher hatte ich mal einen eigenen, aber den habe ich ja nun seit Ewigkeiten nicht mehr benutzen können. Dadurch das er so schnell ist, kann ich mich kaum orientieren und lasse auch denn Versuch schließlich ganz, da wird mir nur noch etwas schlechter im Magen. Lieber an ihn dran drücken und noch etwas seinen Duft atmen, das ist auch eine ganz gute Lösung.
Erst nach einigen Minuten, aber sicher sehr viel kürzer, als wir gebraucht hätten, hätten wir den gleichen Weg zu Fuß beschreiten wollen, hält er an. Ein Pavillon in weiß, in einem kleinen Park.
Mit Schwung steigt er ab, packt seinen Helm weg und hilft mir mit dem gleichen. Ich frage mich nur jetzt, wozu wir hier sind, unabhängig davon, dass ich solche Orte sehr gern mag.
„Ich wollte dir etwas zeigen... Eigentlich kann ich Kunst nicht so richtig gut leiden, Claire ist da die Ausnahme... Aber einen Stil, finde ich einfach nur schön...“
Ich nehme seine Hand, er geht los und ich lächle in mich hinein. Was immer heute mit mir noch passiert, ich habe doch noch Glück erleben dürfen.
Ganz ohne Worte führt er mich vor den Pavillon. Überall stehen Staffeleien, auf denen wiederum Leinwände stehen, Menschen annähernd jeden alters und den unterschiedlichsten Hautfarben sitzen hier und malen. Wobei ich ein paar Gesichter doch schon irgendwo gesehen habe.
„Impressionismus frei nach dem Stil Monets...“
Die Menschen hier versuchen einzufangen was ist, den Eindruck denen ihnen die Natur zu gedenkt auf Leinwand zu bannen, die Kunst des Hier und jetzt. Rasend schnell werden die Pinsel geschwungen, erst in Farbe getaucht, dann über die Leinwand gejagt. Ein Bild aus Licht und Schatten entsteht und irgendwie beeindruckt mich das.
Mir fällt jetzt auch ein, woher ich so viele dieser Gesichter kenne. Die Portraits in Claires Galerie. Sie muss die Menschen hier so spannend gefunden haben, dass sie sie einfach malen und festhalten musste, so wie sie jetzt sind, genauso wie es die Leute hier mit ihrer Umgebung machen. Das sieht Claire ähnlich und passt ziemlich gut zu den Menschen die hier malen.
„Ich dachte, dir könnte es gefallen...“
Ich versuche ihm den liebevollsten Blick zu zuwerfen, denn ich aufbringen kann.
„Da musst du nicht denken... Es gefällt mir sehr.“
Ein Schneesturmlachen für mich.
„Freut mich sehr... Aber wer hier zu guckt, der muss auch selbst machen...“
Schockiert dürfte meinen Gesichtsausdruck nicht ganz so gut beschreiben, aber ein besseres Wort würde mich jetzt einfach spontan nicht einfallen.
„Ich kann nicht malen!“
Erstaunlich, so unnachgiebig habe ich Eden auch noch nicht schauen sehen.
„Ist egal, und wenn es nur sinnlose Farbpunkte werden... Ein Mal musst du wenn schon mit machen...“
„Hast du denn schon ein Mal mitgemacht?“
Prima, jetzt habe ich wie ein bockiges Kind geklungen.
„Ja, habe ich... Sah furchtbar aus...“
So, jetzt fällt mir keine Ausrede mehr ein.
„Okay... Aber nur unter Protest.“
Blizzard Grinsen.
„Hauptsache du machst es...“
Und zu meine, für mich doch recht zweifelhaftem, Glück, ist noch genau eine Leinwand und eine Staffelei unbesetzt. Im Kunstunterricht war ich schon immer eine Niete. Meine Bilder kamen nie über die Note zwei minus hinweg und das auch nur, weil der Kunstlehrer eigentlich die Meinung vertrat jeder konnte malen oder zeichnen und niemand in Kunst sollte schlecht sein. Ich war es aber...
Ich sitze also vor einer schneeweißen Fläche, habe einen Pinsel in der Hand, eine Farbpalette in der der anderen und keinen Plan was ich jetzt machen soll. Die anderen Bilder sehen so toll aus und ich bekomme vermutlich nicht einmal eine gerade Linie aufs Papier. Hilft aber nichts, Eden dürfte mich vermutlich nicht gehen lassen, ehe die Leinwand nicht voll mit Farbe ist. An meinem letzten Tag muss ich auch noch mich mit meinen nicht vorhandenen künstlerischen Fähigkeiten blamieren.
Ganz prima.
„Jetzt fange halt an... Sonst wirst du nie fertig.“
Ich lege meine Stirn in tiefe Falten, wie ich es immer tue, wenn ich ärgerlich bin.
„Hetze mich nicht... Ich weiß so schon nicht wie ich es machen soll!“
So, meinen Blick wieder zurück auf die weiße Fläche. Hilft ja nichts, ewig darauf zu starren. Also mutig den Pinsel in Farbe ertränken, an setzen und einfach wild drauf los pinseln. Ich setzte tief dunkelblaue Punkte, die sich dann immer weiter ins himmelblau entwickeln, dunkelrote Punkte die im hell-rosa enden, grün so dunkel, das man es fast für schwarz halten könnte, das dann zu einem sehr zarten Pastellton wird. Am Ende ist die Leinwand voll mit punkten in sehr vielen verschiedenen Punkten, gut mit den Bildern, wie es die anderen malen, hat es wirklich rein gar nichts zu tun, aber hey, ich habe immerhin etwas gemacht... Und bin auch ein bisschen stolz darauf, etwas doch ziemlich annehmbares hinbekommen zu haben. Also lege ich alle Malutensilien beiseite und sehe mir mal meine Hände an. Die sind erstaunlicherweise genauso bunt geworden wie meine Leinwand. Mein Talent mich dreckig zu machen habe ich offensichtlich trotz Wochen langem Aufenthalt im Krankenhaus nicht verlernt, schön, aber die Fähigkeit hätte ich doch ganz gern einfach verloren. Ich sehe auch wie ein Kleinkind das nicht mit Farbe umgehen kann, vermutlich habe ich auch etwas davon im Gesicht, jedenfalls so wie mich Eden gerade anguckt.
„Du siehst echt sehr süß aus.“
Hach, ist mir wieder heiß plötzlich.
Neugierig kommt er um die Staffelei herum und schaut was ich denn nun fabriziert habe.
„Na, was hattest du denn? Du kannst das doch ziemlich gut...“
Ich ziehe die rechte Augenbraue hoch, so wie ich es immer mache, wenn ich nicht so wirklich glaube, was man mir sagt.
„Es hat nur rein gar nichts mit den Bildern der Anderen gemeinsam.“
Einmal mehr dieses seltsame Husten von ihm, das vermutlich ein verkniffenes Lachen ist.
„Aber es ist ein Anfang... Besser kann man schließlich immer werden.“
Ja, kann, ich nur nicht.
„Du weißt doch wohl am besten, wie sehr ich mich noch verbessern kann...“
Auch wenn ich es vermeide das zwischen uns Beiden zu sehr zu verdeutlichen, vielleicht sollte ich ihn dann doch noch einmal daran erinnern. Sein Blick wird auch weniger fröhlich, sobald die Worte meinen Mund verlassen haben. Das wollte ich zwar nicht, aber die Wahrheit muss sein, wenn ich mich schon einmal dazu durchgerungen habe sie auszusprechen.
„Ja, ich weiß...“
Es wird sehr still, jetzt gerade sehr unangenehm still... So und so, ich habe irgendwie zu viel Stille satt. Zu viel davon macht doch trübsinnig.
„Wohin denn jetzt mit dem Bild?“
Irgendwie zu einem anderen Thema, schlechte Stimmung kann ich jetzt wirklich nicht mehr gebrauchen. Nicht mehr wenn mir nur noch ein paar Stunden bleiben.
„Oh, dass kannst du hier stehen lassen und wenn es jemand mag, nimmt er es einfach mit...“
Dann bin ich urplötzlich doch keine Kunstniete mehr... Welch Freude.
„Gut, dann stehen lassen...“
Jetzt weiß ich nur nicht mehr was ich noch sagen soll, das Thema ist unglücklich schnell erschöpft.
„Komm, wir fahren noch ein bisschen herum... Dann können wir ja noch etwas zu Essen holen... Ist ja schon ein Weilchen her, das wir etwas hatten...“
Gott sei Dank ist ihm etwas eingefallen.
Wir gehen zurück zur Vespa ich bekomme meinen Helm wieder überreicht, setze ihn auf, steige hinter ihm und schon fahren wir wieder los. Blöd ist nur, ich habe vergessen zu erwähnen, dass er vielleicht etwas weniger rasant fahren soll. Jetzt weiß ich ja aber dass ich nicht versuchen sollte die Straßen und Häuser in dem Tempo zu erkennen, sondern, dass ich mich einfach auf ihn und seinen Rücken konzentriere.
Eine ganze Weile fahren wir dahin ohne anzuhalten. Es müsste jetzt schon fast sechs sein. Wieder vergeht die Zeit zu schnell und heute einfach ganz besonders. Wieder rinnt sich durch meine Finger und alles was ich tue ist zusehen.
Heute habe ich mich treiben lassen, immer ein wenig erlebt und immer ein wenig gesehen. Die Menschen die ich getroffen und dich ich kennengelernt habe waren anders, als all die, die ich sonst zu meinen Bekannten gemacht hätte. Wobei, ich habe doch irgendwie auch Freunde gefunden und etwas gelernt. Man kann ein Leben lang versuchen perfekt zu sein und das absolut und allgemeingültige Richtige zu tun oder man tut das, womit man selbst am besten leben kann. Am Ende bleibt man sich nämlich dummerweise immer nur selbst. Wenn man Dinge tut, die man mit der eigenen Seele nie vereinbaren könnte, dann muss kein angeblich guter Freund damit leben, sondern allein du selbst.
Ich habe immer versucht allen zu gefallen und als ich das endlich gelassen habe, na ja, da bin ich Eden begegnet, habe Claire kennengelernt, habe einen Mops mit dem schrägsten Hundenamen den ich gehört habe getroffen und noch so vieles gesehen, womit ich mich freiwillig zuvor nie beschäftigt hätte. Hätte ich das mal früher gewusst. Doch alles hätte und könnte, ist vergebens...
„Wir sind da.“
Ich habe nicht einmal mitbekommen, dass wir angehalten haben.
„Oh, okay...“
Doch dann muss ich einfach lächeln. Kirschbäume, noch immer in voller Blüte und Schönheit.
„Würde mal sagen, an den Ort gehst du sehr gern und da dachte ich, heute solltest du ihn noch einmal sehen...“
Mir steigen doch tatsächlich Tränen in die Augen.
„Stimmt...“
Ich musste für das eine Wort ganz schön arbeiten, dass es nicht in einem Schluchzen endet.
„Habe ich was falsches gesagt?“
Vermutlich verwirre ich den Armen gerade ganz schön.
„Nein... Alles richtig...“
Es sollte Sandsäcke für die Augen geben.
„Aber du siehst aus, als würdest du gleich weinen...“
Ich schniefe.
„Alles gut...“
Eilig steige ich ab, nehme den Helm ab, und tue ihn auf den Sitz. Beschäftigung, ganz dringend Beschäftigung. Also laufe ich einfach schon vor, ehe er noch mehr sagen kann, das ich wirklich anfange zu weinen.
Nichts von seinem Zauber hat diese Allee eingebüßt. Ich mag es wirklich noch immer.
Schnell findet sich eine Steinbank auf der ich auch gleich Platz nehme. Erst ein paar Augenblick später kommt auch Eden neben mich, hält eine Wasserflasche in der Hand.
„Wo kommt die denn her?“
Kann er Zaubern? Ja, Blödsinn, aber anders könnte ich mir das jetzt nicht erklären.
„Die war in dem Behälter hinten auf der Vesper... War noch zu... Willst du einen Schluck?“
Gott ja, mein Mund ist so trocken, da ist es erstaunlich, dass ich noch sprechen kann.
„Ja, nur zu gern.“
Ein bisschen muss ich es ja dann doch noch schaffen Damenhaft zu wirken. Mit zwei großen Schlucken ist die kleine Flasche schon halb leer. Schmeckt ein bisschen seltsam, aber hilft gegen den unheimlichen Durst.
„Willst du auch noch?“
Ein Schneesturmlachen.
„Nein, trink du, ich glaube dein Durst ist doch sehr viel größer.“
Gesagt getan, ich schaffe es mit noch zwei Schlucken die Flasche leer zu bekommen. Einen halben Liter in mich hineingekippt
„Das tat jetzt ziemlich gut...“
Die Flasche Stelle ich neben mich und sehe wieder hinauf in den noch recht hellen Himmel, noch gut fünfeinhalb Stunden. Ich will so sehr das es noch mehr werden könnte, aber ich weiß, es wird nie mehr werden.
„Mimi?“
Wieder zu ihm blicken. Ich weiß gar nicht, so hat er meinen Namen glaube ich noch nie ausgesprochen... Irgendetwas ist mit ihm nicht in Ordnung.
„Ja? Was ist denn los?“
An seinen Augen klebe ich schon wieder fest.
„Es ist doch wirklich schön hier... Oder?“
Er verwirrt mich.
„Ja, natürlich, es ist wunderschön.“
Mir wird ganz komisch. Immer wieder verschwimmt alles ganz leicht und meine Glieder sind so schlapp.
„Es tut mir leid...“
Meine Zunge, sie ist noch da, aber warum zum Teufel so völlig nutzlos?
„... Ich halte was ich versprochen habe... Aber ich kann etwas tun, was ganz und gar nicht sinnlos ist... So kann ich dich nicht sterben lassen...“
Ich würde ihm ja gern den Kopf waschen, nur dazu müsste auch nur ein Wort über meine Lippen kommen. Was hat er gemacht?
„Es ist ein Beruhigungsmittel im Wasser gewesen...Auch dafür, es tut mir leid... Aber sonst hätte ich dich doch im Leben nicht ins Krankenhaus bekommen...“
Ich kippe zur Seite, er fängt mich auf. Mir fällt auch noch was ein, der Park mit den Kirschen, der ist in Laufweite zu meinem Krankenhaus. Warum ist mir das nicht früher eingefallen?
Ohne ein weiteres Wort hebt er mich hoch und rennt los, dass er so rennen kann... Meine Gedanken werden zielloser. Die Außenwelt wenig deutlich. Wie viel Zeit vergeht, ich weiß es nicht, ich weiß nicht einmal genau wie er mich trägt, es wackelt viel mehr kommt nicht bei mir an.
„Wie hast du sie...“
Eine weibliche Stimme, wo kommt die denn so plötzlich her?
„Unwichtig... Sie ist da... Ich spende...“
Wovon spricht die Engelsstimme denn da?
„Das kannst du nicht, egal wie...“
„Mein Test, ich habe einen gemacht...“
Wie schön wäre es würden die Worte mehr Sinn machen.
„Schön und gut... Aber so geht das nicht!“
„Retten sie sie...“
Alles wird nur noch dunkler, ich sehe einfach gar nichts mehr. Und hören, das tue ich auch fast gar nichts... Fast...
„Herr im Himmel... Schön.“
Kein Schmerz, einfach nur sanfte Schwärze.
Ob ich gerade sterbe?
Nach diesem letzten Gedanken ist mir nur noch warum und ich denke gar nichts mehr.

Tag 0



Tag 0
Wie kann es bloß so dunkel sein, so schwarz, als wäre ich in einem schwarzen Loch. Nur denken kann ich, sonst kann ich gar nichts machen. Alles ist so schwer und so schwarz. Bin ich tot? Ist das so? Ich dachte immer, wenn man gestorben ist sieht man ein weißes Licht und hört Harfen. Okay, ja, gut, das ist vielleicht etwas übertrieben, aber ein wenig war es in meiner Vorstellung nun einmal so, immerhin, muss doch da irgendetwas passieren.
Einfach nur für immer dunkel ist doch so ziemlich das Letzte. Vor allem, weil ich so viel nachdenken kann. Bis in alle Ewigkeit nachdenken? Hm, so könnte die Hölle auch aussehen. Schließlich hat man irgendwann einfach rein gar nichts mehr zum nachdenken, man sieht nichts, man erlebt nichts, man weiß nichts wirklich... Das wäre eine viel größere Qual für mich als Flammen. Aber dass kann dann wohl auch nur so für mich sein.
Eden, das fällt mir wieder ein, er hat, was hat er noch gemacht? Das Einzige, was ich weiß ist er... Wie gern ich ihn wieder sehen würde... Aber ich dürfte tot sein und als Geist wiederzukommen fände ich persönlich nicht so prickelnd... Also werde ich ihn nie wieder sehen, so ein Mist. Ja, auch wenn er mich gepflegt hinters Licht geführt hatte, er hat es am Ende doch bestimmt nur getan, um zu versuchen mein Leben zu retten. Auch wenn er es nicht geschafft hat, immerhin, wenn ich mich nicht rühren und nicht sprechen kann, dürfte die Rettungsaktion ja nicht so besonders gelungen sein. Und trotzdem ist es ganz sicher das wunderbarste, was je irgendjemand für mich getan hat.
Ich würde es so unglaublich gern etwas tun, ihm sagen, dass er nichts besseres als das was er getan hat hätte tun können und das es mir nichts mehr ausmacht nicht mehr zu sein, weil ich in meinen letzten Tagen ihn hatte.
Ja gut, es macht mir schon noch etwas aus, dass ich nicht mehr lebe, aber es ist nicht so schlimm wie es hätte sein können.
Ich atme ganz tief ein und wieder aus.
Moment, ich atme?
Es piepst, dieses blöde Piepsen, dass man auch immer in diesen Arztsendungen hört, bei Patienten, die an diese Maschinen angeschlossen sind. Ich verstehe noch immer nicht wo dieses Piepsen jetzt herkommt.
Wieder atme ich ein und wieder aus. Ich spüre, wie meine Brust sich hebt und senkt. Das sollte aber nicht gehen, wenn ich tot bin, oder?
Ein ganz leises Murmeln, irgendwo scheint eine Tür behutsam geschlossen zu werden, wie zum Teufel ist das nur möglich, ich höre alles und doch, sehe ich nichts, kommt es mir doch auch so vor, als sei alles in Watte gepackt, inklusive meiner selbst. Denn kein Geräusch kommt wirklich zu mir durch, davon, das ich nicht einmal verstehe was oder gar wer da noch spricht, will ich gar nicht erst anfangen.
Ob das der nächste Schritt ist um mich zu foltern und mir zu zeigen, was Hölle ist? Ich meine da zu sein und zu wissen, das etwas geschieht, aber dann im Grunde doch nichts zu wissen, ist noch einmal schlimmer, als nur denken zu können. Ich habe doch gar nichts getan, womit ich so etwas verdient hätte, oder?
Das Piepsen wird lauter und geht mir damit nur noch viel mehr auf die Nerven.
Ich wünschte, ich könnte... Moment, da murmelt doch jemand etwas, oder sagt es ganz laut, so sicher bin ich mir da nicht. Langsam wird es lauter, nur die Schwärze bleibt.
„Himmel, wach auf...“
Weich, warm, so ist die Stimme, Engelsstimme.
Eden, es ist Eden, Eden ist tot? Das Piepsen wird noch viel schneller.
„Das ist echt nicht auszuhalten...“
Mein Atem wird schneller.
„Du musst einfach aufwachen... Bitte wach auf.“
Na würde ich ja gern, aber ich bin tot! Also kann ich ja wohl schlecht aufwachen. Nur, irgendwie wir mein Körper leichter, nicht mehr als läge Blei auf mir.
„Es ist alles wieder gut, du musst einfach schaffen wieder wach zu werden...“
Es ist alles gut? Wie kann denn bitte alles gut sein? Immerhin, ich... ich bin doch.
Augen auf.
Eine weiße Decke, der Geruch von Krankenhaus, ein Bett unter mir, der raue Stoff von Krankenhauskleidung auf meiner Haut und immer noch dieses Piepsen. Ich würde lachen, würde ich es gerade können, innerlich bin ich hellwach, aber äußerlich bin ich einfach nur schlapp. Aber eines bekomme ich hin, den Kopf zur Seite zu drehen, ein Bett steht neben meinem. Und die Engelsstimme, die ich so sehr liebe, die hat einen Besitzer, der ganz genauso in den Kleidern des Krankenhauses steckt und ganz schön blass um die Nase aussieht, aber dafür strahlen seine furchtbar blauen Augen mich noch immer mit aller Kraft an, die sie nur aufbringen können.
„Du bist wach!“
Ganz schwach nur schaffe ich es, meine Mundwinkel nach Oben zu ziehen und so ein Lächeln an zu deuten. Es reicht, hoffe ich, es muss einfach reichen, mehr ist im Moment einfach nicht drin. Doch es gibt ein Schneesturmlachen für mich das Piepsen wird nur noch schneller.
„Gemein, wenn man an diesem Ding hängt...“
Hey, ich schaffe es meine Nase zu kräuseln.
„Du wirst... Hoffentlich nie wieder darüber nachdenken müssen, zu sterben, bevor du 103 Jahre alt bist...“
Tränen scheinen nicht zu schwer zu beschaffen sein, denn die steigen mir ganz plötzlich in die Augen. Nur habe ich dann doch noch genug Kraft um sie zurück zu halten.
„Blödmann...“
Okay, das war jetzt so nicht geplant.
Aber diesen Kommentar dürfte er mir nicht übel nehmen, denn es gab wieder eines seiner fantastischen Lächelns für mich
„Sehr gern und nur deiner...“
Meine Güte, dieses doofe Teil piepst wieder so doll.
„Was hast du gemacht?“
Seine Augen leuchten noch immer, aber eine Spur schuldiger.
„Dir eine Niere gespendet.“
Ein bisschen fehlt mir jetzt die Luft.
„Du...hast... ich... Weiß nicht was sagen soll... Wie hast du das angestellt?“
„Etwas im Fernsehen gesehen, mich testen lassen, ein Beruhigungsmittel besorgt, es dir in die Wasserflasche getan, die zum Krankenhaus geschleppt, einer Ärztin fast die Karriere ruiniert und mich operieren lassen... Grob zusammengefasst.“
Ja, jetzt ist auch schon zu spät, die Tränen laufen.
„Du, ich... Man, was machst du bloß mit mir... Du kennst mich doch gar nicht...“
Auch wenn meine Stimme immer noch ganz schön leise ist, immerhin denke ich, meine Worte schaffen es, das zu transportieren, wo sich meine Stimme gerade weigert es zu tun. Ich bin einfach nur platt!
„Ja, nur, ich will wissen wer du bist, ich will er wirklich erfahren... Aber dafür haben vier Tage nicht gereicht... Ich will dir so gern noch zeigen was ich an dieser Stadt hier liebe... Du hast es verdient zu leben... Und ich erwarte auch gar keine...“
Jetzt bin ich mal dran ihm ins Wort zu fallen.
„Danke... Das reicht nicht, das reicht ganz und gar nicht, aber die in die Arme zu fallen wäre momentan einfach eine sehr schlechte Idee...“
Gott, ich würde jetzt so gern so viel mobiler sein.
„Wir sind seltsam...“
Ich schaffe es endlich wieder richtig zu grinsen.
„Ja, sind wir... und es ist richtig so...“
Egal, dass ich eigentlich immer versucht habe mich vor dem Leben zu verstecken, ich habe jetzt endlich eines...
„Wie spät ist es?“
Weil ich momentan wirklich kein Zeitgefühl habe.
„Es ist acht...“
Ich weiß nicht wohin.
„Du hast alles gemacht und ich habe nichts gemerkt...“
Eine pure Feststellung, nichts weiter, ich glaube, das weiß er auch.
Noch bevor wir irgendetwas anderes sagen können, kommt eine Frau in weißem Kittel herein und ich weiß auch ganz genau wer sie ist. Aber erst einmal sagt sie gar nichts, sondern sieht sich um, ob auch wirklich niemand außer uns Beiden hier ist.
„Ich kann es nicht fassen... ich habe alles, alles riskiert, damit du nicht unwissend stirbst und dann bist du einfach abgehauen und vier Tage später kommt dieser Kerl ins Krankenhaus schreit mich an dir gefälligst zu helfen und seine Niere in die zu transplantieren... Und eigentlich hätte ich das wirklich nicht gedurft, nur, das gute ist, ich schreibe die Akten und mach die Pläne und Termine für die Operationen... Mädchen... Ich habe so gehofft, dass noch irgendein Wunder geschieht und es nicht so endet... Wäre dein Vater damit durch gekommen, ich hätte aufgehört an das Schicksal zu glauben oder an Menschlichkeit...“
Wie ein Kugelhagel prasseln die Worte auch mich ein und ich muss mich sehr bemühen, alles zu verstehen, was sie sagt. Doch was ganz klar ist, sie hat mir auch das Leben gerettet. Sie hat nicht nur zugesehen und nichts getan, sondern hat etwas getan, ganz ungeachtet von dem was ihr damit hätte passieren können.
„Ich danke ihnen... Dafür...“
Sie lächelt und wird ein bisschen rot, irgendwie sehr niedlich.
„Da gibt es wirklich nichts zu danken... Eher diesem Kerl, der dir eine Niere gespendet hat und dabei dich... Wohl noch nicht besonders lange kennt... Aber für die Akten ihr kennt euch seit ihr fünf seid... Und natürlich war alles geplant seit über einem Monat... Bei dir wird eh niemand nachfragen, egal wie gut alle wissen wie unwahr das alles ist...“
Ich glaube ich weiß, wer die Quelle war, die alle darüber informiert hat, was hier abläuft.
„Also eure Werte sind spitzen Klasse, die neue Niere hat sofort mit ihrer Arbeit begonnen und Eden, du hast keinerlei Einbuße in der Funktion der verbliebenen Niere... So das ich sagen kann...“
Schade das ich nie erfahren werde, was sie sagen kann, denn mit einem lauten Poltern vor der Tür, und einem Schlag, als eben diese gegen die Wand des Zimmers knallt, endet ihre Rede. Eine Frau tritt ein, na ja, besser sie fällt eher hier ein. Meine Mutter, kalt, wasserstoffblond und mit knallroten Lippen.
„Warum sagt mir denn niemand, dass meine geliebte Tochter hier ist.“
Wut, unbändige Wut, sie wallt in mir hoch und ich weiß ganz genau, ich werde ihr nie wieder verzeihen können.
„Deine geliebte Tochter?“
Erstaunlich wie still es hier ist. Eden sieht meine Mutter an und so böse habe ich noch nie seine Augen funkeln sehen und meine Ärztin verachtet meine Mutter, so angewidert habe ich nämlich auch noch nie jemand die Nase und den Mund verziehen sehen.
„Natürlich... Ich meine du bist doch meine Süße...“
Mir wird schlecht, aber nicht weil die Narkose Nebenwirkung hat.
„Du hast mich hier liegen lassen und dann gewartet das meine Nieren versagen und du mich begraben kannst... Das ist dann immer noch Liebe?“
Spannend, wie das ganze Gesicht von meiner Mutter einzufrieren scheint.
„Ich... Es ist nicht wie du denkst!“
Das glaubt sie ja wohl hoffentlich nicht mal selbst.
„Sondern? Wie ist es denn dann? Wenn es so anders ist, als ich es denke?“
Es wird gleich noch einmal stiller im Raum, aber netter, kann ich gerade einfach nicht sein. Mir ist die Nettigkeit abhanden gekommen. Ich habe dafür vielleicht auch einfach nicht genug Kraft dafür. Mir ist es einfach genug des Dramas, ich will nur noch genießen, was ich jetzt doch wieder habe. Zeit.
„Er hat mich einfach überrannt, ich wollte doch nur nicht... Na ja, ich wollte ihn eben nicht verlieren...“
Ich erspare mir, das 'Ha', was eh nur abfällig geklungen hätte.
„Und um deinen Mann nicht zu verlieren wolltest du dann mich sterben lassen...“
So kalt ich auch klinge, es schmerzt, so sehr in meiner Brust, als würde mir das Herz einfach zerspringen wollen. Aber immerhin, ich kann ehrlich sein.
„Was glaubst du denn? Ohne ihn hätten wir doch nichts... Und du wärst nichts...“
Ich kenne diese Frau eigentlich gar nicht, wie ich feststellen muss.
„Ja, wäre es gekommen wie ihr es euch gedacht habt, dann wäre ich wirklich nichts, ganz besonders nicht existent mehr... Du hast mir mein Leben nicht gerettet und auch sicher nicht um es gebangt... Es ist wie es ist... Deine Liebe kann nicht so besonders groß sein... Ich würde jetzt aber ganz gern wissen, weswegen du dann hier bist?“
Es ist doch alles nur zu seltsam, sie stürmt herein und möchte die heile Familie spielen. Das ist doch ziemlich verdächtig. Und auf einmal wird es mir auch ziemlich kalt, so wie meine Mutter mich gerade anguckt.
„Das du nicht an die Presse gehst...“
„Es ist genug...“
Das habe ich jetzt nicht gesagt, sondern meine Ärztin.
„Sie sind keine Mutter sondern eine sehr kalte Frau, die nicht weiß, wann sie einfach fern bleiben sollte... Als die Ärztin ihrer Tochter sage ich ihnen, sie gehen jetzt, sonst rufe ich den Sicherheitsdienst.“
Mir wird die junge Frau wirklich immer sympatischer.
Angefressen und wenig erfreut verzieht meine Mutter die Nase. Wie kann sie bloß so herzlos sein? Und wie kann ich dabei noch so viel Herz haben? Na, vielleicht habe ich einfach all das abbekommen, was weder meine Mutter noch mein Vater je besitzen wird. Gut für mich und schlecht für meine Eltern. Aber die scheinen ja wirklich nicht auch nur das geringste Schuldgefühl zu besitzen. Sie leben wie sie leben und ich werde sie daran nicht hindern, nur eines ist mir klar, mit ihnen will ich nicht mehr leben. Wer würde schon gern unter einem Dach mit Menschen hausen, die einen ohne mit der Wimper zu zucken einfach sterben lassen wollten? Niemand, außer er oder sie legt es wirklich darauf an, unglücklich zu sein oder zu werden. Ich habe sie wirklich einmal geliebt, die Beiden, jedes Kind liebt doch schließlich Mutter und Vater, nur ich habe nie die Liebe erfahren die meine früheren Freundinnen immer hatten, hat mir nie etwas aus gemacht, was nicht wirklich kennt, vermisst man fast gar nicht. Doch ich weiß jetzt wie es sein kann und gebe dieses Gefühl nicht wieder her.
„Du wirst es bereuen, dass du dich von uns gelöst hast, wir werden dich nicht mehr unterstützen und was hast du schon ohne uns? Kein Geld, keine Familie und keinen der dich aufnimmt.“
„Oh, hast du nicht gemerkt, ich habe alles was ich will... Mir hat jemand eine Niere gespendet, der nicht gemusst hätte, ich denke er wird mich danach nicht einfach auf die Straße setzen und um alles andere, kümmere ich mich schon noch, jetzt bleibt ja für alles so viel Zeit ich will... Lebe wohl.“
„Närrisches Kind!“
Und schon ist sie weg, jetzt kann ich erst aufatmen, das liegt mir alles ein wenig wie Beton auf der Brust, aber es musste wohl sein. Mein Kopf ist jetzt im Moment auch ziemlich schwer, also lasse ich ihn einfach nach Hinten wieder auf mein Kissen fallen, weil ich jetzt eigentlich aufhören will zu denken. Weil mir mein Körper sagt, dass er Ruhe braucht will ich ihm die auch nur zu gern geben.
„Gut.. Ich werde nachher noch einmal nach euch sehen...“
Das scheint ja ja sogar mal zu klappen mit der Ruhe.
Sobald sie aus dem Zimmer ist höre, ich ein leises Schnarchen, verkneife mir nur knapp ein lautes Lachen und schließe die Augen.
So völlig habe ich es noch nicht verstanden, das ich lebe, dass das alles wirklich kein Scherz ist oder ein Traum, sondern so real wie es nur sein kann.
Mir ist so leicht ums Herz, ich will am Liebsten nur noch herum springen und in die Welt schreien, einfach nur schreien, nichts sonst. Ja, gut, das muss ich wohl verschieben, aber ich werde es machen sobald ich hier wieder raus sind. Und ich habe schon jetzt beschlossen, nie wieder ins einen Arzt zu besuchen, so krank kann ich einfach nicht mehr werden.
Manchmal merkt man es ja, wenn man einfach einschläft und bei mir ist das gerade auch der Fall, ich schlummere einfach weg, nur an einen Traum kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Oder gar wie lange ich einfach schlafe.
Egal wie lange, dieses grässliche Piepsen weckt mich wieder auf.
„Wahh.“
Ja vielleicht etwas überzogen meine Reaktion, aber wenn jemand über einen gebeugt steht und man wirklich mit ihm oder ihr gerechnet hätte, dann darf man sich sehr wohl tierisch erschrecken. Was das Gerät an dem ich angeschlossen bin auch mit einem sehr viel rascheren Tempo quittiert.
„Nette Reaktion...“
Claire... Claier? Wie kommst sie denn jetzt hier her?
„Du hast mich eben fürchterlich erschreckt... Da bist du schon selbst schuld.“
Sie grinst, sehr breit, plus die Augen.
„Das du mir das nicht gesagt hast, was du hast...“
Das erste was ich mache ist seufzen und dann sie fest ansehen, bei ihr kann ich ja Gott sei Dank doch in ihre Augen sehen ohne Gefahr zu laufen einfach los zu sprechen ohne den Kopf vorher im Einsatz gehabt zu haben.
„Jetzt scheinst du es ja dann doch zu wissen...“
Sie funkelt mich böse an.
„Scherzkeks... Du wärst doch gestorben, hätte Eden nicht... Hätte er nicht die Niere gegeben.“
Okay, woher zum Henker weiß sie so viel.
„Du weißt aber ganz schön...“
„Nachrichten...“
Meine Mimik dürfte alles Ausdrücken, vorwiegend bin ich verwirrt.
„Wie bitte kann das in den Nachrichten kommen?“
„Keine Ahnung ist es aber... Und ich wusste einfach das du gemeint warst...“
Tapfer setze ich mich auf und kann einfach nur den Kopf schütteln. Mein Leben ist immer noch seltsam, aber irgendwie gefällt es mir doch ziemlich gut. Auch wenn ich mir manchmal wünschen würde, dass Claire etwas weniger weiß. Nicht zu ändern.
„Himmel, du bist allwissend...“
Ein fieses Lachen folgt von ihrer Seite.
„Ja, bin ich... Aber vielleicht bin ich auch hier im Moment nicht erwünscht...“
Ich lege meine Stirn in Falten, sowie ich es immer tue wenn ich weiß, dass man mir Blödsinn erzählt. Sie würde nicht gehen und wenn ich sie versuchen würde mit wilden Stieren durch die Gänge der Krankenhauses zu treiben. Das weiß sie auch.
„Rede keinen Unsinn, du bleibst...“
Ja, sie bleibt, schnappt sich einen Stuhl und stellt ihn zwischen die Beiden Betten.
Eden wacht jetzt erst wieder auf, er ist nicht mal ein bisschen so sehr überrascht, dass Claire hier ist, wie ich es war. Er kennt sie schließlich auch länger.
Ich liege einfach nur herum und sehe an die Decke, höre den Beiden zu, wie sie über Kleinigkeiten sprechen, um nicht diese Situation hier bereden zu müssen. Noch wollen wir nicht darüber reden, will ich zumindest nicht darüber reden. Aber da auch die anderen Beiden nichts sagen, dürfte die Übereinkunft noch zu schweigen, auch ohne Worte zu funktionieren. Es ist ja nicht so, als wäre das hier etwas schlimmes, aber manche Sachen sollten man einfach lieber bereden, wenn man nicht mehr frische Nähte am Bauch hat, ein halb offenes Krankenhaushemd und an eine Maschine angeschlossen ist, die jedem verrät wie sehr mich das Schneesturmlachen von Eden aus dem Konzept bringt.
Wieder einfach nur ein- und ausatmen . Spüren wie die Luft in meine Lungen strömt, versuche den Geruch der typisch hier ist zu ignorieren und weiter zuhören. Die Mischung aus den Stimmen der Beiden wiegt mich irgendwie wieder langsam ins Land der Träume.
Ich weiß, dass das hier nicht das Ende ist. Nicht nur, weil ich jetzt wieder wirklich Zeit habe, sondern, weil immer noch etwas schief gehen kann. Sicher, das weiß ich jetzt, auch wenn ich immer noch nur 17 Jahre alt bin, ist gar nichts. Aber das wird mich niemals mehr davon abhalten alles haben zu wollen, was ich haben kann.
Deswegen werde ich jetzt mich bei der Diskussion um Nichtigkeiten einmischen und alles tun, um wieder auf die Beine zu kommen.

Epilog



Epilog
Der Tag ist grau, von Wolken verhangen und die Sonne hat beschlossen heute nicht scheinen zu wollen. Sehr passend zum Anlass.
Nun, was hatte ich auch erwartet? Strahlende Sonne und toller azurblauer Himmel wären doch sehr unpassend. Ich warte nicht darauf, das die Menschen die auf dieser unheimlich grünen Wiese ehrliche Tränen zeigen.
„Heute sind wir hier um diesen Menschen, der so viele Jahre zu früh aus dem Leben geschieden ist auf seinen letzten Weg zu führen... Wir alle haben es nicht erwartet und nun bleibt nur noch zu trauern und das Andenken in Ehren zu halten... Ein guter, ein liebevoller, ein ehrlicher Mensch ist hier von uns gegangen... Wir werden...“
Was wäre die Welt, wen Pfarrer auf einer Beerdigung die Wahrheit sagen würde? Mann will auf einer Beerdigung nicht die Wahrheit hören, sondern nur ein bisschen Schwindelei, die einem das Leben mit dem Tod etwas leichter macht. Warum sonst sind Menschen, nachdem sie gestorben sind immer so verherrlicht? Egal was sie getan haben, sie sind am Ende immer die Guten. Ich sehe es positiv, wenn es alle glücklich macht an eine Lüge zu glaube sollen sie nur. Solange ich nicht vergesse, dass die Wahrheit eine andere ist.
Kein Mensch ist perfekt und immer nur gut. Niemand hört seinem Gegenüber immer so gut zu, wie er es eigentlich tun sollte und das ist nicht schlimm, das ist menschlich. Schließlich bin auch ich absolut unvollständig, niemand was das besser als meine Mitmenschen. Aber immerhin, ich weiß, das man mich so lieben kann wie ich bin, weil ich genauso sein sollte. Deshalb kann ich es auch ertragen das um diesen 'ehrlichen, liebevollen und guten Menschen' keine ehrliche Träne vergossen wird. Das hätte ich hier auch wirklich nicht erwartet.
Meine Mutter, sie schluchzt so laut, das es schon fast in den Ohren wehtut, aber ich weiß, wie unecht das ist. Sie weint nur, wenn es wirken kann auf andere, sonst ist sie kalt wie ein Stein. Um sie liegt eine starker Arm, immerhin muss man ihren Schmerz ja lindern, sie hat jemanden verloren, den sie mehr liebte als alles, mit Ausnahme natürlich von sich selbst.
Mein Onkel ist für diesen Beistand auch genau der Richtige.
Ihm sieht man an, dass es ihm rein gar nichts ausmacht, wer da im Sarg liegt. Was ich nur für eine unglaublich nette Familie habe, erstaunlich.
Aber, was soll's, damit kann ich leben. Mir macht das rein gar nichts aus. Jetzt nicht mehr, darum muss ich mich nie wieder kümmern. Dieses Leben ist zu Ende gelebt, ich habe nichts mehr was ich tun könnte.
Vermutlich sollte ich trauern, um das was ich verloren habe, aber nein, nicht darum. Mein Vater hat mir nichts hinterlassen an das ich noch gerne trauern würde, er ist mir schlicht zuwider und nun stehe ich an seinem Grab, sehe wie der Sarg hinunter gelassen wird und frage mich wie ich jemals gedacht haben kann, dass diese Leute meine Familie sind, alles nur egoistische Menschen, die zufällig zu einer Familie gehören.
Ich lebe, das ist wichtig... Ich bin da, dass ist entscheidend und ich habe etwas gefunden was den Verlust dieser Menschen ausgleicht...
„Ruhe in Frieden...“,flüstere ich, werfe eine weiße Rose in das Loch und ergreife dann eine Hand wie die eines Löwenjungen. Schneesturmlachen für mich und ein leichter Druck meiner Hand. Wir gehen, einfach weg von aller Falschheit und Heuchelei, zurück zu dem was mich wirklich glücklich macht.
Meine Mutter rennt mir aber doch tatsächlich hinterher.
„Du wirst jetzt nicht gehen!“
Kein Gefühl, nichts regt sich in mir.
„Warum sollte ich nicht?“
Selten habe ich eine so bösartig drein blickende Frau gesehen.
„Weil du es deinem Vater schuldig bist auf seinem Trauerschmaus zu sein und eine Rede auf ihn zu halten.“
Allein weil wir hier auf einem Friedhof sind, erspare ich mir ein Auflachen.
„Ich wäre ihm einmal schuldig gewesen hier zu sein... Die Schuld an mir hat er nämlich nicht mehr begleichen können, genauso wenig wie du es jemals können wirst...“
Eden bleibt stumm, gut so, ich weiß was ich will und sage.
„Du bist...“
„Sag mir nichts, was dich noch heute als die Frau entlarvt die du bist... Ich gehe jetzt und du kannst noch ein wenig weiter Theater spielen... Lebe Wohl, Mutter.“
Mehr ist nicht zu sagen, mehr bleibt mir nicht außer einfach zu gehen.
Meine zweite Chance, ich werde und habe sie schon genutzt.
Ohne kitschig sein zu wollen... Meine letzten vier Tage waren am Ende doch meine ersten vier Tage im Leben das ich immer wollte.
Okay, das war jetzt doch kitschig, egal, ist es dann eben wie es ist.
Auf in den Kampf, was immer kommt...

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Texte: Alle Urheberrechte liegen bei ink.and.paper.
Bildmaterialien: Alle Urheberrechte liegen bei ink.and.paper.
Tag der Veröffentlichung: 23.08.2012

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