2. Januar 1943, irgendwo in der Nähe von Stalingrad. Zeit: 8:55 Uhr MEZ
Mühselig stampfte der 4.Zug durch kniehohe Schneemasse. Die Sicht war aufgrund des diesigen Wetters extrem beeinträchtigt. Schnee rieselte gerade herunter. Die Mission lautete: Feindliche Artillerie Stellungen lokalisieren und ausheben, gegebenenfalls Luftwaffenunterstützung anfordern.
Die 18 Soldaten, manche schon seit ein paar Jahren dabei, getarnt mit weißen Leinentüchern, verfolgten aber verbittert seit zwei Tagen ein ganz anderes Ziel. Sie befanden sich auf der Jagd, auf der Jagd nach einen oder gar mehreren Heckenschützen, von denen sie attackiert wurden, wobei zwei Kameraden ihr Leben verloren. Es waren Brüder, die einem hinterhältigen Anschlag zum Opfer fielen.
Wenn im Krieg ein Kumpel ausgerechnet von einem Scharfschützen, der irgendwo feige verschanzt auf der Lauer lag, verletzt oder gar getötet wurde, nahm man dies persönlicher, als wenn ein Freund an der Front sein Leben verlor, und es begann eine unbarmherzige Hetzjagd auf den Mörder. Manchesmal verblendete es die Soldaten so sehr, dass ihnen ihr eigentlicher Einsatzbefehl nichtig wurde. Ein freilaufender Jäger musste umgehend ausgeschaltet und gerächt werden, damit anderen Kameraden ein gleiches Schicksal erspart bliebe.
Karl Meininger, ein junger unerfahrener Leutnant, befehligte und führte den Grenadierzug an. Doch seit dem feigen Anschlag des unbekannten Scharfschützen wirkte er unsicher, inkompetent und stimmte nun öfters zögernd den Befehlen des weitaus erfahrenen, dafür aber rangniedrigeren Stabsunteroffiziers Heinrich Steger zu. Mittlerweile, auch aufgrund der eisigen Kälte und des plagenden Hungers, tuschelten die Soldaten untereinander und zweifelten an Leutnant Meiningers Führung. Eine bedrohliche Revolte bahnte sich gegen den Fünfundzwanzigjährigen an.
Mit einem versetzten Abstand stampfte der Grenadierzug in Reihe voran. Knatterndes Maschinengewehrfeuer, quietschende Panzerketten und dumpfe Artillerieeinschläge waren aus der Ferne zu hören. Zu ihrer Rechten bildete sich augenblicklich aus dem Nichts, eine dichte Nebelbank. Plötzlich warf sich das hintere Glied der Truppe abrupt zu Boden und gaben ein warnendes Handzeichen.
„Runter!“, flüsterte ein Hauptgefreiter, und klopfte sogleich auf die Schulter des Stabsunteroffiziers Steger, der sich daraufhin geistesgegenwärtig wie alle Soldaten, flach zu Boden legte.
Die MG Schützen warfen sich in den Schnee, stützten das Maschinengewehr auf, klappten das Visier hoch, führten hastig den Patronengurt in den Lauf und zielten genau auf die Nebelbank.
Eine minutenlange Totenstille herrschte, nur der herunterrieselnde Schnee, die fernen Granateinschläge mit den Panzergeräuschen und ein paar krähende Raben waren zu hören. Ein in geduckter Stellung heraneilender Soldat erreichte den Leutnant.
„Der MG Schütze Hauptgefreiter Feldmann meldet, einen Blitz im Nebel, zwei Uhr, gesichtet zu haben. Es könnte ein Mündungsfeuer gewesen sein, Herr Leutnant“, keuchte er.
Wortlos, sichtlich überfordert mit dieser Situation richtete Leutnant Meininger seinen Blick wieder der Nebelbank entgegen, mit dem Gewehr im Anschlag. Nervös richtete er seinen Helm. Stabsunteroffizier Steger griff in seine Jackentasche und zündete sich eine Zigarette an. „Ein Mündungsfeuer? Aber man hat keinen Schuss gehört.“ Er nahm sein Fernglas und starrte in den auffällig wölbenden Nebel.
„Diese Waschküche kommt mir sowieso nicht geheuer vor,“ murmelte er, wobei die Zigarette in seinem Mundwinkel wackelte. Doch plötzlich sah auch er einen Feuerblitz aufzucken, nur für einen Augenblick. Dann nochmal, zwei Mal kurz aus verschiedener Distanz und sogleich darauffolgend einen besonders grellen Lichtschein, als würde ein mächtiges Gewitter darin toben.
„Achtung, Mörser!“, rief er warnend. Zugleich rammten die Soldaten ihre Köpfe in den Schnee.
Doch es passierte nichts.
Die einzigsten Detonationen die zu hören waren, schlugen weit, weit entfernt ein. Stabsunteroffizier Steger zupfte an Leutnant Meiningers Jacke: „Wir brauchen drei Männer, die da reingehen und die gottverdammte Gegend absichern.“
Doch anstatt ihm wenigstens mit einem Nicken zuzustimmen, starrte er ihn nur belämmert an.
Stabsunteroffizier Steger verzog seine Miene und wendete sich dem Hauptgefreiten entgegen.
„Georg, schnapp dir eine MG und einen Scharfschützen und dann schaut nach, was das verdammt nochmal war.“
Leutnant Meininger setzte gerade mit dem vorgehaltenem Zeigefinger zum Sprechen an, als der Hauptgefreite antwortete: „Wird erledigt, Heinrich.“
Je näher die Soldaten der Dunstwolke entgegen traten, desto mehr verschluckte der Nebel ihre Gestallten, bis sie letztendlich wie Geister darin verschwanden. Aber bereits wenige Augenblicke später, zeichnete sich die Silhouette des Hauptgefreiten Georg aus dem dichten Nebel wieder ab.
Torkelnd kehrte er zurück.
Währenddem er durch die Schneeverwehungen ihnen entgegen stampfte, schwankte er auffällig. Ein Schwarm Krähen platzierte sich vor der Nebelbank und krächzte die Dunstbank an. Einige der gefiederten Burschen breiteten ihre Flügel und flatterten wild, aber wagten sich nicht hinein.
Erschöpft ließ sich Hauptgefreiter Georg vor dem Zugführer und Stabsunteroffizier nieder, rammte den Kolben seines Sturmgewehrs in den Schnee und befreite sich keuchend vom Helm.
„Dort ist ein Bauernhof …,“ berichtete er nach Atem ringend, „ umgeben von Bäumen, die uns Schutz bieten. Die Dachgaube des Gebäudes … sie dient als ein perfektes Versteck für einen Heckenschützen. Die MG und unser Scharfschütze … beide sind in Stellung gegangen und halten genau darauf.“ Er hustete, spuckte in den Schnee und entschuldigte sich, weil ihm speiübel sei, wie er sich ausdrückte. Dann fuhr er fort.
„Ich sah mich etwas um … in der Scheune … aber da ist nichts. Ich habe alles erkundet. Unser gesuchter Heckenschütze … wahrscheinlich befindet er sich im Haus, Herr Leutnant.“
Stabsunteroffizier Steger runzelte die Stirn und blickte ihn ungläubig an.
„Mensch Georg, was erzählst du uns? Allerhöchstens warst du ein paar Minuten in dieser Waschküche. Wie willst du die Gegend so schnell erkundet haben?“
„Nur ein paar Minuten?“ Der Hauptgefreite war immer noch außer Atem und wirkte zudem sehr blass.
„Was soll das heißen, nur ein paar Minuten? Ich war länger als eine dreiviertel Stunde weg. Allein der Fußmarsch zum Bauernhof beanspruchte mindestens zehn Minuten.“
Obwohl der Stabsunteroffizier sich auf die Meldungen seiner Soldaten stets hundertprozentig verlassen konnte, zweifelte er an dieser fragwürdigen Aussage und entschloss, mit dem gesamten Zug zu den anderen zwei Kameraden aufzurücken.
„Noch etwas,“ Georg fasste Heinrich Steger am Arm. „Mit dieser Gegend stimmt etwas nicht. Die Luft ist dort ungewöhnlich dünn.“
Mit dem Gewehr zielgerichtet nach vorne, marschierte der Grenadierzug vorsichtig in den dichten Nebel hinein. Die Soldaten verteilten sich in der Gegend, so, dass der Sichtkontakt aber erhalten blieb. Es war dermaßen neblig, dass man nur wenige Meter vorausschauen konnte.
Schemenhaft bildeten sich vor ihnen die Konturen einiger Bäume. Eine unheimliche Stille umschloss der Nebel. Nichts war mehr zu hören, weder die fernen Mörsergranateinschläge noch das Krähen der Raben. Zudem erschwerte die außergewöhnliche dünne Luft, wie sie eigentlich nur auf dem Gipfel eines Berges vorhanden war, zu atmen. Einige Männer klagten sogar über Übelkeit und Schwindelgefühle. Ein Gewehrschütze kniete am Baum und übergab sich. Selbst Stabsunteroffizier Steger fühlte sich merklich unwohl, überdies verlor er seinen Orientierungssinn was ihn veranlasste, auf seinen Kompass zu schauen. Die Nadel des Kompasses drehte wild gegen den Uhrzeigersinn. Als er auf seine Uhr schaute, stellte er fest, dass der Sekundenzeiger sich nicht weiter bewegte. Alle Armbanduhren der Soldaten waren exakt um 9.25 Uhr stehen geblieben, wie es ihm jeder verwundert bestätigte.
„Vielleicht wurde hier von diesen neuen biologischen Waffen gebrauch gemacht,“ flüsterte der Leutnant besorgt.
„Glaub ich nicht,“ antwortete Stabsunteroffizier Steger, „dann wären wir längst erledigt.“
Plötzlich tauchte aus dem Nichts der schemenhafte Umriss eines Gebäudes auf. Sofort versteckten sich die Soldaten hinter die kräftigen Baumstämme. Ein paar Bäume weiter vorne sollten die vorangegangenen Soldaten in Stellung liegen aber abgesehen von ihren Waffen, fehlten von ihnen jeder Spur. Vorsichtig schlichen der Stabsunteroffizier und Georg in gebückter Stellung an diesen Platz heran. Die Fußspuren der vermissten Männer führten dorthin. Der Abdruck ihrer Stiefeln und Körper waren deutlich zu erkennen. Das Maschinengewehr war durchgeladen und auf die Dachgaube gerichtet und das Scharfschützengewehr, stand ordentlich am Baumstumpf angelehnt. Nichts deutete daraufhin, dass die Männer ihren Platz verließen oder gar in einen Kampf verwickelt wurden.
„Wie ist das möglich? Wo in Gottes Namen sind sie geblieben?“, fisperte Georg.
Heinrichs Augen rollten nachdenklich an den Baumkronen entlang doch außer Nebelschleier, der wie eine dichte Rauchschwade zwischen den Ästen vorbei zog, war nichts und niemand zu sehen. Vorsichtig betraten die Soldaten den Bauernhof.
Mittig auf dem Hof lagen zwei tote Pferde. Die fußballgroßen Einschusslöcher in ihren Leibern glühten und qualmten. Das verbrannte Fleisch zischte wie ein Steak auf dem Grill. Diese Tiere mussten augenblicklich zuvor abgemetzelt worden sein. Die gewaltigen Einschusslöcher erschauderten die Soldaten. Sogleich bildeten sie einen Kreis um die toten Tiere und richteten ihre Gewehre nervös in die Umgebung. Der Feind musste sich noch irgendwo in der Nähe aufhalten. Angst überkam. Der Atem des Feindes hauchte in ihren Nacken.
Welche Waffe vermochte über solch eine verheerende Zerstörungskraft, rätselte Steger.
Die Vermutung, dass diese Tiere von Mörsergranaten oder gar von einem Panzer erlegt wurden, schloss man aus. Nirgendwo waren Spuren eines Fahrzeuges im Schnee oder Überbleibsel einer Explosion zu entdecken. Sicherlich hatten die mysteriösen Blitze dies angerichtet, meldete sich der Panzerfaustschütze zu Wort. Seine Vermutung wurde aber von Georg energisch dementiert, denn, als er die Gegend inspizierte, lagen die Kadaver noch nicht auf dem Hof und die Mündungsfeuer, sofern es welche waren, ereigneten sich bereits, bevor er den Bauernhof erreichte.
Plötzlich eilte einer der Infanteristen, der die Gegend erkundete, zum Zugführer und berichtete aufgeregt, einige Leichen hinter der Scheune vorgefunden zu haben.
Wortlos starrte der Grenadierzug auf drei verkohlte Leichen. Nur anhand ihrer Stiefel konnte man erkennen, dass es sich bei ihnen um russische Soldaten handelte. Vermutlich waren sie sogar die gesuchten Heckenschützen. Ihre vermissten Leute waren das jedenfalls nicht. Stabsunteroffizier Heinrich Steger packte einen seiner Männer an die Schulter und schleuderte ihn zurück.
„Haltet ihr etwa einen Kaffeeplausch?“, fuhr er sie empört an. „Was steht ihr hier alle auf einen Fleck herum? Soll man euch etwa mit einer einzigen Handgranate erledigen? Sichert diese verfluchte Gegend ab, sofort!“
In diesem Moment meldete ein weiterer Soldat, die zwei vermissten Kameraden wahrscheinlich gefunden zu haben. Er vermutete es jedenfalls. Sie lagen hinter dem Haus, ebenfalls vollkommen verbrannt und auch sie konnte man nur noch anhand ihrer Stiefel identifizieren, die ausschließlich von der deutschen Wehrmacht getragen wird. Jetzt war es gewiss.
Der Tod ihrer Männer stellte wieder weitere Fragen, denn es waren auch diesmal nirgendwo Fußabdrücke auf dem schneebedeckten Boden vorhanden. Doch irgendjemand musste sie dort hingeschafft haben, weil, man machte sich die Mühe, die Leichen fein säuberlich nebeneinander in den Schnee zu betten und obendrein verschränkte der Mörder ihre Arme.
„Wir gehen jetzt in das Haus rein und egal wer oder was sich dort aufhält, wird sofort abgeknallt. Auch wenn es Zivilisten sind,“ befehligte Stabsunteroffizier Steger mit strenger Stimme.
„Ich glaube, dass ich die Befehle geben sollte, Herr Stabsunteroffizier,“ entgegnete ihm Leutnant Meininger. „Ich bin der Zugführer. Ich bin Leutnant. Ich habe den höheren Dienstgrad“, fauchte er.
Der Tod seiner Untergebenen und die gefährliche Situation, in der sich sein Zug unmittelbar befand, rüttelte ihn wach. Mit vorgehaltenem Zeigefinger deutete er wahllos auf ein paar Soldaten.
„Sie, mitkommen … mitkommen … mitkommen … mitkommen. Sie auch, Herr Stabsunteroffizier. Die Anderen sichern die Gegend ab und geben Feuerschutz. Haltet mir die Dachgaube in Schacht, Männer!“
Vorsichtig betrat der Leutnant mit einer vorgehaltenen MP 40 das Haus. Georg steckte ein Bajonett auf sein Sturmgewehr. Leise, Schritt für Schritt schlichen sechs Soldaten den Flur entlang und betraten dann die Türschwelle zur Küche. Dort stand ein gedeckter Tisch für vier Personen. Das Feuer im Kamin brannte. Die Wanduhr war seit 9.05 Uhr stehn geblieben. Georg näherte sich dem Kamin, über dem ein Topf vor sich hinköchelte. Sachte hob er mit der Spitze des Bajonetts den Deckel. Ein appetitlicher Duft stieg empor, der sich sofort in der Küche verbreitete. Der Stabsunteroffizier schaute Georg fragend an.
„Suppe,“ antwortete er.
Mit jedem Schritt, den Stabsunteroffizier Steger in Richtung der Tür ging, die zum nächsten Zimmer führte und nur angelehnt war, knarrte der Holzboden. Je näher er dieser Tür entgegen trat, desto stärker pochte sein Herz. Der Schweiß lief ihm unter seinem Helm über die Stirn herab. Vorsichtig, mit vorgehaltener Waffe und dem Finger am Abzug haltend, stand er nun direkt davor und war gerade dabei den Gewehrlauf in den Spalt zu stecken, um sie aufzustoßen.
Plötzlich schlug die Küchentür zu, hindurch sie kamen, die, die zum Korridor nach außen führte. Verdutzt blickten sie hinter ihren Schultern und hörten, wie sie verriegelt wurde. Genau in diesem Augenblick flog ein ovaler Gegenstand durch den Spalt der anderen geöffneten Tür, vor der Heinrich Steger stand, prallte gegen die Wand, fiel dann zu Boden und rotierte noch einen Moment. Heinrichs Augen öffneten sich weit und vor Schreck überschlug sich seine Stimme:
“G-r-a-n-a-t-e!“
Doch es war zu spät, denn der Fluchtweg war versperrt. Einer der Männer rüttelte noch panisch an der Tür, während die anderen Soldaten, bis auf den Leutnant und der Stabsunteroffizier, sich zu Boden warfen und ihre Köpfe mit den Armen schützten. Leutnant Meininger resignierte und blickte entsetzt. Stabsunteroffizier Steger ließ daraufhin einen lauten Schrei von sich und warf sich mit zugekniffenen Augen mit seinem Körper auf die Handgranate. Leutnant Meiniger tat nichts, starrte nur auf den mutigen Stabsunteroffizier, der sich soeben dazu entschlossen hatte, sein Leben für das seiner Leute zu opfern, während die mit ihren Händen schützend in den Ecken kauerten.
Doch nichts geschah.
Langsam öffnete Heinrich Steger wieder seine Augen, griff unter seinem Körper, hielt den ovalen Sprengkörper in seiner Hand, begutachtete die Granate und erhob sich. Er schmunzelte.
„Der dämliche Idiot hat den Stift nicht abgezogen.“
In diesem Moment hörte er ein Geräusch, welches jeder Soldat nur zu gut kannte. Das spezielle Geräusch vom schabenden Metall, das Geräusch eines abgezogenen Stiftes die eine Handgranate aktiviert. Eine weitere Granate flog durch den Türspalt doch diesmal war Heinrich darauf vorbereitet, fing die Granate auf und warf sie durch den Türspalt zurück und rammte die Tür zu.
Eine heftige Detonation erschütterte das Haus. Glas zersplitterte, Putzbrocken flogen hörbar umher und die Tür wurde aus der Zarge gerissen. Dann stieg dichter Staub aus dem Raum, der die ganze Küche erfüllte. Hustend erhoben sich die Männer.
„Los, rein da. Keine Sorge, das hat niemand überlebt,“ sagte der Stabsunteroffizier. Daraufhin stürmte ein Soldat hinein. Kaum hatte er das rauchende Zimmer betreten, schoss er schreiend eine Salve mit der MP 40 gegen die Decke des Raumes. „Du Mistkerl, ich habe ihn, ich habe ihn! Du Schwein!“, brüllte er während er fortan sein Magazin leerschoss, es hastig wechselte, wieder gegen die Decke hielt und erneut das Dauerfeuer eröffnete. Die Anderen stürmten hinein, richteten instinktiv ihre Waffen ebenfalls gegen die Decke und schossen.
Das Chaos brach aus. Die Soldaten schossen unkontrolliert gegen die Decke, die Geschosse zerfetzten Holzbalken, Putzbrocken flogen explosionsartig umher und Glas zersplitterte.
„Feuer einstellen! Sofort Feuer einstellen!“, brüllte er aufgrund seines Bedenken, dass die Decke einstürzen würde. Als die Magazine leer geschossen waren, berichtete Gefreiter Tillmann, dass er etwas die Decke entlang huschen gesehen hätte. Er berichtete, eine schwarze, transparente Gestalt, ähnlich wie ein Schatten wäre kopfüber, wie eine Spinne, die Decke entlang gekrabbelt und in das Loch in der Ecke geflüchtet. Apathisch zeigte er auf die aufgerissene Ecke der Decke.
„Herr Stabsunteroffizier Steger, ich schwöre bei Gott … ein Mensch war das nicht!“, stammelte er. In seinen Augen spiegelte die pure Angst.
Nach den ganzen Merkwürdigkeiten, die passierten, zu urteilen, wunderte dem Stabsunteroffizier nun nichts mehr und gab den Befehl, nach oben auf den Dachboden aufzurücken. Wortlos zog Leutnant Karl Meininger seinen Helm ab, lehnte gegen die Wand und rutschte mit dem Rücken weinend zu Boden.
Langsam stiegen sie die knarrende Treppe hinauf. Stabsunteroffizier Steger zielte sofort auf das Fenster der Dachgaube und dann nach rechts. Auf der linken Seite stand ein Schrank, der durch das einfallende Licht des Fensters einen Schatten warf und noch bevor er sein Sturmgewehr darauf hielt, verwandelte sich dieser Schatten in eine menschliche Gestallt. Mit bestimmenden Schritten ging sie auf ihn zu, ballte eine Faust und ein gewaltiger Feuerstoß schoss hinaus, der in seinem Gesicht zerberste. Schwarz, wie ein Stück Kohle, fiel er rücklings leicht brennend an seinen verdutzten Kameraden die Treppe hinunter.
„Heinrich hat`s erwischt,“ schrie Georg, „Heinrich hat`s erwischt!“
Als die Soldaten gerade auf die sich nähernde Kreatur mit dem Gewehr zielten, schnellte sie urplötzlich in die Höhe. Sie hielten ihre Gewehre nach oben, feuerten eine Salve ab aber die Geschosse prasselten lediglich in das Dachholzgebälk. Die Schattengestallt hatte sich mit den dunklen Winkeln verschmolzen und war verschwunden. Eine weitere Schattenkreatur wuchs plötzlich lautlos aus den unteren Treppenstufen hervor und noch bevor die Soldaten etwas bemerkten, ballte das Wesen seine Faust und richtete auf gleicher Weise zwei weitere Männer hin, indem es ihnen in den Hinterkopf feuerte. Georg und sein Kamerad drehten sich aufgeschreckt herum, drückten den Abzug aber die Kreatur rettete sich mit einem Sprung, schnell wie eine abgeschossene Rakete, nach oben, hangelte am Dachgebälk und tauchte spurlos in die schattigen Ecken unter.
Der Schock saß tief bei den letzten zwei verwirrten Kameraden, als sie fassungslos zur Dachspitze starrten. Das Letzte, was Georg sah, waren jeweils zwei Kugelblitze, die von oben herab wie eine Feuerbrunst über sie walzte.
Leutnant Karl Meininger saß mit ausgestreckten Beinen in der Küche, drehte seinen Helm auf den Boden und schaute zu, wie er ausrotierte. Dann wiederholte er dieses Spiel, immer und immer wieder. Aus dem Loch in der Decke krabbelte auf allen Vieren langsam, eine schwarze, transparente Gestalt, kroch kopfüber die Wand herunter und stellte sich provokativ mit verschränkten Armen vor ihm. Meiningers Blick erstarrte. Über seinen Mundwinkel zuckte der Ansatz eines Lächelns. Die Kreatur blieb stehn und regte sich zuerst nicht. Das Wesen neigte seinen Kopf zur Seite und blickte hoch. Scheinbar interessierte es sich für die Lampe. Neugierig berührte seine Klaue die Glühbirne, worauf die Küchenlampe sachte schaukelte. Währenddem es sich bewegte, vernahm Leutnant Meininger ein merkwürdiges Surren, eines, wie er bisher niemals zuvor gehört hatte. Behutsam zog er seine Luger aus dem Halfter und richtete die Pistole gemächlich gegen den unheimlichen Schatten. Vielleicht hatte die Kreatur ihn noch gar nicht wahrgenommen. Vielleicht gelang es ihr nur zu sehen, wenn man sich bewegt.
Das Gebrüll der hereinstürmenden Kameraden war schon zu hören und sein Finger rieb bereits am Abzug der Pistole. Was er aber nicht bemerkte, weil er sich konzentriert dem Ding widmete – etwas Ähnliches hatte er bisher noch nie gesehen und blickte es gleichzeitig fasziniert an – hinter ihm stand längst die zweite Gestalt, ballte die Faust und richtete sie langsam gegen seinen Kopf.
Als Leutnant Meininger die Kreatur genau anvisierte, lösten sich plötzlich die Schattenwesen einfach auf. Die unheimlichen Wesen waren spurlos verschwunden.
Zur gleichen Uhrzeit, an einem anderen Ort, in der Zukunft im Jahre 2685
„Hast du das Hologramm abgeschaltet?“
„Nein, du etwa? Ich könnte mir vorstellen, dass INKA 07 unser Game wiedermal unterbrochen hat, diese fiese Spielverderberin. Soll der Trojaner doch über ihre Dateien reiten!“, schimpfte sie.
Die zwei Kinder waren offensichtlich verwirrt. Es war ihnen unerklärlich, weshalb es zu einem Verbindungsabbruch ihres Onlinegames gekommen war. Sie standen sich in ihrem hautengen schwarzen Overall auf einer Spielplattform gegenüber, die von einem Computer gesteuert wird.
In ihren Händen hielten sie jeweils eine Fernbedienung. Zugleich öffneten sie ihre Helmvisiere. „Unglaublich, wir standen kurz vor Abschluss des 2. Levels und du ziehst den Stift nicht, Doofi.“ Das Mädchen schüttelt fassungslos den Kopf.
„Beim nächsten Mal ziehst du gefälligst den Stift ab. Es sind Handgranaten, die man zuerst scharf machen muss und keine Knallerbsen, Blödi!“
„Selber Blödi,“ zischte das andere Mädchen mit gekniffenen Augen und wankte mit dem Kopf. „Dafür habe ich drei Russen und fünf Deutsche erledigt, du bloß zwei Deutsche und zwei dumme Pferde“, konterte sie und streckte ihr die Zunge raus.
Ein Hologramm, in Form eines Frauenkopfes projiziert sich in die Mitte des Raumes:
„Kinder, wie habt ihr es wieder geschafft, das Passwort zu entschlüsseln? Ihr spielt ein verbotenes Timegame! Wenn die gesendeten Daten des Zeitkontimus-Satelliten hierher in unser Haus zurück verfolgt werden, wird die Regierung euch beide zur Rechenschaft ziehen. Seit ihr euch dessen überhaupt bewusst? Immerhin seid ihr schon sechs Jahre alt!“
Die Mädchen zogen ihre Helme ab und warfen sie schmollend in die Ecke.
„Das ist gemein. Beinahe wären wir ein Level weiter gekommen. Warum ist das eigentlich verboten? Wir spielen doch in einer Zeit, lange bevor es die globale Katastrophe gab und die Menschheit nur durch eine simple Software, die eine künstliche Atmosphäre erzeugt, gerettet werden konnte. Die Leute, die wir killen, sind doch sowieso schon seit Urzeiten tot. Also, was macht das schon?“
Der Computerkopf neigte sich sachte und lächelt, während er sich permanent im Kreis dreht.
„Richtig Mademoiselles, aber Recherchen haben ergeben, dass der Urahne des Programmierers dieser lebensrettenden Software unter anderem im 2. Weltkrieg gedient hatte und somit die Gefahr besteht, diesen zu eliminieren. Dies würde bedeuten, der Erfinder dieser Software wird nie geboren und die Existenz der gesamten Menschheit wäre Folge dessen gefährdet. Außerdem ist es nicht auszuschließen, dass ihr euch bei diesem Game verletzt. Deren Geschosse und seien sie noch so antiquiert, könnten euch trotz eurer Schutzweste eventuell verletzen. Darum dieses Verbot. Ich schlage euch ein anderes Timegame vor, eines aus dem Genre Sport. Diesmal dann wird euer Gegner nicht so leicht zu schlagen sein, denn ihr zwei Mademoiselles dürft Tennis spielen und eure Gegnerin wird sein … Steffi Graf.“
„Steffi wer? Was soll denn das sein … Tennis?“, kicherten sie. „Also gut, spielen wir eben Tennis mit Steffi Graf. Der werden wir`s schon zeigen.“
INKA 07 lächelte, zwinkerte mit den Augen und verschwand verzerrend von der Bildfläche. Die Mädchen stülpten wieder ihre Helme über und klappten das Visier herunter. Ein Tennisplatz aus dem Jahr 1987 projizierte sich im Raum. Das Match kann beginnen.
Texte: W. Francis Dille
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2013
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