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Vernetzt
Fred sah auf den Körper seines Sohnes herab, der fürchterlich verrenkt und zuckend auf der Kante des Bettes lag. Während er noch überlegte, ob er Hand anlegen und ihn vor dem Herunterfallen bewahren sollte, öffnete dieser die Augen und grinste seinen Vater begeistert an.
„Geiles Konzert!“, sagte er und trennte seine Internetverbindung. Sein Vater hatte sich immer noch nicht richtig an die neue Art und Weise des Netzzuganges gewöhnt und musste einen leichten Ekel unterdrücken, als sein Sohn den nadelähnlichen Stecker aus seiner Schläfe zog.
„Ach Papa! Mach nicht so ein Gesicht!“, sagte Martin. „Es ist total ungefährlich und tut kein bisschen weh. Du solltest dir auch so einen setzen lassen. Die Inputs sind unglaublich.“
„Ich bleibe lieber bei meinem Rechner und meinen Boxen.“
„Früher oder später musst du auch Nele einen Shorty erlauben. Heutzutage ist man ohne total out.“
„Du bist mit dem Essen dran und es ist schon spät“, erinnerte Fred seinen Sohn, der sofort in Richtung Küche sauste.
Er setzte sich auf das zerwühlte Bett und sah sich im Zimmer seines Kindes um. Was ein 17jähriger für wichtig erachtete, erschien ihm so andersartig, doch gleichzeitig auf einer gewissen Ebene seines Unterbewusstseins vertraut.
Der Unterschied zwischen einer Fußballmannschaft und den Suhler Luftpiraten, die auf fliegenden Skateboards und mit einem korbartigen Schläger in der Luft Ball spielten, schien auf der einen Seite himmelweit, andererseits Team war Team und man konnte sich für das eine wie auch das andere begeistern. Und Poster gab es damals wie heute. Natürlich waren die heutigen Poster mit unglaublichen Effekten versehen, wobei das Leuchten im Dunkeln nur einer der harmlosesten war.
Fred ließ sich auf das Bett zurücksinken, spürte die Reste der Körperwärme seines Sohnes und roch den vertrauten Geruch, den wohl alle Eltern überall auf der Welt auch ohne technische Hilfsmittel gespeichert hatten, den Duft des eigenen Kindes. Vielleicht hätten sie mit 103 keine Kinder mehr bekommen sollen, er fühlte sich in den Diskussionen mit seinem Sohn und viel mehr noch mit seiner Tochter oft so hilflos und wie von einer anderen Welt.
Die körperliche Optimierung hat auch seine Nachteile, dachte er bei sich. Egal wie jung man aussieht und wie fit man sich fühlt, das Hirn ist noch dasselbe und eine Erinnerungslöschung, selbst eine partielle, kam für ihn nicht in Frage. Oft wünschte sich Fred, seine Frau wäre noch an seiner Seite, nicht nur als Memochip-Hologramm, wo sie ewig lächelnd immer die gleichen Worte wiederholte, nur ein Abklatsch der warmherzigen, lebenslustigen und vor allem klugen Frau, die er so geliebt hatte.
Fred seufzte. Kinder zu erziehen war keine einfache Sache. Oft hätte er den Beistand seiner Frau gebraucht, vor allem bei Nele, die mit ihren 14 Jahren sehr mit den Unbilden der Pubertät zu kämpfen hatte. Dagegen hatten die Wissenschaftler mit ihrer Nanotechnologie, Körperoptimierung und den Unmengen Chips, die sich unter die Haut pflanzen ließen, noch immer nichts gefunden.
Beate war so sinnlos gestorben, auch heute, fast 10 Jahre danach, packte ihn die kalte Wut, wenn er nur daran dachte. Sie hätten noch zwei- bis dreihundert glückliche Jahre vor sich gehabt, wenn nicht diese Verkettung unglücklicher Umstände gewesen wäre.
Zuerst der Skater, der ihr mit den messerscharfen Kanten seines Luftgleiters unachtsam die Kehle aufgeschlitzt hatte und dann spurlos verschwunden war. Fred kannte nur die Aussage, die der obdachlose Augenzeuge bei der Polizei gemacht hatte. Seine Frau war einsam und alleine in einer Nebenstraße verblutet, weil der Chip für den medizinischen Notfall, zu dem eine aufgeschlitzte Kehle sehr wohl zählte, im entscheidenden Moment versagt hatte. Dieses Versagen konnte sich bis heute niemand erklären.
Mit den Entschädigungen, die Fred von den Herstellern der Luftgleiter und des Medi-Chips ganz unbürokratisch und schnell bekam, konnte er mit seinem Sohn und seiner Tochter weiterhin gut leben und ihnen eine angemessene Ausbildung angedeihen lassen, aber eine Mutter kann man durch nichts ersetzen.
„Essen ist fertig!“, riss ihn ein gellender Ruf aus seinen Grübeleien. Fred stand mit einem Seufzer vom Bett auf, wies den Hauscomputer an, das Zimmer seiner Sohnes zu lüften und begab sich in die Küche.
„Warum müssen wir das blöde Abendbrot immer selber machen? Andere Leute haben nicht mal mehr einen Herd!“ Seine süße Tochter, früher goldlockig und jeden mit ihrem Charme bezaubernd, lehnte provozierend im Türrahmen. Fred übersah ihren kahl geschorenen Kopf mit den wuselnden schwarzen Nanotätowierungen darauf. Er war dankbar, dass es keine althergebrachten Tattoos waren, deren Entfernung teuer und schmerzhaft gewesen wäre. Kaum zu glauben, dass es immer noch ein paar der altmodischen Studios gab, wo man mit Nadeln und Farbe hantierte. Ihre Figur, die Grenzen noch fließend zwischen Kind und junger Frau, wurden von einer Art Sack verhüllt, wobei die Schlitze und Löcher im Stoff bei manchen Bewegungen mehr zeigten, als einem Vater lieb war. Das Gewebe änderte seine Farbe bei wechselndem Lichteinfall und Fred war froh, dass die Küchenbeleuchtung nur ein schlammiges Braun auf dem Gewand seiner Tochter hervorrief und nicht die von seinem Sohn so treffend als kotzgrün bezeichnete Farbe, die das Sonnenlicht bewirkte. Abgerundet wurde Neles Erscheinung durch Strümpfe im Schlangenlook mit beweglichen Schuppen. Ihre dank der Körperoptimierung zierlichen Füße steckten in neongelben wadenhohen Hightech-Turnschuhen, deren dicke Sohlen beim Laufen Stroboskopeffekte zeigten.
„Guten Appetit!“, sagte Fred freundlich und erklärte wohl zum tausendsten Mal: „Eine Mahlzeit am Tag wollen wir wenigstens gemeinsam essen und es hat noch keinem geschadet, dass er kochen kann.“
„Wann kann ich mir endlich einen Shorty stechen lassen?“, kam prompt die gefürchtete Frage von Nele.
Fred seufzte, das schien in letzter Zeit seine bevorzugte Äußerung zu sein und setzte gerade zu seiner Standardantwort an, als der Hauscomputer mit seiner öligen Stimme meldete: „Unbekannter Ruf für Dr. Dido.“ Auf die erstaunten Blicke seiner Kinder konnte er nur mit einem Schulterzucken antworten.
„Annehmen Arbeitszimmer!“, befahl er vorsichtshalber und verließ den Tisch. Den Protest seines Sohnes ignorierte er.

Der große Monitor in seinem Arbeitszimmer leuchtete ihm schon von der Wand entgegen. Fred wusste, als hochrangiger Beamter der Informationsverwaltung sollte auch er sich in Kürze einen Neurozugang in die Schläfe setzen lassen. Man musste mit dem Fortschritt gehen – wer den Anschluss verpasste, der war verloren. Er war immer wieder selbst über seinen kometengleichen Aufstieg in der Behörde erstaunt, war er doch absolut kein Karrieretyp. Vielleicht waren seine Erfolge bei der Arbeit ja ein Ausgleich des Schicksals, sinnierte er manchmal. Sein Unbehagen bei dem Gedanken an einen Shorty, wie der Neurozugang in der Umgangssprache hieß, war kaum zu unterdrücken. Martin war begeistert davon, die Augen zu schließen und sich auf einem Konzert seiner Lieblingsband wiederzufinden, aber Fred fand den Gedanken, einen Datenstrom direkt in seine Hirnrinde geleitet zu bekommen, irgendwie unheimlich. Vielleicht erinnert ihn das Ganze auch nur an die vielgepriesenen Umerziehungsprogramme für Straftäter und politische Quertreiber. Die erfolgreich Umerzogenen hatten seiner Meinung nach immer einen etwas verlorenen Ausdruck in den Augen. Deshalb zögerte er auch noch, seiner Tochter diesen kleinen Eingriff zu erlauben. Ihr Hauptargument bei den oft hitzigen Diskussionen war, dass er sie dadurch von den anderen Kids abgrenzte und ihr den Zugang zu einer völlig neuen Welt verweigerte. „Altmodisch“ und „hinter dem Mond“ waren die harmloseren Ausdrücke, mit denen sie ihren Vater dann bedachte. Nur gut, dass seine beiden Kinder nicht wussten, dass ihre Mutter bis zu ihrem Tod maßgeblich an der Entwicklung des Neurozugangs mit gearbeitet hatte. Dann hätte er wohl kaum noch eine Chance gegen Neles Forderungen gehabt. Blieb immer noch das Risiko, dass sie sich den Zugang illegal einsetzen ließ. Er schauderte bei dem Gedanken an Infektionen und Missbrauch.
„Jetzt annehmen!“ befahl er und der Bildschirm erwachte zum Leben. Aber anstatt des erwarteten Anrufers sah er nur wirbelnde orange-blaue Schlieren und eine künstlich verzerrte Stimme krächzte: “Guten Abend, Dr. Dido.“
„Wer sind sie?“, fragte Fred erstaunt.
„Schönen Gruß von ihrer Gattin!“, erwiderte die Stimme und Fred riss erstaunt die Augen auf.
„Meine Frau ist 2376 verstorben“, erwiderte er und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme dabei etwas brüchig klang. „Wer sind sie?!“, versuchte er es noch einmal mit Nachdruck.
„Ein Freund“, kam die Antwort. „Wenn sie etwas über das Versagen von angeblich unfehlbaren Medi-Chips erfahren wollen, dann kommen sie morgen Abend punkt 22.00 in den ´Google-Boy`!“ Während Fred noch mit offenem Mund auf den Bildschirm starrte und sein Hirn zu verarbeiten suchte, dass der Unfall seiner Frau vielleicht gar keiner war, verschwanden die bunten Schlieren und machten dem geistlosen Blau eines unbeschäftigten Computers Platz.
Fred saß wie erstarrt auf seinem Stuhl. Es zischte und klickte leise, als die Ergoflächen sich seiner Körperhaltung anpassten. Schließlich stand er schwerfällig auf, nahm mit müden Bewegungen den Memo-Chip seiner Frau aus dem Regal, blies zärtlich den Staub herunter und aktivierte ihn. Mit Tränen in den Augen blickte er auf das täuschend echte Hologramm, das mit melodischer Stimme zu ihm sprach. Er achtete nicht auf die Worte, schaute nur das Abbild der Verstorbenen unentwegt an. Ein Geräusch an der Tür lies ihn aufmerken. Da stand seine Tochter, sah mit versteinerter Miene auf das Hologramm ihrer Mutter und sagte mit erstickter Stimme: “In der Küche bin ich fertig. Ich habe Anweisung gegeben, dein Essen warm zu halten.“
„Danke, mein Kind!“, antwortete ihr Vater sanft. Nele wandte sich ab und rannte fluchtartig den Gang hinunter in ihr Zimmer.

„Noch einen Drink, Dr. Dido?“
„Nein, danke“, wehrte Fred ab, die leuchtend bunten Drinks waren nicht nach seinem Geschmack. „Altmodisch!“, erklang die Stimme seiner Tochter in Freds Kopf, als er sich nach einem schönen kühlen Bier sehnte. Das war leider schon vor vielen Jahren gemeinsam mit allen anderen alkoholischen Getränken abgeschafft worden. Zu ungesund, war die Begründung der Nahrungsmittelbehörde. Fred dachte darüber nach, dass man beim heutigen Stand der Wissenschaft doch in der Lage sein müsste, ein Bier herzustellen, das gesund war und schmeckte, was sicher auch dem Schwarzhandel mit solchen Sachen die Grundlage entzogen hätte.
Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Barkeeper unmöglich seinen Namen kennen konnte. Er war zum ersten und wenn es nach ihm ginge auch zum letzten Mal im ´Google-Boy`. Zu laut, zu bunt, zu technisch, zu viele Leute mit Shorty! Sie stöpselten sich am Tresen ein, lauschten verzückt der Musik in ihren Köpfen, führten stumme Gespräche mit unsichtbaren Partnern im Netz oder surften einfach im Internet und tranken dabei schweigend bunte Gesundheitsdrinks. Richtige Zombies! Fred dachte mit Wehmut an das Pub zurück, das vor nicht einmal achtzig Jahren an genau der gleichen Stelle gestanden hatte. Da war es noch laut gewesen, man kam ins Gespräch, schaute gemeinsam auf den kleinen Fernseher an der Wand und ging am Ende zwar meistens leicht schwankend, aber dafür entspannt nach Hause.
Er überlegte weiter. An der Bar hatte er auch nicht mit dem Kredit-Chip in seinem Ring bezahlt, so dass niemand seine Daten hätte abrufen können. Es sei denn, der Besitzer arbeitete mit einem Scanner mit Chip-Erkennungssoftware. Die waren zwar laut Informationsgesetz streng verboten, nicht desto trotz bei Besitzern öffentlicher Einrichtungen sehr beliebt, erlaubten sie doch Zugang zu Kundeninformationen. Er müsste seinen Verdacht eigentlich melden.
Schon seit einer halben Stunde saß er in dieser grässlichen Imitation einer Kneipe und es war gleich 22.00. Da hatte sich wohl jemand einen bösen Scherz mit ihm erlaubt. Plötzlich kreiste ein Flying Postman über seinem Glas und er sagte laut und deutlich: “Annahme.“
„Eingang Techno-Supermarkt. 22.10“, zirpte die kleine gelbe Flugmaschine und sauste unvermittelt davon. Ob sie wohl in ihrer Freizeit Honig sammeln? Das schoss ihm unvermittelt durch den Kopf, als er dem insektenähnlichen Ding nachschaute. Dann schüttelte er diesen Gedanken ab und blickte auf seine Uhr. Er musste sich beeilen.

Vor dem `Google-Boy` stellte er sich auf eine Beförderungsplattform und gab sein Ziel am Touchscreen ein. Ein rotes Licht blinkte auf, als der Fahrpreis automatisch von seinem Ringchip abgebucht wurde, eine Kabine schloss sich um ihn und lautlos senkte sich die Plattform. Er tauchte in das unterirdische Beförderungssystem ein. Natürlich blieb er auf Ebene 1, einen Kilometer unter der Oberfläche war diese für innerstädtische Beförderung vorgesehen. Für eine Reise in eine andere Stadt musste man schon tiefer hinunter, dafür gab es Ebene 2. Wer gar in einen anderen Staat fahren wollte, der konnte auf Ebene 3 in einer bequemen Kabine seine Reise antreten und in kürzester Zeit an seinem Ziel ankommen. Seit dem generellen Verbot von Fahrzeugen auf und über der Oberfläche der Nordhalbkugel war dies die einzige Art zu reisen, es sei denn man ging zu Fuß oder bewegte sich auf einem Luftgleiter fort. Für die den alten Skateboards ähnelnden Beförderungsmittel hatte Fred noch nie etwas übrig und seit dem Tod seiner Frau mied er die Dinger wie die Pest.
Vor dem Supermarkt tauchte die Kabine wieder auf und entließ Fred mit einem leisen Fauchen. Gierig atmete er die frische Luft ein. So schnell er auch befördert wurde, unter der Erdoberfläche befiel ihn immer eine leichte Klaustrophobie. Obwohl gerade er alle Statistiken zum Thema Sicherheit unter der Erde ganz genau kannte, konnte er sich nie eines unguten Gefühls erwehren, wenn er verreiste, egal wo hin. Auch die Tatsache, dass alle Daten jeder auch noch so kurzen Reise aufgezeichnet und im Informationsministerium gespeichert wurden, beunruhigte ihn. Dabei war er sich durchaus der Notwendigkeit dieses Vorgehens bewusst. Informationen jeder Art waren lebenswichtig für die nördliche Erdhalbkugel, sie verringerten die Wahrscheinlichkeit terroristischer Anschläge sowohl auf das Internet als auch auf öffentliche Einrichtungen. Seit dem großen Informationskrieg war das Gleichgewicht zwischen den beiden Erdhalbkugeln immer noch äußerst fragil und ein Angriff der Gemäßigten konnte jederzeit stattfinden. Das konnte man aus den Nachrichten ersehen, die ständig aktualisiert wurden und jederzeit von jedem Ort abrufbar waren, sogar vom Ringchip oder dem superkleinen Kommunikator, den man sich ins Ohr implantieren ließ.
Fred konnte sich nicht vorstellen, wie man mit sozusagen gedrosselter Technologie leben konnte, ohne Körperoptimierung, ohne totale Vernetzung aller Lebensbereiche und ohne die ganzen Chips und Nanoroboter, die das Leben so ungemein erleichterten. Die auf der anderen Seite mussten es doch wirklich schwer haben - abgesehen von den gesundheitlichen Risiken der fehlenden Optimierung gab es auch noch sehr viele, die körperlich arbeiten mussten, die Produktion künstlicher Nahrungsmittel war in der südlichen Hemisphäre drastisch gedrosselt worden, ja, sollte sogar in absehbarer Zeit ganz abgeschafft werden.
Egal, er stand wartend vor dem Eingang des Supermarktes, fragte immer wieder die Zeit ab und nichts geschah. Kein Flying Postman, keine geheimnisvolle Gestalt, gar nichts.
Plötzlich kam ein Skater auf seinem Luftgleiter von oben direkt auf ihn zu geschossen, bremste unmittelbar vor ihm ab, schnippte sein Board mit dem Fuß hoch und klemmte es sich unter den Arm. Bei dieser großkotzigen Demonstration seines Könnens kam er allerdings einmal ins Straucheln, so dass er Fred anrempelte. Dieser stand stocksteif und kreidebleich da und fühlte, wie es ihm kalt den Rücken herunterlief. So ähnlich war es wahrscheinlich bei Beate abgelaufen, nur dass sie nicht so viel Glück gehabt hatte wie er gerade.
Müde wandte Fred sich der nächsten Plattform zu und begab sich nach Hause. Es war wohl falscher Alarm, irgendein kranker Witzbold hatte sich einen Scherz mit ihm erlaubt.

Nachdem er seinen Ring vor den Scanner gehalten hatte, öffnete sich die Haustür und er konnte die Stimmen seiner streitenden Kinder aus der Küche hören. Fred wurde es warm ums Herz, wenigstens die beiden waren ihm geblieben. Er sollte seine Grübeleien beenden und sein Leben genießen. Gleich nächste Woche würde er einen Termin bei Dr. Shunt machen und sich und seiner Tochter einen Neurozugang spendieren. Warum ständig streiten? Wenn das Leben jetzt auch länger dauerte als früher, dafür war es immer noch zu kurz.
Wie jeden Abend zog er seinen Ring mit den verschiedenen Chips ab, räumte seine Taschen aus und legte alles auf die Kommode im Flur. Viel war es nicht, ein Mini-Bild-Lese-Speicher mit den Bildern seiner Familie, den er immer bei sich trug, etwas Bargeld,... Was war das? Hatte er gestern aus Versehen den Memo-Chip seiner Frau eingesteckt? Nein, der hier sah ganz anders aus. Wie war er nur in seine Tasche gekommen. Ein Verdacht keimte in Fred auf. Der Skater! Das Straucheln war wohl nur ein Täuschungsmanöver gewesen, um unauffällig den Chip in seiner Tasche zu platzieren.
Trotzdem die Neugierde in ihm brannte, zwang sich Fred, zu seinen Kindern in die Küche zu gehen, ein wenig mit ihnen zu plaudern und ihnen eine gute Nacht zu wünschen. Als die beiden in ihren Zimmern verschwunden waren, teilte er dem Hauscomputer mit, dass er keine Störung wünsche und begab sich sofort in sein Arbeitszimmer.

Sorgfältig verschloss er die Tür und legte den geheimnisvollen Chip vor sich auf den Schreibtisch. Er betrachtete ihn von allen Seiten, konnte aber keine Kennung oder irgendetwas Ungewöhnliches entdecken. Letztendlich hatte er keine andere Wahl als den Chip zu aktivieren, um hinter sein Geheimnis zu kommen.
Ein Hologramm baute sich auf, die detailgetreue Nachbildung einer kleinen, verlassenen Gasse. Fred stockte der Atem. Die Gestalt, die am Ende der Gasse erschien, kam ihm sehr vertraut vor. Richtig, beim Näherkommen erkannte er Beate, die zögernd, immer wieder über die Schulter zurückblickend, weiterging. Sie schien auf jemanden zu warten. Fred erkannte an ihrem Gesicht und ihrer schmerzlich vertrauten Körpersprache, dass sie Angst hatte, aber auch ungeduldig war. Was hatte sie nur dort gewollt?
Plötzlich stieß eine vermummte Gestalt zwischen den Häusern herunter und landete genau vor ihr. Das Hologramm war stumm und die Qualität der Aufnahme ließ sehr zu wünschen übrig, aber er konnte unschwer erkennen, dass die beiden schnell in eine hitzige Diskussion verstrickt waren. Beate schüttelte immer wieder den Kopf und hob wie abwehrend die Hände.
Fred erhob sich halb aus seinem Sessel, als der Skater blitzschnell ein Messer zog und ohne zu zögern Beate die Kehle durchschnitt. Dann durchsuchte er flink, aber offensichtlich ergebnislos ihre Taschen, sprang auf seinen Luftgleiter und raste davon. Fred zitterte und Tränen liefen ihm über das Gesicht, er konnte den Blick nicht von seiner sterbenden Frau abwenden.
Offensichtlich hatte der Medi-Chip doch funktioniert, denn jetzt kam ein Sanitätsgleiter angeschwebt, zwei Mediziner sprangen heraus und rannten zu ihr. Mitten im Lauf legte der schnellere der beiden die Hand an sein Ohr, stoppte abrupt und hielt auch den anderen zurück. Nach einem kurzen, aber heftigen Streit stiegen beide wieder in den Gleiter ein und flogen davon.
Fred war fassungslos und außer sich vor Wut. Er krallte seine Finger so fest in die Armlehnen seines Sessels, dass die Abdrücke noch am nächsten Tag zu sehen waren. Es war Mord, kein unglücklicher Unfall, wie man immer beteuert hatte, der Medi-Chip hatte nicht versagt und einen Augenzeugen gab es auch nicht. Was hatte das zu bedeuten? Warum wurde ihm ausgerechnet jetzt diese Aufnahme zugespielt? Er öffnete seinen Geheimschrank und entnahm ihm seine sorgsam gehütete Flasche mit altem schottischem Whiskey vom Schwarzmarkt und ein schweres Glas. Großzügig schenkte er sich ein und nahm einen tiefen Schluck. Dann gab er Befehl, das Hologramm noch einmal zu starten. Er konnte es kaum ertragen, aber er diesmal konzentrierte er seinen Blick nur auf Beate. Hatte sie versucht, noch etwas zu sagen?
Bei der vierten Wiederholung sah er es endlich. Sie konnte sich kaum bewegen, versuchte aber mit aller Kraft, mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand einen Kreis zu formen. Wieder kamen ihm die Tränen.
Das war ein Zeichen aus glücklichen Tagen! Beate hatte es damals, als sie jung verheiratet waren, so oft gemacht, dass er es ihr zum ersten Hochzeitstag in Plexiglas hatte gießen lassen. Der Kreis aus Daumen und Zeigefinger, der Beates Hand naturgetreu nachgebildet worden war, diente als Rahmen für ihr Hochzeitsbild. Obwohl es doch ein ziemlich kitschiges Geschenk war, hatte Beate sich wahnsinnig gefreut und auch jetzt noch stand es auf seinem Ehrenplatz im Wohnzimmer. Hatte sie also in ihren letzten Minuten an ihn gedacht und nicht an die geheimnisvolle Sache, in die sie ganz offensichtlich involviert gewesen war und die sie wohl letztendlich das Leben gekostet hatte? In was war sie damals hineingeraten? Wer konnte zwei Sanitätern die Anweisung geben, eine Frau sterben zu lassen? Wer steckte hinter diesem feigen Mord? Fred war sich völlig darüber im Klaren, dass der Mörder, den er im Hologramm gesehen hatte, nur ein Auftragskiller gewesen sein konnte. Die Mächtigen blieben im Dunkeln und schickten nur ihre Handlanger vor um die Drecksarbeit zu erledigen. Die Wut übermannte ihn und er schlug frustriert mit der Faust auf seinen Schreibtisch. Er musste herausfinden, was damals geschehen war.
Plötzlich sprang er auf und rannte ins Wohnzimmer. Vor dem Kamin blieb er stehen und nahm das Hochzeitsbild in seinem Rahmen aus Plexiglas in die Hand.
Geistesabwesend strich immer wieder er mit den Fingern über eine kleine Unreinheit auf dem Daumennagel der Plexiglashand. Nachdem er mehrmals vergeblich versucht hatte, den kleinen Fleck wegzuwischen, betrachtete er ihn Stirn runzelnd näher. Soweit er das beurteilen konnte, befand er sich exakt in der Mitte des Nagels und ließ sich nicht entfernen. Selbst als er mit dem Fingernagel energisch darüber kratzte, blieb er an Ort und Stelle. Sah er jetzt schon überall Zeichen oder hatte der winzige Fleck wirklich etwas zu bedeuten?
Entschlossen trug er das Hochzeitsbild samt Rahmen in sein Arbeitszimmer und verstaute es zusammen mit dem Chip des Skaters und seinem Whiskey im Geheimfach. Er hätte nie gedacht, dass er einmal etwas Brisanteres als illegalen Alkohol darin verstecken müsste. Geistesabwesend räumte er noch ein paar Dinge hin und her und beschloss dann, ins Bett zu gehen. Sicher würde er die ganze Nacht wach liegen und über den Mord an Beate und den kleinen schwarzen Fleck auf dem Daumennagel der Plexiglashand nachgrübeln. Wenn das wirklich ein Chip war, wie sollte er dann an seinen Inhalt herankommen? Sicher ließ er sich nicht ohne Beschädigungen entfernen, und der Scanner auf Arbeit kam nicht in Frage. Fred wollte auch keinen Außenstehenden in die Sache einweihen, wem konnte man heutzutage schon trauen, im Zeitalter, in dem Informationen die wichtigste Währung waren. Vielleicht konnte Martin ... nein, seine Kinder wollte er unbedingt aus der Sache heraushalten.

„Papa, du siehst heute grauenhaft aus!“
„Es ist immer wieder erstaunlich, wie aufbauend die Worte einer liebevollen Tochter wirken können“, erwiderte Fred lächelnd.
„Du siehst aber wirklich echt beschissen aus, Paps“, schloss Martin sich der Meinung seiner Schwester an. „Hast du schlecht geschlafen oder warst du am Geheimfach?“
Fred zuckte zusammen. „Was? Woher? Ähhh…“, stammelte er völlig verdattert. Sein Sohn legte ihm kameradschaftlich den Arm um die Schultern und sagte beruhigend: „Keine Sorge, ich hab’s noch nicht aufgekriegt. War auch nie meine Absicht. Ich habe dich nur zufällig einmal gesehen, als du dir gerade eine Stärkung gegönnt hast.“ Verschwörerisch legte er den Finger auf seine Lippen und verzog seinen Mund zu diesem gigantischen Grinsen, bei dem Fred unweigerlich selbst lachen musste. „Behalte es bitte für dich“, bat er seinen Sohn mit einem Seitenblick auf Nele, die im Takt ihrer unverständlichen Musik den frischen Toast kaute, den der Hauscomputer jeden Morgen zum Frühstück servierte. Sie hatte das Ganze gar nicht mitbekommen. Fred war erleichtert. Es wäre furchtbar, wenn seine Kinder das Hologramm der Ermordung ihrer Mutter zu sehen bekämen.

Nach Feierabend beschloss Fred, zu Fuß nach Hause zu gehen. Es war ein ziemlicher Fußmarsch, aber vielleicht half die frische Luft gegen seine rasenden Kopfschmerzen.
Den ganzen Tag hatte er darüber nachgedacht, wie er an die Informationen auf dem Daumennagelchip des Hochzeitsbildes kommen könnte. Wenn es überhaupt ein Chip war. Vielleicht hatte ihm seine überreizte Phantasie etwas vorgegaukelt. Es wäre auch kein Wunder, nachdem er den Mord an seiner Frau mit ansehen musste und dann auch noch verbotenerweise Alkohol getrunken hatte. Vielleicht half ja einer der gesunden Drinks im `Google-Boy` gegen das Hämmern hinter seiner Stirn.
Kurz entschlossen kehrte er in das gestern noch so geschmähte Lokal ein und bestellte an der Theke mit den Shorty-Zombies einen Drink.
„Welchen bevorzugen Sie, Dr. Dido?“, fragte ihn der Barkeeper höflich. Fred starrte den Mann mit weit aufgerissenen Augen an. Das war es! Hier gab es den Scanner, den Fred so dringend benötigte. Blieb bloß noch die Frage zu klären, wie er an das Ding herankam. Er konnte ja schlecht fragen, ob er sich mal den illegalen Scanner mit Chip-Erkennungssoftware ausborgen könne.
„Ehm, ich war in Gedanken, entschuldigen Sie bitte“, sagte er bemüht höflich. „Was können Sie mir denn empfehlen?“
„Nehmen Sie doch einen gelben Megadrizzle“, antwortete der Mann hinter der Bar. „Der hilft Stress abzubauen.“
„Das ist heute genau das Richtige für mich“, gab Fred sich leutselig und ließ dem Barkeeper auch noch ein saftiges Trinkgeld zukommen.
„Sind Sie der Besitzer?“, fragte er bemüht beiläufig.
Nach einem scharfen Blick in sein Gesicht kam die Antwort. „Kommt darauf an, wer das wissen will.“
„Jemand, der bereit ist, für gewisse Dienstleistungen zu bezahlen“, sagte Fred und spürte, wie er rot wurde. Diese Art der Unterhaltung war nicht so das Richtige für einen braven Beamten der Informationsverwaltung und doch regte sich irgendwo in Fred ein Gefühl, das er ungläubig als Spaß erkannte. Ihm machte es Spaß, einen Verstoß gegen geltende Gesetze zu planen und gestern Morgen noch wäre er abgrundtief entsetzt bei diesem Gedanken gewesen. Sein Unterbewusstsein erkannte wohl den alten Abenteurer wieder, der er schon immer gerne gewesen wäre.
„Bei mir gibt es keine Prostituierten!“, erwiderte der Besitzer des `Google Boy` ganz entrüstet, denn er hatte Freds gewundene Formulierung völlig falsch verstanden. Fred beeilte sich, ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitzuteilen, das er ein Objekt zu untersuchen hätte und dass ihm dafür das nötige Werkzeug fehle.
Man sollte eigentlich meinen, dass die Theke einer öffentlichen Bar der denkbar ungeeignetste Ort für konspirative Unterhaltungen sei, aber weit gefehlt. Dank der Shortys gab es in der ganzen Bar keinen Menschen, der auch nur das geringste Interesse für ihr Gespräch gezeigt hätte, alle hingen friedlich am weltweiten Netz und hatten weder Auge noch Ohr für ihre unmittelbare Umgebung.
Sich dieser Tatsache deutlich bewusst, machte Fred dem Besitzer der Bar und damit auch des Scanners ein nicht abzulehnendes Angebot. Geld war für ihn glücklicherweise kein Problem und so konnte Fred sich ewige Verhandlungen sparen. Als er ihm auch noch als zusätzlichen Leckerbissen den Termin für die nächste Gesundheitsprüfung seines Etablissements in Aussicht stellte, war es um den armen Mann geschehen. Er hätte Fred vor lauter Dankbarkeit den Scanner samt Erkennungssoftware am liebsten geschenkt. Fred nahm das handtellergroße Gerät mit der Serviette des nächsten Drinks in Empfang, bezahlte ein dementsprechend exorbitantes Trinkgeld und verließ den `Google Boy`.

Auf dem schnellsten Weg begab er sich nach Hause, begierig, in sein Arbeitszimmer zu gehen und loszulegen. Als er wie immer seine Taschen geleert hatte, hörte er neben den Stimmen seiner Kinder auch noch eine andere, seltsam vertraute Stimme, die er nicht gleich einordnen konnte. Schnell steckte er den illegalen Scanner zurück in seine Hosentasche.
Die Küchentür flog auf und seine coole, introvertierte Tochter kam herausgestürmt und fiel ihm um den Hals.
„Rate, wer zu Besuch gekommen ist!“
„Lass deinen Vater doch erst einmal zur Ruhe kommen“, sagte jemand und plötzlich wusste Fred, wer da in der Tür stand. Mirko, der Bruder seiner Frau, den er zum letzten Mal zur Urnenbeisetzung und dann nie wieder gesehen hatte. Das war nicht weiter verwunderlich, denn Mirko hatte sich schon früh entschieden, in die südliche Halbkugel auszuwandern und sich den Gemäßigten anzuschließen. Die bekamen nur sehr schwer und unter strengen Auflagen eine Einreisegenehmigung in den Teil der Erde, der nördlich des Äquators lag.
„Schön dich zu sehen“, sagte Fred vorsichtig, denn er erinnerte sich nur zu gut an ihren letzten Abschied, als Mirko ihm vorgeworfen hatte, an Beates Tod schuld zu sein. Technologieverrückte, Informationstermiten, Mörder und ähnliches hatte dieser die Nordhalbkugler geschimpft und war dann ohne Abschied aus dem Haus gestürmt. Fred konnte es ihm nicht verdenken, Beates plötzlicher Tod hatte alle erschüttert. Er war gespannt, wie sein Schwager heute zu allem stand.
Mirko umarmte ihn herzlich und erklärte dann, dass er im Zuge einer Dienstreise zum hiesigen Medi-Center eine Einreisebewilligung für fast eine Woche erhalten hatte. Freds Schwager war Arzt, einer von der früher üblichen Sorte und die Sanitäter und Ärzte hier traten oft mit den Berufskollegen der anderen Halbkugel in Erfahrungsaustausch. Die Ärzte der nördlichen Halbkugel waren immer ganz wild auf diese Treffen, brachten Nanotechnologie, Körperoptimierung und all die großen medizintechnischen Errungenschaften doch mit sich, das die herkömmliche Medizin, die auf dem Arzt – Patienten – Verhältnis basierte, etwas zu kurz kam. Der Süden mit seiner Verachtung für die Übertechnisierung der Medizin und auch aller anderen Gebiete konnte einiges auf dem Gebiet der konventionellen Heilmethoden aufweisen.
Nach einem opulenten Abendessen, diesmal von beiden Dido-Kindern einträchtig zubereitet, zwinkerte Mirko seinem Schwager zu und fragte beiläufig: „Ich müsste mal etwas in deinem Arbeitszimmer recherchieren. Du hast doch noch einen normalen Computer, oder?“
„Natürlich“, antwortete Fred und schnitt seiner Tochter, die ganz offensichtlich auf ihr Lieblingsthema, den Neurozugang zurückkommen wollte, kurzerhand das Wort ab. „Mirko und ich gehen hoch. Das Essen war toll, aber dieses Schlachtfeld hier müsst ihr beiden noch aufräumen. Dass ihr mir das nicht dem Hauscomputer überlasst!“
Unter beträchtlichem Gestöhne von Martin und Nele begaben sich die beiden Männer ins Arbeitszimmer und Mirko fragte sofort, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte: „Dein Geheimfach ist doch nicht etwa leer?“
Fred grinste und öffnete selbiges, um den Whiskey und die Gläser hervorzuholen. Mike griff an ihm vorbei und nahm das Hochzeitsbild in die Hand.
„Warum bewahrst du es hier drinnen auf? Sollte das nicht im Wohnzimmer stehen?“, fragte er entrüstet.
Fred goss beiden ein, setzte sich und bedeutet Mirko, es ihm gleich zu tun.
„Ich hatte ein paar verrückte Tage“, begann er zögernd nach einem großen Schluck und dann sprudelte die ganze Geschichte aus ihm heraus.
Nachdem er sehr interessiert zugehört hatte und gar nicht so erstaunt aussah, wie Fred erwartet hatte, bestand Mirko darauf, das Hologramm von Beates Ermordung zu sehen. Auch diesem großen Mann traten die Tränen in die Augen, als er seine Schwester verbluten sah, dann jedoch straffte sich seine Gestalt und ein entschlossener Ausdruck trat in seine Augen.
„Ich bin nicht ganz zufällig hier“, erklärte er. „Wir haben schon seit einiger Zeit die Vermutung, dass auf der Nordhalbkugel einiges im Argen liegt.“
„Wer ist wir?“, fragte Fred misstrauisch.
„Auch wir haben eine Informationsverwaltung oder ehrlicher gesagt – einen Geheimdienst. Im Gegensatz zu euch bemühen wir uns aber, unsere Erkenntnisse zu Nutzen aller und nicht zur Machtstabilisierung einer kleinen Gruppe einzusetzen.“ Fred nickte nur. Ihm war schon lange klar geworden, dass die viel gepriesene Institution bei der er arbeitete, nicht ausschließlich altruistische Zwecke verfolgte. Eigenartig, wie lange man die Augen vor Tatsachen verschließen konnte, wenn man nicht unmittelbar betroffen war. „Dann bist du also gar kein Arzt mehr“, stellte er lakonisch fest.
„Doch“, sagte Mirko, „ich habe sozusagen noch einen Zweitjob.“
Fred beschloss, alles auf eine Karte zu setzen und Mirko vollständig zu vertrauen. Er zog den Scanner aus der Hosentasche und berichtete von seinem Verdacht wegen des kleinen Flecks auf dem Rahmen des Hochzeitsbilds.
„Beate hat mir kurz vor ihrem Tod angedeutet, dass in ihrer Firma nicht alles mit rechten Dingen zuging. Lass uns dem jetzt auf den Grund gehen. Vielleicht finden wir ja eine Erklärung für alles“, schlug Mirko vor.
Nachdem er den ominösen Fleck ausgiebig untersucht hatte, meinte er: „Wir könnten Glück haben.“
Fred nahm den Scanner aus dem `Google Boy`, aktivierte ihn und hielt ihn zögernd über den schwarzen Punkt. Nichts geschah, die Kontrollleuchten des Scanners blinkten wie wild, aber das war schon alles. „Wahrscheinlich doch nur Dreck“, knurrte Fred enttäuscht.
Mirko nahm ihm den Scanner aus der Hand und drückte in schneller Folge eine Tastenkombination.
„Wieso kennst du dich mit solchen Sachen aus?“, fragte Fred. „Ich denke ihr seid alle erklärte Feinde der Technisierung?“
„Habe ich dir doch schon gesagt - Geheimdienst! Außerdem kann man seine Feinden am besten bekämpfen, wenn man sie in- und auswendig kennt.“
Sein Schwager hielt den Scanner wieder über das Bild. Eine Reihe von Pieptönen erklang, ihre Abfolge erschien Fred eigenartig vertraut, wie ein déjà vu. Aber das vergaß er sofort, als nun schon zum dritten Mal in ebenso vielen Tagen ein Hologramm von Beate in seinem Arbeitszimmer erschien. Seine Frau trug ein schlichtes T-Shirt und Jeans und erschien ihm so schön und lebendig, dass er kaum glauben konnte, dass sie schon lange tot war.
Entschlossen blickte sie in die Kamera. „Ich bin froh, dass ich einen klugen Mann habe“, sagte sie mit zärtlicher Stimme. Ihr Ton wurde eindringlich, als sie fort fuhr: „Lass dir und den Kindern niemals einen Neurozugang legen! Ich liebe dich und wenn du das hier siehst, bin ich höchstwahrscheinlich schon eine ganze Weile tot. Versuche bitte, mit meinem Bruder Kontakt aufzunehmen. Er wird dir alles erklären können und die Daten auf diesem Chip zu den richtigen Leuten bringen. Der Neurozugang ist ein zweischneidiges Schwert und wenn er in Produktion geht, wird unermesslicher Schaden angerichtet werden. Ich fühle mich schuldig, weil ich dieses unselige Ding mit entwickelt habe, aber vielleicht kann ich ja noch etwas erreichen. Wenn nicht, dann bist du an der Reihe, mein liebster Fred. Küsse unsere Kinder von mir und dann finde Mirko! Es ist wichtiger, als du dir jemals vorstellen könntest!“
Mirko sog scharf den Atem ein, als ein Piepton erklang und ein Datenzugriffsfeld erschien. „Bingo!“
Fred wunderte sich einen Moment darüber, wie lange sich solche Ausdrücke hielten, wo doch schon seit Jahrhunderten kein Bingo mehr gespielt wurde – Verbot durch die Glücksspielkommission. Er war völlig verwirrt, vor allem durch die Tatsache, dass sein Schwager sich ganz selbstverständlich einen Shorty in seine linke Schläfe einstöpselte und offenbar mit mehreren unsichtbaren Gesprächspartnern diskutierte. Lange konnte er den Zugang noch nicht haben, schlussfolgerte Fred, denn er bewegte die Lippen und murmelte seinen Part des Gesprächs mehr oder minder lautlos vor sich hin.
Erfahrene Benutzer eines Neurozugangs, wie zum Beispiel sein Sohn Martin hatten gelernt, zu subvokalisieren ohne dass ihre Mitmenschen auch nur das Geringste davon mitbekamen.
Er goss sich noch einen Whiskey ein, lehnte sich in seinem bequemen Ergostuhl zurück und beobachtete geduldig den Bruder seiner verstorbenen Frau. Jetzt fühlte er sich eigenartig ruhig und losgelöst, die Wut und Erregung der letzten Tage waren wie wegradiert, selbst seine Trauer um Beate war wieder zu dem leisen, aber immer existenten Pochen irgendwo in seinem Herzen geworden. Vielleicht lag es daran, dass er sich nicht mehr ganz alleine mit diesem Problem herumschlagen musste, er hatte das Gefühl, dass ein Prozess in Gang gesetzt worden war, den er nicht mehr aufhalten konnte.
Nach einiger Zeit öffnete Mirko die Augen und griff nach seinem Glas. Er nahm einen großen Schluck, wischte sich über die Lippen und entfernte mit einer lässigen Handbewegung den Shorty aus seiner Schläfe. „Alles erledigt. Im Moment können wir nicht mehr tun, aber wenigstens sind jetzt Beates Daten über den Zugang an der richtigen Stelle gelandet.“
Fred wurde jetzt erst bewusst, dass das Hologramm mitsamt dem Zugriffsfeld irgendwann in der letzten halben Stunde verschwunden war. „Dann kann ich ja unser Hochzeitsbild wieder ins Wohnzimmer stellen“, sagte er ruhig und prostete Mirko zu. Dieser schaute ihn mitleidig an. „Du hast es wohl noch nicht begriffen?“, sagte er mit leisem Bedauern in der Stimme. „Ab jetzt wird nichts mehr sein, wie es einmal war und wenn wir Glück haben, können wir dich und die Kinder noch rechtzeitig in Sicherheit bringen.“
„Warum sitzt du dann so ruhig da und trinkst meinen Whiskey, wenn meine Kinder in Gefahr sind?“, schrie Fred seinen Schwager an. Er war aufgesprungen und seine Hände umklammerten den Rand seines Schreibtisches so fest, dass seine Knöchel weiß schimmerten.
„Beruhige dich“, sagte Mirko bestimmt. „Wir haben noch ein paar Stunden Zeit und ich habe schon alles organisiert. Wir holen euch problemlos hier raus, das verspreche ich dir. Willst du gar nicht wissen, was los ist?“
„Warum hast du einen Shorty, wenn ihr so sehr gegen die Technik seid?“ Dieser Gedanke war Fred gerade gekommen und im Zusammenhang mit Beates Warnung stimmte ihn das nicht gerade ruhiger.
„Unsere Zugänge sind anders als eure“, besänftigte ihn Mirko. „Die Shortys, die den Menschen bei euch eingesetzt werden, funktionieren leider etwas besser als euch eure Regierung glauben lässt.“
Fred war wieder einmal total verwirrt. „Ist doch gut, wenn sie besser funktionieren, dann kann wenigstens nichts passieren“, sagte er. „Martin hat schon lange einen und Nele drängelt seit Ewigkeiten, dass ich ihr den Eingriff erlaube.“
„Hat Martin irgendetwas von den Hologrammen seiner Mutter gesehen oder ist ihm aufgefallen, dass etwas nicht stimmt?“, fragte Mirko alarmiert.
„Bist du verrückt? Ich ziehe doch nicht meine Kinder in das ganze Schlamassel mit rein. Würdest du jetzt bitte endlich etwas deutlicher werden!“, zischte Fred ganz rot vor Wut.
Martin lehnte sich zurück, nippte an seinem Whiskey und begann: „Die Neurozugänge auf eurer Seite der Erde funktionieren in mehrere Richtungen. Zum einen kann man mit ihnen ganz normal im Netz surfen, chatten und was man sonst so macht. Das Teuflische daran ist aber, dass durch den Zugriff auf die Großhirnrinde umgekehrt alle Informationen und Eindrücke aus dem Kopf desjenigen abrufbar sind, der einen Zugang hat. Big Brother in Perfektion und man braucht sich nicht in Lieferwagen den Hintern wund zu sitzen, Richtmikrofone durch die Gegend schleppen oder mühsam Kommunikationsleitungen anzapfen.“
Erschüttert blickte Fred seinen Schwager an. „Und du denkst, dass euer Zugang das nicht kann?“
„Ich bin mir ziemlich sicher, den hat mir nämlich Beate kurz vor ihrem Tod zukommen lassen und unsere Techniker haben ihn auf Herz und Nieren geprüft. Er wurde mir erst vor kurzem eingesetzt, als uns klar wurde, dass hier die Kacke am Dampfen ist. Ich war sozusagen Beates Versuchskaninchen und ihre Rückversicherung falls irgendetwas schief gehen sollte. Sie hatte sich im Labor ganz vehement gegen diesen ganzen Überwachungsscheiß ausgesprochen und wollte dafür sorgen, dass er seinem ursprünglichen Zweck entsprechend auf den Markt kommt – als einfacher Internetzugang für alle. Das hat sie wahrscheinlich das Leben gekostet. Nach dem Modell in meinem Kopf haben unsere Wissenschaftler dann unsere eigenen Shortys gebaut und sie funktionieren großartig. Mit so einem kleinen Ding kann man auf eine ganze Menge überflüssige Technologie verzichten!"
„Wenn wir also hier verschwinden sollen, dann ist Martin unser großes Risiko?“
Mirko zögerte, dann sprach er weiter: “Ja, aber vom Allerschlimmsten weißt du noch gar nichts. Ich habe mit Beates Daten gerade die Bestätigung für unseren letzten Verdacht bezüglich des Neurozugangs bekommen. Wenn sie dahinter kommen, dass etwas gegen ihren Plan läuft, dann können sie Martin über den Shorty steuern. Das ist wohl die wichtigste Nebenfunktion dieses Dings. Martin muss also völlig ahnungslos bleiben, bis alles vorbei ist und ihr in Sicherheit seid.“
Fred nahm noch einen letzten Schluck Whiskey und stellte dann entschlossen das Glas beiseite. Dabei merkte er, dass seine Hände wie verrückt zitterten. Was war nur mit seinem ruhigen und ereignislosen Leben passiert? Gegen ein Abenteuer hätte er nie etwas einzuwenden gehabt, aber nun waren seine Kinder in Gefahr und ihm wurde klar, dass ein Abenteuer nicht wie im Film zwangsläufig immer gut ausgehen musste. Außerdem war er geschockt von der Tatsache, dass seine Regierung so unglaublich bedenkenlos bereit war, in die Privatsphäre der Bürger der Nordhalbkugel einzugreifen. Alles war eine Lüge und er war dieser Lüge in den letzten zehn Jahren bereitwillig aufgesessen, ja er hatte diesen Verbrechern sogar mehr oder weniger seinen Sohn ausgeliefert. Plötzlich wurde ihm auch einiges mehr klar: Er hatte sich kaufen lassen. Zwar unbewusst, aber trotzdem war es ihnen gelungen, ihn mit ihren Abfindungen und Beförderungen ruhig zu stellen. Ein voller Bauch kämpft nicht gern und er war immer sehr satt gewesen. Er war der langweilige, unauffällige Fred, angepasst und ungefährlich, jedes Risiko hatte er gemieden.
Aber nun war das Maß voll! Beate war ermordet worden, um diese totale Überwachung in die Wege leiten zu können. Noch ein bis zwei Jahre und jeder hatte so einen verdammten Shorty. Dann wäre die Regierung nahezu unantastbar, keiner hätte mehr die Chance, auch nur einen nicht linientreuen Gedanken zu hegen, alles würde sofort ausgelöscht, bzw. geändert werden.
„Dann wären wir wirklich ein Volk von Zombies!“, führte er diesen Gedanken laut fort. Mirko, der ihn schon eine Weile beobachtet hatte, nickte zustimmend. „Man kann immer etwas tun“, sagte er.
„Was meinst du damit?“, fragte Fred. „Ich denke, du willst uns drei hier rausschaffen, damit wir in Sicherheit sind?“
„Natürlich“, beruhigte ihn Mirko, „aber hast du dir schon einmal überlegt, was du dann machen willst?“
Auf Fred war in den letzten Tagen so viel Neues eingestürzt, dass er daran mit keiner Silbe gedacht hatte. Gab es auf der Südhalbkugel überhaupt einen Job für ihn? Er wollte eigentlich noch gar nicht darüber nachdenken.
„Wir brauchen deine Kenntnisse in der Informationsverwaltung!“, drängte Mirko. „Ohne dich würde es viel länger dauern, diesen Albtraum zu beenden.“
Fred wurde wieder einmal misstrauisch. War das Ganze nur ein Abwerbungsversuch?
Als er Mirko fragte, gab dieser nur zur Antwort: „Willst du es etwa darauf ankommen lassen? Willst du erleben, wie dein eigener Sohn ferngesteuert wird und sich gegen seine Familie wendet?“
Beschämt schüttelte Fred den Kopf.
„Wir wollen dich auch zu nichts zwingen“, fuhr Mirko fort. „Erst einmal bringen wir euch von hier weg und wenn du dann den Rest deines Lebens als Gärtner arbeiten willst, nun gut. Es gibt genügend andere, die an diesem Problem dranbleiben werden und außerdem hat Beates Beitrag wohl für die ganze Familie gereicht.“
Fred sagte erst einmal nichts. Dann stand er von seinem bequemen Ergostuhl auf und reichte Mirko die Hand. „Danke, dass du uns hilfst! Lass uns hier rauskommen und Nele und Martin wegbringen, dann sehen wir weiter.“
„Werd nicht theatralisch!“, antwortete Mirko und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich kenne dich lange genug und außerdem hätte meine Schwester niemals einen Versager geheiratet. Wir werden ganz sicher etwas finden, was du tun kannst!“
„Wie geht es nun weiter?“, fragte Fred.
„in Kürze wird hier jemand klingeln und eine Pizza liefern.“
Auf diese Antwort hin verzog Fred angeekelt das Gesicht. Was man heute so unter Pizza verstand, das spottete jeder Beschreibung. Reine Chemie kombiniert mit Retortenfleisch und das schmeckte man auch.
Mirko musste trotz der ernsten Situation schmunzeln. „Keine Angst, in dem Karton wird keine Pizza sein, sondern ein paar Dinge, die wir für unsere Flucht nach Süden benötigen werden. Sie mitzubringen wäre zu gefährlich gewesen, aber wir haben auch hier einige Verbündete.“
Fred verkniff sich die Frage, die ihm auf der Zunge lag. Er wäre wohl unklug, ihm Namen zu verraten, die er im Fall des Falles dann ausplaudern könnte.
„Werden sie nicht durch Martin merken, dass etwas im Gange ist? Normalerweise ist er um diese Zeit im Internet und sieht sich Konzerte seiner Lieblingsband an. Noch einmal auszugehen wäre eine echte Abweichung von der Norm und würde auffallen wie ein Auto auf der Erdoberfläche!“
„Wir müssen ihn irgendwie dazu bringen, nichts mehr zu denken“, überlegte Mirko. „Wie machen wir das bloß? Wir können den großen Kerl kaum k.o. schlagen und dann durch die Gegend schleppen. Das wäre viel zu mühsam.“
Als Vater war Fred leicht empört, dass nur sein Gewicht Martin vor einer Beule bewahrte, aber als Überläufer in spe musste er jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Er schlug sich mit der Hand an die Stirn und rief: „Wir sind doch schon durch deinen Besuch von der normalen Routine abgewichen. Da sollte es nicht weiter auffallen, wenn Martin dich zum Beispiel noch ins Hotel begleitet. Wie willst du uns denn eigentlich hier rausschaffen?“
Martin grinste. „Alle Achtung! Du bist ein schlaues Kerlchen, mein lieber Schwager.“ Dann wurde er wieder ernst. „Euer Beförderungssystem ist unsere Rettung. Wie wir im vergangenen Jahr zufällig entdeckt haben, ist es nicht nur auf der Nordhalbkugel perfekt ausgebaut. Nein, man treibt heimlich, still und leise schon seit geraumer Zeit Tunnel über oder besser gesagt unter unserer Grenze durch. Unsere Experten vermuten, dass das nichts anderes als Vorbereitungen für eine Invasion sind. Die halbe Erde reicht eben nicht aus!“
Erschrocken blickte Fred seinen Schwager an. Er hatte eine alptraumartige Vision von einem Heer Shorty-Zombies, die sich auf der Südhalbkugel aus verborgenen Löchern auf die Erde ergossen und die Bevölkerung unterjochten. Die Mächtigen würden nachkommen, wenn die Drecksarbeit erledigt wäre und die Herrschaft übernehmen. Kanonenfutter sollten sein Sohn und die Millionen von ahnungslosen Nordhalbkuglern werden.
Mirko lächelte. „Auch wir sind nicht unvorbereitet. Im Moment beschränken wir uns aufs Beobachten und manchmal nutzen wir auch die schon fertig gestellten Tunnel heimlich für unsere Zwecke. Auch wenn man bei uns vehement gegen die Übertechnisierung kämpft, heißt das nicht, dass wir jegliche Technik ablehnen. Wir bemühen uns nur, das rechte Maß zu finden. Auf jeden Fall werden wir durch einen dieser Tunnel verschwinden.“
„Und wir wollen wir das mit Martin hinkriegen?“
„Auf jeden Fall müssen wir verhindern, dass er den Pizzakarton öffnet. Dann werden wir einfach einen Spaziergang machen. Ihr bringt euren lieben Onkel Mirko zum Hotel zurück und den Rückweg macht ihr unterirdisch. Wir treffen uns dann unten. Kniffelig wird es nur, wenn wir in den Fluchttunnel wechseln.“
„Vielleicht können wir ihn mit irgendwas ablenken, so dass er gar nicht mitkriegt, welchen Weg wir nehmen“, grübelte Fred.
„Du bist ein Genie! Ich habe ihm doch etwas mitgebracht. Einen MP3-Player von ganz früher, sogar mit Musik drauf. Den werde ich ihm beim Abschied im Hotel geben und wenn er dann auf dem Heimweg Musik hört, achtet er sicher nicht auf den Weg.“
„Wenn du da alte Heavy Metal Aufnahmen hast, sind wir aus dem Schneider“, antwortete Fred erleichtert. „Er ist so wild auf das alte Zeug, dass er sein ganzes Taschengeld für solche Sachen ausgibt.“
Der Hauscomputer meldete den Pizzaboten. Schnell nahm Fred den Karton entgegen, gab sogar ein recht großzügiges Trinkgeld und brachte die vermeintliche Pizza nach oben zu Mirko.
Als dieser den Karton öffnete, sah Fred, dass doch eine der Ekelpizzas darin lag. Außerdem enthielt er ein Päckchen für Gewürze, welches Mirko vorsichtig an sich nahm. Den Pizzakarton samt restlichem Inhalt ließ er im Papierkorb verschwinden.
Aus dem Päckchen zog er nicht etwa Ketchup und Salz, sondern vier winzige Geräte, von denen er eins Fred reichte.
„Du musst dir das ins Ohr stecken, es ist eine Art Orientierungsgerät, ähnlich einem GPS. Einerseits wird es dir die Richtung weisen und es öffnet auch den entscheidenden Tunnel für unsere Flucht, wenn es so weit ist.“
Ehrfurchtsvoll nahm Fred dieses winzigen Wunder der Technik entgegen und beförderte es in sein linkes Ohr. Es konnte losgehen.
Mirko übernahm es, Nele zu holen, einzuweihen und sie mit dem Ohrstöpsel zu versehen. Sie liebte ihren Onkel abgöttisch und würde alles tun, was er sagte.
Fred teilte seinem ahnungslosen Sohn mit, dass sie gemeinsam Mirko zum Hotel bringen würden. Dabei hatte er ein sehr ungutes Gefühl. Nicht allein die Tatsache, dass er seinen Sohn, wenn auch aus Sicherheitsgründen, belog und im Begriff war, aus seiner Heimat zu flüchten, machte ihm zu schaffen. Nein, es war wie eine böse Vorahnung. Irgend etwas hatten sie übersehen.
Entgegen seiner Ahnungen klappte alles reibungslos. Martin war so glücklich mit den uralten Aufnahmen diverser Heavy Metal Bands, die ihm sein Onkel zusammen mit diesem herrlich altmodischen Gerät geschenkt hatte, dass Nele ihn am Arm führen musste, denn er war so in die Musik versunken, dass er nicht im geringsten auf seinen Weg achtete.
Fred aktivierte die Beförderungskapsel und gab den Zielpunkt ein, den Mirko ihm noch genannt hatte. Es war wieder ein Supermarkt, diesmal aber ein anderer. Man sollte wohl im konspirativen Leben ständig die Anlaufstellen wechseln, dachte Fred, während die Kabine schon zum Stillstand kam. Sie öffnete sich und fred sah, dass er sich auf Ebene 3, ganz unten befand. Alles war in mattes graues Licht getaucht, nüchtern und funktionell erstreckte sich vor ihnen ein Gang. Zum Glück hatte Martin immer noch verzückt die Augen geschlossen und Nele zog ihren Bruder am Arm Richtung Mirko, der an einer Tür stand und winkte. Sie hatten ihn und die rettende Tür in den Fluchttunnel fast erreicht, da ertönte hinter ihnen plötzlich eine Stimme:
“Dr. Dido, wo wollen sie denn hin?“
Fred fuhr herum. Da standen sein Vorgesetzter aus dem Informationsministerium, begleitet von mehreren martialisch aussehenden Soldaten irgendeiner Eliteeinheit und lächelte ihn süffisant an.
Selbst Martin hatte inzwischen mitbekommen, dass etwas nicht stimmte. Mit herabbaumelnden Kopfhörern schaute er sich fassungslos im Tunnel um und fragte: „Was ist denn los? Wo sind wir?“
Nele bedeutete ihrem Bruder zu schweigen und blickte ihren Vater fragend an.
Fred war klar, dass alles aus war.
„Was habe ich übersehen?“, wollte er wissen.
„Das Allereinfachste übersieht man immer, Herr Spion“, kam die Antwort. „Wer achtet schon auf einen Hauscomputer!“
Vor Wut verkrampfte Fred seine Hände in den Jackentaschen. Er hätte auf seine Ahnung hören sollen, aber dafür war es nun zu spät. Nicht nur für ihn, auch seine Kinder und Mirko würden den Schweinen in die Hände fallen und nie mehr ein normales Leben führen. Oder doch nicht?
Langsam zog er seine rechte Hand aus der Tasche. Darin befand sich immer noch der illegale selbst gebastelte Scanner aus dem ´Google-Boy`. Langsam hob er das Gerät im abenteuerlichen Design hoch und sagte: „Dann wissen sie ja sicher auch von dieser Bombe. Wenn ich sie zünde, dann gehen wir alle drauf. Geben sie sich mit mir zufrieden und lassen sie die anderen gehen.“
Die Soldaten schauten ihren Vorgesetzten fragend an und hoben die Waffen. Der schüttelte den Kopf. „Wir wollen ihn und sein Wissen. Die anderen interessieren uns nicht. Sollen sie verschwinden.“
„Papa, nein!“ Martin und Nele schauten ihn flehend an.
„Geht“, sagte er liebevoll. „Ihr seid immer in meinem Herzen. Geht schon!“
Mit Tränen in den Augen wandte Nele sich ab und zog ihren immer noch völlig ahnungslosen Bruder energisch hinter sich her.
Mirko schob die beiden in die rettende Öffnung, drehte sich noch einmal um und nickte seinem Schwager ernst zu.

Auf der Südhalbkugel werden die Namen Fred und Beate Dido immer in Ehren gehalten.
Man hat nie wieder etwas von ihnen gehört. Es war, als ob die beiden mit ihrer Familie nie auf der Nordhalbkugel gewohnt hätten. Alle Informationen waren gelöscht.
Martin und Nele wuchsen bei Onkel Mirko auf. Oft musste er ihnen die Geschichte von ihrem langweiligen und unauffälligen Vater erzählen, der alles aufgegeben hatte, um nicht nur seine Kinder, sondern die gesamte Südhalbkugel zu retten.

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Tag der Veröffentlichung: 13.12.2008

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