Prolog:
D
as Einzige was man mir gelassen hatte, sind ein paar Papiere und einen Bleistift, damit ich wenigstens schreiben kann. Zurzeit schreibe ich nur Flüche auf – ich verfluche dies, ich verfluche das, ich verfluche jenes. Vor allem aber verfluche ich diesen verdammten Füller, meinen ehrenwerten Kollegen Howard Robinson und den Tag, als ich in Europa strandete. Nein, ich verfluche lieber den Tag, als ich mich dazu entschlossen hatte, Amerika zu verlassen! Jetzt sitze ich hier in diesen verdammten Kerker, in der Hölle, oder wo auch immer, eingesperrt mit Spinnen und Kakerlaken und warte nur darauf, bis man mich weiterhin foltert. Hätte ich es gewusst, hätte ich es nur geahnt, dass es ein Leben nach dem Tode tatsächlich gibt, würde ich die Zeit zurück drehen und all meinen Reichtum dafür geben, um meinen irrsinnigen Fehler zu berichtigen.
Am liebsten würde ich mich jetzt selbst töten aber das geht leider nicht. Bin schon tot. Ich wurde wahrscheinlich ermordet und niemand auf der Welt, in der ich einmal lebte, wird es je erfahren. So etwas hätte ich in einen meiner Romane als den perfekten Mord bezeichnet. Und so warte ich auf weitere Schikanen, auf meine nächste bestialische Hinrichtung, aber bis es wieder so weit ist, werde ich meine Memoiren aufschreiben, meinen letzten Roman, bevor es für mich zu spät ist.
Der weltberühmte, neunundfünfzigjährige amerikanische Schriftsteller William Carter sitzt mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden, angelehnt mit dem Rücken an einer kalten, von Moos befallener Mauer eines stinkenden Verlieses und senkte nach diesen niedergeschriebenen Gedanken erschöpft seinen Kopf. Der Linkshänder hielt in seiner rechten Hand ein paar Blätter Schreibpapier und in seiner Linken einen Bleistift. Es war still in diesen Kerker, nur ein gleichmäßiges, permanentes Tropfen, das von irgendwoher plätscherte, erinnerte ihn an ein Leben, ein Leben, das er einmal hatte. Manchmal, wenn er nicht schrieb, hörte er dem Tropfen zu und dachte dabei an seine Uhr. An das gleichmäßige Ticken einer Standuhr, die zu Lebzeit in seinem Schlafzimmer stand.
"William," hallte es plötzlich von oben herab. Sein Kopf schreckte hoch, in seinen Augen spiegelte sich das pure Entsetzen während er sich langsam mit dem Rücken an der Mauer aufrichtete und Schritt für Schritt nach einem Fluchtweg suchte, obwohl er genau wusste, dass es kein Entkommen gab. Er starrte das endlos runde Mauerwerk hinauf. Das spärliche Licht verlor sich irgendwo hoch oben in der Finsternis.
"Willlliam!"
Die Stimme schallte durch das Verlies, dann folgte ein leises Gelächter.
"Pay the price for your paradise ... lallallallalla", trällerte es in einer ihm unbekannten Melodie. Wahrscheinlich hatte er oder sie sich gerade solch eine Melodie ausgedacht.
Die Stimme wirkte auf jemanden der nicht wusste, was geschehen wird, beruhigend, denn sie klang nach einer angenehmen, sanften Raucherstimme. Dennoch würde man bereits nach wenigen Minuten eine unheimliche Überlegenheit in dieser Stimme heraushören und die Frage würde sich stellen - spricht dort eine männliche oder doch etwa eine weibliche Person? Stirnrunzelnd würde man sich schließlich fragen, ist diese Stimme überhaupt menschlich?
"Willi, was ist los mit dir? Nun hab dich doch nicht so du weißt doch, Vertrag unterzeichnet bedeutet, Vertrag er-fül-len!"
Die Stimme sprach beinahe singend und freundlich, jedoch klang die Stimme in Williams Ohren wie die eines Teufels.
"Lasst mich gehen, lasst mich endlich in Ruhe … bitte!"
Er schrie, während er weiterhin nach oben starrte. Seine Bitte klang verzweifelt, in seinem Blick erkannte man Wut, Zorn und zuletzt die pure Angst, denn er war hilflos. Doch er wusste, diese Stimme zeigt kein Erbarmen, kein Mitleid, keine Gnade. Er weinte, senkte verzweifelt seinen Kopf zu Boden. Wieder schallte ein heiseres Kichern durch das Verlies.
"William“ – jetzt klang es bösartig – "fürchte dich nicht und stell dich mal nicht so an. Du hattest doch ein äußerst angenehmes Leben auf Erden und dich niemals so geziert, wie du es jetzt tust und `oh bitte nicht` gewinselt. Nun ist es Zeit, Zeit für deinen einundzwanzigsten Roman. Wie heißt er doch sogleich? Ach ja ... Die Insel der Verdammten.“
Es prustete, wahrscheinlich kringelte er sich sogar vor Lachen.
Carter starrt weiterhin verängstigt nach oben in die Finsternis und hielt inne. Was sagte er? Was sagte Es soeben? Fürchte dich nicht? Dieser Mistkerl war zweifelsohne zynisch, wie immer. Aber `fürchte dich nicht` sagen hauptsächlich nur Engel, bevor sie in Erscheinung treten, erinnerte er sich. Verzweifelt lehnt er seinen Kopf gegen das modrige Gemäuer.
Die Stimme kichert albern, wie ein Lausbub, der gerade einen Streich ausheckte.
William schreckte seinen Kopf wieder nach oben, in seinen Augen spiegelt sich das Grauen, seine Gedanken versuchen sich an seinen einundzwanzigsten Roman zu erinnern und dann platzt es aus ihm heraus, ein entsetzlicher Schrei der puren Angst, weil er seine neunhundertfünfundfünfzig Seiten wie ein Daumenkino in seiner Erinnerung durchblätterte und schrie verzweifelt:
NEIIIIIN !
Cape Cod, Massachusetts 1963
Der arbeitslose achtzehnjährige William Carter schlenderte arglos, wie jeden Morgen, an der Strandpromenade von Provincetown entlang, genoss dabei das Rauschen der aufschlagenden Wellen am Strand und versuchte das Kreischen der Möwen zu verstehen. Worüber mochten sie sich gerade unterhalten?
Das Meer inspirierte ihn, nur am Strand gelang es ihm klare Gedanken zu fassen, über das Leben, das Universum, seine jetzige Situation und entwickelte dort meistens seine Ideen für eine neue Geschichte. Einen Notizblock und Bleistift trug er stets bei sich.
William bekam keinen Ausbildungsplatz, denn er war zur Schulzeit eine Null gewesen. Es lag keineswegs daran, dass sein Grips dem Lernstoff nicht folgen konnte, sondern eher daran, dass er sehr faul war. Er eiferte nur seinen eigenen Interessen nach, aber wenn diese sich zufällig im Schulunterricht kreuzten, wurde er zum Ass.
Der große James Dean und Shirley Temple Fan (Sie verkörperte für ihn eine absolute Traumfrau) mit den zarten Gesichtszügen und verträumten Blick, zog täglich ziellos umher und verschwendete keinen ernsthaften Gedanken an seine eigene Zukunft. Warum auch, dachte er sich, sein Leben lag doch noch so lange vor ihm und in dieser langen Zeit würde sich ganz bestimmt irgendwann eine Gelegenheit ergeben, etwas ganz Großes zu vollbringen. Überdies vergötterte er den weltbekannten Autor Howard Robinson, dessen Werke er regelrecht verschlang und seiner Meinung nach Alfred Hitchcocks Stories locker in den Schatten stellte.
Freunde hatte er eigentlich keine, und auf Frauen seines Alters wirkte er eher geheimnisvoll und mystisch, statt attraktiv, obwohl er bereits trotz seines jungen Alters ein gewisses Charisma ausstrahlte und doch sehr feinfühlig ausschaute. Möglicherweise vielleicht sogar deshalb mieden ihn partyverwöhnte Girls. Einige von ihnen empfanden dies vielleicht sehr reizvoll, doch bei Anderen wiederum, ausgerechnet bei den jungen Frauen, zu denen er sich hingezogen fühlte, stieß er wegen seiner geheimnisvollen Art öfters auf Ablehnung.
Die Freundinnen, mit denen er ging, verließen ihn meistens schon nach kurzer Zeit. Zwar sehnt man sich in seinen Träumen jemanden herbei, dass dieser jemand die Leidenschaft das Geheimnisvolle zu ergründen miteinander teilt, aber im Alltag wünscht man sich doch eben eher das Bodenständige, wovon William so weit entfernt war, wie die Venus zum Pluto.
Seine Gedanken schweiften beim Anblick des brausenden Meeres dahin, denn diesmal dachte er über seine Eltern nach. Dieser Gedanke störte ihn sehr, nicht nur weil er kurz vor der Fertigstellung seiner neusten Geschichte stand sondern auch, weil es wiedermal Schwierigkeiten gab. Es ergab sich abermals Ärger mit ihnen und diesmal zog er es ernsthaft in Erwägung, das Elternhaus zu verlassen und als Rucksacktourist die Welt zu erforschen.
Sein Vater war für ihn noch erträglich und eigentlich begleitete er ihn sehr gerne mit dem Fischkutter aufs Meer hinaus. Aber die Mutter war furchtbar. Täglich machte sie ihm Vorwürfe und schrie den ganzen Tag, kommandierte ihn und auch den Vater nur herum, wenn sie mal nicht betete. Die streng katholisch gläubige Frau war kaum auszuhalten. Ständig platzte sie einfach ohne anzuklopfen in sein Zimmer herein und schimpfte über sein Aussehen, über die Unordnung und vor allem über die Musik, die er gerne hörte. Die Musik dieser verrückten Langhaarigen wäre nicht zum Aushalten, schrie sie daraufhin (damit meinte sie Chuck Berry, Johnny Cash, The Rolling Stones und neuerdings hörte er sogar The Beatles) und der Herr würde ihn eines Tages dafür strafen, wenn er weiterhin Sünder zuhören würde.
Meine fromme Mutter war es, die dafür gründlich sorgte, dass ich ein gestörtes Verhältnis zu Gott bekam. Der Herr würde mich bestrafen, wenn ich dies weiterhin tue, der Herr würde mich bestrafen, wenn ich jenes weiterhin mache. Gott wird mich für meine Müßigkeit bestrafen, Gott bestraft, bestraft, bestraft. Such dir eine Arbeit, räum dein Zimmer auf, Hände weg von den Frauenzimmern und hör endlich mit dieser sinnlosen Schreiberei auf. Nutze deine Zeit lieber sinnvoll und such dir endlich eine Arbeit!, brüllte sie immer. Ich konnte es nicht mehr hören. In jedem Zimmer unseren Zuhauses hingen Kruzifixe, das konnte einem schon Angst einflößen und ständig murmelte meine Mutter mit geschlossenen Augen irgendwelche Gebete. Einer ihre beliebtesten Strafen für mich war, das Vater Unser bis zu hundert Mal aufzuschreiben. (Es kam darauf an, welches Vergehen ich wieder vollbrachte)
Einmal, ich war fünfzehn, stand sie plötzlich in meinem Zimmer und erwischte mich doch in der Tat beim Onanieren. Junge, Junge, gab das einen Ärger. Zuerst versuchte sie mich zu verprügeln aber ich konnte flüchten, dann verlangte sie von mir, dass ich hundert Mal das Vater Unser aufschreibe und danach schleppte sie mich zur Beichte. Daran war, so ihre Meinung, nur die Musik der Langhaarigen Schuld.
Manchmal fragte ich mich wie es möglich war, dass ich auf die Welt kam und es wunderte mich überhaupt nicht, dass ich keine Geschwister hatte. Wenn ich meinen Vater anschaute, tat er mir nur leid und ich konnte manchmal nicht verstehen, was ihn noch bei dieser Frau hielt. Na ja, ich will nicht ungerecht sein. Wenn man sich die alten schwarz-weißen Fotos meiner Eltern anschaut, weiß man es. Sie war wirklich sehr hübsch und lächelte einem bezaubernd entgegen. Ihr Wesen strahlte das pure Lebensglück hervor.
Aber nun wirkte ihr eingefallenes Gesicht verbittert, sträubte sich stets dem Fortschritt zu folgen und sah stattdessen in allem ein Werk des Teufels.
Mein Vater war mir wesentlich angenehmer, obwohl er mich nie ausreden ließ und mir selten zuhörte, trotzdem nervte mich auch seine Anwesenheit nach einer gewissen Zeit. Er erhob zwar niemals die Stimme gegen mich sondern redete stets im ruhigen Ton, doch er plapperte meiner Mutter ständig nach dem Mund. Besonders in ihrer Gegenwart.
Wieder einmal begleitete ich ihn auf die See hinaus, um Fische zu fangen. Dabei ließ er mich des Öfteren den Kutter steuern, was mir jedes Mal einen Heidenspaß bescherte. Obwohl ich das Meer liebte, war ich dennoch kein geborener Seemann und der Beruf Fischer kam für mich ohnehin nicht in Frage. An diesem Tag hatte ich eine meiner Geschichten dabei, ohne genau zu wissen, weshalb eigentlich. Die See war ruhig und die Wellen schwappten sachte gegen den Bootsrumpf.
Mein Vater interessierte sich doch sowieso nicht dafür, was ich in meiner Freizeit tat. Aber wahrscheinlich wünschte ich mir insgeheim, dass er mich danach fragte, was ich ständig da mit mir herumtrage, damit ich sie ihm vorlesen könnte, was er dann auch nach einer Weile sogar tat. Mein Herz pochte in dem Moment wahrscheinlich schneller, als ein fickeriges Karnickel rammeln konnte, als er sich tatsächlich für meine Texte zu interessieren schien. Doch ich spielte den Coolen, so als ob dies für mich nur alles nebensächlich wäre.
"Wie bitte, so etwas kannst du? Du kannst richtige, echte Geschichten schreiben, genauso wie Hemingway? Du … mein eigener Sohn?"
Daraufhin brach ein hüstelndes Gelächter aus ihm heraus, was aber sogleich wieder verstummte. Er wirkte äußerst überrascht und machte dabei einen ungläubigen, misstrauischen Gesichtsausdruck, genauso wie ich, weil ich überrascht war, dass er Ernest Hemingway überhaupt kannte. Nichtsdestotrotz zweifelte ich erheblich daran, dass er ihn jemals überhaupt gelesen hatte.
Ich antwortete ihm also nicht sondern schüttelte nur leicht schnaubend den Kopf. Dann schnappte ich mir das erste Blattpapier aus der Mappe, rutschte an der Reling zur Hocke hinunter und setzte mich schließlich im Schneidersitz hin. Mein Vater setzte sich erhöht auf die Kühlbox nieder, in der wir die Fische lagerten.
"Also gut Dad, hör mir einfach nur zu, ohne Kommentare. Einverstanden?“
Er nickte hastig und ich sah es ihm an, dass er sehr gespannt war. Allein diese Tatsache machte mich schon stolz.
"Na schön … Da gab es einmal diesen Mann, er war ein Fischer und segelte tagtäglich aufs offene Meer hinaus um Fische …"
"Oh ja, das ist bestimmt eine sehr gute Geschichte," fiel er mir sogleich ins Wort und zappelte dabei freudig herum.
"Bitte, Dad ...", ermahnte ich ihn und fuhr fort, nachdem er einen strengen Blick von mir kassierte.
"Schon sehr früh am Morgen warf er die Netze ins Wasser und bereitete auf dem Deck alles dafür vor, um die Fische nach einem hoffentlich erfolgreichen Fang zu köpfen und auszunehmen. Die Zeit, bis sich die Netze mit zappelnden Fischen füllen sollten, nutzte er dafür, den wunderschönen Sonnenaufgang zu beobachten, wie die Sonne im Osten aus dem endlosen Meer emporstieg. Ein frisch gebrühter Kaffee …"
"Genau William," unterbrach er mich abermals, "genauso mache ich das auch jeden Morgen wenn ich …"
"Dad … bitte!", schaute ich ihn genervt an.
"Schon gut mein Junge, les weiter, sehr schön, erzähl weiter."
Ich konnte meinen Vater also tatsächlich mit meiner selbst geschriebenen Geschichte begeistern, ihn fesseln. Das machte mich unheimlich stolz und bestärkte meinen Wille, eines Tages Bücher zu schreiben und ein Schriftsteller zu werden. Ich konnte ihn wirklich begeistern … bis ich ihm das Ende vorlas, das gefiel ihm nämlich absolut gar nicht. Es war nebenbei gesagt, eine Horrorgeschichte, die folgendermaßen endete:
Der Fischer bekam von einem geheimnisvollen alten Mann eine Trillerpfeife geschenkt, dessen schriller Ton Fische anlockte, die daraufhin massenweise aus dem Wasser in sein Boot sprangen. Vom Verkauf der Fische wurde der Mann steinreich und raffgierig obendrein, denn er trällerte so lange auf dieser Pfeife, bis der komplette Fischbestand im Ozean sich erschöpfte. Als er aber auf dem Amazonas segelte und in die Pfeife trällerte, überfielen ihn abertausende Piranhas und nagten ihn am lebendigen Leib bis auf die Knochen ab. Selbstverständlich schilderte ich diesen Todeskampf bis ins kleinste Detail, wobei sehr viel Blut spritzte und Fleischbrocken nur so umherflogen. Die Pointe des schockierenden Endes schilderte ich so:
Als einer der Piranhas hochsprang und das letzte Stück Fleisch von seiner Wange riss, saß nur noch ein Skelett auf der Bank mit der Trillerpfeife zwischen seinen Zähnen. Der Raubfischschwarm sprang daraufhin gesättigt wieder über Bord in den Amazonas zurück, bis auf ein kleines Piranhababy. Es zappelte noch eine Weile auf dem Deck herum und sprang wie ein Flummi auf und ab, bis es die Trillerpfeife mit seinen messerscharfen Zähnen ergatterte, wobei dem Skelett dabei der Unterkiefer abriss und ihm vor seine knochigen Füße fiel. Dann hüpfte es mit der Trillerpfeife zwischen seinen Zähnen wieder zurück in den Fluss und zeigte den anderen Raubfischen stolz seine Errungenschaft, woraufhin diese nur lachten und sättige Rülpser von sich gaben. Meine Prämisse dieser Geschichte beruhte einfach nur auf schwarzen Humor, aber für meinen Vater zählte Humor nur der von Stan Laurel und Oliver Hardy.
Er saß nur stumm da und schaute mich an. Ich wusste nicht genau, ob er nun in diesem Augenblick traurig oder gar enttäuscht war, aber möglich war beides.
"Warum nur musst du solch ein blutrünstiges Zeugs schreiben? Es war so eine schöne Geschichte und dann auf einmal geschah nur noch Gemetzel. Schreib doch lieber etwas Lustiges oder schreib eine Liebesgeschichte. Die Leute wollen doch lachen, sie wollen weinen, vor Freude, aber du, du machst ihnen Angst mit deinen Geschichten."
"Liebesgeschichte … ", murmelte ich und rümpfte dabei die Nase.
"Du irrst dich Dad, die Leute wollen Angst haben. Angst zieht die Menschen magisch an und schmunzeln können sie auch dabei, wenn sie es mit Gänsehaut lesen und dabei die Gewissheit haben, dass es so etwas zum Glück nie geben wird."
"Ich weiß nicht recht mein Sohn aber tu mir bitte einen Gefallen. Zeige das bloß nicht deiner Mutter.“
Mein Vater verzog sein Gesicht, ähnlich als wenn ihn ein Schmerz plagte.
"Du weißt doch genau, wie sie ist."
Doch dafür war es leider zu spät. Als ich diesen Abend das Wohnzimmer betrat, saß meine geliebte Mutter steif, wie immer, auf ihrem Stuhl und schaute mich dabei mit einem ausdruckslosen Blick aus ihrer Hornbrille an. Wie immer. Es war totenstill, nur das Ticken unserer Standuhr war zu hören. Vor ihr auf dem Tisch lagen alle meine Manuskripte und jetzt tippte sie mit dem Zeigefinger darauf.
"Was - ist - das?"
Noch klang ihre Stimme ruhig aber mein Vater verließ trotzdem nach diesen Worten sicherheitshalber das Wohnzimmer.
"Mom," sagte ich besonnen und zwang mir ein zartes Lächeln auf. "Du kannst doch nicht einfach in meinen Sachen herumstöbern."
Ich ging sachte auf sie zu und versuchte meine Werke von dem Tisch wieder an mich zu nehmen. Doch sie war schneller. Hektisch rollte sie die Papiere wie eine alte Zeitung zusammen, sprang von ihrem Stuhl auf und schlug mir wie eine wild gewordene Furie damit auf den Kopf. Duckend versuchte ich mich mit meinen Händen vor dieser Attacke zu schützen. Sie schrie:
"Bist du des Wahnsinns, so etwas niederzuschreiben? Du wagst es in meinem Haus über Satan, Gewalt und schmutzigen Sex zu schreiben? Willst du uns alle ins Verderben bringen mit deinen widerlichen Gedanken?"
Einige Blätter flogen durch die Wucht, mit der sie auf mich einschlug, im Zimmer herum. Sie hörte auf zu schlagen, senkte ihren Kopf, zog ihre Brille ab und hielt sich ihre rechte Hand schützend vor die Augen. Dann schluchzte sie bitterlich.
Es schockierte mich, meine Mutter weinen zu sehen, und sie tat mir in diesem Augenblick sehr leid. Ich hob die zerstreuten Papiere auf und versuchte meine Mutter in den Arm zu nehmen, um sie zu trösten, da stieß sie mich weg und schlug mit ihren bloßen Händen auf mich ein.
"Wir sind eine gottesfürchtende Familie und du, du lockst den Teufel und das Unheil mit deiner blutrünstigen … (verzweifelt rang sie nach Worten) … schmutzigen … perversen Fantasien zu uns!"
"Aber Mutter, das sind doch bloß Geschichten. Nichts davon ist wahr. Ich glaube doch an Gott … genauso wie du!", flunkerte ich.
Sie fasste sich wieder und sprach nun in ihrem gewohnten kaltherzigen Ton, der an einer strengen Lehrerin erinnerte.
"Ich verbiete dir den Namen des Herrn hier in meinem Haus in den Mund zu nehmen. Ich will von dir bis morgen früh, hundert Mal das Vater Unser geschrieben vor mir liegen sehen!"
"Schon gut Mutter, schon gut, ich werde es schreiben. Könnte ich jetzt bitte meine Geschichten wiederhaben?", fragte ich äußerst kompromissbereit, aus Angst, was vermutlich geschehen wird. Daraufhin zerriss sie nämlich die zusammengeknüllten Manuskripte, wobei sie mir scharf in die Augen schaute und entriss auch die von mir vom Boden geretteten Werke aus meiner Hand, die sie ebenfalls vernichtete.
"Bist du verrückt geworden," brüllte ich wütend, "weißt du eigentlich, wie lange ich daran gearbeitet habe?"
"Du wagst es, von Arbeiten zu sprechen? Du wagst es, mich in meinem Haus anzuschreien? Gott wird dich für das hier … STRAFEN!“, brüllte sie und warf mir die zerfetzten Schnipsel entgegen.
Dies war das letzte Mal, dass er seine Eltern sah. William Carter verließ Cape Cod, ging noch einmal hinunter zum Strand und sagte dem Meer goodbye. Er zog als Landstreicher umher, arbeitete hin und wieder auf Farmen für Nahrung und einen trockenen Unterschlupf und schrieb weiter neue Geschichten in seinen Notizblock. Sein Weg führte per Anhalter immer weiter New York entgegen, in die Stadt, von der er immer träumte.
Seit ein paar Tagen schwebte ihm eine Idee für eine sehr lange Story in seinen Gedanke herum, die er stichpunktartig aufschrieb. Dieser Roman sollte von einem begnadeten Opernsänger, trotzalledem einen Psychopathen handeln, der sich monatelang mit Observation und Planung vorbereitet, bestimmte Frauentypen zu entführen, um sie in einem Versteck gefangen zu halten. Dieses äußerst gefährliche Monster interessiert sich dabei ausschließlich für Frauen, die seiner eigenen Mutter ähneln oder geähnelt hatten, bis in ihre Jugendzeit zurück. In seinem Versteck hielt er also mehrere Frauen unterschiedlichsten Alters, die er stets nachts mit seinem wundervollen Gesang anlockte, um auf diese Weise ihre Freundschaft zu gewinnen. Selbst junge Mädchen sollten sich dieser goldenen Stimme hinreißen lassen. William hatte sogar schon einen Arbeitstitel für seine Geschichte.
Die Nachtigall.
Texte: W. Francis Dille
Tag der Veröffentlichung: 25.01.2013
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