Cover




Fay saß an ihrem Haus und schluchzte. Alles war so unfair! Warum musste ausgerechnet sie diese bescheuerte Krankheit haben?! In der Feenwelt hatten sie 1% der Bevölkerung. Ob diese 1% auch so übertrieben besorgten Eltern hatten? Tu dies nicht, tu jenes nicht, das ist nicht gut für dich! Nun gut, bei körperlicher Überanstrengung werden die Flügel immer dünner, irgendwann sind sie weg und dann greift die Krankheit den Körper an und dir passiert das gleiche wie den Flügeln. Du wirst immer durchsichtiger, bis du schließlich weg bist. Komplett. Unwiderrufbar. Und deshalb ist Fliegen tabu, denn Fliegen ist das höchste, was ein Feenkörper leisten kann. Aber Fliegen ist nunmal auch der Lebensinhalt einer jeden Fee. Wenn man fliegt, fühlt man sich unglaublich toll, als gehöre die ganze Welt einem allein. Energie durchströmt den Körper, man erkennt die guten Dinge des Lebens. So sagten es die anderen, denn Fay war ja noch nie geflogen. Und sie bedauerte es zutiefst.

"Fay, diese Veranstaltung ist nicht so besonders, um dafür sein Leben aufs Spiel zu setzen!"
"Ach ja, und was ist es dann? Wenn es so unwichtig ist, wieso willst du dann unbedingt hingehen? Warum kaufst du dir das ganze Flügel-Beglitzer-Zeug, wenn es so WAHNSINNIG UNWICHTIG IST?!" Die letzten Worte schrie Fay aus tiefster Seele. Sie atmete schwer und unregelmäßig. Der Streit tat ihrer Gesundheit gar nicht gut, das spürte sie. Aber irgendwie musste Fay es ihrer Mutter ja klarmachen.
"Weil ... man trifft alte Bekannte, und ..." Fay unterbrach ihre Mutter.
"Du bist so egoistisch! Du musst nicht täglich darauf achten, dass du auf einmal vom Schicksal wegradiert wirst!" Das schien ihre Mutter endlich zu verstehen. Sie senkte beschämt den Kopf.
"Hör zu, ich werde nicht hingehen, okay?", sagte Fays Mutter lautstark. Fay schüttelte den Kopf. Ihre Mutter hatte nicht die Hauptsache begriffen, um die es Fay ging. Sie atmete tief durch und versuchte, das langsam einsetzende Schwindelgefühl in den Hintergrund ihrer Gedanken zu stellen.
"Mama", begann sie, so ruhig es ging. "Es geht mir eigentlich nicht darum, dass du nicht zum Himmelstanz darfst. Ich will nur einmal fliegen dürfen, nur ein klein wenig, nur beim Himmelstanz. Verstehst du das?" Ihre Mutter ließ sich Zeit mit der Antwort.
"Natürlich", sagte sie schließlich, "aber das ist unmöglich."



Während Fay sich an das energische Gespräch mit ihrer Mutter erinnerte, traten ihr wieder Tränen in die Augen und flossen kristallklar an ihren Wangen hinunter. Fay wandte ihren Kopf zu den Flügeln. Die Spitzen waren schon fast durchsichtig, aber der gute Beobachter vermochte noch die wunderschönen, langen Konturen erkennen, die einmal hellblau gewesen waren wie der Rest der Flügel. Sie würde es schaffen können. Vielleicht würde überlebte sie es nicht, aber der Wille zu fliegen war nun größer als alles andere. Es war ihr wichtiger als das Glück ihrer Mutter, wichtiger als ihr Leben, wichtiger als alle ihre Freunde. Vielleicht sollte sie es tatsächlich tun. Aber sie sagte es niemandem.

"Hey, hast du schon ein Kleid für das Himmelsfest? Es ist unglaublich schwer, ein Kleid zu finden, das gut aussieht, mit dem man aber trotzdem fliegen und tanzen kann. Aber wenn du willst, können wir es zusammen besorgen!" Fays übereifriger Freundin wurde erst im Nachhinein bewusst, dass sie Fay gerade sehr verletzt hatte. Bestürzt sah sie zu, wie ihre Freundin aus dem Raum ging.



Fay stand auf, wischte sich die Tränen weg und sah sich um. Die Vorbereitungen für den Tanz waren nun fast vollständig getroffen. Nicht mehr lang, und sämtliche begeisterte Feenfrauen und -männer würden herbeifliegen und sich einen Spaß daraus machen, dass Fay nicht fliegen durfte. Mit stechendem Herzen dachte sie an ihre Flügel. Jetzt beschlich sie die Angst. Sie konnte nicht fliegen. Sie würde vermutlich sterben. Der Gedanke war entmutigend.
In den nächsten beiden Stunden trudelten immer mehr Feen ein. Als ihre Freundinnen kamen, wollte Fay sich in das Feenhaus zurückziehen. Die würden ihr nur ungelenk ihre super-tollen neuen Kleider zeigen und Pirouetten drehen. In der Luft, natürlich. Ohne sie. Weil sie zu aufgeregt waren, um die Trauer ihrer Freundin zu bemerken. Doch im Haus war ihre Mutter, und Fay war klar, wenn sie nun hineinging, würde ihre Mutter sie sofort unter ihre Flügel nehmen. Und mit ihrer Ausrede, sie sei noch gerade bei ihrem Bruder und würde etwas abholen, konnte ihre Mutter bisher ganz gut leben.
"Hey, Fay!" Sie kamen alle auf einmal angeflogen.
"Toll hier, nicht? Ich freue mich so!"
"Ich bin total aufgeregt! Was, wenn ich den Tanz vermassele? Die nächste Gelegenheit gibt es erst in zwanzig Jahren wieder, und bis dahin bin ich alt und runzlig!"
"Du übertreibst. Außerdem kannst du doch super fliegen!"
Die Stimmen ihrer Freundinnen schwirrten in allen Tonlagen in Fays Kopf.
"Verschwindet", sagte sie nur. Vor ihren Augen war alles verschwommen, die Bilder verlifen wie in Zeitlupe, ihre Gedanken ebenso.
"Oh, ich verstehe. Tut uns leid. Bis bald dann!" Die Verabschiedung kam allmählich bei Fays Ohren an. Sie sah ihren Freundinnen her, die Stimmen hörte sie nicht mehr. Wie von anderer Hand gelenkt, stand sie auf. Sie wollte fliegen. Sie musste fliegen. Sie konnte fliegen. Zweifel nagten an ihr wie hungrige Biber, aber Fay beachtete sie nicht. Sie würde es schaffen. Sie wusste es. Die Musik zum Himmelstanz erklang. Jetzt oder nie. Mit der Musik schwangen sich sämtliche, am Boden gebliebene Feen in die Luft. Und Fay würde es auch tun. Vorsichtig probierte sie, ihre Flügel nur mit ihren Gedanken zu bewegen. Es klappte, wenn auch nur beschwerlich. Und ehe sie darüber nachdenken konnte, war sie in der Luft.
Das Gefühl war atemberaubend. Energie durchfuhr ihre Adern wie flüssiges Feuer, ihr Herz schlug wild. Sie jauchzte, ungeachtet der Feen, die ihr ihre Blicke zuwarfen. Das war das Gefühl, das sie ihr ganzes Leben vermisst hatte. Sie hatte es gewusst. Sie konnte es. Luft peitschte ihr ins Gesicht, während sie sich zur Musik bewegte. Der Takt war fröhlich und schwungvoll. Fay registrierte nicht, wie sich nach und nach ein Schleier um ihre Sinne bildete. Sie hörte nichts mehr, sie fühlte nichts mehr. Sie sah nichts mehr. Und dann fiel sie.
Aber sie lebte. Und sie war geflogen.

Impressum

Texte: imagine26
Bildmaterialien: Pixie Brush by obsidiandawn.com | Glitter Brush by obsidiandawn.com | Edited by imagine26
Tag der Veröffentlichung: 08.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /