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Der Mann, der eine Rute gewann

Es war zum Davonlaufen. Dieser Tag zählte scheinbar schon wieder nicht zu meinen Glückstagen.

„Verdammt!“, brüllte ich zornig und schlug auf einen der fünf laufenden Spielautomaten. „Verfluchtes Ding!“

Das Sonnenbild verfehlte die Position in der Mitte. Welch ein erbärmliches Pech mich schon wieder heimsuchte. Das wäre der Jackpot von mindestens dreihundertfünfzig Euro gewesen. Das hätte zwar das Eis meines Schuldengipfels nicht unbedingt zum Schmelzen gebracht, dafür aber mich vom ständigen Palaver meiner Frau verschont. Wenigstens heute Abend. Mit dem Geld hätte ich meinen Kindern ein paar Weihnachtsgeschenke kaufen können. Sicher, meiner Frau natürlich auch.

„Hey, du schlägst noch einmal auf einen der Automaten und ich schwöre dir, du fliegst hier raus und bekommst Hausverbot auf Lebzeit!“, ermahnte mich daraufhin der Wirt.

„Mir doch egal“, murmelte ich in mein Colaglas, das ich wütend zum Trinken ansetzte.

„Bevor du nur noch einen Cent in einen der verdammten Automaten steckst, bezahlst du gefälligst deinen Deckel, Freundchen!“, rief er mit entgegen.

Der Wirt machte keinen besonders erfreuten Eindruck auf mich, als ich ihm zu verstehen gab, die Zehn-Fünfzig im Moment nicht einstecken zu haben. Daraufhin wies er mich hinaus und ich sollte mich nicht eher blicken lassen, bevor ich meine Zeche begleichen könne.

 

Die Hände in den Hosentaschen, den Kragen meines Mantels hochgezogen, wegen des starken Schneefalls, schlenderte ich durch das Nachtleben der Stadt. Es war eigentlich ein ganz gewöhnlicher Freitagabend, wie immer, bis auf das es weihnachtete und die Straßen wegen den vielen Lichtern heller, bunter und freundlicher wirkten, worüber ich mich aber keineswegs erfreute. Nach Hause brauchte ich jetzt gar nicht zu gehen, denn, was sollte ich schon da? Etwa wieder die Vorwürfe meiner Frau anhören, welch ein Versager ich sei, weil unsere Finanzen sich kontinuierlich den roten Zahlen nähern und die Kinder abermals Dosensuppe essen müssen? Ich wusste es doch besser.

Sie vertraute und glaubte mir nicht mehr, dass ich es schaffe, eines Tages den großen Gewinn zu ergattern, damit ich uns aus den Klauen der Gläubiger befreie. Alles was ich benötigte, war doch bloß etwas Zeit. Weiter nichts.

In einer abgelegenen Gasse, die keine nervende Weihnachtsbeleuchtung erhellte, lief ich hinein und stand dann vor einer kleinen Kneipe namens Katastrophe. Mir war kalt, der Schnee stürmte schräg herab und ich beschloss, dort hineinzugehen. Ich stützte meine Hände gegen die Stirn und versuchte durch die verdunkelte Glasscheibe des Ladenfensters zu lugen. Schemenhaft erkannte ich die Konturen einige Personen. Ich öffnete die Tür. Ein samtroter Umhang schlug mit einem warmen Luftzug mir entgegen, als würde er mich verdrängen wollen.

Hier war es ruhig, allein nur vier Gäste, die mit dem Schankwart würfelten, belebten die muffige Atmosphäre. Die Beleuchtung war diesig. Zigarettendunst schwebte wie ein Nebel in der dicken Luft. Abseits in der Ecke stand auf einem Tisch ein kleiner Weihnachtsbaum, geschmückt mit roten Kugeln und Lametta. Ein mir sehr vertrauter tutender Klang, der mein Gemüt sofort wieder belebte, ertönte aus einem der Spielautomaten.

„Jetzt muss der Button gedrückt werden“, dachte ich mir und war nah dran zu fragen, ob ich den Jackpot holen dürfte. Doch der am Tresen sitzende Mann schaute nur gelangweilt auf den wild blinkenden Automaten und beobachtete ihn gelassen, während er an seinem Bierglas nippte. Es war mir unbegreiflich, er überlies es doch tatsächlich dem Schicksal.

„Männer ich sag euch, wenn das was wird, hohl ich alles raus und dann gehen die nächsten Runden auf mich. So wahr ich hier sitze!“, war lediglich sein Kommentar dazu, welchen ich stets von den Leuten hasste, die in Kneipen einen soffen, mitunter mal 5 Euro in ihr Glück investierten und meinten, falls die Kasse klingeln sollte, es gleich sinnlos in den Rachen zu schütten. Dabei verstehen sie das Prinzip nicht. Gar nichts verstehen sie. Es ist nämlich absolut töricht, während einer Glückssträhne einfach abrupt aufzuhören.

„Tut mir Leid, Männer. Das war wohl nichts mit der Runde“, verkündete der Biertrinker ohne jeglichen Missmut und ließ wieder die Würfeln im Becher klackern.

Sagte ich doch, sie verstehen rein gar nichts. Um eine leuchtende Schatztruhe zu knacken, bedarf es nicht nur den Segen von Fortuna, sondern hauptsächlich Geduld und jede Menge Kleingeld.

„Hey du, Spieler. Komm herüber und setz dich zu mir. Lass uns spielen“, riss mich eine knurrige Stimme aus meinen Gedanken.

Ein älterer weißbärtiger Herr, bekleidet mit einer Jagdtracht und einem Tirolerhut, der abseits in der zwielichten Ecke neben dem kleinen Christbaum saß, winkte mir freundlich zu. Misstrauisch blickte ich ihm entgegen, denn er mischte sehr geschickt ein paar Skat-Karten.

„Komm her, Spieler. Ich zeig dir einen verblüffenden Kartentrick. Sag mir fünf Karten und ich werde sie aufdecken. Fünf Euro wette ich, dass ich es kann“, behauptete er, während er flink die Karten mischte.

Ich zögerte. Lächerlich, dachte ich, darauf falle ich doch nicht rein. Bloß ein simpler Kartentrick, weiter nichts. Aber bevor ich ihm überhaupt antwortete, legte er nach und nach fünf Karten auf den Tisch, wobei er mich mit gekniffenen Augen frech angriente. Pik Zehn, Bube, Dame König, Ass. Grundgütiger, ein Royal Flush in Pik. Ich war beeindruckt, ließ es mir aber nicht anmerken, denn genau diese Kombination schwebte mir vor, obwohl ich nicht annähernd ein Wort darüber verschwendete.

„Was bevorzugst du, Spieler? Die Karten, die Würfel oder bist du etwa der einsame Spieler, der, der nur noch mit diesen schön klingenden, faszinierend leuchtenden Dinger spielen will?“

Ich wollte keine Ahnung haben, was er meinte und dennoch wusste ich, wovon er sprach.

„Ich bevorzuge die Karten. Wir könnten pokern, mein Herr.“

Der Alte lächelte und lud mich zum Hinsetzen ein, indem er wortlos beide Hände über den Tisch ausbreitete. Doch es gab ein Problem. Ich hatte nur ein paar Euros einstecken und somit nichts, womit ich groß einsteigen konnte. Er schaute mich an, griff in seine Trachtentasche und legte zwei ansehnlich gebündelte Geldscheine auf den Tisch und tätschelte darauf.

„Ich kann dir Kredit geben. Das hier sind jeweils fünfundzwanzigtausend Euro. Wir spielen jetzt um sage und schreibe … fünfzigtausend Euro. Was sagst du dazu, Spieler?“

Er wirkte etwas vorwitzig auf mich, aber trotzdem vertraut wie ein Großvater. Seine Augen glänzten, während er mich schelmig mit seinem weißbärtigen Gesicht anlächelte. Ich war sprachlos, hielt dies für einen Scherz.

„Was ist nu Junge, weshalb zögerst du?  Was hast du denn schon dabei großartig zu verlieren? Ich borge dir doch.“

Ja, was hatte ich schon zu verlieren, dachte ich. Unsere Schulden, die Raten des Autos, Weihnachtsgeschenke die gekauft werden mussten und unser Haus, auf dem noch eine Hypothek lief … All das alles konnte ich jetzt erspielen. Endlich bekam ich die lang ersehnte Chance, endlich einen wirklichen Gewinn, einen Jackpott einzuheimsen. In diesem Augenblick wurde vermutlich mehr Adrenalin in meiner Blutbahn ausgeschüttet, als in einer Meute Kindergartenkinder, die zappelnd vor ihrem Gabentisch standen, sie aber allererst ein lästiges Liedchen trällern sollten, bevor die Bescherung endlich losging. Ich zog meinen Mantel aus.

 

Es war fantastisch, denn ich gewann eine Partie nach der Anderen. Zum allerersten Mal in meinem Leben erlebte ich eine scheinbar unbezwingbare Glückssträhne. Die Fünfhunderter wanderten in die Mitte des Tisches, als würde es Geld regnen, und mit der letzten Karte schließlich auf meine Tischseite. Trotz das der alte Mann ständig verlor, blieb er nett und höflich, freute sich sogar für mich und war obendrein spendabel genug, für die Getränke zu sorgen. Nach jeder gewonnener Partie klopfte er dreimal kräftig auf den Tisch, lobte mein glückliches Händchen und meinte, ich könne jederzeit aussteigen und den Gewinn behalten, darüber wäre er keineswegs böse. Diesen Gefallen tat ich ihm aber weiß Gott nicht. Bin ich denn etwa ein Narr?

Schon bald war ich im Besitz von fünfundvierzigtausend Euro und nun setzte er einen Big-Blind, seine letzten fünftausend Euro. Zuerst zögerte ich doch dann ging ich mit, obwohl ich zwar niedrige Karten hatte, dafür aber eine Chance auf einen Flush, der letztendlich sogar auf dem Tisch lag. Ich jubelte meine Freude laut heraus, wer würde das nicht tun, wenn man im Besitz von fünfzigtausend Euro ist? Aber plötzlich griff er nach all den Geldnoten und zog den Papierberg zu sich herüber.

„Was soll das? Geb mir sofort mein Geld zurück!“

„Worüber beschwerst du dich? Es ist doch mein Geld. Ich habe es dir lediglich geborgt und nun will ich es wieder zurück. Plus Zinsen, wohlbemerkt“, schmunzelte er. „Was wäre, wenn ich anstelle gewonnen hätte? Was hätte ich dann von dir bekommen? Ich sag`s dir … Nichts, rein gar nichts. Nicht einmal meine wohlverdienten Zinsen. Also, wenn du ernsthaft mit mir spielen willst, verlange ich ab sofort auch eine vergleichbare Sicherheit von dir!“

 

Ich fühlte mich aus einem wundervollen Traum entrissen, denn ich war mir ganz sicher, dass meine Glückssträhne sich fortgesetzt hätte. Gewiss sogar.

„Aber was soll ich denn einsetzen? Ich sagte doch, dass ich kein Geld habe.“

„Mein junger Freund, gerne spiele ich mit dir weiter doch diesmal gibt es keinen Kredit von mir. Präsentiere mir einfach etwas Gleichwertiges und ich werde schauen, ob ich deinen Einsatz akzeptiere. Ich bevorzuge selbstverständlich Gegenstände mit hohem Wert, aber ich werde auch persönliche Dinge akzeptieren, die dir sehr am Herzen liegen. Lass uns spielen, Spieler“, lächelte er.

Also zog ich meine Uhr vom Handgelenk, die ich von meinem kürzlich verstorbenen Großvater persönlich am Sterbebett vermacht bekam. Sie hatte zwar keinen allzu hohen Verkaufswert – danach hatte ich mich bereits gewissenhaft erkundigt – aber dafür hing ich sehr an diesem Erinnerungsstück. Diese Uhr gehörte einst meinem Urgroßvater und sollte eigentlich von Generation zu Generation weiter vererbt werden. So jedenfalls lautete unser familieneigenes Stammbaumgesetz. Diese Armbanduhr stand also rechtens meinem Sohn, später einmal seinem Urenkel zu und gehörte mir quasi gar nicht, wurde mir augenblicklich bewusst, als ich sie auf seinen Fünfhunderter legte. Ich lächelte ihn verlegen an und hoffte, dass er diese Uhr für wertvoll hielt. An seinen hochgezogenen Augenbrauen erkannte ich, dass ihm dieser Einsatz zu niedrig erschien. Mein Personalausweis wanderte daraufhin in die Mitte des Tisches und nun willigte er mit einem kessen Grinsen nickend ein.

Eine neue Pokerrunde begann. Selbst die würfelnden Herrschaften schauten uns schon bereits seit Stunden gespannt zu und waren über die ungewöhnlich hohen Einsätze sichtlich erstaunt. Der alte Mann legte lässig ein Bündel Hunderter nach dem Anderen auf die Tischmitte und ich setzte alles, was ich bei mir trug. Nachdem er mich selbst meiner Halskette, die meine Frau mir einst zum Hochzeitstag schenkte, entledigt hatte, einigten wir uns auf Schuldscheine, die ich mittels der rumliegenden Bierdeckel dafür benutzte. Meine Glückssträhne legte scheinbar eine kleine Pause ein, denn mittlerweile verlor ich meinen Bausparvertrag, meine Kranken- und Rentenversicherung, wie auch meinen Arbeitsvertrag. Er war dann sogar damit einverstanden, dass ich meinen Hund versetzte doch als ich es listig mit dem Kanarienvogel, Hamster und dem Goldfisch versuchte, lehnte er ab und wies mich zurecht, dass der Wert des Einsatzes sich keinesfalls mindern dürfte. Nun ja, ein Versuch war es wert.

 

Mein heißgeliebtes Anglerset plus meine wertvolle Beatles-Sammlung waren mir ein Pärchen Asse wert gewesen, schließlich setzte er dreitausend Euro. Als er noch einmal erhöhte, wanderten meine Autoschlüssel, die Eisenbahnanlage meines Sohnes, die ich ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, die Bibel meiner Mutter und mein Ehering über den Tisch. An seinen Augen erkannte ich, dass er sehr wahrscheinlich bluffte, also erhöhte ich den Einsatz, indem ich ihm unser hypotheken bedürftiges Haus überschrieb … Und verlor, weil, er hatte leider doch nicht geblufft.

Jetzt hatte ich nur noch meine Frau und meine Kinder zu versetzen, änderte meine Strategie und beschloss, dem alles oder nichtsPrinzip zu folgen. Wer hätte das nicht getan, wenn das Blatt ein Full House mit drei Königen und zwei Damen zeigte? Jetzt schaute er mir tief in die Augen, erhöhte den Pott und blätterte ebenfalls seine letzten Scheine auf den Tisch. Mir war klar, wenn ich jetzt nicht mithalte und aussteige, hätte ich alles verloren. Ich hatte nur noch ein einziges Dokument in meinem Besitz und hoffte, er würde dieses akzeptieren.

Meine Geburtsurkunde.

Meine Existenz legte ich fein säuberlich auf einen angehäuften Berg von Geldscheinen, Münzen, diversen Schnickschnack und etlichen beschrifteten Bierdeckeln. Er kniff seine Augen zu und nickte mit einem breiten Lächeln. Mein Herz pochte wild und drohte vor Euphorie zu explodieren, als ich meine Karten auf den Tisch offenbarte und mit der Siegerfaust drauf schlug.

„Full House Leute, ich bin reich! Juchuuuuuh!“

Als ich gerade mit einem Freudentanz jubelnd durch die Kneipe marschierte, deckte er seine Karten auf und musste sogleich verbittert feststellen, dass er vier Asse auf der Hand hatte. Jetzt war ich verloren und alles, was ich besaß, war weg. Einschließlich meiner Existenz und dem Hund.

 

Die Sonne schien mittlerweile grell am strahlenden Himmel und die Fußstapfen knirschten im Schnee, als ich gewohnt wie ein Verlierer durch den belebten Weihnachtsmarkt nach Hause schlenderte. „Was für ein Blödsinn“, fuhr es mir durch die schläfrigen Gedanken, „der Mann hat mich lediglich um ein paar Gegenstände und bekritzelte Bierdeckel gebracht, mehr nicht“.

Die Müdigkeit übermannte mich und weil ich zudem nicht einmal einen Haustürschlüssel einstecken hatte, klingelte ich an meiner Haustür. Mein Sohn öffnete. Misstrauisch schaute er mich an und als ich gerade dabei war, einzutreten, rief er laut nach seiner Mutter. Verwundert schaute sie mich an.

„Wer-wer sind Sie? Kann ich Ihnen behilflich sein?“ Sogar mein eigener Hund knurrte mich an.

Meine eigene Familie erkannte mich nicht mehr und als ich verzweifelt versuchte, ihr zu erklären, dass ich der Vater ihrer Kinder und auch ihr Ehemann sei, drohte sie mir doch prompt mit der Polizei. Ich war verwirrt, völlig übermüdet und brauchte unbedingt etwas Geld für eine Unterkunft und unverzüglich eine Mütze voll Schlaf. Wenn ich wieder fit und bei Sinnen wäre, würde sich bestimmt alles aufklären, dachte ich, und ging in das Bankinstitut um Geld abzuheben. Eine Bankkarte hatte ich zwar nicht mehr aber schließlich war ich dort ein bekanntes Gesicht. Doch es war vergebens, denn auch dort erkannte man mich nicht. Selbst als ich meine Kontonummer angab, sagten sie, dass diese Nummer nicht mit meinem angegebenen Name übereinstimmt. Genervt davon verließ ich die Bank und versuchte bei Freunden unterzukommen, zumal der Hunger mich plagte. Doch auch die besten Freunde wiesen mich zurück und behaupteten, mich nie zuvor gesehen zu haben. Sogar meine eigenen Eltern erinnerten sich scheinbar nicht mehr an mich, aber sie waren trotzalledem so gnädig, mir ein paar Plätzchen mit den Worten – Frohe Weihnachten – mit auf dem Weg zu geben.

 

Erschöpft, mit knurrendem Magen, stampfte ich einsam weiter durch die verschneite Stadt umher. Es wurde wieder dunkel und die Weihnachtsbeleuchtung spendete abermals ein freundliches Licht. Schon bald erreichte ich wieder die Schenke Katastrophe. Der alte Mann, der mit dem weißen Bart, bekleidet mit einer Jagdtracht und Tirolerhut, saß genau an demselben Tisch und mischte wieder seine Skat-Karten. Erschöpft trat ich vor ihm.

„Hallo Spieler, soll ich dir einen Kartentrick zeigen?“

„Alter Mann, ich bitte dich, geb mir meine Sachen zurück. Wenigstens mein Haus, damit ich einen warmen Unterschupf habe.“

„Ich soll dir mein Haus schenken?“, fragte er ungläubig. „Sehe ich etwa aus wie der barmherzige Nikolaus, der einen großen Sack mit sich herumträgt und Geschenke verteilt? Außerdem, was nützt dir ein Haus, wenn meine Frau dich dort nicht hineinlässt? Und selbst wenn meine Frau so freundlich wäre, dich eventuell hineinzubeten, würden meine Kinder sie dazu überreden, keine fremden Leute hineinzulassen. Letztendlich würde es mein Hund niemals dulden, dass fremde Leute mein Haus betreten.“

„Na gut“, sagte ich, „dann bitte ich dich, mir wenigstens meine Bankkarte wiederzugeben, damit ich mir für diese kalte Nacht eine Unterkunft mieten und etwas zu essen kaufen kann.“

„Das könnte ich zweifelsohne tun, doch sag mir Spieler, was nützt dir eine Bankkarte, wenn du nirgends registriert bist? Selbst wenn du ein Bankkonto besitzen würdest, wäre es nicht gedeckt. Mein Arbeitgeber überweist DIR schließlich kein Geld mehr. Begreife endlich, du existierst nicht mehr, sondern du bist jetzt mein Eigentum. Ich sah aber leider keinen Sinn darin, dich auf irgendeinem Amt anzumelden, denn die Hundesteuer meines Hundes sind bereits kostspielig genug.“

Ich war sprachlos.

„Doch weil Weihnachten vor der Tür steht, gebe ich dir die Chance, einen beliebigen Gegenstand, und sei es dein Haus oder deine Frau, zurückzugewinnen. Ich gebe dir diesmal ausnahmsweise sogar einen zinsfreien Kredit. Was sagst du dazu, Spieler?“

Er zog wieder einen beachtliches Geldbündel aus seiner grünen Trachtentasche und legte es in die Mitte des Tisches. Ich schaute ihn nur mit müden Augen an und wankte belanglos den Kopf.

„Nein mein Herr, das alles macht für mich keinen Sinn. Ich begreife nun, dass ich eine Kette verloren habe und alles, was du mir anbietest, ist lediglich ein Glied davon. Ich wünsche mir vom Herzen alles wieder zurück. Meine Frau, meine Kinder … Hund, Katze, Vogel … Einfach mein geliebtes Zuhause. Wenn das geschieht, werde ich nie wieder spielen. Dafür bürge ich mit meinem Leben!“

Meinen Eid, den ich ablegte, schien dem weißbärtigen Alten nicht sonderlich zu beeindrucken. Er glotzte mich nur wortlos mit funkelnden Augen an und grinste dabei. Ich erwiderte seinen Blick, bis eine Träne über meine Wange ran. Dennoch zeigte er kein Erbarmen.

Ich wunderte über mich selbst. Normalerweis tobte und schimpfte ich, wenn ich verlor. Neigte dazu, was mir in die Hände fiel, zu zerstören, aber nun war ich nur niedergeschlagen, erschöpft und unendlich traurig. Und sein breites Lächeln sprach zu mir und sagte: Lass es dir eine Lehre sein, Spieler!

Mit gesenktem Haupt verließ ich die Kneipe Katastrophe, wanderte ziellos durch die verschneiten Gassen und stand dann plötzlich mitten auf dem Weihnachtsmarkt. Kraftlos blickte ich auf den riesengroßen Christbaum. Die unzähligen Lichter und die bunten Kugeln vermischten sich vor meinen Augen zu einem nebligen Schleier, bevor ich ohnmächtig zusammenbrach.

 

„Papa, Papa, wach auf. Wir haben dich schon überall gesucht. Endlich haben wir dich gefunden!“

Eine nasse Hundezunge schlabberte über mein Gesicht und schlaftrunken erkannte ich, wie meine Frau mit Tränen in den Augen vor mir stand. Meine zwei Kinder stürzten sich auf mich und umklammerten meinen Hals. Leicht taumelnd erhob ich mich.

Meine Frau war kaum wiederzuerkennen. Anstatt wie sonst gewohnt, mir eine Standpauke zu halten, weinte sie Freudentränen heraus. Sie umarmte mich sogar und beichtete mir, dass sie sich tatsächlich um mich gesorgt hatte und sich fürchtete, ich sei nun endgültig in den abgrundtiefen Spielsumpf versunken.

Ich atmete erleichtert auf und schloss meine Familie überglücklich in die Arme. Der Spuk hatte offensichtlich ein Ende. Ich war mir sicher, währenddem ich unter dem Christbaum schlief, nur einen schrecklichen Traum gehabt zu haben und flüsterte meiner Frau ins Ohr: „Ich verspreche dir hiermit hochheilig, dass ich nie wieder eine Münze in einen Spielautomaten stecke.“

Die brutzelnde Bratwurst war für mich ein Genuss, genauso wie der Geruch von gebrannten Mandeln und Zuckerwatte. Als ich mich umsah, erkannte ich nach langer Zeit wieder all die Schönheiten des Lebens und ausgerechnet die bunte Weihnachtsbeleuchtung, die ich vorher so verpönte, erhellte nun meine verdunkelte Spielerseele. Aber das alles wäre nichts wert, dessen war mir nun bewusst, wenn ich nicht gemeinsam mit meiner Familie über diesen Weihnachtsmarkt schlendern würde. Ich hatte im Laufe der Zeit einfach vergessen, wie wundervoll es ist, eine Einheit zu sein.

Plötzlich standen wir vor einer Menschenmenge, die ein hell beleuchtendes Podium umzingelten. Neugierig regte ich den Hals und erhaschte kurze Blicke auf den Weihnachtsmann, der auf einem Thron saß, auf dessen Schoß zwei Kinder hockten. Meine Söhne quengelten, weil auch sie den Weihnachtsmann sehen wollten. Sie nahmen mich an den Händen und wir zwängten uns nach vorne.

Als wir direkt vor ihm standen stutzte ich, denn der Weihnachtsmann ähnelte dem alten Mann aus der Kneipe Katastrophe verblüffend. Seine Augen, der weiße Bart, ja, sein Gesicht, welches schelmig lächelte. Jetzt war ich mir absolut sicher. Der Alte, der mit dem Tirolerhut und Jagdtracht. Er ist es.

„Sie … Sie sind also der Weihnachtsmann?“, fuhr es erstaunt aus mir heraus.

Der Weihnachtsmann schaute mich warmherzig an und antwortete: „So ist es. Und diese Rute hast du nicht von mir geschenkt bekommen, mein junger Freund. Sondern diese Rute hast du fair gewonnen!“ 

 

© W. Francis Dille 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 21.12.2013

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