Es wurde Abend. Die Sonne gab sich dem Dunklen hin, senkte sich in warmem Feuer den Horizont hinab. Er beobachtete es wortlos. Seine Finger gruben sich in den Erdboden, wurden von trockenem Gras gestreift. Die Hitze hatte den einst grünen Halmen das Leben geraubt. So, wie mir einst das Leben geraubt wurde, vor so vielen Sommern. Und wie es ihm seine Seele geraubt hatte. Er sah so liebevoll hinauf in meine Richtung. Er spürte mich. Ich war mir sicher. Langsam hob er seine zittrige Hand gen Himmel. Das Alter trieb ihm die Farbe aus dem Gesicht und das Leben aus den Gliedern, nicht aber das Lächeln aus seinen Augen. Ich winkte zurück. Er sah es nicht, aber ich wusste, er spürte es. Seine Augen wurden glasig. Er senkte die Hand, sein Blick verfing sich in den Baumwipfeln in der Ferne. Er weinte. War er doch so geprägt von Lebenserfahrung, nie würde er aufhören zu weinen. Ich wollte auch wieder weinen. Aber meine Tränen waren vertrocknet. Unendliche Dankbarkeit erfüllte mich. Ich war dankbar dafür, dass er noch weinen konnte. Ich war dankbar dafür, dass seine Hände noch immer die Gänseblümchen fassen konnten, die er mir damals jeden Sommer ins Haar geflochten hatte. Unwillkürlich streckte er die gichtigen Finger nach einer weißen Blume aus. Gänseblümchen. Eine seiner Tränen tropfte hinab auf das Pflänzchen. Mein Herz wurde schwer, während er den Stängel zwischen seinen Fingern drehte. Ich wünschte, er würde vergessen. Den Lebensabend ohne die Tränen der Vergangenheit verleben. Irgendwann würde er mich wieder sehen, mich in seine offenen Arme fallen lassen. Dann müsste niemand mehr trauern. Niemand hätte mehr Gedanken an die vergangenen Sommer zu verschwenden. Da hob er seine Arme empor, hielt mir das Gänseblümchen entgegen. Die körperliche Mühe war seinem gebeugten Rücken anzusehen, doch seine Augen strahlten vor Stolz. Er war noch immer stolz auf mich. Wie oft hatte er beteuert, wie stolz er auf mich war?
„Warum?“, hatte ich unzählige Male gefragt.
„Weil du der wunderbarste Mensch bist, den Gott je erschaffen hat“, hatte er geantwortet. Und ich küsste ihn und sagte: „Nein, der bist du.“
Die Erinnerung quälte mein verlorenes Herz, peinigte meine Seele.
„Ich liebe dich so sehr“, fühlte ich ihn sagen. Und ich zitterte, trotz der Wärme, bitterlich, als ich erwiderte: „Nicht so sehr, wie ich dich liebe.“ Ich denke, er fühlte es ebenso, wie ich seine Worte aufgenommen hatte.
Die Sonne war nun vollends hinab gesunken. Die laue Sommernacht brach an. Jene Nacht, die er und ich Sommer um Sommer gemeinsam verbracht hatten. Jene Nacht, in der wir Gänseblümchen gezählt und geschwiegen hatten. Von außen hatten uns in dieser Nacht wohl nur unsere verschränkten Hände verbunden. Aber in unseren Herzen waren wir Liebende. Seit jenem Wintermorgen, der mir das Leben genommen hatte, saß er da. Jahr für Jahr. Sommer für Sommer. Und ich beobachtete ihn dabei. Fühlte seinen Schmerz, aber auch die Wärme in den Gedanken an unsere vergangenen Sommer.
Ich blickte in seine dunklen Augen. Sie schienen zu warten, zu hoffen, und trotzdem zu vergessen. Ich weiß nicht, was mich daran beunruhigte. Er sollte doch vergessen. Sollte nicht mehr die Last auf seinem von der Zeit gebeugten Rücken tragen. Und doch ängstigte mich die Vorstellung, dass er vergaß. Er würde sich nicht mehr erinnern an die Sommernächte, die Gespräche, die Meinungsverschiedenheiten. Mich.
In diesem Moment stützte er sich auf die verfilzte Decke. Ein Hustenkrampf barst seine Gedanken, schüttelte die brüchigen Knochen. Ich wusste, die Nacht war zu Ende. Mühsam erhob er sich. Sah zum Himmel. Winkte mir ein letztes Mal zu. Lächelte mit seinen Augen. Drehte sich um. Und verschwand schließlich am Horizont.
Nächsten Sommer würde ich ihn wieder sehen. Hier oben, oder da unten, wo die Hitze den einst so grünen Halmen das Leben raubte und er im Antlitz der untergehenden Sonne den vergangenen Sommern nachhing. Ich werde da sein.
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2013
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Widmung:
Für meine Urgroßeltern, die hoffentlich stolz auf mich herabblicken.