Mit sehnsuchtsvollen Augen starrte Lyrie aus dem Fenster. Die frostigen Schneeflocken legten sich wie ein Mantel um das Gras und hielten es warm. Es war der erste Advent. Der Tag, an dem die erste Kerze angezündet wird, und der Tag, an dem die Kinder anfangen, ihre Geduld zu verlieren. Doch für Lyrie war es ein ganz besonderer Tag – ab heute würde sie wieder als Engel beim Weihnachtsmann arbeiten können. Nach einem ewig langen Jahr endlich wieder der Strenge und Ordnung des städtischen Waisenhauses für Mädchen entfliehen und die Reise Richtung Nordpol antreten. Lyrie erinnerte sich jedes Jahr am selben Ort, zur selben Zeit wieder genau an den Tag, an dem er sie das erste Mal abgeholt hatte. Er, der Weihnachtsmann.
Es war vor genau drei Jahren. Lyrie hatte Arrest gehabt, weil sie ein Buch gelesen hatte. Bücher waren in dem Waisenhaus als eine Art Droge bekannt – ein süchtig machender Stoff, der einen unaufmerksam und unkonzentriert machte. Lyrie versuchte es immer wieder heimlich, trotz, oder gerade wegen des Verbots. An besagtem Tag hatte Lyrie auf ihrem klapprigen, alten Bett gesessen, einen Block auf dem Schoß und einen Stift in der Hand. Hundert Mal sollte sie schreiben Ich darf keine Bücher lesen, sie war gerade einmal beim neunten. Ihr Blick hatte sich mal wieder in dem Fenster verfangen. Frost legte sich auf die hölzerne Fensterbank und ließ sie weiß aussehen. Die kahlen Laubbäume, deren Blätter im Sommer das Fensterglas säumten, spiegelten sich in ihren tiefblauen Augen wider, die neben dem dichten, dunkelbraunen Haar wie eisige Lichter wirkten. Eisig, aber freundlich. Engelsaugen eben. Während sie so vor sich hin geträumt hatte, fiel ihr plötzlich ein rasant näher kommender Punkt am Himmel auf. Bildete sie es sich nur ein, oder vernahm sie wahrhaftig auf einmal leises, ungleichmäßiges Glockenklingen? Sie stand von ihrem Bett auf und tat ein paar Schritte durch den kahl möblierten Raum zum Fenster. Verwirrt riss sie die Augen auf, kniff sie heftig zu und rieb sie kräftig. Als sie sie wieder aufmachte, erkannte sie, dass sie nicht geträumt hatte, sie konnte ihn tatsächlich sehen…
Er war damals gekommen, um die noch zehn Jahre alte Lyrie mit in den Schlitten zu nehmen und sie mit an den Nordpol zu nehmen. Seitdem holte er sie jedes Jahr um die gleiche Zeit ab. Nie würde sie ihre erste Fahrt vergessen: Der kalte Wind schlug ihr gegen das Gesicht und ließ ihre Haare wild in der Luft tanzen. Zuerst fror sie bitterlich, doch dann, nach zwei, drei Minuten, löste sich die Kälte von ihren Gliedern. Sie fühlte sich leicht und glücklich, als wäre sie ein Engel. Sie war einer. Ihre blassen, hellen Flügel waren mit weißen Federn bestückt und ihr einfacher brauner Baumwollrock mit dem dunklen Hemd verwandelte sich in ein wunderschönes, glitzerndes Engelskleid. Ihre Pantoffeln, die im Waisenheim Pflicht waren und dessen Tragen sowohl im Winter als auch im Sommer als unverzichtbar galt, lösten sich einfach auf – ohne einen Laut. Sie war eine der Auserwählten, die jedes Jahr in der Adventszeit zum Weihnachtsmann kamen und ihm in der Weihnachtswerkstatt behilflich sein durften. Die Kinder waren ausschließlich Waisen, die die Weihnachtszeit einsam und allein oder schwer und unerträglich schuftend verbrachten. Lyrie musste eigentlich weder das eine noch das andere, und trotzdem hielt sie die Weihnachtszeit für die schlimmste Zeit des Jahres. Oder besser: hatte sie. Advent war die Zeit in der die Heimleiterrinnen schlechte Laune bekamen und einen schon ausschimpften, wenn der Rock nicht ordentlich gewaschen, die Haare nicht gut frisiert oder die Schulbücher nicht richtig sortiert waren. In solchen Fällen bekam man bis Heiligabend Hausarrest und musste sämtliche Arbeiten erfüllen. Doch seit genau drei Jahren hatte sie all das nicht mehr nötig.
Noch immer war der Weihnachtsmann nicht erschienen. Mittlerweile fing Lyrie an, sich Sorgen zu machen. Es dämmerte bereits, gleich würde ihre Zimmerbewohnerin Mia das Zimmer betreten, nachdem sie sich mit den anderen im Gemeinschaftsraum vergnügt hatte. Die untergehende Sonne erhörte Lyries Betteln und Flehen nicht. Erbarmungslos sank sie immer weiter, bis sie dem Mond Platz machte.
Lyrie lauschte dem langsamen, aber klangvollen Schnarchen ihrer Zimmergenossin und starrte dabei noch immer fassungslos aus dem Fenster. Er war nicht gekommen. Er wollte bestimmt nicht. Aber warum bloß? Lyrie hatte sich bereits die letzten Jahre zu einem engagierten, verantwortungsvollen und fleißigen Helfer entpuppt. Lyrie schluckte.
„Du solltest sie nicht so lange hinhalten.“ Frau Weihnachtsmann schaute ihrem Mann in die Augen. „Es geht nicht anders. Die Regel besagt nun mal: Alle drei Jahre müssen die Engelshelfer den 1.Advent da verbringen, wo sie das Jahr über leben.“ „Und was macht diese Regel bitte für einen Sinn? Ein Tag früher oder später, wo liegt das Problem?“ Der Weihnachtsmann schüttelte sorgenvoll den Kopf. „Nein. Die Regel ist an den Zauber der Verwandlung gebunden. Ohne ihn werden die Kinder im nächsten Jahr nicht mehr zum Nordpol reisen können. Sie werden nicht mehr an mich glauben – und was das schlimmste ist: Sie werden sich dafür einsetzen, dass Weihnachten nicht mehr gefeiert wird.“ „Dann brich am besten gleich im Morgengrauen auf. Sie soll sich nicht noch mehr Sorgen machen.“
Am nächsten Morgen wachte der Weihnachtsmann bereits um halb vier Uhr Morgens vom Klang seines Weckers, einem ohrenbetäubendem Engelschor, auf. Er schlüpfte aus dem Bett und trat ans Fenster. Als er endlich einen Blick durch die vereiste Scheibe werfen konnte, schnürte er unwillkürlich seinen Bademantel am Gürtel enger und drehte sich hektisch zu seiner schlafenden Frau um – die gar nicht im Bett lag. Eilig hechtete er durch die Weihnachtsvilla und fand Frau Weihnachtsmann schließlich bei den Rentieren im Stall. „Siehst du das?“, rief der Weihnachtsmann nach einer kurzen Verschnaufpause seiner Frau zu und deutete aus dem kleinen Stallfenster. Sie nickte. „Ich habe schon die Rentiere gefragt, ob sie es schaffen würden, aber Blitz meint, es wird wohl nicht gehen.“ Der Weihnachtsmann wandte sich an Blitz, ein Rentier mit einer blitzartigen Musterung des Fells an der Flanke. „Stimmt das, Blitz?“ „Ja, Chef, es ist unmöglich. Wir sind am Ende unseres Ideenreichtums.“ Auf einmal durchfuhr den Weihnachtsmann ein Geistesblitz und er schoss wie der Wind aus den Stallungen. Frau Weihnachtsmann und die Rentiere schauten ihm verwirrt, aber hoffnungsvoll hinterher.
Als Lyrie am nächsten Morgen die Augen aufgemacht hatte, rasten ihr ihre Sorgen wieder durch den Kopf und sprudelten nur so herum wie ein Wasserfall, der endlich den Fluss erreicht hat. Mit den Gedanken waren auch die Tränen gekommen, die sie allerdings mit großer Mühe herunterzuschlucken vermochte. Nun saß sie, den Kopf tief über die Müslischale gebeugt, am Frühstückstisch des Heims und ließ ihre Gedanken abschweifen. Sie hatte versagt, das stand fest. Und der tobende Schneesturm da draußen machte sie noch trauriger. Die zentimeterdicken Flocken würden viele Teile des Heimes zerstören, allen voran die kleine, hölzerne Berghütte, die ungefähr fünfzig Meter vom Waisenhaus entfernt lag und den Kindern als Spielort diente. Selbst bei einem Hagelschauer machte sie den Eindruck, einzustürzen. Es war furchtbar: Niemand hatte auch nur den Funken einer Idee, Müll herauszubringen oder gar einen Schneemann zu bauen. Oft hatten Kinder heimlich über ein Handy ihre Freunde angerufen, die kürzlich Adoptiveltern gefunden hatten. Doch das Mobilfunknetz war nun ebenfalls tot, hatte Mia Lyrie erzählt. Nach dem Frühstück gingen also alle in die Gemeinschaftsräume, mit Ausnahme von Lyrie. Die setzte sich an den instabilen Schreibtisch ihres Zimmers und zeichnete mit solcher Hingabe ein Bild von sich als Engel, wie sie noch nie ein Bild gezeichnet hatte. Und während sie da so saß, meinte sie auf einmal, leises Glockenklingen zu vernehmen, welches immer näher und näher zu kommen schien. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Das bilde ich mir nur ein, sagte sie sich mahnend. Doch trotzdem konnte sie einem Blick aus dem Fenster nicht widerstehen – und tatsächlich: Dort stand er. Aber wie sah er aus? Oder besser, wie sahen die Rentiere und der Schlitten aus? Letzterer besaß eine große, gläserne Schutzkuppel. „Wichtelglas“, betonte der Weihnachtsmann später immer wieder. „Das geht nie kaputt!“ Die Rentiere hingegen sahen aus wie Ritter: Sie steckten in einer eisernen Rüstung, die sie vor Verletzungen durch die Hagelkörner schützten, und Rudolph mit der roten Nase hatten ihnen eine sichere Reise ermöglicht. Lyrie strahlte. Er war doch noch gekommen. Und so erfuhr sie die ganze Geschichte, angefangen mit dem Engelsgesetz und der brillanten Idee des Weihnachtsmannes, eine Schutzausrüstung von den Wichteln anfertigen zu lassen, die übrigens zehnmal so schnell arbeiten können wie Menschen. Damit waren sie sicher durch das (beinahe) unbezwingbare Schneetreiben gekommen, das Lyrie ihren jährlichen Dienst fast unmöglich gemacht hätte, zumindest dieses Jahr. Dies wurde das schönste Weihnachtsfest von Lyrie – und auf jeden Fall das aufregendste.
Texte: imagine.
Bildmaterialien: Gimp Brushes by obsidiandawn.com, Window by TheColorOfViolence on deviantart.com, edited by imagine26
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