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Von Eva und der Welt


Was mit der Welt geschehen war, verstand die junge Frau nicht. Ganz perplex schaute sie sich zu allen Seiten um. Wer sie war, was sie hier machte, und vor allem, was sich hier zwischen dem grauem Himmel über und der verwüsteten Erde unter ihr, abgespielt haben musste, war in diesem Moment einfach unergründlich. In der scheinbar ewig weiten Leere dieses Tals war das alte Haus in der Ferne mit seinen vielen zersprungenen Fenster das einzige Zeichen ehemals bestehender Zivilisation. Sie würde dorthin gehen und Hilfe holen. Etwas besseres fiel ihr nicht ein und blieb somit auch nicht übrig.
Alles war voller Matsch und Dreck. Ihre zerschlissene Kleidung, der Boden, dort der niedergetrampelte Pfad. Die Waden schmerzten. Der Kopf brummte. Und immer wieder die Frage: Was war passiert? Weder konnte sie sich an einen Namen erinnern, noch irgendwelche Bilder vor ihrem geistigen Auge aufrufen. Die Welt mochte untergegangen sein, sie schien das verschlafen zu haben. Wenn es aber so war, wenn es eine große Katastrophe gegeben hatte, was ihr als plausibelste Theorie einfiel, dann mussten daher die Schmerzen in ihrer Wade kommen. Ein Sturm, der sie von einem der Hänge hinab geworfen hatte, war für den Schaden an der Hose und dem Oberteil verantwortlich. Ja, so musste es sein.
Voller Schmerzen schleppte sie sich weiter und versuchte die vielen wirren Gedanken halbwegs zu ordnen.
Endlich hatte sie das große Haus erreicht. Zum Großteil war es verfallen, eine marode Ruine, die sich den Platz an einer alten Schotterstraße mit einem rostigen Auto und einem kaum mehr erkennbaren Traktor teilte. Was hatte diese Maschinen und das Haus so zugerichtet? Und wer würde dies alles, das Grundstück mit all seinem Besitz, einfach verkommen lassen? Keine Menschenseele war zu erblicken. Auch die Tiere schienen einen Bogen um das verlassene Tal zu machen.
Sie beschloss ihr Glück im Inneren zu versuchen. Die Hoffnungen aber wenigstens dort etwas hilfreiches zu finden, schwanden auf ein Minimum – eine Eingangstür existierte schließlich auch nicht mehr, wie sie einen Augenblick später bitter feststellen musste. Die restliche Einrichtung des Erdgeschosses des vermeintlichen Bauernhauses bestand aus verwitterten Möbeln und zersprungenem Holz und Glas. Wenigstens die Spinnweben waren ein Zeichen des Lebens. Sich durch diese hindurchkämpfend, machte sich die Frau ohne Erinnerung auf den Weg ins obere Stockwerk, nur um weiteren Verfall in Form von rottenden Betten vorzufinden.
Seufzend lies sie sich fallen. Was blieb ihr jetzt noch eigentlich anderes übrig als ein Resümee ihrer Lage zu ziehen? Sie wusste weder wer sie war noch wo sie sich befand. Immer und immer wieder musste sie das bitter feststellen. Dazu schien die Welt untergegangen zu sein und kein Leben, bis auf diese kleinen, fetten schwarzen Spinnen hinterlassen zu haben. Als wäre dies noch nicht alles schlimm genug, fand sich hier nicht einmal etwas zu Essen oder zu Trinken um wenigstens die bald hereinbrechende Nacht überstehen zu können. Verletzt schien sie auch noch zu sein, zumindest fühlte es sich so an ihrem linken Bein an. Alles in allem war es also nur die nüchterne Gewissheit, die ihr unmissverständlich erklärte ohne Hilfe verloren zu sein. Wenn aber die Welt nun untergegangen war, wer war noch da? Diese Spinnen, mehr aber auch nicht.
Hier stoppte sie die Gedankenflut mit allen ihren Spekulationen. Sie rückte näher an das zerschlagene Fenster, blickte kurz hinaus und erkannte die Straße, die sich meilenweit aus dem Tal schlängelte. Mit einem verkrampften Fuß war das ein unmöglich zu bewältigender Marsch.
„Wenigstens ein guter Ausblick für das Verhungern“, murmelte sie zum ersten Mal für die eigenen Ohren hörbar. Ihre Zunge fühlte sich taub an.
Es mussten zwei Stunden vergangen sein, als die sich selbst unbekannte Frau durch ein lautes Röhren wach wurde. Sie war eingenickt, über dem Tal lag bereits die Dämmerung. Aber was es auch sein mochte, es lies sie wieder hellwach werden.
Aus dem Fenster schauend erkannte sie ein schwarzes Gefährt mit unglaublichem Rauchausstoß den Weg ins Tal hinunter raste. Ein Kleintransporter. Und er war auf dem Weg zu ihr! Sie wollte einen Freudenschrei ausstoßen, doch sich halb verschluckend endete das Vorhaben in einem schrecklichen Hustenanfall. Doch auch das hinderte sie nicht sich, halb taumelnd, wieder ins Erdgeschoss zu begeben.
Die Unbekannte versteckte sich seitlich hinter einem der Schränke. Von hier aus konnte sie direkt durch den offenen Türrahmen blicken und erkannte, wie der Wagen in jenem Augenblick anhielt.
Ein Mann stieg aus. Sie musterte dessen merkwürdige Gestalt eilig. Der Fahrer musste vielleicht Anfang vierzig sein, wie einige graue Strähnen in den Haaren und dem Bart wies. Gekleidet war er in den einfachen Klamotten eines Bauern – Hose, Gürtel und Hemd, darüber jedoch ein langer brauner Mantel. In Schrecken jedoch versetzte sie ein weiteres Detail an seiner Gewandung, welches sie erst nach mehrmaligem Blinzeln wirklich zu erkennen glaubte: Eine Waffe! Wie ein Polizist trug dieser sie am Gürtel.
Für die Unbekannte war das kein gutes Zeichen. Doch dieser Mann mochte ihre einzige Rettung aus dem Desaster sein, dessen Ursprung völlig im Dunkel lag. Während er sich draußen zwischen den zerstörten Fahrzeugen umsah, ratterte es in ihrem Kopf. Sollte sie sich verstecken? Wenn er eine Waffe hatte, so lag die „Macht“ in dieser eigenartigen Situation bei ihm. Aber es war unsinnig. Er konnte ihr helfen. Nur er.
„Hallo? Ist da jemand?“
Seine Stimme klang fest, rauchig. Wie jemand der schon viel gesehen und erlebt hatte. In diesem Moment überschritt er die Schwelle des Hauses.
Da trat sie langsamen Schrittes vor. Der Unbekannte weitete einen Moment die Augen und sah aus, als wollte er zurückweichen. Sein Schrecken aber war schnell überwunden und so nickte er ihr kaum merklich zu.
„Wir können dem lieben Gott danken, dass ihr noch lebt. Ich habe im Umkreis von 20 Meilen alles abgesucht, doch entweder waren die Häuser leer oder die Menschen…tot. Ihr lebt noch und das grenzt an ein Wunder.“
„Ich…weiß nicht, wer ich bin oder was passiert ist.“, antwortete sie zögerlich. Das Sprechen fiel ihr schwer.
Der bewaffnete Mann legte einen finsteren Gesichtsausdruck auf. „Wenn das nur so einfach zu erklären wäre! Aber ihr sollt gesegnet sein. Ihr musstet es nicht mit ansehen.“
Mit einem unwohlem Blick schaute sie ihm in die Augen und murmelte erneut zögernd, doch diesmal bestimmter. „Was musste ich nicht mit ansehen?“ Sie war schon mehrere Stunden auf den Beinen ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben. Jetzt endlich wollte sie wissen, was hier vorgefallen war.
Der Unbekannte jedoch sah nicht so aus, als wolle er ihr alles lang und breit schildern. In seinem Blick lag etwas sehr sonderbares, etwas, dass sie nur schwer deuten konnte. Ihr nur schleppend wiederkehrendes Gedächtnis lies sie das wohl am ehesten als Schock bezeichnen – oder auch Melancholie.
„Am Ende wurden wir für unsere Sünden bestraft. Das ist alles, was wir wissen müssen. Alles, was wir mit unserem Gewissen vereinbaren sollten.“ Der Fremde lehnte sich an den Türrahmen und schaute in das trostlose, dreckige Tal. Bald würde es regnen.
Sie wagte sich nicht ihn weiter auszufragen, auch wenn ihr noch soviel durch den Kopf geisterte. Zum Beispiel die Frage, wie er sie gefunden hatte? Wer er überhaupt war? Ja, wie sein Name lautete?
„Seit ich…erwacht bin, habe ich nichts gegessen oder getrunken. Haben Sie-“
Er nickte. „Ja, im Wagen.“ Seine Hand wies auf das Führerhaus. Die Namenlose machte sich sofort auf den Weg dorthin, öffnete die rechte Tür und sah einen Laib Brot sowie eine alte Plastikflasche mit frischem Wasser. Gierig nahm sie einen Schluck und marschierte langsam zurück ins Haus.
„Wie haben Sie mich gefunden?“, fragte sie ihn als nächstes.
Wieder wies er mit der Hand. „Dort oben, auf dem Hang. Als alle fort waren, habe ich mir dort einen weiteren Posten errichtet. Solange das Benzin noch reicht, mache ich meine Touren durch die Gegend. Und irgendwann sah ich Sie. Nie hätte ich vermutet das hier unten noch jemand lebt.“
Sie nickte. Das klang schlüssig. „Und nun? Was wird jetzt geschehen? Ich kann doch mit Ihnen mitkommen?“
Zum ersten Mal zeichnete ein Lächeln seine Züge, wenn auch kaum erkennbar. „Deswegen bin ich doch hier. Setzten Sie sich ins Auto. Wir fahren wieder hinauf bevor die Nacht einbricht. Ich komme gleich nach.“
Sie tat wie ihr geheißen wurde. Im Transporter allerdings überfuhr sie sogleich eine Welle der Skepsis. Das Armaturenbrett war zerkratzt, die alten Matten zerrissen und Sitze ausgefranst. Überfall verteilten sich Flecken. Und sie alle erinnerten sie an getrocknetes Blut, auch wenn ihre Farbe mittlerweile so braun war, dass es auch irgendwelche Stoffe oder Mixturen sein konnten. Doch gerade das beflügelte sie unter den Sitzen und im Handschuhfach nachzusehen. Unter ihr: Zwei Gewehre. Wozu brauchte er sie? Gegen was musste er sich verteidigen? War die Welt untergegangen und nun von Plünderern bewohnt?
Im Handschuhfach hingegen fand sich eine Bibel und ein Kreuz. Sie verwunderte das nicht. Der Mann schien sich eindeutig an die höhere Kraft zu klammern. Nachdem was er durchmachen musste, schien dies nur allzu verständlich. Ebenfalls interessant war jedoch auch die Beilage eines krakeligen Zettels. Ein knapper Text war in kyrillischen Buchstaben verfasst. War sie also in Osteuropa oder vielleicht gar Russland? Im Kopf begann sich eine schummrige Weltkarte zu bilden.
Sie schrie laut auf, als der Fremde plötzlich neben ihrer Tür stand und mit grimmigem Blick durch das Fenster starrte. Doch sogleich wandte er sich wieder ab, verstaute ihr unbekannte Dinge im Lagerteil und setzte sich neben ihr ans Steuer. Wortlos lies er den Motor mithilfe eines schmierigen Schlüssels an und fuhr in jene Richtung aus der er gekommen war.
Es dauerte ungefähr zehn Minuten bis er endlich wieder das Wort ergriff. Seine Beifahrerin hatte bis dahin nicht gewagt ihn anzusehen und nur nervös aus dem Fenster gestarrt.
„Ich persönlich halte viel vom Glauben. Dem Atheistenpack fehlt etwas, gerade in diesen Tagen. Und wer sich sowieso nicht ernsthaft mit dem Glauben auseinandergesetzt hat, ist ein nichtsnutziger und überflüssiger Mensch.“ Der Ton war hart und überzeugt.
„Das…respektiere ich“, murmelte sie kleinlaut. Etwas besseres war ihr nicht eingefallen.
„Gut“, brummte er. Erst nach weiteren Augenblicken fuhr er fort: „Sie haben den Zettel gesehen. Konnten Sie ihn lesen?“
„Nein.“
„Sorgen Sie sich nicht. Es war die Warnung eines Mannes, der alles verlor, was er besaß. Daran Schuld hatte er nicht, und doch hat er die Nachwelt gewarnt, nachdem er von ihr ging. Dies ist er gewiss keinem schuldig gewesen.“
Nun sah sie wieder direkt zu ihm hinüber. „Ich verstehe das nicht. Ich verstehe gar nichts! Sie müssen mir sagen, was passiert ist.“
Der Fremde aber schwieg eisern und sprach auf der restlichen Fahrt kein weiteres Wort.
Fünfzehn Minuten später hatten sie das öde und weite Tal verlassen und waren in jenem Unterschlupf angekommen, von dem aus der Fremde sie gesehen hatte. Tatsächlich befand sich auf einer wackligen Holzplattform ein aufgestelltes Fernrohr wie die Frau mit verlorenem Gedächtnis sie von Besuchsorten des Tourismus wieder in ihren Kopf rief. So ramponiert wie dieses Ding war aber auch der Rest: Kaputte Autotüren, Kisten und Blechplatten dienten als Hilfe für das an allen Seiten ausgebesserte Gestell eines ehemaligen Wohnwagens.
Der Fremde führte sie hinein. Zum Glück sah es im Inneren wesentlich besser aus: Vorräte an Nahrung, ein eingebauter Ofen der Wärme spendete und vor allem neue Kleidung. Er lies sie das alles ohne mit der Wimper zu zucken begutachten und von dem Essen nehmen, während er kurz im hinteren Teil verschwand, welcher mit einem alten Vorhang abgetrennt war.
Es dauerte allerdings nicht lange bis er wieder zurückkehrte. Auf die Kleidung deutend meinte er: „Zieh dir hinten etwas neues an. Es sollte dir passen.“
Sie nickte und griff zu einer wesentlich besseren und blauen Jeans sowie einem karierten Hemd und verschwand nach hinten. Dort entdeckte sie nebst dem einfachen Doppelbett erneut das Kreuz. an welches laut Überlieferung Jesus genagelt wurde. An der anderen Wand befanden sich wohl drei dutzend Bücher. Sie allesamt waren, für diese verwahrloste Umgebung ganz ungewohnt, penibel aufgereiht und sauber gehalten worden. Das Regal wurde mehrmals ausgebessert. Während sie sich umzog, betrachtete sie diese. Von einfachen wissenschaftlichen Abhandlungen über weitere Bibelausgaben, bis hin zur Literatur von Dostojewski und Kafka, fand sie eine kleine, aber lesenswerte Auswahl vor. Auch das irritierte sie nur für die ersten Momente. Dieser Mann schien ein Einsiedler zu sein. Eine rege Büchersammlung war sein persönlicher Luxus.
In den vorderen Teil zurückkehrend, sah sie wie der Unbekannte an dem Tisch saß. Ganz ruhig, und ohne sich zu regen. Der Gürtel mit der Waffe lag auf der schäbigen Bank. Er hatte für sie beide aufgedeckt.
Schweigend setzte sie sich. Dabei fühlte sie seinen Blick auf ihr. Ernst und ruhig wie er war, beobachtete er jeden ihrer Züge. Wie sie einen Schluck aus dem Glas nahm, wie sie einen Happen von dem gebratenen, aber doch zähen Fleisch nahm. Für die sich selbst Unbekannte war es eine Ewigkeit, ehe sie ihn mit nervösem Lächeln simpel fragte: „Was ist?“
„Ich habe nachgedacht“, meinte er mühsam und stockend.
„Ihr scheint sehr viel nachzudenken. Ja, die ganze Zeit scheint ihr eure Schritte zu planen und zu lenken. Als wollt ihr für den Notfall vorsorgen.“
„Hm, so ist es wohl. Die Welt da draußen war schon immer hart. Jetzt ist sie nur noch härter geworden.“
Für sie war es der rechte Moment um erneut zu fragen: „Was ist dort draußen geschehen? Ich erinnere mich an nichts.“
Sein Blick verfinsterte sich. „Eine neue Zeit ist angebrochen. Unsäglicher Schrecken kam über alles Leben. Jetzt ist eine neue Ordnung am entstehen.“
„Das ist…vage.“ Sie seufzte. „Verstehen Sie doch, ich versuche mich daran zu erinnern wer ich bin! Ich muss einfach alles wissen, dann kann ich mich vielleicht wieder an einen Namen oder irgendetwas erinnern. Irgendetwas. Wenn das Ende der Menschheit angebrochen ist, dann muss ich wissen wie es dazu gekommen ist! Bitte!“
Wieder aber wich er mit seinen Worten aus. „Ist das denn wirklich von Bedeutung? Reicht es nicht zu wissen, dass eine große Katastrophe, wie auch immer sie ausgesehen hat, über uns hereingebrochen ist? Nein, es ist manchmal, doch besonders jetzt, einfach besser so wenig wie möglich zu wissen.“
Erneut kam ein Seufzen über ihre Lippen. „Im Gegensatz zu Ihnen habe ich das alles verschlafen. Ich kann ja verstehen, wenn sie nicht darüber reden möchten, wirklich! Aber ich kann kein halbes Leben führen, mich auf das beschränken, was ich jetzt bin!“
„Warum nicht?“, fragte er in ruhigem Ton, fast wie ein Lehrer oder Priester, was als Bezeichnung gar nicht mal so fern lag. „Auf den ersten Blick sieht es selbst aus wie eine Katastrophe, als hätten Sie gleich zwei zum gleichen Zeitpunkt erlebt. Sie erkennen jedoch nicht, was für ein Segen Ihre Situation ist. Sie können ein neues Leben beginnen. Wer weiß, wer Sie früher waren. Das alles hat nun keine Bedeutung mehr.“
Sie schüttelte nur den Kopf. „Bei allem Respekt, aber das kann doch nicht Ihr Ernst sein!“
„Es ist mein Ernst!“ Die düstere Mimik untermauerte das nur.
Die Unbekannte wurde unruhig. Eigentlich hätte sie sich aufregen sollen, hitzig werden. Aber da erkannte sie zumindest diesen Charakterzug von ihr wieder. Nein, es gebot sich schon aus reiner Höflichkeit nicht ihren Retter für seine – wenn auch eigenwilligen – Ansichten anzufahren. Das Beste wäre es nun einfach zu schweigen und weiter zu essen.
Nach einer Weile fuhr der Fremde aber fort. „Draußen ist es dunkel. Morgen aber beginnt ein neuer Tag. Mit dem Sonnenaufgang sollte auch das neue Leben aufgehen.“
Sie lies die verrostete Gabel auf den Teller fallen und sah ihn mit zusammengepressten Lippen an. Erneut konnte sie es sich nur mit Mühe verkneifen ihn anzufahren. Stattdessen fragte sie mürrisch: „Wie genau soll das aussehen?“
„Beginnen wir mit dem Namen! Es ist doch egal, wie der Alte lautete. Ein altes Sprichwort besagt doch, dass Namen wie Schall und Rauch sind. Auf den Namen folgt eine Arbeit, ein Hobby, welches Sie mögen. Und so geht es dann immer weiter. Neue Beschäftigungen, neue Ideen, neue Träume.“ Er sprach nun schneller. In seinem Ton lag etwas manisches. „Ein neues Heim, ein neuer Mann, eine neue Familie.“
Und das waren Worte, die sie zutiefst verunsicherten und sie ängstigten. „Ich weiß nicht, was in einer Stunde sein wird und Sie verplanen mein Leben!“
Er begann unruhig mit den Fingern auf dem Tisch zu tippeln. „Sie müssen bei mir bleiben. Für immer.“
„Was?“, entfuhr es ihr erschrocken.
„Wir sind allein!“, rief er aus. „Ganz allein! Um uns ist nur Müll und Verderben. In der endlosen Weite lauert der Tod. Die Posten sind unsere neue Heimat. Von ihnen aus trotzen wir ihm.“
„Moment mal!“ Protestierend hob sie die Arme. „Für meine Rettung habe ich euch zu danken. Wenn ich wieder richtig laufen kann helfe ich euch. Doch das ist eine Vision, die mir ganz und gar nicht zusagt. Hören Sie, solange sie mir nichts-“
„Schweig!“, sprach er laut und unterbrach sie. Und sie schwieg.
„Gut,“ murmelte er, „so ist es besser.“ Mit dem Waffengurt in der Hand erhob er sich und sah zu ihr herab. „Ich weiß selbst, wie verrückt es klingt. Doch wir können nichts dagegen tun. Was, wenn ich dir sage, dass wir die allein die einzig verbliebenen Menschen auf der Welt sind?“
Perplex sah sie zu ihm auf, doch erwiderte nichts.
„Ein Schock, ich weiß. Aber ich kann nicht weiter darüber sprechen. Es muss so sein, wie es ist.“ Er ging die Hocke und sah zu ihr auf. Skurril, trug er nun doch gar den Blick eines Liebenden und nicht mehr den eines gottesfürchtigen Mannes, der ewig auf der Hut vor dem abscheulichen Unbekannten in einer leeren Welt war.
„Eva“, hauchte er und sah sie einige Sekunden überlegend an. „Ich denke dieser Name ist passend. Unter dem Dreck des Tals erkenne ich eine schöne Frau. Ja, dieser Name passt.“ Er warf den Blick herüber zum Kreuz an der Wand, welches erst jetzt wirklich da zu sein schien.
Ihr Blick hingegen lag nun wieder starr auf die Tischplatte gerichtet. Nicht einmal in der tiefsten Kammer ihres Hirns wollte sie den Gedanken aussprechen, der ihr zu den Äußerungen des Fremden in den Sinn kam. Hatte er wirklich das alles im Sinn, wovon er direkt und indirekt sprach? Was sie sich zu seinen Äußerungen ausmalte?
In diesem Moment wollte sie nur davonlaufen. Sie sprang auf, stieß den Tisch dabei fast um und wollte einfach an ihm vorbei. Nur hinaus aus diesem Wohnwagen.
Überraschend fiel er nach hinten und sie humpelte so schnell wie möglich zur Tür.
„Halt!“, rief er laut. „Stopp, warte!“
„Nein, nein, nein!“, murmelte sie vor sich hin ohne zurück zu sehen. „Ich muss unbedingt von hier fort. Ich kann hier nicht bleiben.“
„Du musst bleiben!“, murrte er. „Du musst!“
Langsam sah sie ihn mit einem Blick über die Schulter an. „Das kann ich nicht. Trotz all Ihrer Hilfe sind sie schon jetzt ein Mensch, den ich ebenfalls aus meinem Gedächtnis löschen will. Vielleicht…vielleicht sogar gerade wegen ihrer Hilfe, wenn ich es recht bedenke.“ Hinter den Worten steckten kalte Gedanken, und doch sprach die Unbekannte sie leise und schwach in Richtung des soviel mächtiger wirkenden Fremden.
„Du musst bleiben!“, wiederholte er sich in festerem Ton. „Ich kann dich nicht gehen lassen. Hier kann ich nicht alleine sein.“
„Dann rettet jemand anderen. Ich muss fort.“
Sie wollte weiterhumpeln, doch da zog er in einer geübten Bewegung die Handfeuerwaffe und richtete sie auf sie.
„Bleib stehen! Ich will es nicht, aber wenn es sein muss, benutze ich den Abzug und töte dich. Du willst gehen und mich zurücklassen? Nachdem ich endlich jemanden gefunden habe, der in dieser Einöde an meiner Seite ist? Niemals könnte ich das zulassen!“ Die Worte waren klagend, sein Blick zeigte eine seltsame Mischung aus bedauernswerter Verzweifelung und kaltblütiger Soldatenmentalität.
„So schießen Sie auf mich. Aber ich bleibe bei meiner Entscheidung!“ Mit unruhiger Haltung machte sie einen Schritt auf die Tür.
Der Fremde fuchtelte mit der Waffe los. „Nein! Nein! Ich war selbstlos! Du kannst nicht gehen!“
Sie erwiderte nichts. Sie humpelte durch die Tür.
Dann ging alles viel zu schnell. Der Fremde zischte fluchend, als sie verschwand. Er konnte die Waffe nicht abdrücken. Doch er lief ihr nach und bekam sie mühelos zu packen, als sie sich keuchend an der alten Motorhaube des Fahrzeugs draußen stützen musste.
„Lass mich, lass mich!“, schluchzte sie.
Unerbittlich zerrte er sie zurück. Sie warf ihren Kopf herum und suchte. Irgendwie musste sie sich doch zu helfen wissen, irgendwo musste es etwas geben, um sich diesen Kerl vom Leib zu halten.
Da erblickte ihr Auge eine alte Eisenstande, welches zwischen den Kisten hervorlugte. Und wie man Menschen ungeahnte Kraft nachsagt, wenn sie in großer Verzweifelung sind, so schaffte sie es sich mit aller Kraft und schmerzenden Schreien von seinem festen Handgriff loszureißen, die Stange zu nehmen und sie mit voller Wucht gegen seinen Kopf zu schlagen. Aufschreiend fiel er zu Boden, sie lies die Stange im Schock fallen.
Panisch sah sie sich um. Das Auto und humpelte hinüber. Die Schlüssel fehlte. Hinten aber waren ebenfalls Kisten. Wenn sie jetzt von hier fortwollte, konnte sie deren Kisten niemals überprüfen. Aber es musste reichen.
Sie griff nach der Tür zur Fahrerseite, als Fremde hinter ihr röchelte: „Wir…sind…allein. Was…willst du schon tun? Ouh, mein Kopf!“
Viel Blut trat aus der Seite, an der sie ihn getroffen hatte. Doch darum wollte sie sich nicht scheren. Vorsichtig schritt sie an den am Boden liegen heran. Als er sich aufbäumte, augenscheinlich um sich zu erhoben, trat sie nach ihm und er stöhnte schwer. Sofort beugte sie sich hinab und durchwühlte seine Taschen nach dem Schlüssel für den Wagen.
„Denk…denk doch nach!“, röchelte er. „Wo willst du hin? Alleine, niemand…ist mehr da. Fliehen willst du? Vor wem? Eva…du bist…wir…müssen…neu beginnen. Mit allem.“
Endlich fand sie den Schlüssel in seiner rechten Hosentasche. Ohne Zeit zu verlieren erhob sie sich und humpelte zum Wagen zurück.
Der Fremde röchelte weiter: „Du kannst nicht…fliehen. Ich habe dich gefunden…weil…ich mir Mühe…gegeben habe, oh ja. Und ich werde dich wieder finden. Ich werde…dich überall finden. Ich kann dich einfach nicht gehen lassen.“
Sie hielt inne und dachte über seine Worte nach. Er hatte recht. Für sie lief das auf eine eindeutige Situation heraus: Einer von ihnen musste endgültig über den anderen entscheiden. Für sich selbst fasste sie eine grausige Entscheidung. Aber wenn sie fliehen wollte, war es notwendig.
„Es tut mir leid.“, röchelte er und folgte mit seinem Blick ihren humpelnden Schritten zu der blutigen Eisenstange.
Sie nahm die Stange auf, sah zu ihm und murmelte: „Mir ebenfalls.“ Danach holte sie mühsam aus und lies einen Hieb auf sein rechtes Bein niedersausen.
Der Fremde schrie voller Schmerzen auf. „Hör auf damit! Was tust du?“
„Wenn du mich überall findest, benötige ich einen Vorsprung. Ich zertrümmere dir deine Beine.“ Die grausige Arbeit trieb ihr wässrige Tränen ins Gesicht.
Als der Fremde erneut aufschrie und es auch im anderen Bein knackte, warf sie die Eisenstange erneut zu Boden und humpelte so schnell wie möglich zum Wagen. Instinktiv benutzte sie den Schlüssel, startete das Auto und fuhr mit quietschenden Reifen los. Schnell verstummten die Schreie ihres vermeintlichen Retters im Dunkeln.
Die Frau ohne Gedächtnis steuerte das Fahrzeug miserabel. Sie selbst verwunderte das nicht. Ihr Kopf war so voller Gedanken, voller Ekel, Wut und Angst. Außerhalb des kalten Führerhauses lag der Schrecken, der die Welt zugrunde gerichtet hatte, in völligem Dunkeln. Nachdem sie aus dem Bauernhaus entkam, gab es große Hoffnung sich auf mehr als das Überleben in den nächsten Stunden zu fixieren. Nun aber stand sie quasi wieder am Anfang. Der Wagen ermöglichte es ihr lediglich irgendwo weiter draußen zu verenden.
Auf der Fahrt kamen Zweifel auf. Was, wenn die Welt gar nicht untergegangen war, wie es sich selbst immer und immer wieder dramatisch prophezeit hatte? Der Fremde wollte nichts über die Geschehnisse berichten. Vielleicht bestand also noch Hoffnung.
Sie frohlockte innerlich, als sie in der Entfernung auch noch eine große Ansammlung von Lichtern sah. Möglicherweise war dies eine Stadt. Da war sie zumindest keinem Einsiedler ausgeliefert. Sie drückte nur noch mehr aufs Gas um schneller anzukommen.
Das Auto erreichte schlussendlich eine Kreuzung. Es war merkwürdig, denn hier musste sie Entscheidung fällen. Der Weg nach rechts führte in Richtung der Ansammlung von Lichtern. Links hingegen würde sie der Dunkelheit ins Unbekannte folgen.
Gerade noch war sie so froh gewesen die Lichter erkannt zu haben. Jetzt aber mischten sich wieder die Zweifel hinzu, die Feinde der Handlungen. Sie wusste ja nicht einmal wer sie war. Nach den Ereignissen der letzten Stunden schien zumindest die Frage nach dem was beantwortet zu sein: Eine leichte Beute.
Es mussten wohl noch weitere fünfzehn Minuten vergangen sein, als der Kleintransporter sein einsames Schweinwerferlicht auf die marode Straße vor ihm warf. Dann bog der Wagen nach links ab.

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Tag der Veröffentlichung: 08.01.2009

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