Als ich meine Augen langsam öffnete, roch ich schon den herrlichen Duft des Parfüms Loverdose, welchen Veronika immer in ihrem Zimmer versprühte. Veronika! Sofort war ich wieder hellwach und richtete mich auf. Ich fand mich in ihrem Zimmer wieder, wo ich auf ihrem Bett lag. Langsam sah ich mich um und betrachtete jedes einzelne Möbelstück. War das etwa alles nur ein Traum gewesen? Würde Veronika jetzt doch jeden Moment in ihr Zimmer kommen, mich anlächeln, mit mir quatschen. So, als wäre das alles gar nicht passiert? "Nein Frankie, es ist Realität." Jetzt redete ich auch noch mit mir selbst. Ich konnte es trotzdem nicht glauben. Von heute auf morgen einfach weg. Meine letzten Worte zu ihr waren auch noch: "Und dass du die hundert Meter gut überlebst." Dann hatte sie noch gelacht, sich verabschiedet und war dann in der Dunkelheit verschwunden. Worüber wir uns immer wieder lustig gemacht haben, genau das wurde Realität. In den hundert Metern, die unsere beiden Häuser entfernt liegen, war ein Unfall passiert. Doch war es wirklich ein Unfall gewesen? Oder Mord? Mord an meiner besten Freundin, wer würde so etwas nur tun? Auch wenn ich mir die Frage nicht beantworten konnte, mein Gefühl sagte mir, es war Mord und mein Gefühl hatte mich in meinem siebzehn Jahren Lebenszeit noch nie enttäuscht, also würde es es jetzt auch nicht tun. Nicht in einer solchen Situation. "Ich werde dich finden. Dich aufsuchen. Ich werde dich kriegen und dir deine gerechte Strafe geben." Wut stieg in mir auf. Doch es war mehr als Wut. Es handelte sich um Rachegedanken, denn ich wusste, ich würde mich an dem Mörder meiner Veronika rächen. Koste es, was es wolle!
Seit fünf Tagen also hatte ich mich nun verändert. Seit fünf Tagen war ich nicht mehr in der Schule gewesen. Seit fünf Tagen hatte ich mit niemandem mehr geredet. Ich ließ nicht mal mehr meine Eltern an mich heran. Ich sperrte mich von morgens früh bis spät abends in meinem Zimmer ein und kam nur noch heraus, wenn ich mir etwas zu Essen holte oder auf's Klo musste. Ja, seit fünf Tagen hatte ich auch nicht mehr geduscht oder mich umgezogen. Aber das war mir egal. Ich fühlte mich auch nicht dreckig, denn ich fühlte gar nichts mehr. In mir war es leer. Ein Teil von mir fehlte, aber dieser Teil war jetzt tot und er würde nicht mehr zurückkehren.
Nun stand ich also im Bad und betrachtete die Fremde vor mir im Spiegel. Ich starrte einfach nur gerade aus, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich lauschte. Im Haus war es still, meine Mutter war also noch nicht zurück. Dann musste es noch vor drei Uhr sein. Ja, mein Zeitgefühl hatte ich auch verloren. Ich stand auf und ging schlafen, wann ich wollte. Meine Eltern machten sich Sorgen, das wusste ich, aber trotzdem ließen sie mich in Ruhe. Sie wussten, dass ich mir nichts antun würde, aber vertrauten sie mir wirklich auch zu, dass ich mich selbst verletzen würde? Nein, das taten sie nicht. Ich war immer vernünftig gewesen, egal in welcher Situation, doch diese hier war eine wirklich andere. Sie wollten mir helfen, auch das wusste ich, doch sie konnten es nicht. Niemand konnte es. Ob ich mir eigentlich selbst helfen konnte? Das bezweifelte ich. Aber hatte mein Leben eigentlich noch einen Sinn? Nein. Ohne Nika nicht. Wie ein Roboter griff ich zu der Rasierklinge, die auf dem Waschbecken lag. Mein Leben hatte keinen Sinn mehr, und das wurde mir in diesem Moment klar. Ich kniff einmal fest die Augen zu und atmete tief ein, dann wieder aus. Mein Blick klebte förmlich an der Rasierklinge und automatisch bewegte sich meine Hand auf sie zu und bewegte sie hoch. Ich hielt sie immer höher, bis ich sie schließlich auf meiner Augenhöhe betrachten konnte. Das Badezimmerlicht ließ die Klinge glänzen und mein Körper sehnte sich immer mehr nach ihr. Ich konnte sie nicht mehr weglegen. Meine Hand ließ sich nicht mehr öffnen. So bewegte sie sich langsam aber sicher zu meinem linkten Unterarm hin. Ich konnte den Druck schon auf meiner Haut spüren und ich genoss ihn einfach. Der Druck, der Schmerz, er gefiel mir. Es tat mir nicht weh, dass ich die Klinge auf meinen Unterarm drückte, im Gegenteil. Ich liebte es. Ich hob die Klinge noch mal kurz an, um sie dann weiter links wieder auf meinem Arm niederzulassen.
Gefühlte fünf Stunden stand ich jetzt schon im Bad, wobei es sich bestimmt nur um eine Minute handelte. Ich spürte, wie das Blut meinen Arm hinunterlief und dann auf die weißen Badezimmerfliesen fiel. Tropfenweise wurde der Boden immer roter und ich immer schwächer. Ich starrte meinen Unterarm an, den Ritz, der sich von links bis rechts hinzog und dann die Klinge. Jetzt war es nicht mehr die Klinge, die glänzte, sondern das Blut. Es bedeckte das Silberne und man konnte nur noch das Knallrote erkennen, welches sich auch langsam auf meine Finger übertrug. Ich wollte mehr. Mehr von dem Schmerz, dem Blut. Ich hatte noch nicht genug. Kurzerhand schnitt ich mir den Arm noch einmal auf. Nur ein kleines Stück tiefer als vorher. Das Blut spritze förmlich aus dem Arm und ich konnte nur noch erkennen, wie sich der Boden immer mehr mit Blut füllte. Das einzige, was ich dann noch wahrnahm, war der helle Klang der Rasierklinge, die auf die rote Pfütze fiel und einen langen Klang hinterließ. Dann fand auch ich mich im Roten wieder, bis alles um mich herum schwarz wurde.
Als ich wieder aufwachte, nahm in den Duft von etlichen Desinfizie- rungsmitteln wahr. Krankenhaus? Meine Sicht bestätige meinen Gedanken. Alles um mich herum war weiß und ich war an unzähligen Kabeln angeschlossen. Wieso zum Teufel lebte ich noch?! Ich wollte nicht mehr leben! Nicht ohne Veronika!! Wieso wohl hatte ich mich aufgeschlitzt?! Um jetzt im Krankenhaus zu liegen? Sicher nicht! Die ganze Situation interessierte mich im Moment nicht die Bohne. Ich wollte sterben. Jetzt. Keine Sekunde länger mehr leben. Kurzerhand zog ich den Stecker der Kabel raus und es dauerte nicht lange, bis mir meine Augen zu fielen. Weit weg hörte ich nur noch einen Lärm und dann lautes Geschrei.
Ein weiteres Mal kam ich wieder zu mir und mir wurde bewusst, dass man mich wieder vor dem Tod gerettet hatte. Ich hielt meine Augen geschlossen und lauschte. Zuerst hörte ich nur Rauschen der Maschinen, an denen ich noch immer angeschlossen war. Ich spürte Kabel an meinem Handgelenkt, an meinem Handgelenkt, aber auch einen, der zu meiner Nase führte. Ich weiß nicht, wie lange ich jetzt weg war, aber lange genug, damit man mich schon künstlich ernähren musste. Bevor ich meine Augen jedoch öffnete, lauste ich nochmal im Zimmer. Als ich jedoch genau hinhörte, bemerkte ich das leise Knarren eines Stuhles, der wahrscheinlich in einer Ecke des Zimmers stand.
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2012
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