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Kapitel 3
Eine Stunde später.



Das Lüftchen hat sich gelegt und die Sonne zeigt sich nun von ihrer besten Seite. Der Tatort am Ufer ist bereits weiträumig bis zur Wiesenhälfte abgesperrt, als Ober- kommissarin Schrader mit dem Dienstopel eintrifft. Schnell öffnet sie die Wagentür und ist Sekunden später unterwegs unweit des rot-weißen Absperrbandes. Ein Beamter in Uniform beäugt ihr Kommen und ist sich wohl nicht so ganz sicher, ob diese Frau hierhin gehört.
„Sie können nicht weiter!“, schreit er vermutlich deshalb von weitem der Herannahenden entgegen. Ihr Outfit scheint für einen Betrachter weniger diensttauglich zu sein, denn sie stöckelt in Absatzschuhen den lockeren Trampelpfad entlang. Und ihr quittengelbes Kostüm ist optisch zwar ein Hingucker, jedoch als tatorttaugliche Dienstkleidung?
„Mordkommission Essen!“, ruft sie zurück und zückt dabei den Dienstausweis.
Das hat gesessen! Ohne weiter mit der Wimper zu zucken reagiert der Polizist und lässt Schrader wortlos passieren. Beamte der Spurensicherung sowie Gerichtsmediziner Professor Doktor Habius sind vor Ort. Das Opfer liegt zur Erstbeschau bereits am seichten Ufer und wird vom Pathologen begutachtet. Mit Schutzhandschuhen und weißem Kittel ausgestattet kniet Doktor Habius neben der Leiche. Die Ergebnisse seiner ersten Beobachtungen spricht der Rechtsmediziner auf ein Diktiergerät. Die Oberkommissarin nähert sich vorsichtig dem Platz des Geschehens.
„Hallo Doc, können Sie schon was sagen?“, grüßt sie und bleibt unmittelbar neben ihm stehen. Schraders Blick fällt auf den leblosen Körper im Dreck und will sich dort verbeißen. Selbst im Tod scheint die Frauenleiche mit dem Schmollmund noch zu lächeln, obwohl die verkrampfte Fingerstellung der rechten Hand eine andere Geschichte erzählt. Spärlich bekleidet, das blonde Haar wirr durch- einander und überall mit Kratzspuren gezeichnet bietet die Leiche dem Betrachter kein wirklich schönes Bild. Wie die Frau ums Leben kam ist wohl kein Geheimnis, denn ein Einschussloch direkt oberhalb des linken Busens beant- wortet wortlos diese Frage.
„Einen kleinen Moment noch“, äußert der Professor einen Augenblick später und holt so die Oberkommissarin aus ihren Gedankensprüngen.
Schrader scheint erschrocken, denn unwillkürlich zuckt sie zusammen und macht unvermittelt einen Schritt auf den Mediziner zu. Sieht ihm dann stumm von oben herab zu und verschiebt dabei die Mundwinkel leicht nach unten. Dieser Gesichtsausdruck lässt nichts Gutes ahnen. Und so kommt es dann auch.
„Ja gut, dann wende ich mich erst der Spurensicherung zu“, äußert sie im schnippischen Ton und ist wohl ein- geschnappt der mangelnden Aufmerksamkeit wegen. Macht prompt kehrt und entfernt sich nun in Richtung Wiese. Doktor Habius jedoch hebt den Kopf. Sein Blick lässt mehr als Verwunderung des schnellen Abgangs wegen, erahnen. So ist es kein Wunder, dass er etwas ungehalten hinterher ruft: „In circa 10 Minuten, dann kann ich Ihnen nähere Angaben zum Todeszeitpunkt machen.“
Kaum gesagt wendet er sich murmelnd wieder dem Opfer zu. Diktiert erneut Beobachtungen der Leichenschau in sein Gerät und ist sichtlich ernsthafter bei der Sache als sonst.
Offensichtlich dauert die Wortübertragung gegen den Wind eine gewisse Zeit, denn erst viel später reagiert die Oberkommissarin auf die Zeitangabe. Abrupt macht sie Halt im Grün der Wiese und wendet sich noch einmal um.
„Okay, ich bin bei der Spurensicherung. Wenn Sie dann so weit sind, dann rufen Sie mich!“
Da aber keine Antwort kommt, stapft die Ermittlerin weiter durch Gräser und Dreckhügel. Etwas seltsam sieht ihr Bemühen der Fortbewegung schon aus, denn wild mit den Armen in der Luft rudernd sucht sie offensichtlich Gleichgewicht. Das Ziel ihres Weges scheint ein Beamter der Spurensicherung zu sein. Der in seinem weißen Schutzanzug wie ein entsprungener Labormitarbeiter aussieht, in gebückter Haltung jeden Grashalm genau beäugt und überhaupt für den Betrachter etwas scheu wirkt. Schon aus einiger Entfernung ruft sie dem Mann, der wohl näher bekannt ist, zu: „Friedhelm, habt Ihr was gefunden?“
Der Beamte nimmt unvermittelt eine kerzengerade Haltung an und sein Blick schweift in die Runde. Aber im nächsten Moment erspäht er die Ermittlerin in unmittelbarer Nähe und seine Gesichtsmimik hellt sich zusehends auf. Etwas außer Atem erreicht nun Schrader den Ort und steht bis an die Knöchel im hohen Gras versunken vor ihm.
„Grüß Dich Helene, bis jetzt sieht es nicht gut aus. Am Wasser konnten wir keine Spuren oder Fußabdrücke sicherstellen. Wir laufen nachher den Uferbereich in nördliche Richtung ab. Mal sehen, was sich ergibt. Viel Hoffnung habe ich aber nicht.“
Nachdenklich sieht Schrader in die Augen des Mannes und scheint nicht sonderlich erfreut. Der Zustand währt jedoch nicht lange, denn langsam wendet sie sich ab und lässt den Blick der Nachdenklichkeit über die Weiten der Flur schweifen.
„Du gehst also auch davon aus, dass der Fundort nicht der Tatort ist?“, fragt sie gegen den Himmel blickend. Friedhelm hat sie genau im Visier, zuckt jedoch mit den Schultern und erwidert: „Es scheint wohl so. Aber ich hoffe auf weiter nördlich, denn irgendwie muss die Frau ja ins Wasser gekommen sein.“
„Ja, stimmt. Sagst Du mir dann Bescheid?“
Der Mann im weißen Schutzanzug nickt kurz und hebt wie zur Bestätigung die rechte Hand: „Geht klar!“
Sie wendet ihren Blick nach unten und scheint etwas zu überlegen.
„Übrigens, wann habe ich den Bericht?“, kommt über ihre Lippen und ein schelmisches Grinsen ihrerseits dazu gibt der Situation eine Spur von Vertrautheit. Der Mann von der Spurensicherung wendet sich ab, streift in gebückter Haltung weiter auf der Wiese entlang und antwortet dazu: „Ach Helene, wir beide wissen genau, dass es schneller als drei Tage gar nicht geht.“
Die Oberkommissarin folgt ihm langsam, achtet wohl darauf, dass sie in seine Fußspuren tritt und gibt noch immer schmunzelnd zu: „Schon gut, versuchen kann man’s ja.“
Die Oberkommissarin lacht verhalten und hat scheinbar ihren Spaß dabei. Der Bekannte untersucht weiterhin akribisch jeden noch so kleinen Grashalm und kann sich wohl ihrer ansteckenden Heiterkeit nicht entziehen, denn sichtlich amüsiert um die Mundwinkel herum antwortet er ihr: „Manche Dinge änderst Du wohl nie.“
Schrader bleibt stehen, schaut erneut gegen den Himmel und erwidert begleitet von einem schwermütigen Seufzer: “Genau!“
Jetzt hält auch Friedhelm inne und blickt über die Weite der Wiese. Sein Blick bleibt jedoch in Wasserrnähe hängen.
„Ich glaube, der Doc ruft Dich.“
Wie auf Kommando wendet sich die Ermittlerin in die Richtung des Flusslaufes, hält eine Hand über die Augen- brauen und scheint dort die Rufe des Rechtsmediziners zu vernehmen.
„Ja ja, höre ich auch“, gibt sie kund.
Schrader wendet sich unvermittelt ihrem Bekannten zu und nickt. Dieser erkennt offensichtlich, dass sie gehen möchte und wiederholt vermutlich deshalb seine gemachte Ansage: „Also, wie gehabt, wir gehen dann in nördlicher Richtung weiter.“
Zu sagen gibt es für den Augenblick wohl nichts mehr und so lächelt sie Friedhelm mit einem leichten Kopfnicken an, bevor ihr Weg erneut über unzählige Grasbüschel führt. Noch ehe der Bekannte auch nur im Ansatz reagieren kann, stapft die junge Frau bereits mit ungelenken Schritten in Richtung Flussufer. Und so dauert es einige Zeit, ehe der Pathologe Professor Habius ihr gegenüber steht. Über Gebühr freundlich strahlt er sie an und äußert im sanften Ton: „ So, ich bin dann so weit.“
Schrader tut so, als sehe sie die funkelnden Augen des Mediziners nicht und wendet ihren Blick auf die Leiche. Ob sie noch immer etwas verschnupft ist wegen vorhin, weiß vermutlich nur der liebe Gott. Auf jeden Fall zeigen ihre Gesichtszüge keinerlei Regung. Nach einem Moment der stillen Betrachtung des Opfers holt sie jedoch tief Luft und setzt an: „Sie ist noch nicht so alt, wie ich sehe.“
Der Rechtsmediziner scheint sich wieder gefangen zu haben, denn er beugt sich über das Opfer. Die Ermittlerin tut es ihm gleich und gemeinsam betrachten sie das Gesicht der Toten.
„Nein, ich schätze auf den ersten Blick etwa Mitte zwanzig. Der Schuss erfolgte vermutlich aus geringer Distanz in die unmittelbare Herzgegend. Lange liegt sie noch nicht im Wasser. Aufgrund des geringen Verwesungsgrades würde ich sagen, dass es keine 12 Stunden her ist. Also, den Todeszeitpunkt lege ich vorläufig auf Samstag fest“, gibt der Mediziner an und sieht ihr direkt ins Gesicht.
Die Oberkommissarin ist augenscheinlich verlegen, denn eine leichte Röte erobert ihre Wangen. In ihrer ganz persönlichen Art jedoch versucht sie wohl die Situation zu überspielen und hakt im hörbar wertungsfreien Ton nach: „Kann man das bei Wasserleichen überhaupt so genau bestimmen?“
Wie auf ein geheimes Zeichen hin nehmen beide wieder eine gerade Haltung ein. Der Pathologe merkt offenbar ihre Verlegenheit, denn ein leicht verspieltes Grinsen umgarnt den schwungvollen Zwirbelbart. Der Zustand hält jedoch nicht all zu lange vor, denn fachmännisch folgt die Erklärung.
„Ja kann man, sehr geehrte Frau Kollegin. Die Wasser- temperatur beträgt circa vierzehn Grad und die durch- schnittliche Körpertemperatur eines Menschen liegt bei sechsunddreißig Komma fünf Grad. Wenn ich das gegeneinander aufrechne und mal der Kennzahl einer durchschnittlichen Verwesungsgesch…..“, er hört auf zu sprechen, da sie die ausgestreckten Hände gegen das liegende Opfer hält.
„Schon gut, so genau wollte ich es jetzt auch nicht wissen. Für mich ist nur wichtig, Samstag. Die ungefähre Uhrzeit?“
Der Pathologe hält sich jedoch plötzlich den Rücken und antwortet in einem etwas gequälten Ton: „Ja, so gegen Abend würde ich sagen. Genauere Angaben kann ich natürlich erst nach der Obduktion machen. Außerdem sehen Sie mal hier.“ Der Mediziner zeigt von oben mit dem Finger auf das Armgelenk der Leiche.
„Ist es das, für was ich es halte?“, fragt Schrader nach und sieht genauer hin. Doktor Habius runzelt die Stirn dazu.
„Ja, lauter Einstichstellen der Nadeln. Sehe ich auf den ersten Blick, dass die junge Dame drogenabhängig war“, Habius hält inne und bückt sich etwas umständlich zur Leiche hinab. Hebt nun sacht ein Bein der toten Frau an und erklärt weiter: „Und hier, die Fußsohle ist übersät mit Abschürfungen. Der andere Fuß nicht!“
Schrader beobachtet die Prozedur des Mediziners von oben. Wortlos nimmt sie die Informationen des Mannes auf und für einen Betrachter der Szene stellt sich unwillkürlich die Frage: Kann sie etwas damit anfangen?
Habius scheint sich das ebenfalls zu fragen, denn sekundenlang hält er das Bein in den Händen und blickt verstohlen auf den leblosen Körper. Als jedoch keinerlei Reaktion in der Luft liegt reagiert er. Unvermittelt legt der Mann das Bein vorsichtig in die Ausgangsposition zurück und erhebt sich mit nachdenklicher Miene. Die Arme baumeln seitlich am weißen Kittel herab. Und es macht ganz den Anschein, als sei er enttäuscht der ausblei- benden Frage wegen.
„Wie kommt das denn?“, kommt nun von ihr und löst so den bedrückenden Knoten des sich Anschweigens. Einem Befreiungsschlag gleich muss dem Rechtsmediziner die wohl ersehnte Fragestellung vorkommen, denn nun ist der Mann sichtlich sofort wieder in seinem Element. Einen Schritt rückwärts gehend legt er los: „Ganz einfach, das Opfer hatte vermutlich nur einen Schuh auf der Flucht an. Sehen Sie! Die andere Sohle ist kaum beansprucht.“
Zeigt mit der rechten Hand von oben auf die Füße des Opfers. Schrader begibt sich vorsichtig an das Fußende der Leiche und kneift im Bücken die Augen zusammen. Es ist zu vermuten, dass die Ermittlerin kein noch so kleines Detail übersehen möchte und deshalb in dieser Position verharrt. Wie dem auch sei, sie hat damit beim Professor wohl erneut gepunktet.
„Ist ja kurios oder?“, fragt sie.
Der Mediziner nickt freudigen Blickes und zeigt augen- blicklich auf die Arme der Frau.
„Außerdem sind hier an beiden Armgelenken Hämatome zu sehen. Vermutlich von einem Strick, oder ähnlichem.“
Sie lässt ihren Blick von den Füßen bis hoch zum Hals schweifen.
„Was ist denn mit dem Hals passiert?“
Der Pathologe kommt näher und bückt sich tief zum Opfer hinab. Mir der linken Hand schiebt er den Kopf etwas zur Seite und beäugt intensiv die dortigen Wundmale.
„Was Sie hier sehen, sind typische Merkmale von Strangu- lationen. Es muss schon länger her sein, denn sie sind doch schon recht verblasst. Vielleicht ist die Frau öfter gequält worden“, erklärt der Rechtsmediziner und lässt umgehend von der Leiche ab und erhebt sich mit einem schweren Seufzer. Die Oberkommissarin jedoch schreckt augen- blicklich zurück und ihr Gesichtsausdruck lässt erahnen, wie geschockt sie ist. Wie von selbst kommen die fol- genden Worte über ihre Lippen: „Mein Gott, wie grausam!“
Es vergehen einige Augenblicke des Schweigens und eine bedrückende Nachhaltigkeit will sich breit machen. Aber genau in diesem Moment hat sich die Ermittlerin offen- sichtlich wieder gefangen, denn recht sachlich kommt über ihre Lippen: „Ist sie gejagt worden wie ein Hase oder doch ersäuft?“
Habius streift die weißen Schutzhandschuhe ab, dreht sich unvermittelt weg und verstaut sie in ein vermutlich extra mitgebrachtes Plastiktütchen. Während die Utensilien in der braunen Ledertasche verschwinden antwortet er ihr: „Ob sie ertrunken ist oder schon tot war, sehen wir morgen im Institut. Ich vermute, die Frau hat nur wenig Wasser in der Lunge.“
Schrader nickt und scheint die Information gelassen hinzunehmen, denn ohne Gemütsregung im Gesicht hakt sie nach: „Wann kann ich mit Ihrem Bericht rechnen?“
Die Antwort lässt einen Augenblick auf sich warten, denn der Mediziner ist mit dem Verstauen seiner Utensilien beschäftigt.
„Tja, ich habe noch einen Mann morgen Vormittag, aber ab dem späten Nachmittag könnte es klappen. Das bedeutet, dass Sie den Bericht frühestens in zwei, drei Tagen haben“, äußert der Professor dann doch und schließt schnell die Tasche, gerade als ob er auf der Flucht sei. Schrader beäugt sein Treiben mit verwunderter Miene. Warum es der Mann plötzlich so eilig hat, bleibt wohl sein Geheimnis, denn ohne näher darauf einzugehen stöckelt Schrader zwei Schritte in seine Richtung.
„Macht doch sicherlich Sinn, wenn ich morgen Nachmittag zu Ihnen in die Pathologie komme. Bei der Obduktion kann ich doch anwesend sein oder?“, fragt sie und lächelt ihm verschmitzt zu.
„Natürlich, sehr gerne!Sie wissen doch, dass mir Ihre Nähe stets willkommen ist“, erwidert der Pathologe. Er ist fertig mit dem Einräumen seiner Tasche und steht abmarsch- bereit ihr gegenüber.
„So gegen fünf wäre gut“, sagt er noch und macht sich im selben Moment daran den Tatort zügig zu verlassen. Zurück bleibt eine recht nachdenkliche Ermittlerin.
„Der wird auch immer komischer“, fährt es ihr über die Lippen. Danach läuft das Programm an jenem Ort in gewohnter Folge ab. Bestatter transportieren die Leiche ab, die Spurensicherung zieht ebenfalls von dannen und Schrader selbst ist wohl auch mit der genauen Sichtung des Uferstreifens fertig. Das Absperrband wird von den wachhabenden Polizisten eingerollt und nur einige Zeit später kehrt wieder Ruhe ein.
Der Fluss singt weiter sein Lied, das Grün der Wiese spiegelt sich unschuldig im Glanz der Sonne und die Welt dreht sich unverdrossen weiter.


Kapitel 4



Es ist Montag, neun Uhr, als Oberkommissarin Schrader ihr Büro im Erdgeschoss des Dezernats betritt. Die morgend- liche Sonne blinzelt verstohlen in die Fenster und taucht das Ambiente einer sachlichen Amtsstube in einen Hauch von Gemütlichkeit. Ein kurzer Blick auf die goldene Armbanduhr, ein schnelles Nicken und schon eilt sie mit vollem Schwung auf ihren Schreibtisch zu. Lässig wirft die Frau im grünen Kostüm ihre Lederhandtasche auf den Schreibtisch und holt erst mal tief Luft. Krämer ist bereits da und steht wie angewurzelt am Fenster. Er hat seine Kollegin scheinbar noch nicht bemerkt, da er ungestört mit den Blättern der Topfpflanzen weiter spricht: „Deine Poren lassen genügend Licht hinein. Warum bist Du so knickrig? Nur drei Knospen. Das geht nicht.“
Voller Inbrunst wischt der Mann mit einem zarten Tuch über die Blätter. Die Oberkommissarin be­obachtet ihn eine Weile stumm und lächelte dabei ironisch vor sich hin.
„Na Holger, schon wieder im Zwiegespräch mit der Natur?“, fragt sie dann doch und kramt dabei hektisch in ihrer Tasche. Erst jetzt scheint Krämer seine Kollegin zu bemerken, denn mit erschrockener Miene wendet er sich um. Lächelt dann jedoch und macht dabei ein ver- zücktes Gesicht, denn offensichtlich hat er gute Laune.
„Guten Morgen Helene! Ja, was sonst!“, gibt er zurück. Schrader scheint gefunden zu haben, was sie gesuchte. In ihrer Hand hält sie ein silbernes Handy, klappt es auf und liest sichtlich aufmerksam eine Nachricht darauf. Erst danach betrachtet sie den Kommissar im braunen Anzug mit lustigem Augenzwinkern.
„Verstehen die Blumen Dich denn wenigstens? Wieso bist Du überhaupt schon da?“
Krämer wendet sich wieder den Blumen zu, legt das Läppchen zur Seite und fummelt irgendwas an einer Blüte der mittigen Pflanze. Mit verzückt, verklärten Augen betrachtet er seine Lieblinge durch die schwarze Horn- brille und erwidert im sanften, ja schon anbetenden Ton: „Selbstverständlich spüren die Pflanzen meine intime Nähe und verstehen mich.“
Die Oberkommissarin ist fertig mit Lesen, denn sie klappt das Handy zu und wirft das Telefon unsanft auf ihren Platz. Ihr Tun zeugt von miesepetriger Laune und es bleibt zu vermuten, dass sie heute mit dem linken Bein aufgestanden ist. Nichtsdestotrotz zieht sie die Jacke schwungvoll aus und wirft diese unsanft über die Stuhllehne.
„Na, wenigstens die Blumen!“, pöbelt die Schrader und lässt sich dabei schwungvoll auf den Metallstuhl fallen. Ihre miese Laune bleibt nicht unbemerkt und so ist es kein Wunder, dass Krämer sofort reagiert. Er wendet sich langsam seiner Kollegin zu und rückt gleichzeitig etwas verlegen die Brille auf der Nase zurecht. Der Kommissar scheint unsicher zu sein, denn mit angespanntem Gesichtsausdruck hinterfragt er wenig später: „Warum so missgelaunt heute? Habe ich Dir was getan? Bin sowieso schon bedient. Ich musste heute Morgen, sieben Uhr, mit dem blöden Opel in die Werkstatt. Nichts ging mehr! Das musst Du Dir mal vorstellen, mitten in der Nacht!“
Krämer scheint auf eine Antwort zu warten und hält in seinen Bewegungen inne. Schrader jedoch atmet tief durch, stellt ihre Tasche neben sich auf den Boden und wendet ihren Blick umgehend den drei Akten auf dem Tisch zu. Krämer beobachtet seine Kollegin immer noch und sie scheint es zu spüren. Leicht hebt die Ermittlerin ihren Kopf, sieht den Kommissar genervt an und gibt dann zum besten: „In der Nacht ist es nicht, aber zugegeben etwas früh. Lass mich ein bisschen in Ruhe.“
Der Ermittler zuckt daraufhin mit den Schultern und macht ein eingeschnapptes Gesicht, denn offensichtlich ist er mit dieser Antwort nicht zufrieden und wendet sich still wieder der Blumenpracht zu. Behutsam kontrolliert der Mann die Feuchtigkeit der Erde und hat augenscheinlich nur noch Interesse am Ergebnis im Fensterbrett. Wer den Kommissar jedoch kennt, weiß, dass dieser in solchen Momenten auf Hochtouren nachdenkt und sich bestimmt nicht mit allgemeinen Phrasen abspeisen lässt. Aber vorerst herrscht Ruhe.
Schrader beugt sich erneut über die Akten auf ihrem Schreibtisch und scheint sich zu vertiefen. Offensichtlich kann sie gleichzeitig lesen und sprechen, denn unvermittelt äußert sie leise: „Irgendwie hast Du den grünen Daumen. Als Gärtner wärst Du bestimmt unschlagbar. Du solltest über Deine Berufswahl noch einmal nachdenken. Hier ist ein Büro und es wäre schön, wenn Du das akzeptierst.“
Der Kommissar jedoch antwortet nicht, sondern nimmt die kleine grüne Gießkanne vom Fensterbrett. Er schüttelt den Kopf und bewegt sich ohne ein Wort auf das Waschbecken in der Büroecke zu. Ob er die Worte seiner Chefin nicht gehört hat oder sie dezent ignoriert, bleibt im Moment unklar. Auf jeden Fall scheint er es vorzuziehen kein Öl in die Flamme der Reizbarkeit zu gießen. Die Oberkom- missarin kann offensichtlich so viel gleichgültigen Ungehorsam ihres unterstellten Kollegen gar nicht verstehen, denn verdutzt folgen ihre Augen ihm hinterher. Der schlaksige Mann in den Fünfzigern füllt vermutlich betont langsam die Gießkanne. Trocknet den Kannenboden danach mit dem seitlich hängenden Handbuch ab und geht sichtlich besonders bedächtigen Schrittes zurück ans Fenster. Dort angekommen be- trachtet er mit liebevoller und sanfter Miene seine Gewächse.
„Sind meine Chrysanthemen nicht hübsch?“, hinterfragt der Mann im sanften leichten Ton und scheint äußerlich komplett gefangen in seiner Welt. Krämer zeigt mit der Hand auf die Blumen rechts außen und macht ein verzücktes Gesicht dabei. Schrader jedoch nickt und lächelt nur kurz. Danach hebt sie die Augenbrauen und erwidert im entschiedenen Ton: „Ja, sehr schön. Bloß Holger, hier ist ein Büro der Mordkommission und kein botanischer Garten. Schleppe bloß nicht noch mehr von dem Zeug an!“
Die Ermittlerin holt einige neue Akten aus der Schublade rechts oben und Krämer geht wie angeordnet endlich an seinen Schreibtisch. Er setzt sich entspannt, in lockere Haltung auf seinen Stuhl und äußert mit etwas unter- schwelligem Ton: „Ich weiß nicht, was Du hast! Die Pflanzen sind gut für die Nerven und das Grün ist außerdem gut für die Augen.“
Sie sieht ohne Kommentar auf ihren Tisch und öffnete den ersten Aktendeckel. Und vertieft sich augenscheinlich in den ersten Text. Der Kommissar hingegen sieht verzückt an die Zimmerdecke und schlägt dazu ein Bein über das andere.
„Hast Du gehört, was ich gesagt habe?“, fragt er.
Schrader nickte langsam mit dem Kopf und liest jedoch stumm weiter. Der Ermittler blickt seine Kollegin ungläubig an, setzt sich unverzüglich gerade hin und macht zum wiederholten Mal ein beleidigtes Gesicht.
„Schon gut, ich bin gar nicht da“, äußert er leise und ein unterschwelliger Ton purzelt an ihr Ohr.
Die Wirkung der leiseren Worte bleibt nicht aus, denn sie sieht von den Akten unverblümt hoch und erwidert im sanften Ton: „So viel Gutes erschlägt mich Holger. Also, nicht noch mehr Pflanzen, bitte!“
Der skurrile Kommissar erhebt sich und läuft sichtlich bedächtig zum Kaffeeautomaten. Dort angekommen nimmt er eine Tasse in die Hand und dreht sich zur Schrader um: „Gegen Schnittblumen wirst Du nichts haben oder?“
Die Oberkommissarin sieht ihren Kollegen prompt fragend an und zuckt mit den Schultern.
„Willst Du mir einen Strauß Blumen schenken oder was?“ fragt sie und scheint bei der Vorstellung amüsiert zu sein. Aber Krämer wendet sich erneut dem Kaffeeautomaten zu und füllt Kaffee sowie etwas Milch in die Tasse. Danach läuft er, mit dem Kaffee in der Hand, an seinen Schreib- tisch. Sein Blick ist auf die Tasse gerichtet, obwohl er spricht beim Gehen: „Ne, aber im Frühjahr Narzissen als Wasserkultur setzen.“
Schrader schüttelt sogleich ihren Kopf und wehrt mit der linken Hand dazu heftig winkend ab. Und es ist unschwer zu erkennen, dass jedes weitere Wort sinnlos ist. Der Kommissar hingegen ist am Ziel angekommen und stellt die Tasse auf den Tisch.
„Kommt gar nicht in Frage. Wasserkulturen will ich hier bestimmt nicht“, gibt die Ermittlerin kund. Ist vermutlich am Ende ihres Geduldsfaden angekommen, denn vehement wehrt sie weiter mit der Hand ab. Krämer holt ein Papier- taschentuch aus seiner Hosentasche und wischt eine kleine Pfütze vom Schreibtisch weg, denn er hat doch verschüttet.
„Mist! Ich habe zu viel Kaffee darin gehabt.“
Der Kommissar blickt seine Kollegin erbost an und säubert im selben Moment den feuchten Tassenboden. Und mit eingeschnapptem Unterton erwidert er: „Wieso? Sieht doch wunderschön aus. Wir reden im Frühjahr bestimmt noch einmal darüber.“ Und fügt wohl als Ablenkungsmanöver wenig später hinzu: „Was macht eigentlich Deine Tochter Michele?“
Die Oberkommissarin erhebt sich stöhnend und holt eine Coladose aus dem Kühlschrank in der hinteren Ecke des geräumigen Büros. Sie spricht gleichzeitig während sie läuft und Krämer folgt ihr blicktechnisch gespannt hinterher: „Danke der Nachfrage. Michele geht es gut. Heute hat sie so eine Art Sportfest in der Schule.“
Sie stöckelt nun wieder zurück an ihren Platz. Kollege Krämer stellt die Tasse hin und winkt mit der Hand ab, bevor er von sich gibt: „Ach, den Quatsch hatte ich früher auch.“
Die Oberkommissarin nimmt eine lockere Sitzhaltung auf dem Stuhl ein und behält ihre Cola in der Hand. Das Ablenkungsgespräch ihres Kollegen zeigt erste Erfolge, denn zusehends wird Schrader ruhiger. Sie nimmt sich Zeit mit der Antwort und erst nach einigen Zügen aus der Dose geht es weiter: „Die große Sportlerin wird meine Süße vermutlich nicht, aber etwas Bewegung kann ja nicht schaden.“
Der Kommissar indessen hat seine Kollegin genau fixiert und grinst genüsslich vor sich hin, als er betont locker anmerkt: „Zu viel Bewegung ist ungesund. Sage ich immer wieder!“
Und fügt einige Sekunden später scherzhaft hinzu, „Was hast Du heute wieder für Schuhe an? Ein Wunder, dass Du überhaupt laufen kannst in den hochhackigen Dingern!“
Danach rückt der Mann seine Brille zurecht und sieht verschmitzt nach unten. Sie hingegen trinkt weiter an ihrem Getränk, sieht Krämer über den Dosenrand dabei an. Kritik oder die Witzeleien ihres Kollegen scheint die Frau an diesem Tag nicht wirklich vertragen zu können, denn im sachlichen Ton fliegt durch die Luft: „Überhaupt bewegen wollen. Überhaupt! Wir bewegen uns jetzt auch und zwar gedanklich.“
Was nun folgt, kann man getrost als typisch Krämer bezeichnen. Der Ermittler nimmt seine schwarze Aktentasche vom Boden und holt nicht etwa Akten aus ihr heraus, sondern seine Frühstücksbrote. Er lehnt sich auf seinen Stuhl zurück und antwortet: „Ok. Leg los!“
Im nächsten Augenblick wickelt er die Salamibrote aus und beißt ungeniert herzhaft ab. Offenbar wartet er auf entsprechende Informationen, denn kauend starrt er nun zur Kollegin hinüber. Diese jedoch öffnet einen Akten- deckel und betrachtet die Bilder der Leiche darin. Doch dann: „Am Sonntagmorgen war Einsatz in Bochum. Eine Wasserleiche mit blonden Haaren und nicht viel an.“
Der Kommissar nickt und trinkt erneut aus seiner Tasse. Wie selbstverständlich blickt er auf den Bildschirm des Computers und beißt gleichzeitig vom Brot ab. Und als wenn das noch nicht genug wäre, spricht der Kommissar auch noch mit vollem Mund seine Chefin an: „Da war der Sonntag wieder gelaufen was?“
Aber Schrader scheint die mangelnden Umgangsformen des Kollegen zu ignorieren, denn nickend und ohne ein Wort der Maßregelung holt sie ihre Tasche hoch, öffnet diese mit gekonntem Griff und fummelt einen kleinen Schminkbeutel heraus.
„Das kannst Du laut sagen. Doc Habius hat die Erstbeschau der Leiche gemacht. Es war kein wirklich schöner Anblick. So ein junges Leben und schon zu Ende“, erklärt sie dabei.
Steht plötzlich auf und bewegt sich zügig zum Wasch- becken. Krämer folgt ihr wie gewohnt mit den Augen und kann es wohl nicht lassen seiner Chefin witzelnd hinterher zu rufen: „Ach, der Habius! Er hat Dich wieder angegafft und war dann ganz gut drauf, was?“
Schrader holt einen Kamm aus dem Schminkbeutel und bringt ihre dunkelbraunen Locken in Form. Sie betrachtet sich im Spiegel und nickt sichtlich zufrieden. Der Kommissar grinst dazu und äfft sie dann nach. Ob sie die Grimassen ihres Kollegen überhaupt sieht bleibt im Dunkel der vermutlich gespielten Nachsicht.
„Hör auf mit dem Quatsch. Der Doc hat nur seine Arbeit gemacht!“, kontert sie.
Steckt den Kamm zurück in das Täschchen, holt einen Lippenstift heraus und zieht damit die Lippen nach. Krämer jedoch steht auf und bewegt sich direkt zu ihr und beugt seinen Oberkörper in Richtung ihres Kopfes. Mit etwas leiser unterschwelliger Stimme flüstert er ihr ins Ohr: „Mehr traue ich dem Leichenfledderer auch nicht zu.“
Der Kommissar dreht seinen Kopf weg und grinst sie im Spiegelbild frech an. Die Ermittlerin jedoch bleibt mit dem Lippenstift in der Hand ruhig stehen und sieht ihn ernst an.
„Kann ich weitermachen?“ fragt sie.
Krämer nickt, dreht sich augenblicklich weg und geht an seinen Schreibtisch zurück. Er bleibt im ersten Augen- blick dahinter stehen und sieht grinsend nach unten. Als er sich wieder eingekriegt hat, beißt er erneut vom Brot ab und lässt sich auf den Stuhl fallen. Schrader hingegen steckt den Lippenstift ein und stöckelt zügig an ihren Arbeitsplatz. Sie verstaut das Utensil in der Tasche und stellt diese wieder auf den Boden neben sich. Jetzt scheint das Tagewerk endlich los zu gehen, denn unver- mittelt öffnet sie eine Akte mit der Aufschrift: Tatort Bochum- Ruhr.
„Also, von vorne erschossen. Ein Einschuss oberhalb des Herzens. Der Todeszeitpunkt lag vermutlich auf Samstag. Das Perverse, die junge Frau war nur mit schwarzen Minirock und rotem Büstenhalter bekleidet.“
Krämer horcht auf, erhebt sich plötzlich blitzschnell und ist mit nur drei Schritten an ihrem Schreibtisch. Er bleibt davor stehen und versucht kopfüber in der Akte zu lesen. Schrader blättert um und holt ein Bild des Opfers hervor.
„Zeig mal die scharfe Blondine!“, fordert der Kommissar und nimmt ihr schnell das besagte Bild aus der Hand.
„Mein Gott, wie schade! Sie war wirklich schön und noch so jung! Was hat der Doc gesagt, wie alt sie war?“, hinterfragt der Ermittler und es hat in diesem Augenblick den Anschein, als wolle der Mann gleich los heulen. Ganz ruhig betrachtet er das Bild und erste Kullertränen suchen ihren Weg über das ernste Männergesicht. Schrader möchte wohl nicht weiter auf den Gefühlsausbruch ihres Kollegen reagieren, denn sie blättert weiter in der Akte.
„Bei der Erstbeschau hat Doktor Habius das Alter auf etwa Mitte zwanzig geschätzt“, sagt sie.
Krämer betrachtet das Bild immer noch. Nach einigen Sekunden stellt sich der Kommissar jedoch gerade hin, hebt sogleich die Augenbrauen und rückt die Brille auf der Nase zurecht.
„Mm, ich sehe im Computer nach, ob wir sie finden.“
Die Oberkommissarin jedoch liest stumm weiter.
Krämer macht ohne Umschweife kehrt und bewegt sich flugs auf seinen Computer zu. Mit größter Hingabe und Neugier scannt er das Foto der Frau ein und verharrt nur Sekunden später wie eine Salzsäule erstarrt.
„Ach Du dickes Ei!“ ruft er plötzlich.
Schrader schreckt hoch, sieht ihren Kollegen mit großen, Augen an und fragt: „Was denn? Ist sie bekannt?“
Der Kommissar nickt und zeigt mit der rechten Hand an, dass die Ermittlerin noch warten soll. Er scheint etwas zu lesen.
„Und?“hakt Schrader einige Sekunden später ungeduldig nach. Krämer macht große Augen und scheint nicht glauben zu wollen, was er gerade liest. Langsam führt er den Zeigefinger auf dem Bildschirm des PC entlang.
„Ich lese hier, dass die Frau mehrfach gegen das Be- täubungsmittelgesetz verstoßen hat. Außerdem gab es mal eine Anzeige wegen Diebstahl. Aber nur eine Kleinigkeit. Das mit den Drogen ist wohl schwerwiegender gewesen. Name Bettina Kalmen, wohnhaft Westring 121 in Essen. Moment, hier sehe ich das Alter. Sie ist gerade 23 gewesen.“
Die Oberkommissarin erhebt sich und bewegt sich danach schnellen Schrittes zu ihrem Kollegen hinüber. Die Spannung des neuen Falls hat wohl die beiden Ermittler gepackt, denn gemeinsam stehen sie am PC und suchen intensiv weiter.
„Hier! Die Bettina muss ein Kind gehabt haben. Wenn ich recht sehe, ist es zwei Jahre alt“, liest der Kommissar vor. Und merkt nach einer Kunstpause weiter an: „Was? Ach so, wohnhaft bei den Eltern des Opfers!“
Schrader ist gespannt wie ein Flitzebogen, denn sie nimmt von Krämers Schreibtisch einen Bleistift und knabbert nachdenklich darauf herum. Der Kollege wendet sich ihr zu, nimmt ihr den Stift aus ihrer Hand und wirft ihn wortlos, kopfschüttelnd auf den Tisch. Schrader ist sichtlich erschrocken. Aber nichtsdestotrotz wenden sich beide Kommissare wieder dem Bild auf dem Monitor zu und suchen weiter.
„Moment Mal, hier ist die entsprechende Eintragung vom Jugendamt“, zischt Krämer leise und liest weiter. Sie hingegen beugt sich so weit zum Bildschirm vor, dass ihre Nase fast anstößt.
„Steinstraße Vier, in Essen lese ich hier. Herbert und Eilfriede Kalmen, beide Rentner“, merkt Schra­der an und liest wortlos weiter. Ihr Kollege hingegen lehnt sich zurück, sieht an die Decke und überlegt offensichtlich ernsthaft.
„Ist das denn möglich? Wenn die Leute heute schon Rentner sind, dass diese noch eine Tochter von 23 Jahren haben?“,fragt er.
Die Oberkommissarin wiegelt mit dem Kopf. Er blickt seiner Kollegin direkt fragend ins Gesicht. Schließlich zuckt Schrader leicht mit den Schultern und antwortet: „Warum nicht! Es gibt noch mehr Paare, die erst sehr spät Nach- zügler bekommen.“
Der Kommissar scheint zufrieden, denn er nickt ver- ständnisvoll und zündet sich dann in aller Ruhe eine Zigarette aus der hellblauen Schachtel an. Geht einen Schritt seitlich weg und nimmt einen kräftigen Zug. Den ausströmenden Rauch versucht der Mann als Kringel in die Luft zu blasen. Schrader sieht ihn ungläubig an und wedelt mit der linken Hand frische Luft um ihre Nase. Nach zwei, drei Zügen wendet sich Krämer jedoch wieder seiner Kollegin zu und äußert im aufmuntern­den Ton: „Na, wenigstens Etwas. Wir wissen, wie sie heißt, wo sie wohnt und dass es ein Kind bei den Großeltern gibt. Ist doch schon eine ganze Menge. Cool, was?“
Sie dreht ab und geht langsam in die Raummitte. Dort sind ihre Hände schnell in die Hüfte gestemmt und eine nachdenkliche Miene aufgesetzt. Der Kommissar folgt ihr mit den Augen und schaut recht verwundert über seine schwarze Hornbrille. Wie zwei Ölgötzen verbleiben beide so.
„Wir machen uns sofort auf den Weg. Du gehst zu den Eltern und überbringst die Todesnachricht. Bei dieser Gelegenheit sieh Dir bitte einmal das Kind an. Ich fange mit dem Besuch bei Dr. Habius in der Pathologie an. Ist das ok für Dich?“, schießt es wie ein Wasserfall aus Schraders Mund. Krämer zuckt unvermittelt zusammen. Offensichtlich ist er so erschrocken, dass ihm die Kippe spontan aus der Hand fällt. Eiligst nimmt der Kommissar das dampfende Stück wieder auf und versucht mit dem Handrücken die Asche unbemerkt auf den Boden zu wischen.Danach geht er mit der Zigarette in der Hand zu seiner Kollegin. Beide sehen sich direkt an. Der Kommissar zuckt leicht mit den Schultern und bemerkt dazu: „Ist es nicht besser, wenn eine Frau die Nachricht bringt? Ich kann die Verzweiflungen der Angehörigen nicht besonders gut verkraften.“
Schrader schüttelt jedoch energisch den Kopf und Krämer zieht sogleich zweimal an der Kippe.
„Nein Holger, Du kannst! Wer die Nachricht bringt ist letztendlich egal, aber mit dem Doc kann ich gut umgehen. Du weißt, wie der Medicus ist.“
Die Ermittlerin lässt ihren Kollegen abrupt stehen und holt einen Aschenbecher von dessen Schreibtisch.
„Ich kann das nicht. Ich bin zu sensibel für solche Auf- gaben. Ich heule immer gleich mit. Kannst Du nicht zu den Eltern gehen und Bescheid sagen?“, äußerte Krämer und macht umgehend ein weinerliches Gesicht dazu. Schrader kommt mit dem Aschenbecher in der Hand angelaufen und zeigt dem Kollegen mit dem Finger an der Stirn einen Vogel.
„Manchmal läufst Du echt neben der Spur. Du marschiert zu den Eltern und ich zum Doktor. Alles klar?“
Der Kommissar übernimmt den Ascher. Dreht sich weg und drückt sichtlich etwas ungehalten die Zigarette aus. Mit gesenktem Haupt begibt er sich an seinen Arbeits- platz und setzt sich mit eingeschnappten Gesicht langsam auf den Stuhl. Er stellt den Aschenbecher hin, räuspert sich wohl extra laut und versucht unbeteiligt zu wirken. Als wenn es die Worte seiner Chefin nicht gegeben hätte, schaut er gelangweilt auf den Bildschirm des Computer. Sie hingegen sieht ihn mit ernstem Blick hinterher und wendet sich danach in Richtung ihres Platzes.
„Also gut, wenn es Dein unbedingter Wille ist. Wann gehst Du in die Pathologie?“, fragt Krämer und gibt somit nach.
Schrader beäugt daraufhin ihren Tischkalender und erwidert: „Halb fünf wäre gut. Vermutlich hat er dann die Frau schon auf dem Tisch liegen.“
Krämer scheint wieder ausgeschnappt zu sein, denn er sieht hoch und lächelt die Kollegin ironisch an.
„Sag ich doch, der Medicus ist nicht ohne!“
Die Oberkommissarin nimmt ihre Jacke vom Stuhl und bereitet sich zum Gehen vor. Ihr Kollege fährt den PC runter und grinst dabei weiter vor sich hin.
„Ich sage jetzt mal nichts dazu und konzentriere mich auf unsere Aufgaben“, erwidert sie quer durch den Raum.
Der Kommissar schaltet den PC aus, schnappt seine Tasche und flugs ist der Mann auch schon an der Tür.
„Na dann los!“, äußert er.
Sie hingegen hat alle Mühe Krämer in der Hektik zu folgen. Jedoch wartet der Kollege geduldig und öffnet ihr höflich den Ausgang. Er lässt die Frau vor gehen und mit Schwung fliegt der Einlass zu.

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Tag der Veröffentlichung: 29.05.2010

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