Prolog
1. Kapitel
Heute ist es wieder soweit. Wie jedes Jahr fahren meine Eltern und ich zu meinen Großeltern, um den Geburtstag meines Opas zu feiern. Mittlerweile hat er auch schon seine besten Tage hinter sich und sitzt den ganzen Tag fast nur vor seinem Flimmerkasten. Aber so sind ältere Herren eben, haben den ganzen Tag nichts besseres zutun, als auf der Couch zu liegen und die Sportschau anzusehen. Da sieht der Ablauf eines Tages bei mir ganz anders aus. Viel hektischer. Eigentlich wollte ich dieses Jahr zuhause bleiben. Ich mag es nicht, von meiner Verwandtschaft immer so anerkennend angesehen zu werden. Als ob meine Eltern ein Meisterwerk im Bett geschaffen hätten. Widerliche Vorstellung. Das ganze Gerede und diese Standartsätze wie "OH man bist du schon groß geworden" oder "Du bist ja richtig in die Höhe geschossen" gehen mir jedes Mal wieder auf die Nerven. Haben die noch nie was von natürlichem Wachstum gehört oder denken die alle ich bleib 1.40 cm? Am Schlimmsten von all dem, ist jedoch immer noch mein großer Cousin. Er ist gerade mal 21 und meint schon mich herumkommandieren zu können. Hol dieses hol jenes, schenk Getränke nach und und und. Am liebsten würd ich ihm beim Getränke nachfüllen den Inhalt über seinen Kopf kippen, das Glas auf seinen Kopf stellen und sagen: "Was hast du denn für einen coolen Hut. Gab es den nicht mehr in deiner Größe?". Das wäre wirklich nicht schlecht, vielleicht mach ich das falls er mich wieder einmal befehligen sollte. „Sarah! Komm endlich runter dein Vater wird gleich stinksauer!“, das ist dann wohl meine über alles geliebte Mutter, die mich zu meiner netten Verwandtschaft befördern will. Ironie lässt grüßen. Ich schnappe mir etwas unbeholfen meinen randvollen, tonnenschweren Koffer und hieve ihn Stufe für Stufe vorsichtig runter. Doch mittendrin möchte der kleine Freund auf eigenen Rollen selbstständig werden. Ohne mich auch nur ansatzweise nach Erlaubnis zu fragen, fällt er die letzten Stufen einfach bergab und kracht auf den harten Gangboden. Wie nicht anders zu erwarten, springt er auf und verteilt mein ganzes Zeug, das ich vorher liebevoll hineingestopft habe, auf den Fließen. ‚Super, das fängt ja schon gut an‘ schießt es mir durch den Kopf.
Die ganze Fahrt lang denke ich über Gott und die Welt nach. Eigentlich wollte ich mich vorher schon in die andere Welt katapultieren, doch das dämliche Rütteln unseres Mercedes hält mich unverbittert wach. Die riesigen Schlaglöcher auf der verwilderten Landstraße geben dem Auto auch gut bei. Verfluchtes Landleben!
Ich kurbel das Fenster runter und strecke meinen Kopf vorsichtig dem Fahrtwind entgegen. Die raschelnden Blätter der Bäume, die sich über der Straße türmen, wehen kunterbunt durcheinander. Einzelne Bauernhöfe zeichnen sich über der weiträumigen Landschaft und lassen die Felder nicht mehr so einsam aussehen. Trotz alldem herrscht die Vegetation über den Menschen. Hier blüht auf einem Kubikmillimeter Wiese wahrscheinlich mehr, als es Einwohner gibt.
Mein Kopf fängt langsam an innerlich zu gefrieren. Ganz schön kalt für die Jahreszeit. Ich stecke meinen Kopf wieder in das Gefährt und lasse das Fenster nur noch ein Stück weit offen. Ein bisschen frische Luft sollte den zwei Griesgrämigen da vorne auch nicht schaden. Keiner von meinen Eltern hat bis jetzt auch nur ein Wort mit mir gewechselt. Das könnte entweder daran liegen, dass die Landluft zu sehr stinkt, um beim Sprechen noch mehr einatmen zu müssen oder es liegt an dem Streit von gestern Abend. Meinem Instinkt folgend würde ich auf das zweite tippen. Aber sind wir doch mal ehrlich, wer regt sich bitte nicht auf, wenn man nur noch als Putzfrau im Haus wohnt. Ich bin 17 und kann wohl selber darüber bestimmen, wann ich meiner Mutter helfen will.
Ich werfe einen kurzen Blick nach vorne, um sicherzugehen, dass keiner der beiden ganz zufällig eine Betäubungsspritze in der Hand hält, um mich einzuschläfern. Wie absurd. Natürlich ist das nicht der Fall.
Mittlerweile rattern wir schon durch eine kleinere Siedlung. Die in allen Farben erstrahlenden Häuserreihen lassen einen auf ein harmonisches Zusammenleben von Menschen und ihrer Kultur schließen, wobei ich dies nicht zu hundert Prozent sagen kann. Wenn ich jemals von zuhause ausziehen sollte, war ich mir aber im Voraus sicher: Hier würde ich niemals leben wollen!
Ich wende den Blick von den vielen vorbeiziehenden Häusern ab. Die Farben machen mich ganz kirre. Stattdessen überlege ich mir, wie lange wir jetzt noch fahren, denn soweit ich mich erinnern kann, dauert es noch länger, bis wir ankommen. Die Langeweile scheint mich fast zu zerreißen und auch das Schweigen setzt mir zu. Solange ohne jegliche Wortwechsel bin ich nicht gewohnt, meine Art beschränkt sich nämlich auf gerne reden und viel noch dazu, weshalb ich gewagt die ewig anhaltende Stille breche: „Wann sind wir endlich da?“.
Niemand fühlt sich angesprochen. Toll. Vielen Dank auch... Da sagt man zu mir immer, ich würde mich wie ein kleines Kind aufführen, wenn ich eine Schmolllippe ziehe, aber wenn sie einen selber ignorieren, dann ist das natürlich ein vollkommenes Erwachsenenverhalten. Die Logik muss keiner verstehen...
Lange 2 Stunden später bremst mein Vater den PKW ab und steigt wie auch meine Mutter aus. Ich bleibe vorerst im Auto sitzen, um meiner Oma nicht gleich in die Arme zu laufen. Mein Vater öffnet den Kofferraum und hebt seinen und den meiner Mutter aus dem Stauraum. Meinen übersieht er natürlich vollkommen. Doofe Eltern. Während sie sich auf den Weg nach drinnen machen, schaue ich mir nochmal alles ein bisschen genauer an. Das Haus meiner Großeltern ist schon uralt und genau so sieht es auch aus. Es ist riesig und mit Kletterpflanzen umsäumt. Nur vereinzelt lugt ein bröckelnder Stein der Fassade hervor. Wie man sich hier wohlfühlen kann, ohne Angst zu haben, dass sich im Keller Unmengen von Ratten aufhalten ist mir schleierhaft. Meiner Oma scheint es jedenfalls zu gefallen. Alte Leute eben, die wollen es immer abstrakt und einzigartig. Ich öffne die Autotür und setze erst einen Fuß auf den Kiesweg, der direkt auf die Treppe zur Haustür hinauf führt. Meine Blasen an den Fersen lassen mich aufstöhnen. Das tut vielleicht weh, hätte ich mich doch nur nicht in diese viel zu kleinen Ballerina gequetscht. Das hab ich jetzt davon, Blasen. So gut es geht den Schmerz zu ignorieren, schwinge ich mich, wie Tarzan aus dem Auto. Plötzlich bricht der Himmel in sich zusammen. Ein ohrenbetäubender Donnergroll zieht sich über die gesamte Umgebung. Ich presse meine Hände auf meine Ohren, um nicht ganz taub zu werden.
In diesem Moment wird mir klar, dass wenn ich nicht ganz schnell zusehe, dass ich in das Haus komme, aussehen werde wie ein bewässerter Neandertaler. Jetzt ist mir so ziemlich alles egal. Egal ob mich meine Oma mit ihrem roten Lippenstift das Gesicht durch Küsschen zukleistert oder sie mich mit ihren Umarmungen erstickt. Denn jetzt zählt nur noch so trocken wie möglich in das Steingebäude zu kommen. Ich knalle die Tür zu, renne um das Auto, um gleich danach meinen Koffer umständlich heraus zu heben.
Mein Körper verflucht mich, für die überflüssige Kleidung, die das Gepäck nicht gerade leichter machen. Mit beiden Händen versuchend den peinlichen Hello Kitty Koffer nicht fallen zu lassen, watscheln meine Beine Richtung Haustür. So ungeschickt wie ich bin verheddert sich ein Faden von meinem etwas zu kalten Kleid in den Rollen und bringt mich zum Sturz. Meine Knie treffen zuerst auf den harten Kies, dicht gefolgt von den Händen. Den Aufschrei muss ich mit Gewalt in meinem Innersten halten. Das nenne ich mal einen Schmerz. Autsch. Schnell hat sich mein Körper wieder unter Kontrolle. Meine Beine richten sich auf, doch lange kann ich mich nicht ausruhen, denn ein erneutes Donnern kündigt den Regenschauer an. Mist. Ich kann nur noch humpelnd auf die Tür zusteuern und beten, dass ich nicht nochmal hinfalle.
Wenigstens hat Gott dieses Gebet erhört. Doch das mit dem nicht nass werden muss ich ihm nochmal genauer erklären, denn sobald ich oben angekommen bin, fängt es mit einem Dusch zum regnen an. Jeder einzelne Tropfen kommt mir vor, wie ein ganzes Glas Wasser. Mein schönes neues Kleid saugt die Nässe in sich auf und lastet schwer auf meinen Schultern. Verärgert drücke ich die Klingel. ‚RING RING‘ ertönt von Drinnen. Gleich danach wird die Tür aufgerissen, doch wie erwartet ist es nicht einer meiner Großeltern, nein. Zu meinem Pech ist es kein anderer als mein Cousin.
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2014
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