Der Abend neigte sich dem Ende zu – und genauso ihr Leben. Regungslos lag sie flach atmend auf dem Waldboden, nicht ahnend, dass ihr Tod noch Generationen nach ihr die Elfenwelt teilen würde. Gerade als sie beschloss, dass sie aufhören wollte, gegen den Tod anzukämpfen, vernahm sie Schritte, die schnell näher kamen. Der schwärzliche Schleier, der sich auf ihre Augen gelegt hatte machte es ihr nicht leicht, zu erkennen, wer sich nun über sie beugte, aber seine Stimme hätte sie überall erkannt. „Elayoé!“, rief er, wohlwissend, dass es nicht gut um sie stand. Langsam und mit großer Mühe hob sie ihre rechte Hand etwas an. Er ergriff sie und strich ihr ihre langen schwarzen und glatten Haare aus dem Gesicht. „Noam..“, murmelte sie leise, fast schon unverständlich. Sie wusste, dass es Zeit für sie war zu gehen. Erschöpft rang sie noch ein letztes Mal um Atem um etwas zu sagen, aber sie brachte es nicht heraus. Vor ihren Augen leuchtete ein helles weißes Licht auf, welches sie zu sich zu rufen schien. Sie drückte zum Abschied Noams Hand noch einmal, dann spürte sie den letzten Atemzug durch ihre Lunge gleiten, bevor sie für immer aus dieser Welt schied.
Iníon erwachte schweißgebadet aus ihrem Traum. Kerzengerade saß sie in ihrem Bett und musterte ihr Zimmer, um sich zu vergewissern, dass sie alles nur geträumt hatte. Dabei war sie sich nicht mal wirklich sicher, dass es nicht die Realität war, in der sie sich eben noch befunden hatte. In der Dunkelheit, die durch ihr Fenster herein kam, sah sie allerdings nicht sehr viel mehr, als die Umrisse ihrer Möbel und der Sachen, die in ihrem Zimmer herum verstreut lagen. Der Mond stand noch nicht hoch genug, um den Rest ihres Zimmers zu überblicken, jedoch beruhigte sie der Anblick der vertrauten Umgebung. Sie spürte, wie ihr Herzschlag langsam aber sicher wieder langsamer wurde und atmete tief durch. Durch die Stellung des Mondes erkannte Iníon, dass der neue Tag noch nicht angebrochen war. Sie strich sich ein paar ihrer weiß glänzenden Haare aus dem noch immer verschwitzen Gesicht und ließ sich dann in ihr Kissen zurück sinken. Der Traum, aus dem sie gerade erwacht war, kam ihr bekannt vor. Sie hatte ihn schon einmal geträumt, aber damals war sie noch sehr jung gewesen. Trotzdem hatte sie sich an jedes Detail, jeden Geruch und alle Personen erinnern können. Es war, als wäre sie vor Ort mit dabei gewesen, als Elayoé starb.
Elayoé war der Grund, beziehungsweise eher ihr Tod, weswegen die Elfenwelt gespalten war. Auf der einen Seite gab es die Brethil. Diese bestanden größtenteils aus dem Clan der Dogár, aus dem auch Noam stammte, welchen Iníon in ihrem Traum gesehen hatte. Die Brethil waren der Stamm der Kämpfer. Viele der von dort stammenden Elfen besaßen kriegerisches Geschick, die Leichtigkeit und Schnelligkeit eines Elfen. Diese Eigenschaften waren kombiniert mehr als nur gefährlich. Wenn man einem Brethil-Krieger über den Weg lief, hatte man meist keine guten Chancen zu entkommen, wenn man dem Stamm der Vaniyar angehörte. Das waren die beiden Lager, die sich seit Elayoés Tod vor über 400 Jahren bekriegten. Kriegerisch waren die Brethil dabei klar im Vorteil, doch die Vaniyar pflegten die Verbindung zur Natur, wodurch sie sich mithilfe der Pflanzen und Tiere zu wehren wussten. Manchmal kam es vor, dass ein Elf oder eine Elfin eine ganz besonders starke Verbindung zu der Natur hatte. So war es bei Elayoé gewesen. Sie konnte allein durch die Kraft ihrer Gedanken Tiere herbei rufen oder Pflanzen wie Büsche, Bäume oder anderes Grünzeug wachsen lassen. Normalerweise musste man bei den Waldtieren geistig Kontakt aufnehmen und Rufe ausstoßen, die sich so anhörten, als wäre einer der Artgenossen des jeweiligen Tieres in Schwierigkeiten. Elayoé und wenig andere aber konnten allein dadurch Kontakt zur Natur aufnehmen, indem sie ihren Geist öffneten. Die Bindung dieser seltenen Elfen zur Natur war außergewöhnlich stark. Nur durch die Öffnung des Geistes passierte fast sofort all das, was von diesen Elfen mehr oder weniger gefordert wurde.
Iníon gehörte zu den Vaniyar. Sie war eine der Heilerinnen. Diese hatten, ebenso wie der Rest des Stammes, eine Verbindung zur Erde und der Natur, allerdings war sie bei den Heilern besonders bei den Pflanzen verstärkt.
Iníon wandte den Kopf noch einmal, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Draußen schien alles ruhig zu sein, jedoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass bald etwas passieren würde. Ob dies allerdings für sie positiv oder negativ ausfallen würde, war ihr schleierhaft. Leise seufzend schloss sie ihre Augen wieder und versuchte zu schlafen. Wie sie feststellte, war das gar nicht so einfach, da sie von dem Traum von Elayoé immer noch ziemlich aufgewühlt war. „Hmpf“, machte sie, setzte sich wieder auf und strich sich ärgerlich ihre langen weißen Haare aus dem Gesicht. Schlafen würde sie jetzt wohl nicht mehr können, das wusste sie. Leise, um niemanden zu wecken, stand sie auf, zog sich schnell etwas über und verließ dann das Haus. Glücklicherweise ist es fast Sommer, dachte sie sich, während sie die Türe hinter sich schloss.
[Fortsetzung folgt]
Texte: Becci X
Tag der Veröffentlichung: 24.01.2013
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