Obwohl ich noch nicht lesen konnte, faszinierten mich Bücher schon als kleines Mädchen. So saß ich oft gemeinsam mit meiner Mutter auf dem Sofa, sie ein Sachbuch, ich ein Kinderbuch in der Hand. Ich brauchte keine Buchstaben, um die Geschichten zu verstehen. Stundenlang bildete ich mir zu den Bildern meine eigene Geschichte. Und als ich endlich lesen konnte, begann ich, meine Geschichten aufzuschreiben. Wenn diese auch so ihre (Rechtschreib-)Fehler hatten, ließ ich doch nie vom Schreiben ab. "Als meine Worte sprechen lernten" ist mein erstes Buch. Und ich hoffe, es wird nicht mein letztes sein.
Ich atme tief ein, bemühe mich, meine Lungen in regelmäßigen Abständen zu füllen und zu leeren. Ich sitze und warte. Es würden die entscheidenen Fehler sein, die ich gleich im Saal mache, vor den fünf Menschen, die über meine Zukunft bestimmen würden. Der Gedanke macht mich mutlos. Ich weiß, ich habe keine große Chance, nicht bei all den anderen, besseren Tänzerinnen. Aber eine kleine Möglichkeit, die winzige Chance auf ein Stipendium, das ich so dringend brauche, besteht. Und ich werde sie nutzen. Meine Füße fühlen sich wie taub an, wie sie in den abgenutzten, beinahe zu kleinen Spitzenschuhen stecken. Nein, ein kleines Kribbeln ist noch vorhanden, in meinem großen Zeh. Ungefähr so viel wie meine Hoffnung auf das Stipendium. Ich beginne zu schwitzen. Ich schwitze vor Angst. Also stehe ich auf und gehe zum Stuhl. Der Stuhl ist klein, ich muss meinen Arm ganz ausstrecken, um mich stehend daran festhalten zu können. Aber es macht nichts. Ich muss mich aufwärmen. Wenigstens kann ich dann von mir behaupten, ich bin nicht aufgeregt, sondern schwitze wegen des harten Aufwärmtraianings. Welch eine Lüge. Ich mache nur ein paar Übungen, weil ich mich nicht konzentrieren kann. Mein Platz bei dem Stuhl ist ganz hinten in der Ecke. Alle paar Minuten kommt ein anderes Mädchen hinein und schickt ein weiteres aus dem Saal. Ihre Gesichter sind hoffnungsvoll, niedergeschlagen, manchmal verweint und geschwollen. Aber ich werde nicht weinen. Das weiß ich, obwohl ich mich frage, ob ich zu Atmen aufhöre, wenn ich einen Fehler in meinem Tanz ertappt habe. Wahrscheinlich. Mir fällt auf, dass ich die ganze Zeit die gleiche Beinbewegung mache. Hoch, runter, hoch, runter. Der Stuhl knarrt bei jedem Grand battement, aber niemand schaut zu mir, weil alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Die, die schon getanzt haben, wägen still und nervös ihre Chancen ab. Sie wissen aber im Grunde, dass sie nichts mehr tun können. Anders als diejenigen, die noch nicht draußen waren und vorgetanzt haben. Die machen, wie ich, einige Aufwärmübungen, dehnen sich oder flüstern Gebete. Ich weiß, alle hier sind abhängig von dem Stipendium. Nur eine würde weiter an dieser Ballettschule bleiben können, die anderen können das Geld nicht mehr aufbringen und sind gezwungen, ihren Traum aufzugeben. Aber aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, ich habe es mehr verdient als die anderen. Ich denke, ich habe härter gearbeitet und es mir mehr erträumt. Aber das stimmt wahrscheinlich nicht. Womöglich denken die anderen momentan genau dasselbe. Gerade kommt das Mädchen Nummer 20 in die Umkleide. Ihre Schultern hängen mutlos und traurig herunter. Ich weiß, dass sie nicht besonders gut ist. Ich habe sie einmal beim Training gesehen, aber sie ist auch viel jünger als die meisten hier. Ich schaue sie an. Nummer 20 - ich bin Nummer 28. Ich habe also noch ein wenig Zeit. Ob es mich beruhigt, kann ich selbst nicht genau sagen. Auf der einen Seite hätte ich es am liebsten sofort hinter mir, auf der anderen möchte ich es noch ein wenig vor mir herschieben, ein wenig Zeit gewinnen. Aber eigentlich ist das nutzlos. Als ob ich in dieser Zeit besser würde. Ich sinke in ein Plié. Strecke meine Beine wieder. Es hilft nicht. Ich werde dadurch nicht besser. Dann stelle ich mich auf Spitze. Ein unangenehmes Kribbeln läuft durch meine Zehen und verdrängt das Gefühl der Taubheit in meinen Füßen.
Nummer 21 kommt herein. Ich sehe das dunkelhäutige Mädchen in die Arme ihrer Freundinnen stürzen. Das Gesicht kann ich nicht erkennen. Ich habe hier keine Freundinnen. Das heißt, ich habe einmal eine gehabt, aber die ist gegangen. Nicht weil sie zu schlecht war, nein, sie ist nach Russland gegangen. Wo all diese berühmten Tänzerinnen sind. Und jetzt bin ich allein. Ich drehe mich kurz und unsauber. Meine Muskeln sind hart und verspannt.
Nummer 22 kommt. Sie ist die kleinste hier, geht mir kaum bis zu den Schultern. Dabei bin ich nicht groß, sondern sogar nur knapp unter dem Mittelmaß. Ich streiche mir mit der Hand über die Stirn. Das Stipendium reicht für ein ganzes Jahr. Genug, um dann wieder für ein Stipendium vorzutanzen. Es gäbe mir Sicherheit. Die Sicherheit, meinen Traum zu verwirklichen. Die Sicherheit, zu tanzen.
Nummer 23. Ich vollende eine Pirouette, indem ich den Stuhl umwerfe und so mindestens ein paar erschrockende Blicke auf mich ziehe.
Nummer 24.
Dann Nummer 25. Meine Hände können den Stuhl, den ich eben aufgehoben habe, gar nicht mehr halten. Sie sind schweißnass und glitschig.
Nummer 26. Ich versuche mich ohne Hilfe auf die Zehen zu stellen. Aber meine Beine schlottern dermaßen, dass ich es aufgebe. Ich sinke in den Spagat, um meine Muskeln zu dehnen. Nummer 27 geht rein. Ich stehe auf. Sobald das dürre Mädchen mit der 27 wieder reinkommt, muss ich hinein. Ich bekomme Kopfschmerzen. Vielleicht nehme ich lieber eine Tablette und verschiebe das Vortanzen. Auf morgen. Oder lieber auf nächstes Jahr. Eine Falte bildet sich auf meiner Stirn. Nein, ich will jetzt tanzen. Ich bewege mich schon zur Tür. Jeden Schritt setze ich gezwungen, ich möchte am liebsten stehen bleiben, die vereinzelten "Viel Glück"-Wünsche nicht hören. Aber da kommt Nummer 27 rein. Sie scheint gar nicht niedergeschlagen zu sein. Im Gegenteil - völlig überflüssigerweise sagt sie mir noch, ich müsse jetzt reingehen. Am liebsten hätte ich ihr eine geknallt. Stattdessen gehe ich durch die Tür. Meine Schritte sind schwer. Ich gehe den Gang entlang, ohne ein Auge auf die Umgebung zu werfen. Meine Füße sind wieder taub. Dafür dreht sich mein Magen gerade um 360 Grad. Meine Füße tragen mich mit ungeheurem Kraftaufwand bis zur großen, zweiflügeligen Tür des Vortanzsaales. Mir ist heiß und kalt zugleich. Der Schweiß rinnt über die Gänsehaut. Es ist ein schreckliches Gefühl. Noch einmal kontrolliere ich, ob ich atme. Ja, ich tue es. Glaube ich. Dann schließen sich meine zitternden Finger um den vergoldeten Türgriff. Ich drücke ihn herunter, öffne den Türflügel, gehe hindurch und schließe in wieder. Erst dann drehe ich mich zu den Prüfern um, fünf an der Zahl, die mich mit durchdringenden Augen anstarren. Ich beiße die Zähne zusammen und bemühe mich um ein Lächeln. Ein undurchdringliches, ruhiges, selbstsicheres und freundliches Lächeln. Ich glaube, es wirkt eher wie eine schiefe Grimasse. Ich stelle mich in die Mitte des Raumes.
"Nummer 28, Alice Willert, richtig?", fragt eine Frau, die mit den grauen Haaren, dem strengen Dutt und der zierlichen Brille nur die Schulleiterin sein kann. Ich nicke höflich und hoffe, nicht zu hektisch den Kopf bewegt zu haben. "Nun denn, du kannst beginnen. Musik, bitte!" Der Pianist, der mich zuvor noch mit einer Spur von Mitleid angeschaut hat, dreht sich wieder zu den Tasten und beginnt, die Noten anzustimmen, die ich ausgewählt habe. Nur dieser Tanz würde zwischen mir und meinem Traum stehen. Nur dieser Tanz, vorrausgesetzt, ich tanze ihn perfekt. Jetzt oder nie. Meine Füße bewegen sich von nun an automatisch. Ich kontrolliere sie nicht, auch nicht meinen Kopf, meinen Gesichtsausdruck, meine Körperhaltung, meine Arme. Ich weiß nicht, was ich mache. Ich bewege mich einfach. Die Musik ist auf einmal wie ein Surfbrett für mich, auf dem ich die starken Wellen des Meeres bezwingen kann. Ich tanze. Ich merke nicht, ob ich einen Fehler mache. Ich spüre nicht, ob meine Zehen taub sind oder nicht. Ich registriere keinen der Blicke der älteren Leute, die mir beim Tanzen zusehen. Und als die Musik verstummt, ich noch einmal knickse und dann weglaufe, kann ich mich nicht einmal erinnern, ob ich überhaupt getanzt habe. Natürlich habe ich das. Nur wahrscheinlich nicht besonders gut. Ich laufe wie in Trance wieder zurück zur Mädchengarderobe. Erst als ich wieder sitze, meine Spitzenschuhe ausziehe und mich dann, ganz langsam, wieder in einen warmen Pullover hülle, erwache ich wieder. Zwei weitere Tage vergehen, in denen ich normal genau das mache, was ich sonst auch mache - essen, schlafen, lernen. Nur das Tanzen fällt in diesen Tagen aus. Und dann, nach dieser erdrückenden, halben Ewigkeit, wird verkündet: Die Stipendien sind verteilt. Die Namen der Glücklichen sind am Schwarzen Brett zu finden. Ich gehe mit dem Strom. Aber ich halte mich ganz hinten, versuche, mich auf das Ergebnis, das höchstwahrscheinlich zu meinem Bedauern ausfallen wird, vorzubereiten. Jeden Funken Hoffnung zu verdrängen. Doch als ich ankomme, schauen mir alle entgegen. Neid schwimmt in ihren Augen, Bedauern, und ich sehe sofort, warum. Ich sehe meinen Namen auf dem Schwarzen Brett. Nummer 28. Alice Willert.
Fay saß an ihrem Haus und schluchzte. Alles war so unfair! Warum musste ausgerechnet sie mit dieser verdammten Krankheit geboren sein? Nur ein Bruchteil der gesamten Feenbevölkerung hatte darunter zu leiden. Ob dieser Bruchteil auch so übertrieben besorgten Eltern hatte? 'Tu dies nicht, tu jenes nicht, das ist nicht gut für dich!' Bei körperlicher Überanstrengung werden die Flügel immer dünner, irgendwann sind sie weg und dann geht die Krankheit an den Körper über und greift die Substanz an. Und irgendwann bist du schließlich weg. Komplett. Unwiderrufbar. Und deshalb ist Fliegen tabu, denn Fliegen ist das körperlich anstrengendste, das ein Feenkörper leisten kann. Aber Fliegen ist nunmal auch der Lebensinhalt einer jeden Fee. In der Luft fühlt man sich ubeschreiblich, als gehöre die ganze Welt einem allein. Energie durchströmt den Körper, man erkennt die guten Dinge des Lebens. So sagten es die anderen, denn Fay war ja noch nie geflogen. Und sie bedauerte es zutiefst.
"Fay, diese Veranstaltung ist nicht so besonders, um dafür sein Leben aufs Spiel zu setzen!"
"Ach ja? Und wieso willst du dann unbedingt hingehen? Warum kaufst du den ganzen Flügelschmuck, wenn es so wahnsinnig unwichtig ist?!" Die letzten Worte schrie Fay aus tiefster Seele. Sie atmete schwer und unregelmäßig. Der Streit tat ihrer Gesundheit gar nicht gut, das spürte sie. Aber irgendwie musste Fay es ihrer Mutter ja klarmachen.
"Weil ... man trifft alte Bekannte, und ..." Fay unterbrach ihre Mutter.
"Du bist so egoistisch! Du musst nicht täglich darauf achten, dass du auf einmal vom Schicksal wegradiert wirst!" Jetzt schien ihre Mutter endlich zu verstehen. Sie senkte beschämt den Kopf.
"Hör zu, ich werde nicht hingehen, okay?", sagte Fays Mutter lautstark. Fay schüttelte den Kopf. Ihre Mutter hatte nicht die Hauptsache begriffen, um die es Fay ging. Sie atmete tief durch und versuchte, das langsam einsetzende Schwindelgefühl in den Hintergrund zu schieben.
"Mama", begann sie, so ruhig es ging. "Es geht mir eigentlich nicht darum, dass du nicht zum Himmelstanz darfst. Ich will nur einmal fliegen dürfen, nur ein klein wenig, nur beim Himmelstanz. Verstehst du das?" Ihre Mutter ließ sich Zeit mit der Antwort.
"Natürlich", sagte sie schließlich, "aber das ist unmöglich."
Während Fay sich an das energische Gespräch mit ihrer Mutter erinnerte, verschleierten erneut ein Tränenschleier ihre Augen.Kristallklar perlten die Tränen ihre Wange hinab. Fay wandte ihren Kopf zu den Flügeln. Die Spitzen waren schon fast durchsichtig, aber der gute Beobachter vermochte noch die wunderschönen, langen Konturen erkennen, die einmal hellblau gewesen waren wie der Rest der Flügel. Sie würde es schaffen können. Vielleicht überlebte sie es nicht, aber der Wille zu fliegen schien für einen kurzen Moment mächtiger als alles andere. Es war ihr wichtiger als das Glück ihrer Mutter, wichtiger als alle ihre Freunde, sogar wichtiger als ihr Leben. Vielleicht sollte sie es tatsächlich tun. Aber sagen würde sie es niemandem.
"Hey, hast du schon ein Kleid für das Himmelsfest? Es ist unglaublich schwer, ein Kleid zu finden, das gut aussieht, und zum Fliegen und Tanzen geeignet ist, nicht? Aber wenn du willst, können wir es zusammen besorgen!" Fays übereifriger Freundin wurde erst im Nachhinein bewusst, wie sehr sie Fay mit ihren Worten verletzt hatte. Bestürzt sah sie zu, wie Fay aus dem Raum ging.
Fay stand auf, wischte sich die Tränen weg und sah sich um. Die Vorbereitungen für den Tanz waren nun fast vollständig getroffen. Nicht mehr lang, und sämtliche begeisterte Feenfrauen und -männer würden herbeifliegen und sich einen Spaß daraus machen, dass Fay nicht fliegen durfte. Mit stechendem Herzen dachte sie an ihre Flügel. Jetzt beschlich sie die Angst. Sie konnte nicht fliegen. Sie würde vermutlich sterben. Niemals wieder leben können. Der Gedanke war so endgültig.
In den nächsten beiden Stunden trudelten immer mehr Feen ein. Als ihre Freundinnen kamen, wollte Fay sich in das Feenhaus zurückziehen. Die würden ihr nur ungelenk ihre super-tollen neuen Kleider zeigen und Pirouetten drehen. In der Luft, natürlich. Ohne sie. Weil sie zu aufgeregt waren, um die Trauer ihrer Freundin zu bemerken. Doch im Haus war ihre Mutter, und Fay war klar, wenn sie nun hineinging, würde ihre Mutter sie sofort unter ihre Flügel nehmen. Und mit ihrer Ausrede, sie sei noch gerade bei ihrem Bruder und würde etwas abholen, konnte ihre Mutter bisher ganz gut leben.
"Hey, Fay!" Sie kamen alle auf einmal angeflogen.
"Toll hier, nicht? Ich freue mich so!"
"Ich bin total aufgeregt! Was, wenn ich den Tanz vermassele? Die nächste Gelegenheit gibt es erst in zwanzig Jahren wieder, und bis dahin bin ich alt und runzlig!"
"Du übertreibst. Außerdem kannst du doch super fliegen!"
Die Stimmen ihrer Freundinnen schwirrten in allen Tonlagen in Fays Kopf.
"Verschwindet", sagte sie nur. Vor ihren Augen war alles verschwommen, die Bilder verliefen wie in Zeitlupe, ihre Gedanken ebenso.
"Oh, ich verstehe. Tut uns leid. Bis bald dann!" Die Verabschiedung kam allmählich bei Fays Ohren an. Sie sah ihren Freundinnen her, die Stimmen hörte sie nicht mehr. Wie von anderer Hand gelenkt, stand sie auf. Sie wollte fliegen. Sie musste fliegen. Sie konnte fliegen. Zweifel nagten an ihr wie hungrige Biber, aber Fay beachtete sie nicht. Sie würde es schaffen. Sie wusste es. Die Musik zum Himmelstanz erklang. Jetzt oder nie. Mit der Musik schwangen sich sämtliche, am Boden gebliebene Feen in die Luft. Und Fay würde es auch tun. Vorsichtig probierte sie, ihre Flügel nur mit ihren Gedanken zu bewegen. Es klappte, wenn auch nur beschwerlich. Und ehe sie darüber nachdenken konnte, war sie in der Luft.
Das Gefühl war atemberaubend. Energie durchfuhr ihre Adern wie flüssiges Feuer, ihr Herz schlug wild. Sie jauchzte, ungeachtet der Feen, die ihr distanzierte Blicke zuwarfen. Das war das Gefühl, das sie ihr ganzes Leben vermisst hatte. Sie hatte es gewusst. Sie konnte es. Luft peitschte ihr ins Gesicht, während sie sich zur Musik bewegte. Der Takt war fröhlich und schwungvoll. Fay registrierte nicht, wie sich nach und nach ein Schleier um ihre Sinne bildete. Sie hörte nichts mehr, sie fühlte nichts mehr. Sie sah nichts mehr. Und dann fiel sie.
Er saß im Zug. Die ganze Zeit saß er im Zug. Sein Blick war stur auf sein Buch gerichtet, ich kann nicht einmal genau sagen, ob er es wirklich las. Vielleicht war es der knöchellange, schwarze Ledermantel, möglicherweise aber auch die riesigen Rockerstiefel, letztendlich kann ich aber nicht genau beurteilen, weshalb mir bereits beim Eintreten in das Abteil ein Schauer über den Rücken lief. Kein Platz war mehr frei, außer dem gegenüber des Mannes. Und niemand schien sich dort hinsetzen zu wollen. Es war Berufsverkehr, der Zug wurde schnell voll und meine Platzangst setzte ein. Ein innerer Kampf begann. Er war mir unheimlich, alles sträubte sich in mir, mich zu ihm zu setzen. Aber hatte ich nicht gelernt, dass Vorurteile nicht immer berechtigt sind? Erst letztes Jahr, als ich bei einem Schüleraustausch in England war und man mir, weil ich Deutsche bin, Schweinshaxe und Sauerkraut aufgetischt hat? Dabei hasse ich das.
Jemand stieß mir unsanft in die Rippen. So langsam bekam ich Panik, zu viele Menschen standen um mich herum, ich wollte Platz haben, wenigstens ein bisschen - und den würde mir nur der breite Sitz gegenüber ihm geben. Schließlich verdrängte ich meine Zweifel, ich musste mich einfach setzen. Mit zusammengekniffenen Augen drängte ich mich auf den Platz. Sofort verspürte ich Erleichterung, niemand haute mir noch Ellbogen in die Rippen, ich konnte wieder ruhig atmen. Und dann erinnerte ich mich daran, vor wem ich da gerade saß. Nervös spannte ich meine Muskeln an, um jederzeit weglaufen zu können.
Die nächsten Minuten verstrichen, ohne dass der Mann sich bewegte. Und, wie mir schließlich auffiel, blätterte er zu keiner Zeit eine Seite seines Buches um. Er las also wirklich nicht. Es machte mich beinahe wahnsinnig, wie er war, das Gesicht im Schatten liegend. Jetzt, da ich davon ausging, er bemerkte es nicht, traute ich mich auch, ihn weiter zu mustern. Seine schwarzen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine Finger, mit denen er das Buch hielt, waren weiß und dünn. Wie Vampirfinger, schoss es mir auf einmal durch den Kopf. Diese Vorstellung ließ mir eine Gänsehaut über die Arme laufen. Schnell zog ich die Ärmel meiner Jacke weiter nach unten und rückte meinen Schal so zurecht, dass er meinen Hals verdeckte. Sicher ist sicher.
Doch auch die nächste Stunde verlief ereignislos. Ich befand diese Tatsache für beruhigend und verstörend zugleich. Mit jeder Station stiegen mehr Leute aus, kaum jemand trat noch ein. Ich musste heute Nacht erst aussteigen, weil ich zu einer Tante fuhr, die weiter von meinem Heimatort entfernt lebte. Nun wurden auch mehr Sitze frei. Ich beobachtete mit sehnsuchtsvollen Augen, wie Plätze ganz am Ende des Abteils leer und verlassen waren. Wie gern wäre ich aufgestanden und hätte mich dorthin gesetzt, weit weg von dem gruseligen Mann, der auf so unheimliche Art teilnahmslos in sein Buch starrte. Doch ich hatte zu sehr Angst, dass er dann plötzlich ein langes, scharfes Messer unter seinem Mantel herziehen und mich damit erstechen würde, weil ich es gewagt hatte, einen Platz viel, viel weiter weg von ihm einzunehmen. Meine Vorstellungskraft bescherte mir beim Anblick dieses Mannes eine zu hohe Bandbreite an schaurigen Fantasien. Lieber nicht wegsetzen. Vielleicht tut er dann ja nichts.
Und so gingen auch die nächsten Stunden ohne eine Bewegung des Typen zu Ende. Das Abteil war jetzt bis auf ein, zwei alte Damen komplett leer. Draußen wurde es dunkel, kalter, stechender Herbstwind drang durch das offene Fenster. Es war mir zuvor noch gar nicht aufgefallen. Ich wollte schon aufstehen und es zu machen, doch der Griff war viel zu hoch für mich. Abgesehen davon bot ich dem Mann die perfekte Angriffsmöglichkeit, wenn ich da so naiv und unvorsichtig auf Zehenspitzen ging und mich streckte, um an den Fenstergriff zu kommen. Ich zog noch weiter an meinen Ärmeln, sodass der ausgeleierte Stoff bald auch meine eiskalten Hände verdeckte. Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Es herrschte eiskalte Finsternis. Heruntergekommene, einsam wirkene Fabriken kennzeichneten sich in der Umgebung ab. Vermutlich fuhren wir gerade irgendwo im Nirgendwo, möglicherweise am Ende der Welt, denn weit und breit war weder ein Haus, noch ein Mensch zu sehen. Mit der Zeit schienen die Gleise unebener zu werden, der Zug ruckelte und es quietschte oft unter meinen Füßen. Diese Geräusche minderten mein Unbehagen nicht unbedingt, im Gegenteil, sie verschlimmerten dieses dumpfe, leere Gefühl in meinem Magen sogar. Wie sehr wünschte ich mir gerade, wieder daheim im Warmen zu sitzen, in eine Decke gewickelt und in ein schönes, spannendes Buch vertieft. Im Grunde genommen war mir im Moment alles lieber, als hier vor IHM in diesem wackelnden, kalten Zug durch die Finsternis zu fahren. Da fiel mir ein, dass ich noch ein Buch in der Tasche haben musste. Warum war es mir nicht vorher eingefallen? Mit etwas Glück lenkte es mich vielleicht von meinen Schauergedanken ab. Ich wühlte in meiner Umhängetasche herum, die ich bis eben fest umschlungen an meiner Rechten liegen hatte, und zog schließlich das Buch heraus. Es war ein langweiliges Buch, das ich wohl nur gekauft hatte, um ein Buch zu kaufen. Ja, ich hatte da so einen Tick. Mit seinem rosafarbenen Umschlag und der silbrigen Schrift stand es im völligen Kontrast zu meinen momentan herrschenden Gefühlen, Gedanken und meiner nicht gerade gemütlichen Umgebung. Vielleicht war es tatsächlich eine gute Ablenkung. Ich schlug das Buch auf.
Es ist ein schöner, sonniger Frühlingstag. Die Vögel zwitschern ihr Morgenkonzert und eine warme, beschwingende Brise weht in Lauras Zimmer. Heute soll ein toller Tag werden. Sie würde ...
An dieser Stelle hielt ich inne und schaute aus dem Fenster. Gleißendes Licht durchbrach die Dunkelheit. Es blitze. Oh nein, bloß kein Gewitter! Ich hatte nämlich furchtbare Angst vor Gewitter ... Instinktiv sah ich zu meinem Gegenüber. Er starrte noch immer auf die Buchseite, wenn auch nicht mehr ganz so starr, denn der Zug ruckelte ganz schön. Da entdeckte ich plötzlich etwas, das mir beinahe einen schrillen Schrei entlockte. Durch das Ruckeln des Zugs ist seine Hand vom Buch abgerutscht. Nur ganz leicht, aber doch so, dass ich auf seinen Handrücken blicken konnte. Dort, zwischen Adern und Dreck, war ein Zeichen. Es war rot umrandet, beinahe, als wäre es eingeritzt worden. Und es zeigte eine kantige, lange Fledermaus. Mir stockte der Atem. Es passte alles zusammen, die Vampirfinger, das Fledermauszeichen: Er war ein Vampir! Vor meinem inneren Auge sah ich die Fledermaus schon aus der Hand springen und sich im Kreis mehrmals um den Vampirmann drehen. Schließlich würde der Vampirmann - der dann ein Fledermausmann war - aus dem geöffneten Zugfenster fliegen. Nur um kurz darauf wieder zu kommen um mir seine spitzen Eckzähne in den Hals zu rammen. Rasch warf ich einen Blick aus dem Fenster. Es war kein Vollmond. Auch schien ihn absolut nichts in seiner gruseligen Ruhe zu stören. Also senkte ich, schaudernd nun, meinen Blick wieder auf mein eigenes Buch. Pferde waren allgemein besser als Vampire. Vollkommen unkonzentriert las ich zwei Zeilen.
Sie würde endlich wieder reiten gehen dürfen! In Gedanken malt sie sich den Ausritt über weite, grüne Felder aus.
Sofort schreckte ich wieder hoch. Ein weiterer Blitz zuckte am Horizont. Kurze Zeit später hörte ich das Donnergrollen. Mein Bauch spannte sich an und meine Finger klammerten sich an das Buch. Es kam näher. Das Geräusch hallte in meinen Ohren wider und ließ mich zu völliger Regungslosigkeit verharren. Ich hasste Donner. Es hörte sich immer an, als stürzten Häuser zusammen. Der Zug ruckelte heftig. Mein Buch fiel mir aus der Hand auf den Boden, ich bückte mich nicht, um es aufzuheben. Ich blieb einfach sitzen. Der Mann regte sich noch immer nicht. Wahrscheinlich machte Gewitter Vampiren nichts aus. Regen peitschte in dicken Tropfen gegen die Scheibe und wurde bald zu Hagel. Das Fenster war noch immer auf und verstärkte die Lautstärke des Donners und die Kälte des Windes um Unendliches. Da - Oh Gott, was war das gerade am Fenster? Eine Fledermaus?! Mir liefen eiskalte Schauer über den Rücken, mein Magen drehte Saltos und ich hatte Gänsehaut am ganzen Körper. Mein Blick huschte zur Fledermaus auf seiner
Hand. Der Ärmel verdeckte den Handrücken wieder. Es war wie in den schauerlichsten Gruselfilmen. Jetzt musste nur noch der Vampir mit seinen langfingrigen Händen kommen und ... Nein, ich wagte nicht, mir weiteres auszumalen. Kalter Angstschweiß lief mir über die Stirn. Ich presste mich mit dem Rücken an meinen Sitz. Das Polster fühlte sich wie Stein an auf meiner Wirbelsäule. Es ruckelte noch einmal. Das Licht ging aus. Verdammt, das war ja wirklich wie im Film! Meine Zähne schlotterten, ich konnte nicht sagen, ob vor Kälte oder aus Angst. Womöglich beides. Ich bemühte mich krampfhaft, die Zähne zusammenzubeißen. Der Mann bewegte sich nicht. Er blickte in das Buch. So langsam erfasste die Wut mich. Wie konnte dieser grauenvolle Vampir-Fledermaus-Mann da sitzen, während ich hier beinahe vor Angst starb? Wut und Angst schwirrten in meinem Herzen. Ich ballte meine eiskalten Hände zu Fäusten. Und da geschah es. Es ruckelte noch einmal, aber viel stärker als die letzten Male, dann bremste der Zug abrupt. Es ruckelte wieder. Das einzige, woran ich mich später erinnern konnte, war, wie der Zug umgekippt und ich mit dem Kopf gegen irgendwas geknallt war. Ehrlich gesagt wollte ich es gar nicht so genau wissen. Manchmal war es einfach besser, nichts zu wissen. Oder nicht alles. Jedenfalls bin ich sehr hart mit dem Kopf aufgeschlagen. Eine Zeit lang sah ich Flecken, irgendwann Schwarz oder gar nichts mehr. Und dann verlor ich das Bewusstsein.
"Hallo? Bist du wach?" Die besorgte Stimme meiner Tante drang in meine Ohren. Sie klang unendlich weit entfernt und hallte als Echo in meinem Kopf wider. Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, dass ich in einem Bett lag. Oder wenigstens auf einer Matratze. Nein, ich lag auf einem Bett, wie ich kurze Zeit später feststellte, als ich die Augen öffnete. Mir war schwindelig. Mein Kopf dröhnte und pochte. Ich wollte am liebsten wieder einschlafen.
"Gott sei Dank!" Der erleichterte Ruf kam eindeutig von meiner Mutter. Wo war ich genau? Was war passiert? Es dauerte ein paar Minuten, bis ich endlich verstand, was Mama und meine Tante mir sagen wollten. Langsam und deutlich erklärten sie mir, dass ich böse auf dem Kopf aufgeschlagen sei und mir eine Platzwunde und eine Gehirnerschütterung eingehandelt habe. Der Zug sei entgleist. Die Ursache sei noch unklar. "Und der Mann?" Es war das erste, was ich sagte. "Welcher Mann?", fragte meine Tante verwundert. "Der gruselige, der mit dem langen Mantel und den schwarzen Haaren." Ich weiß nicht, warum ich davon ausging, dass meine Tante ihn gesehen hatte. "Ach der!", rief sie plötzlich. Ich schaute sie verwundert an. Instinktiv fasste ich an meinen nackten Hals. Ich spürte keine Wunde. "Ja, der hat dich aus dem ruinierten Zug gebracht und mich mit deinem Handy arlarmiert. Und das, obwohl er selbst verletzt war. Toll, dieser Mensch!"
Als ich den großen, matt beleuchteten Raum betrat, schmeichelte der vertraute Geruch bedruckten Papiers sofort meiner Nase. Ich blieb kurz stehen, atmete den Geruch noch einmal ein und trat tiefer in den Raum. Es war still. Niemand schien da zu sein. Niemand, außer mir. Mein Blick glitt über die Regale. Bücher über Bücher reihten sich nebeneinander, sie enthielten Unmengen an Wissen, Entdeckungen, Unbekanntes. Doch hier war nicht, was ich suchte. Ich ging weiter und stieg die vier hölzernen Treppenstufen hinauf, die unter meinen Füßen ein leises Knarren vernehmen ließen. Die Treppe brachte mich in einen weiteren dieser duftenden Räume. Da, in der rechten Ecke ganz hinten, glaubte ich zu finden, was ich suchte. Es war ein breites, bis an die Decke reichendes Regal. Es war aus dem gleichen Holz gefertigt wie die anderen Regale, gealtertes, raues Holz, doch man sah sofort, dass mehr Arbeit in ihm steckte. Geschnitzte Verzierungen waren auf dem Holz angebracht, liebevoll waren Gestalten aus dem Holz gearbeitet und angemalt worden. Das Regal der fantastischen Geschichten, der Mythen und Sagen, so wurde es genannt. Meine Hand fuhr über die Einbände. Sie waren aus Samt und Leder, manchmal auch aus geprägtem Papier. Ich spürte die Materialien an meinen Fingerspitzen. Schließlich zog ich ein Werk heraus, der Schriftsteller dieses Stücks war mir unbekannt. Es war der Einband, der mich faszinierte. Er war smaragdfarben und gezeichnet von goldener Schrift. Detaillierte Zeichnungen ließen es so lebendig wirken, als wären die Figuren real - ich musste einfach hineinschauen. Und so ließ ich mich auf dem breiten, gepolsterten und mehrfach geflickten Sessel nieder, der neben dem Regal stand, und schlug das Buch auf. Meine Augen wanderten an den Buchstaben entlang, die wie ein Pfad wirkten, der mich durch die Seiten führte. Zeile für Zeile nahm ich die Geschichte auf. Erst nach ein paar Seiten registrierte ich, dass ich nicht mehr allein war. Zwei zierliche, weibliche Gestalten, kaum eine Elle lang, schwebten rechts und links von mir. Sie trugen kurze, smaragdgrüne Kleider und gespitzte silberfarbene Schühchen. Die Flügel fielen mir nicht sofort auf. Sie waren beinahe durchsichtig, was sie verriet war nicht ihre Größe, sondern ihr sonderbarer, alles um sie herum in den Schatten stellenden Schimmer. Ich war so beschäftigt damit, zwischen Realität und Fantasewelt zu unterscheiden, dass ich nicht bemerkte, wie auf einmal ein gutes Dutzend kleine, verschmutzte Menschen auftauchten. Sie hoben ihre tiefen, rauen Stimmen, die ihnen meine - wenn auch nicht ganz ungeteilte - Aufmerksamkeit schenkte. Je weiter ich las, desto mehr Figuren, Kreaturen und Gestalten erschienen im Raum. Sie alle waren umgeben von diesem ungewöhnlichen Schimmer.
"Wir schließen." Die ganz und gar menschliche Stimme der Buchhälterin holte mich aus der Geschichte. Ich hob den Kopf, schlug das Buch zu und stand auf. Verwirrung tanzte in meinem Kopf, schwirrte wie ein im Wind losgelassenes Tuch. Ich bemühte mich, mein Gedanken zu ordnen.
"Ich möchte gern dieses Buch hier kaufen." Die Verkäuferin nickte, ich ging zur Kassse und bezahlte das Buch. Aus irgendeinem Grund wusste ich sofort, dass dieses Buch noch viele, viele Jahre mein Lieblingsbuch sein würde.
Texte: Caitlin L. Willert
Bildmaterialien: Cover von Caitlin L. Willert mit Gimp Brushes von obsidiandawn.com
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Mama.