Wie du möglicherweise bereits bemerkt hast, ist dieses Buch eine Art Geschichtensammlung. Allerdings ist es eine besondere Art von Geschichtensammlung. Der Inhalt des Buches ist aufgebaut wie eine Straße. Die Straße der Erzählungen. Jedes Kapitel stellt ein Haus dar, und jedes Haus beinhaltet eine andere Erzählung oder Geschichte. Besuche doch einmal das Haus der Sängerin, oder vielleicht doch lieber das imposante Haus des Herzogs? Es ist dir überlassen, wie du das Buch liest. Du kannst jede zweite, dritte oder vierte Hausnummer lesen, alle Häuser, die eine gerade oder ungerade Nummer besitzen oder einfach alle hintereinander. Im Inhaltsverzeichnis auf der nächsten Seite findest du bestimmt etwas, das dich interessiert. Viel Spaß beim Lesen!
Deine Caitlin
Die Bewohnerin des ersten Hauses der Straße war noch ein junges Mädchen. Sie und ihr kleiner Bruder waren arm, ihre Mutter war tot und der Vater seit der Geburt verschwunden. Von ihrer Großmutter hatten sie das alte, zerfallene Haus am Rande der Straße geerbt. Doch der Putz bröckelte bereits von den Wänden, die Fenster waren zerschlagen und das Dach schief. Manche bezeichneten es als Hexenhaus, was allgemein Unbehagen unter den Nachbarn auslöste, sobald sie daran vorbei gingen. Niemand kümmerte sich um die Kinder. Tag für Tag bangten sie um ihr Leben, sie hatten kein Geld für Nahrung. Und so beschloss das Mädchen eines Tages, Münzen sammeln zu gehen. Jeden Morgen machte sie sich auf den Weg in die Stadt, um Geld zu erbetteln. Klein, wie sie war, ging sie den meisten Passanten nur bis zum Bauch, sie fiel kaum auf. Es war nicht verwunderlich, dass sie keinen Erfolg hatte. Abends kam sie nach Hause, mit einer halben Birne, die sie auf dem Boden gefunden hatte. Und sie teilte gerecht mit ihrem Bruder. Mit solchem Abfall hielten sie sich über Wasser, doch das, und das war dem Mädchen klar, war auf weite Sicht kein Weg. Von den täglich leereren Mägen angespornt, sprach sie eines Tages zu ihrem Bruder.
»Ich werde arbeiten«, entschied sie. Es war eine Entscheidung, die ihr nicht leicht gefallen war. War Arbeiten nicht das, wo die Leute furchtbare Dinge tun mussten und mit der Zeit ganz wirr im Kopf wurden? Doch mit der Zeit wurde dem Mädchen klar, dass es wirklich keine andere Chance gab, sich und ihren Bruder vor dem Hunger zu retten. Doch jetzt drängte sich ihr die Frage auf, wo sie Arbeit finden sollte. Wer wollte schon ein kleines Mädchen einstellen, das nicht einmal richtig Lesen und Schreiben gelernt hatte? Ängstlich machte sie sich am nächsten Morgen wieder auf in die Stadt, doch dieses Mal mit einem anderen Ziel. Mit eingezogenen Schultern tippte sie jeden Menschen an, der einigermaßen gescheit aussah.
»Entschuldigen Sie«, wiederholte sie wieder und wieder, in der Hoffnung, dass der nächste nicht fauchend den Arm wegreißen und weggehen würde. Auf den Satz »Kann ich für Sie Arbeit machen« erntete sie bestenfalls Gelächter. Ein junger Herr in Anzug machte sogar Anstalten, ihr eine Ohrfeige zu geben. Am schlimmsten verletzte sie jedoch eine ältere Frau, die mit funkelnder Kleidung und gerecktem Kinn die Gassen entlang schritt.
»Geh wieder zu deiner Mutter«, wies sie das Mädchen von oben herab an. »Ungezogenes Kind – Deine Eltern haben dir wohl überhaupt keine Manieren beigebracht. Kann ich Arbeit haben? So etwas fragt doch kein verdrecktes, hässliches Kind wie du eines bist!« Beinahe hätte das Mädchen nach der hochnäsigen Dame ausgeholt, doch es zwang sich, einen guten und unberührten Eindruck zu machen und weiter zu fragen. Wenn sie abends nach Hause kam, war sie noch erschöpfter als früher. Ihr Bruder begann, sich Sorgen zu machen. Doch auch auf seine Bitte hin, aufzuhören, ließ sie sich nicht von der Arbeitssuche abbringen. Es musste Geld verdient werden. Sie sollten sich nicht mehr von Abfall ernähren müssen. Doch bereits nach zwei Wochen wurde der kleine Bruder des Mädchens krank. Er klagte über Übelkeit und Bauchschmerzen. Nun konnte das Mädchen nicht mehr so viel Zeit für die Stadtgänge aufwenden. Sie konnte ihren Bruder nicht, wie vorher, rund um die Uhr allein lassen. Die Arbeitssuche beschränkte sich von da an auf drei Stunden pro Tag, doch die folgenden drei Tage blieb sie weiterhin erfolglos. Am vierten Tag saß sie wie immer am Rand des Bettes ihres jüngeren Bruders und sang ihm ein Schlaflied vor, wie jeden Tag, wenn sie sich auf den Weg in die Stadt machte. Als er eingeschlafen war, brach sie auf- Schon als sie die ersten Schritte in die Stadt setzte, fiel ihr eine Veränderung an der Umgebung auf. Doch erst auf den zweiten Blick bemerkte sie, dass es viel voller war als sonst. Vielleicht war ja Markt? Das Mädchen konnte sich nicht erinnern, welchen Wochentag sie hatten. Sie stöberte sich durch das Geschehen, und dann erkannte sie schließlich, was los war: Ein Stadtfest war angesetzt worden. Viele Menschen trugen bunte Kostüme und es gab fast ein Dutzend Stände, deren Verkäufer allerlei Leckereien und Kleinigkeiten anboten. Vor Staunen blieb dem Mädchen der Mund offen stehen. Bisher hatte sie nur die üblichen Wochenmärkte besucht, noch nie war sie auf einem richtigen Stadtfest, wie ihre Mutter es ihr früher beschrieben hatte, gewesen. Plötzlich huschte ein Schatten über ihr Gesicht. Dem Bruder würde es hier bestimmt gefallen, überlegte sie traurig. Das erinnerte sie wieder daran, weshalb sie eigentlich hergekommen war. Machte es Sinn, unter all diesen fröhlichen, bunt gekleideten Leuten jemanden zu suchen, der ihr Arbeit gab? Nach kurzer Überlegung entschied sie sich dagegen. Bestimmt dachte hier niemand an etwas Ernsthaftes wie Geldverdienen. Also trat sie ein wenig enttäuscht den Rückweg an. Heute würde ein erfolgloser Tag werden. Der Gedanke, dass sie nun wenigstens mehr Zeit hätte, sich um ihren Bruder zu kümmern, tröstete sie nur ein wenig, denn hoffentlich schlief der Bruder und brauchte nicht umsorgt zu werden. Schlafen tat ihm gut. Während sie über diese Dinge nachdachte und nach Hause ging, drang auf einmal der wundervolle Klang heller, weiblicher Stimmen in ihre Ohren. Sie ließ den Gedanken an den Rückweg fallen und folgte der Musik. Sie zwängte sich durch die Menge, bis sie an einer großen Traube von Menschen ankam, die entzückt um etwas oder jemanden herumstanden. Neugier flammte im Herzen des Mädchens auf. Mit ein paar gemurmelten Entschuldigungen drängte sie sich nach vorne. Was sie sah, überraschte und schockierte sie gleichermaßen und mehr, als das Stadtfest dies vermocht hatte. Es waren nicht die vier Sängerinnen, die mit ihren schönen Stimmen die Leute verzückten. Es waren viel mehr die Leute selbst. Das Mädchen traute seinen Augen nicht. Konnte es tatsächlich sein, dass die Menschen hier für den Gesang bezahlten? Bekam man dafür Geld, auf der Straße zu singen? Immer wieder trat jemand vor und warf Münzen in eine Blechbüchsen die vor den Frauen aufgestellt war. Diese Szene entfachte das Feuer einer neuen, wilderen Idee in ihr. Wie wäre es, wenn sie selbst in der Stadt eine alte Blechbüchse aufstellte und sänge? Konnte sie überhaupt singen? Sie war sich nicht sicher. Bisher hatte sie nur gesungen, um ihren Bruder in den Schlaf zu singen. Doch die Idee reizte das Mädchen sehr. Es war so viel einfacher und spaßiger, als sie sich Arbeiten vorgestellt hatte. Nun stellte sich eine weitere Frage: Sollte sie ihrem Bruder davon erzählen? Auf der einen Seite beflügelte sie die Vorstellung, wie die Augen des Bruders endlich wieder zu Leuchten begannen. Doch andererseits hatte sie nicht vor, ihm unnötig Hoffnungen zu machen. Was, wenn sie mit Gesang nichts verdienen würde? Am Schluss entschied sie, dem Bruder vorerst nichts zu sagen. Aber versuchen würde sie es auf jeden Fall. Das Mädchen kam an diesem Tag recht früh heim. Sie hatte nur noch eine Blechbüchse gesammelt, die vor einer unangenehm riechenden Mülltonne gelegen hatte. Danach war sie direkt nach Hause aufgebrochen, um sich in Ruhe Lieder auszudenken, die sie vortragen könnte. Im Haus Nr. 1 war es ungewöhnlich still, als das Mädchen über die Türschwelle trat. Besorgt lief sie zum Bett des Bruders. Sonst erzählte er sich selbst laut Geschichten oder weinte. Manchmal stöhnte er, weil ihn Schmerzen plagten. Doch jetzt war er ganz ruhig. War er etwa … tot? Das Mädchen bekam furchtbare Angst. Zitternd legte sie die Hand auf das kleine Herz des Bruders. Vor Erleichterung traten ihr Tränen in die Augen. Es pochte behutsam und regelmäßig unter ihrer Hand. Er lebte. Doch sein Gesicht zeigte unverkennbar, wie fortgeschritten die Krankheit bereits war. Die Haut war blass und eingefallen und die Lippen trocken und rau. Während sie noch den ganzen Abend am Bett des Bruders hocken blieb, rief sie sich all die Lieder in Erinnerung, die sie schon einmal gehört hat. Als sie in der Nacht am Krankenbett ihres Bruders in den Schlaf sank, schwirrte ihr Kopf noch voller unvollständiger und bruchstückhafter Melodien und Texte.
Der Himmel war blau und wolkenlos, als das Mädchen an diesem Tag in der Stadt war. Hoffnungsvoll stellte sie sich an den Rand des Pflasterwegs und ließ die alte Blechbüchse auf den Boden sinken. Aufgeregt legte es die Hände auf den Rücken, starrte einen Moment auf die Straße und stellte sich ihre Mutter und ihren Bruder vor, wie sie lachten und mit ihr sangen. Sie räusperte sich. Dann hob sie die Stimme zu dem ersten Schlaflied, das sie damals von ihrer Mutter vorgesungen bekommen hatte. Weil sie mit geschlossenen Augen sang, konnte sie nicht sehen, dass die Leute sich zu ihr umdrehten. Sie bemerkte nicht, wie entzückt und erstaunt sie waren, dass ein kleines Mädchen so reizend singen konnte. Erst beim Scheppern von Geld, das in eine Blechbüchse fiel, öffnete sie die Augen.
Seitdem ging sie jeden Tag singen. Dem Bruder erzählte sie nichts, er schlief jetzt meistens, wenn das Mädchen nach Hause kam, was dem Mädchen zugleich Sorgen nahm wie Sorgen bereitete. Der Bruder fragte nicht einmal, warum sie nun keinen Abfall mehr, sondern jeden Tag einen frischen roten Apfel essen konnten. Das Mädchen war zufrieden. Endlich hatte sie eine Art Arbeit gefunden. Niemals hätte sie sich das erhofft, was der nächste Tag bringen sollte. Wie immer stand sie hinter der Blechbüchse und sang ein paar Schlaflieder, die sie jedes Mal ein wenig veränderte. Das Publikum warf hier und da eine Münze in die Büchse, hörte noch in wenig zu und verschwand dann. Doch heute fiel dem Mädchen ein älterer, etwas pummeliger Mann mit Halbglatze auf. Er trug einen sauberen Anzug und eine bunte Krawatte und hörte dem Gesang des Mädchens die ganze Zeit über interessiert zu. Als sie endete, warfen die letzten Passanten ein paar Münzen in die Büchse und zogen von dannen. Der Mann blieb. Das Mädchen lächelte ihn an, hob die Büchse auf und begann, das Geld zu zählen. Auf einmal fing der Mann an zu sprechen.
»Du bist sehr talentiert«, sagte er und lächelte warmherzig. Überrascht schaute das Mädchen hoch.
»Wo hast du das Singen gelernt?«, fuhr er fort. Das Mädchen zuckte verlegen mit den Schultern. »Ich habe es nie gelernt«, gab sie zu. »Ich singe immer für meinen kranken Bruder. Dann kann er besser einschlafen.« Der Mann nickte berührt. Sie kamen ins Gespräch und er erfuhr alles über das Schicksal des Mädchens, wie ihre Mutter gestorben war und schließlich ihr Bruder krank wurde.
»Und dann habe ich beschlossen, zu singen«, endete sie. Sie zuckte kurz zusammen, als der Mann die große Hand auf ihre Schulter legte und sich zu ihr herunterbückte.
»Weißt du, ich bin auch Sänger«, sagte er. »Und zwar im Nationalen Chor für Kinder und Erwachsene. Weißt du, was ein Chor ist?«, fragte er. Sie wusste es nicht, und der Mann erklärte ihr, ein Chor sei eine große oder kleine Gruppe von Menschen, die zusammen singen. Das Mädchen wusste nicht, was sie davon halten sollte.
»Das ist schön«, sagte sie höflich, »aber was hat das denn mit mir zu tun?« Der Mann lächelte zuvorkommend.
»Ich möchte, dass du in unserem Chor singst. Deine Stimme hat etwas außergewöhnliches, etwas, was wir gut gebrauchen könnten.«
»Krieg ich dafür Geld?« Die Frage war dem Mädchen herausgerutscht, bevor sie sich über die Höflichkeit Gedanken machen konnte. Doch der Mann lachte nur noch netter.
»Willst du denn dafür Geld bekommen?«
»Ja.« Wenn sie es umsonst machen würde, wäre
sie viel besser dran, auf der Straße zu singen, das war ihr klar.
»Nun, dann bekommst du natürlich auch Geld dafür«, sagte der Mann. Das Mädchen blinzelte überrascht.
»Wirklich?«
»Aber natürlich. Und wenn du ein bisschen länger bei uns warst, kannst du auch mit uns auftreten, wenn du möchtest. Na, was hältst du davon?«
»Ich... ich weiß nicht. Ich kann meinen Bruder nicht allein lassen. Er ist doch krank und noch so klein...«
»Sag mal, darüber habe ich eben bereits nachgedacht. Was hältst du davon, wenn eine gute Freundin von mir bei euch einzieht? Dann wärt ihr nicht mehr so einsam, und sie kann für euch kochen und euch Lesen und Schreiben lehren. Sie mag Kinder wirklich gern. Na, was sagst du?« Das Mädchen sagte, sie wolle die Dame erst einmal kennen lernen, ebenso wie diesen Kor. Und das durfte sie. Der Mann holte mit ihr zusammen den Bruder ab und brachte ihn in ein Krankenhaus. Dort wurde er geheilt und war wieder so lebendig wie nie zuvor. Die Dame, von der der Mann gesprochen hatte, war sehr nett. Sie zog bei den Kindern ein und wurde bald wie eine Mutter für sie. Die Kinder lernten Lesen und Schreiben und Rechnen. Das alte Haus wurde renoviert und war hinterher viel bunter und fröhlicher. Das Mädchen besuchte regelmäßig den Chor und wurde viele Jahre später eine bekannte und beliebte Sängerin. Und mit dem Geld, das sie in späteren Jahren zahlreich verdiente, half das Mädchen anderen armen Waisen.
Das Haus Nummer Zwei der Straße der Erzählungen ist anders. So beschrieben wenigstens die Leute, die daran vorbeigingen. Es war klein und länglich und hatte ein merkwürdig anmutendes Dach. Der Anstrich wechselte sich mit breiten Streifen zwischen einer Art Bonbon-Rosa und Bonbon-Grün ab. Und davor, davor waren beinahe drei Dutzend Blumenkörbe und -töpfe, bepflanzt und befüllt mit den verschiedensten und merkwürdigsten Blumen, die man je gesehen hatte. Sie hatten die unglaublichsten und wunderschönsten Farben. Schon von weitem konnten die Leute die tollen Düfte riechen, die von Blumen ausströmten. Es roch wie tausend Parfüms auf einmal. Die Bewohnerin dieses Hauses war Blumenhändlerin. Sie lebte für die Pflanzen und war jedes Mal traurig, wenn wieder welche verwelkten oder keinen Besitzer fanden. Letzteres kam eher selten vor, da der Laden sehr beliebt war. Jeder wollte Blumen von der Frau haben, die allgemein Frau Blümlein genannt wurde. Frau Blümlein freute sich über jeden, der beim Betreten ihres Ladens zu Lächeln oder zu Staunen anfing. Für jeden, der Interesse an ihren Blumen zeigte, hatte sie ein bestimmtes Exemplar, das genau zu dem Kunden passte und exakt dem entsprach, was der Kunde sich vorgestellt hatte. Wenn ein Kunde sich über die Pflanze gefreut hatte, war Frau Blümlein für den gesamten restlichen Tag gut gelaunt. Allgemein kannten sie die Menschen, die ab und zu ihr Geschäft besuchten, nur fröhlich und lachend und mit einem netten, aufmunternden Satz auf den Lippen. Doch so wunschlos glücklich, wie sie zumeist schien, war sie nicht. Denn sie hatte einen großen Wunsch, einen, der sich nicht kaufen ließ oder für den man sparen konnte. Sie wünschte sich einen Freund. Jemanden, mit dem sie reden konnte und dem sie erzählen konnte, wie sehr sich Frau Meyer über diese Pflanze oder Herr Schmitt über jene Blume gefreut hatte. Wenn sie abends im Garten war und ihre vielen Blumen goss, dachte sie häufig darüber nach, wie schön es wäre, sich dabei unterhalten zu können. Irgendwann begann sie, vor dem Schlafengehen Tagebuch zu führen. Sie schrieb auf jede Seite glückliche oder weniger glückliche Ereignisse des Tages nieder. Sie zeichnete die Blumen, die heute einen neuen Besitzer gefunden hatten, hinein. Doch es half ihr nicht. Es gab ihr nicht das Gefühl von Gesellschaft, dass sie so gern hätte. Im Gegenteil, sie fühlte sich dadurch fast noch einsamer. Also hörte sie mit dem Schreiben auf. Stattdessen begann sie, die Kunden zum Kaffee einzuladen oder zu Keksen oder Kuchen. Doch auch das half nicht. Die meisten winkten freundlich ab, sie hätten keine Zeit oder sie müssten ganz schnell die Blume zur Schwiegermutter bringen. Die wenigen, die das Angebot annahmen, blieben nur kurz. Es war eine traurige Situation für Frau Blümlein. Irgendwann verbrachte sie ihre gesamte Freizeit fast ausschließlich bei den Blumen, die ihr zumindest ein wenig das Gefühl gaben, jemanden bei sich zu haben. Doch dieser eine Tag änderte eine Menge. Es war bereits der nächste Tag, an dem ihr größter Wunsch in Erfüllung gehen sollte. Frau Blümlein war bereits direkt nach dem Frühstück in den Garten gegangen, um ihren Blumen Guten Morgen zu sagen. Danach öffnete sie ihren Blumenladen. Nachdem sie ein junges Ehepaar, einen Jungen mit seiner Mutter und zwei, drei alte Damen bedient hatte, ging sie in die Küche, um etwas zu trinken. Doch was war das? Auf dem Tisch lag eine kleine, lindgrüne Schachtel. Frau Blümlein runzelte die Stirn. War jemand ins Haus gekommen, um ihr dieses Päckchen auf den Tisch zu legen? Da entdeckte sie, dass die Schachtel auf einem bunt bemalten, glitzernden Briefumschlag stand. Behutsam nahm sie das Kästchen von der Botschaft und öffnete den Brief. Die Buchstaben waren mit blauer Tinte in Schnörkelschrift verfasst worden, und das Papier war Pergament in den Farben ihres Hauses. Verwirrt las sie die Zeilen: Liebes,
du wirst jetzt wahrscheinlich verwirrt sein. Die beiliegende Schachtel enthält das, was du, soweit ich informiert bin, am meisten ersehnst. Ich freue mich, dir schreiben zu können, dass ich in der Lage war, dir den Wunsch zu erfüllen.
Alles Liebe, und viel Spaß mit Beiliegendem,
Die Gute Fee
Frau Blümlein las den Brief mehrmals, bevor sie ihn ablegte. Die Gute Fee? Die gab es doch gar nicht, oder doch? War sie nicht einfach Bestandteil schöner Kindermärchen? Davon war Frau Blümlein bis jetzt ausgegangen. Ich werde es gleich herausfinden, dachte sie und nahm das Päckchen, das noch immer unberührt auf dem Tisch gelegen hatte. Mit ihren erdigen Fingern zog sie den Deckel auf. Überrascht zog sie die Augenbrauen hoch. Die Schachtel hatte einen Grasboden. Das Gras wuchs auf feuchter, fruchtbarer Erde. Es sah aus, als hätte man eine Wiese in der Schachtel gepflanzt. Noch bevor Frau Blümlein sich fragen konnte, was das mit ihrem Wunsch zu tun hatte, entdeckte sie einen kleinen Keim, der kaum größer als einer der Grashalme war. Um ihn herum war ein kleines Stück Papier geschlungen worden, das die Lettern »Gies mich« trug. Die Schachtel nicht aus den Augen lassend, holte Frau Blümlein die kleinste Gieskanne, die sie finden konnte, und tröpfelte ein wenig von dem Wasser auf die Erde. Unsicher stellte sie die Schachtel wieder auf den Tisch und starrte sie erwartungsvoll an. Mit einem Mal wuchs der Keim, zehn, zwanzig, dreißig Zentimeter hoch. Erschrocken zuckte Frau Blümlein zurück und wartete. Eine große, regenbogenfarbene Knospe öffnete sich langsam. Und dann, als die Blütenblätter beinahe vollständig ausgebreitet waren, erschien zwischen den Blütenblättern ein freundliches, aber müde aussehendes Gesicht.
»Hallo«, sagte die Blume freundlich. Die Blütenblätter rieben die verschlafenen Augen der Blume, die, zu Frau Blümleins großer Überraschung, gähnte.
»Ähm… äh…«
»Das ist aber keine besonders nette Begrüßung«, stellte die Blume beleidigt fest. Eine Blume spricht mit mir!, dachte Frau Blümlein und starrte die Blume weiterhin unhöflich an.
»HALLO!«, schrie die Blume auf einmal so laut, dass Frau Blümlein aus ihrer überraschten Schockstarre erwachte.
»Tut mir leid, aber… Aber du bist eine Blume!«, stammelte Frau Blümlein.
»Tja, das bin ich wohl«, erwiderte die Blume. »Aber das ist kein Grund, mich nicht ordentlich zu begrüßen, mich, deinen neuen besten Freund!«
»Mein neuer bester… wie?«
»Dein neuer bester F-R-E-U-N-D«, buchstabierte die Blume und rollte die winzigen Äuglein.
»Du… Du bist ein Er?«
»Warum nicht? Nur weil es die Blume heißt, müssen doch nicht alle Menschen denken, es gäbe nicht auch Blümer!«, meinte die Blume - Pardon, der Blümer – leicht gereizt. Es bedurfte noch ein wenig (- oder ein wenig mehr - ) Gesprächsstoff zwischen dem Blümer und Frau Blümlein, bis sie endlich einigermaßen verstanden hatte, was passiert war. Als sie an diesem Abend im Bet lag, dachte sie lange nach. Die Gute Fee hat mir einen Freund geschenkt. Die Gute Fee hat mir einen Freund geschenkt. Und er… Er ist ein Blümer. Ein Blümer… Doch ihre Gedankengänge wurden jäh unterbrochen, als vom Nachttisch ein Ruf ertönte.
»Mach das Licht aus!«, rief der Blümer, »kann man denn hier nicht in Ruhe schlafen?« Und Frau Blümlein schaltete lächelnd das Licht aus.
Am nächsten Morgen wurde Frau Blümlein bereits früh von dem Blümer geweckt. So ging es nun jeden Morgen. Es dauerte nicht lange, da hatte Frau Blümlein ihren Blümer sehr, sehr lieb gewonnen. Sie stellte ihn in den Laden, wo er ihr bei Entscheidungen für die Kunden half und von eben jenen bestaunt wurde. Die Kunden mochten den Blümer. Wenn sie hereinkamen, begrüßten sie zuerst ihn, dann Frau Blümlein. Frau Blümlein gefiel das. Endlich hatte sie nicht mehr das beengende Gefühl der Einsamkeit, nun konnte sie endlich mit jemandem reden, der ihr Freund war. Das Gefühl beflügelte sie, und sie war fröhlicher als je zuvor in ihrem Leben. Wenn sie einen stressigen Tag gehabt hatte, munterte der Blümer sie mit seiner direkten und lustigen Art wieder auf. »Wenn du noch einmal den Kopf hängen lässt, werde ich dich gießen müssen!«, drohte er manchmal. Frau Blümlein blühte auf. Von jetzt an kamen Passanten, die vom Blümer gehört hatten, einzig und allein, um ihn zu bestaunen. Doch meistens verkauften sich dabei noch ein, zwei Blumen, weil die Kunden so entzückt waren von dem Laden und dem Blümer und natürlich der fröhlichen, aufheiternden Art von Frau Blümlein. Alles schien perfekt, und Frau Blümlein betete oft dankend zu der Guten Fee. Sie hoffte, dass die Fee wusste, wie dankbar sie ihr war.
Wehmütig beobachtete sie jedoch, wie der Blümer größer und größer wurde. Bald hatte er die Größe einer Zimmerpflanze. Die Schachtel wuchs immer mit, je größer der Blümer wurde. Irgendwann musste Frau Blümlein ihn während der Arbeit neben den Tresen stellen, weil er auf den Tresen keinen Platz mehr hatte. Und irgendwann wurde Frau Blümlein auch klar, was es bedeutete, wenn Blumen wuchsen.
»Sag mal, lieber Blümer«, sagte sie eines Tages zu ihrem Freund. »Kannst du eigentlich verwelken?«
Der Blümer klang nicht schockiert oder gar verängstigt, als er antwortete.
»Natürlich kann ich welken, was denkst du denn? Alle Blumen und Blümer können welken, weißt du das denn nicht?«
Frau Blümlein hatte es nicht gewusst, und von nun an bangte ihr vor dem Tag, an dem ihr lieber Blümer verwelkt sein würde. Sie sprach ihn nicht wieder darauf an, doch er schien zu spüren, was sie dachte, denn er wurde noch heiterer als sonst. Nachdem er beinahe die gesamte Palette an Rosenwitzen durch hatte, probierte er es mit Narzissen und Veilchen, doch Frau Blümlein vermochten diese Späße nicht aufzuheitern. Die ersten Blüten wurden bereits schlaff und die Blätter zunehmend trockener. Frau Blümlein hatte Angst. Was würde aus ihr werden, wenn ihr bester Freund nicht mehr wäre? Der Blümer unternahm immer verzweifeltere Versuche, seine Freundin aufzuheitern. Er machte immer neue Witze, wenn wieder einmal ein Blütenblatt von ihm hinab fiel. Die Kunden spürten die bedrückte Stimmung bald, wenn sie in den Laden kamen. Die Blumen, die um Frau Blümlein herumstanden, nahmen zunehmend trübere Farben an. Das sorgte dafür, dass nur noch selten Kunden zu Besuch kamen. Frau Blümlein bemerkte es kaum. Jetzt waren bereits die Blätter ihres geliebten Blümers verwelkt. Sorgfältig entfernte sie die abgefallenen Überreste. Nach einer weiteren Woche weckte der Blümer sie erst später. Frau Blümlein stand auf und wollte ihn sofort genauer begutachten, doch diesmal hielt der Blümer sie zurück.
»Meine Zeit ist gekommen«, sagte er lächelnd. Frau Blümlein traten Tränen in die Augen.
»Du… Du darfst nicht gehen! Du kannst mich nicht allein lassen! Dann habe ich doch gar keinen Freund mehr«, schluchzte sie.
»Glaubst du, ich werde dich allein zurück lassen?«, fragte der Blümer warmherzig.
»Ich… Ich verstehe nicht…«
»Doch, du wirst verstehen. Doch jetzt, jetzt muss ich Lebewohl sagen. Du warst eine tolle Freundin für mich. Ich habe die Zeit mit dir genossen«, sagte der Blümer ruhig. Das Lächeln wich nicht von ihm.
»Ich auch«, sagte Frau Blümlein, und sie beobachtete hinter einem Schleier aus Tränen, wie sich das letzte Blütenblatt von dem Blümer löste. Er zerfiel wie Staub, feiner, grüner Staub. Frau Blümlein war verzweifelt. Was sollte sie nun machen? Sie konnte jetzt nicht arbeiten, das war unmöglich. Doch die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als sie einen kleinen, regenbogenfarbenen Samen entdeckte, der auf einmal da lag, wo der Blümer eben verschwunden war. Daneben lag ein Zettel. »Pflanz mich ein«, stand darauf. Mit einem dicken Kloß im Hals nahm Frau Blümlein die Schachtel, die nun wieder auf ein Minimum zusammengeschrumpft war, und trug sie in den Laden, wo sie den Samen sorgfältig einpflanzte. Die Schrift auf dem Zettel veränderte sich.
»Und jetzt gieß mich«, stand darauf. Frau Blümlein zögerte. Ihr kam es nicht richtig vor, einen Ersatz für den Blümer zu nehmen. Ihr Blümer war einzigartig gewesen. Doch dann fielen ihr seine letzten Worte wieder ein. »Glaubst du, ich werde dich allein zurücklassen?«, hatte er gesagt. Er wollte nicht, dass sie allein blieb. Sie griff nach der Gießkanne und tröpfelte vorsichtig Wasser auf den vergrabenen Samen. Wie das letzte Mal wartete sie einen Moment, bis etwas geschah. Doch diesmal geschah nichts. Jemand betrat den Laden. Frau Blümlein schaute auf. Es war ein Mann ungefähr ihren Alters. Er lächelte warm, und für einen kurzen Augenblick glaubte sie, ein Blitzen in den Augen zu erkennen, wie der Blümer es bis zuletzt gehabt hatte.
Es gab nicht besonders viele von den Menschen, die das Haus Nr. 3 schon einmal betreten hatten. Doch unter diesen wenigen wurde es nur noch »Das Haus der Bücher« genannt. Es war sehr hoch, weiß geputzt und mit einem Dach aus lehmbraunen Ziegeln. Darin wohnte ein Schriftsteller mit dem Spitznamen »Der Bücherwurm«. Der Bücherwurm war sehr fleißig. Alle Bücher, die es im Haus gab, waren von ihm geschrieben worden. Und das waren nicht wenige: In jedem Zimmer gab es hohe Regale, die bis zur Decke reichten, und die Wände waren allesamt mit diesen Regalen bedeckt. Der Bücherwurm war bereits ein alter Mann. Daher wollte er ein letztes Buch schreiben, bevor er sich von der Schriftstellerei zurückzog und in den Ruhestand ging. Es sollte ein ganz besonderes Buch werden, großartiger als all die anderen. Doch zum allerersten Mal in seinem Leben hatte der Bücherwurm keine Ideen mehr. Worüber konnte er nur schreiben? Es sollte spannend, interessant, lehrreich und amüsant zugleich sein, ernst, aber nicht zu ernst. Es war ein wahrhaft schwieriges Unterfangen. Der Bücherwurm zerbrach sich beinahe den Kopf darüber. Es war für ihn ein ganz neues Gefühl, dazusitzen und nicht zu wissen, was er schreiben sollte. Auf der Suche nach Ideen ging er nun täglich das gesamte Haus durch. Er las noch einmal die Hälfte seiner selbst verfassten Bücher und ging in Gedanken alle Ideen durch, die er schon einmal gehabt hatte. Doch keine davon taugte etwas für das letzte Werk des Bücherwurmes. Also musste ein neuer Ort gefunden werden, an dem der Bücherwurm Ideen sammeln könnte. Er besuchte sämtliche nahe liegende Museen und Ausstellungen, und ihm kamen eine Menge Ideen, doch die richtige war nicht dabei. Und da kam ihm plötzlich ein merkwürdiger, ja, gar verrückter Gedanke. Plötzlich wusste er, wie er bestimmt an die besten Ideen kam, aus denen er das kreativste Buch verfassen könnte. Bisher hatte er schließlich nur in seiner Umgebung gesucht, doch auf der Welt gab es so viel mehr Museen und Bücher. Und nicht nur das. Möglicherweise würde er ja auf einer Weltreise die Idee finden, die er brauchte? Der Bücherwurm war noch nie gereist. Doch ihm war klar, dass auf der ganzen Welt viel mehr Ideen versteckt waren als dort, wo er war. Und so startete er die Weltreise mit ein wenig Kleidung, Geld und Block und Stift.
Zuerst kam er nach Frankreich. In Frankreich, das wusste der Bücherwurm, aßen die Leute viel Baguette und viele Croissants. Also kaufte er so viel davon wie möglich, in der Hoffnung, dass es ihm Ideen brachte. Er kaufte sich ein dickes Buch über die Geschichte Frankreichs und bestieg den berühmten Eiffelturm, der ihm einen tollen, atemberaubenden Blick über Paris bot. Er nahm an einer Führung durch den Louvre, dem bekannten Museum, in dem die Mona Lisa ausgestellt wurde, teil. Dabei sah er sich jedes Bild penibel an und versuchte, Ideen aus den Gesichtsausdrücken der verschiedenen porträtierten Maler oder den grünen Landschaften herauszufischen. Er besuchte auch noch alle möglichen anderen Teile Frankreichs. Doch die passende Idee fand er in Frankreich nicht.
Also zog er weiter nach Spanien, wo er eine Menge Stiere sah und viel Paella aß. Es schmeckte ihm zwar sehr gut, doch für sein Buch hatte er danach auch keine Ideen.
Sein Weg führte ihn weiter nach Portugal. Dort ließ er sich den Bacalhau schmecken, den Fisch, den die Menschen in Portugal sehr gern und reichlich essen. In Portugal begann er, auf ein großes, weißes Plakat immer die Länder einzuzeichnen, die er schon bereist hatte. Er zeichnete sorgfältig Frankreich und Spanien und Portugal ein und fügte die Besonderheiten der Länder hinzu, die ihm aufgefallen waren. Der Bücherwurm wollte es sich als Erinnerung an seine Weltreise in seinem Haus aufhängen, wenn die Karte vollständig und bunt geworden war. Doch obwohl ihm die Idee der Karte gekommen war, die passende Idee für sein Buch hatte er auch hier nicht gefunden.
So reiste er weiter. Sein Weg führte mit dem Schiff über den Atlantischen Ozean in die bunte Welt Brasiliens. Nach dem, was er in vielen Büchern über Brasilien gelesen hatte, erhoffte sich der Bücherwurm gerade hier ein paar Ideen zu finden. Brasilien ist sehr groß, daher blieb er lange dort, um so viel wie möglich von dem Land sehen zu können. Er trank Caipirinha, ein brasilianisches Getränk. Er sah viele, viele Tiere, beinahe alle davon bunt. Ihm gefielen besonders die Papageien, die mit ihren vielfarbigen Federkleidern einen schönen Anblick boten. Brasilien bot ihm viele Anblicke und neue Eindrücke, doch die Idee fand er auch dort nicht. Ein wenig enttäuscht zeichnete er auch Brasilien in die Karte ein, mitsamt den Papageien, und machte sich auf in die vereinigten Staaten von Amerika.
Die USA waren nicht unbedingt nach dem Geschmack des Bücherwurms, es war zu laut und zu modern, doch das Leben dort beeindruckte ihn sehr. In New York besichtigte er die Freiheitsstatue, von der er so begeistert war, dass er so viele Fotos machte, wie auf seine Kamera passten. Es machte ihm viel Spaß, einmal Fast Food zu essen, wogegen er sich sonst strikt weigerte. Er sah den Mississippi und weitere Tierarten, von denen er bisher nur gehört hatte. Und er lernte einen Freund kennen, mit dem er später noch über Briefe Kontakt halten wollte. Aber auch hier fand er keine passende Idee.
Mit einem leichten Anflug von Verzweiflung wanderte er Richtung Norden nach Kanada. Dort traf er Bären und Elche und lernte das verbreitete Hockey kennen. Obwohl ihm bei dem Gedanken an Sport ein wenig mulmig zu Mute war, probierte er Hockey sogar einmal aus. Mit Bedauern nahm er die blauen Flecken zur Kenntnis, die er mitnahm, doch er nahm sich vor, Hockey mit auf die Karte zu zeichnen. In Kanada rüstete er sich schließlich noch für sein nächstes Ziel auf, mit Mützen, Schals und einem guten Dutzend Handschuh-Paare, denn als nächstes wollte er die Kälte von Alaska auskundschaften.
Der Bücherwurm blieb nicht lange in Alaska. Es wurde ihm schnell zu kalt und die Schlittenhunde verloren, so erstaunlich sie anfangs waren, auch wieder langweilig. Aus diesem Grund wurde dieser Teil der Karte auch nicht ganz so ausführlich, wie er selbst es in Alaska erwartet hätte. Doch als er diesen Kontinent verließ, war er enttäuscht. Weder in Kanada noch in Alaska war er auf der Suche nach der Idee fündig geworden. So langsam beschlichen den Bücherwurm Zweifel. Würde er überhaupt etwas finden, worüber er schreiben konnte? Würde er als sein letztes Werk ein Buch herausbringen können, dass seinen anfänglichen Ansprüchen standhielt? Bis jetzt hatte er noch nichts entdeckt, aber er wollte jetzt nicht aufgeben, und so machte er sich nach Australien auf.
Australien beunruhigte den Bücherwurm, weil es viele giftige Tiere gab. Er versuchte trotzdem ein paar Orte zu besichtigen, doch er blieb nur kurz und letztendlich eher erfolglos. Also legte er Asien und damit zunächst Russland als sein nächstes Ziel fest.
Russland war riesiger, als der Bücherwurm es erwartet hätte. Neben der Landesbesichtigung bemühte er sich, ein paar Worte Russisch zu lernen. Doch bald gab der Bücherwurm es auf und machte sich auf nach China.
China fand er sehr merkwürdig, doch er liebte die Pandabären. Das Essen fand er speziell und zu ungewöhnlich, denn er war es nicht gewohnt, Hund serviert zu bekommen. Abgesehen davon trank er viel Tee, bis er, nach einiger Zeit, nach Afrika aufbrach.
Der Bücherwurm blieb sehr, sehr lange Zeit in Afrika. Er besuchte dort viele Länder und sammelte viele Erfahrungen. Afrika faszinierte ihn. Die Tiere, wie die Menschen. Er war in der Sahara und in den ärmsten Gebieten Afrikas. In diesen Gebieten half er beim Wiederaufbau eines Dorfes mit, was ihn sehr berührte. Doch ihm blieben natürlich auch die schönen Seiten Afrikas in Erinnerung, die er liebevoll auf seine persönliche Weltkarte zeichnete.
Nun war die lange Reise des Bücherwurms beinahe beendet. Erfolglos suchte er noch in Österreich und der Schweiz, bis er schließlich wieder zu Hause ankam. Er war furchtbar enttäuscht. Die ganze Reise war umsonst gewesen. Er hatte völlig ohne Erfolg alle Kontinente besichtigt und auf die winzigsten Kleinigkeiten geachtet. Die Verzweiflung nagte jetzt schmerzhaft an ihm. Es hatte nichts gebracht. Er war genauso ideenlos wie vor seiner Reise. Traurig ließ der Bücherwurm den Kopf hängen. Sein letztes Werk würde wohl ausbleiben müssen. Er setzte sich an den Schreibtisch und sah sich die Karte an, die er während seiner Reise gezeichnet hatte. Der Weg führte in Strichelchen von Frankreich über Spanien und Portugal in die USA und nach Kanada, danach weiter nach Australien und dann ins kalte Alaska, nach Asien und über Russland und China schließlich nach Afrika. Darauf folgten die Abstecher in Österreich und der Schweiz, bis die Strichelchen letztendlich wieder am Start landeten. Während er dort so gedankenverloren saß, kamen ihm all die schönen Dinge wieder in den Kopf die er auf der Weltreise erlebt und gesehen hatte. Er hatte sogar einen neuen Freund gefunden. Und als ihm all diese anderen, schöneren Gedanken durch den Kopf schossen, fand der Bücherwurm auf einmal das, wonach er seit Monaten gesucht hatte: Der Geistesblitz einer Idee traf ihn. Und er begann sofort zu schreiben, stundenlang saß er nun wieder täglich am Schreibtisch und schrieb. Es tat ihm gut, wieder zu schreiben, und dieses Mal gab er sich noch mehr Mühe als je zuvor. Es dauerte sehr, sehr lange, doch endlich hielt er eintausend Seiten Text in der Hand, selbst geschriebene Seiten. Sie trugen den Titel »Meine Weltreise – Auf der Suche nach Ideen«. Und sein letztes Werk wurde das erfolgreichste, das er je geschrieben hatte.
Dieses Haus war fliederfarben, hatte weiße Fenster- und Türrahmen und wurde von einer jungen Frau bewohnt, die schon viele Erfahrungen in ihrem Leben gemacht hatte. Es waren wahrlich keine lebenswichtigen Erfahrungen, außerdem verstand nie jemand, was an ihnen so schlimm war – doch die junge Frau hatten sie geprägt. Sie war wohl eine merkwürdige Persönlichkeit, und niemand wusste so genau, was hinter der Fassade steckte. Nur ein kleines Mädchen, das kaum älter war als zwölf, nur jenes Kind vermochte es, die wahre Seite der Frau aus dem Schatten zu ziehen.
Das Mädchen trat erst spät ins Leben der Frau. Es war eines Vormittags, als es an der Haustür läutete. Die Frau machte sich verwundert auf, die Tür zu öffnen. Sonst kam doch nie jemand zu Besuch. Wer wollte denn bei ihr anklingeln? Es war ein kleines Mädchen, dünn und mit zerzausten Haaren. In der Hand hielt sie einen kleinen, rosafarbenen Koffer.
»Ich kaufe leider nichts«, sagte die junge Frau spontan, und wollte die Tür schon wieder schließen, da stellte das Mädchen ihren Fuß zwischen die Tür und verhinderte so, dass sie zugeschlagen wurde.
»Und ich verkaufe leider nichts«, sagte das Mädchen schlagfertig. Als sie das Gesicht des Kindes sah, hielt die junge Frau verblüfft inne. Sie öffnete die Tür ein wenig weiter.
»Wer bist du?«, fragte sie.
»Ich heiße Emilia, aber alle nennen mich Emmi. Du darfst mich ab jetzt auch so nennen«, sagte Emmi. Die junge Frau hob die Augenbrauen.
»Emilia … und weiter?«
»Schubert, wie Papa und Mama.« Die verwirrende Vorahnung der jungen Frau wurde schlagartig bestätigt.
»Was machst du hier? Ist was mit deiner Mutter? Oder deinem Vater?«
»Mama hat dir doch einen Brief geschrieben, in dem steht, dass sie und Papa für ein halbes Jahr wegfahren müssen wegen der Arbeit. Das hat sie doch, oder?« Die junge Frau konnte sich an keinen solchen Brief erinnern. Trotzdem ließ sie Emilia hinein und kramte im Papierkorb. Tatsächlich, da war er. In dem Schreiben stand, dass Emilias Mutter, also die Schwester der jungen Frau, mit ihrem Mann für sechs Monate nach Amerika reisen müsse, um dort wichtige Geschäfte abzuwickeln. Sie hatten Emilia nicht mitnehmen können, daher hatten sie sie zu der jungen Frau gebracht, in der Hoffnung, sie würde sich gut um das Kind kümmern. Der jungen Frau blieb keine andere Möglichkeit, als ihre Nichte aufzunehmen. Sie war ja kein Unmensch. Doch bereits an diesem Abend ging ihr das Mädchen allmählich auf die Nerven.
»Wie darf ich dich eigentlich nennen?«
»Nenn mich einfach Alice«, sagte Alice.
»Na gut, Alice. Du siehst viel jünger aus als Mama, bist du jünger als sie?«
»Zwölf Jahre, um genau zu sein, ja.«
»So viel?«
»Ja.«
»Mama sagt, du tanzt Ballett. Stimmt das?«
»Ich habe mal getanzt.«
»Ich tanze auch Ballett, und ich will Ballerina werden! Wolltest du das auch?« Alice schluckte. Sie antwortete mit ein wenig gezwungener Stimme.
»Nein. Nein, das habe ich nie gewollt.« Danach schickte sie das Mädchen ins Bett. Doch schon am nächsten Morgen ging es weiter.
»Ich habe heute Ballett-Training. Mama sagt, du bringst mich hin. Machst du das?«
»Ich soll dich zum Ballett bringen? Kannst du da nicht auch zu Fuß allein hingehen?« Emmi verstand nicht, warum Alice nicht mit zum Ballett wollte.
»Aber du hast doch selbst Ballett getanzt! Du kannst mir helfen und mir sagen, wie ich war! Außerdem hat Mama gesagt, du musst mich begleiten.« Alice wusste, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als mitzukommen. Und doch war ihr mulmig zumute bei dem Gedanken, all die kleinen, motivierten Mädchen zu sehen, die das womöglich unerreichbare Ziel hatten, Tänzerin zu werden. Sie fuhren mit der U-Bahn, weil Alice noch keinen Führerschein hatte, und kamen schließlich an dem großen Gebäude der Ballettschule an.
»Hier tanzt du?«, fragte Alice bedrückt. Sie selbst hatte in ihrer Kindheit hier getanzt.
»Jap!«, sagte Emmi fröhlich. Stolz schwang in ihrer Stimme mit.
»Warum wohnst du eigentlich hier? Mama und Papa und ich wohnen eine ganze Stunde von hier entfernt, es dauert immer sehr lange, bis ich beim Ballett bin.« Alice zuckte die Schultern.
»Es ist doch schön hier, nicht?« Sie verriet nicht, dass sie nur aus dem Grund vor drei Jahren hier hin gezogen war, weil die Tanzschule in der Nähe war. Sie betraten das große Gebäude und Alice versuchte, möglichst unauffällig zu wirken. Doch als sie den Gang entlanggingen, der zum Tanzsaal führte, hörte sie es um sich herum tuscheln. Sie versuchte es weitestgehend zu ignorieren und begleitete Emmi bis zur Tür des Tanzsaals.
»Viel Spaß. Ich hole dich dann nach einer Stunde ab, in Ordnung?« Es war nicht in Ordnung.
»Aber willst du denn nicht zuschauen? Bitte, bitte, bitte! Mama hat gesagt, du warst richtig gut. Warum kannst du nicht zugucken und mir hinterher helfen?« Alice gab nach, und so fand sie sich zwei Minuten später auf einem Stuhl in dem Tanzsaal wieder, in dem sie Tanzen gelernt hatte. Aufmerksam beobachtete sie die Kleinen, aber ihr Blick blieb vor allem an Emmi hängen. Sie war wirklich gut. Sie besaß ein unglaublich großes Talent. Traurig erinnerte sich Alice an ihr eigenes Talent, das man entdeckt hatte, als sie in Emmis Alter gewesen war. Sie schüttelte den Gedanken von sich ab und schaute weiter zu. Die Mädchen machten viele Übungen, an der Stange, in der Mitte und durch die Diagonale. Am Ende der Stunde verabschiedete sich die Tanzlehrerin von den Eltern. Alice rief nach Emmi und wollte schon gehen, da kam die Tanzlehrerin zu ihr. Sie lächelte. Doch ihr war ziemlich elend zumute.
»Alice, Alice, wie lang habe ich dich nicht mehr gesehen!«
»Drei Jahre.« Es war das einzige, was sie über die Lippen brachte.
»Oh, und jetzt kommst du wieder zurück? Das ist ja wundervoll!«
»Ähm, nein, ich begleite nur meine Nichte Emilia mit zum Unterricht, weil meine Schwester – also ihre Mutter – verreist ist.«
»Wie schade! Willst du es nicht doch noch einmal versuchen? Du hast jetzt noch die Chance.« Alice senkte traurig ihren Blick und sagte nichts.
»Weißt du, Emilia ist so begabt!«, sagte die Tanzlehrerin leise, damit Emmi nichts mitbekam. »Und ich denke, es ist klar, woher sie das hat.« In diesem Moment kam Emmi angerannt. Hektisch sagte Alice:
»Ja, ich weiß, sie ist sehr talentiert. Aber ich bin es nicht mehr.« Damit ging sie, Emilia hinterher, aus dem Tanzsaal.
An diesem Abend war Alice sehr nachdenklich. Sie saß auf dem Sofa, die Beine um die Arme geschlungen, und überlegte. Sie würde nicht wieder tanzen. So lange hatte sie nicht mehr getanzt, seit … Sie wollte nicht weiterdenken und ging ins Bett.
Die nächsten drei Tage verliefen recht ereignislos. Emmi ging morgens in die Schule, die in der Nähe war, und Alice musste wieder arbeiten. Jetzt, da das Wochenende wieder vorbei war, arbeitete sie als Kellnerin in einem kleinen Café. Jetzt beschränkte sie ihre Arbeitszeit allerdings auf vormittags, damit sie wieder zu Hause war, wenn Emmi von der Schule kam. Doch dann, am vierten Tag nach der letzten Übungsstunde, kam Emilia wieder zu Alice und sagte:
»Du musst mich heute wieder zum Ballett bringen, ich habe Einzeltraining.« Auch dieses Mal wollte Alice nicht mit in den Tanzsaal kommen, zumal Emmi Einzeltraining hatte und die Tanzlehrerin daher viel mehr Gelegenheit bekäme, mit Alice zu reden. Alice war kurz davor, Emmi zu sagen, sie käme am Ende der Stunde wieder, da sah sie hinter Emmis Rücken die Tanzlehrerin, die mahnend den Kopf schüttelte.
»Geh nicht«, sollte das wohl heißen, »tu Emmi den Gefallen.« Und Alice ging nicht, für Emmi. Das Einzeltraining lief genauso ab, wie Alice es noch aus ihrer Zeit kannte. Und Alice konnte nicht umhin, ein bisschen neidisch zu sein auf ihre Nichte. Sie wäre gern noch mal so jung gewesen. Dann hätte sie es verhindern können, indem sie sich ein bisschen mehr angestrengt hätte. „Na, wie findest du sie?“ Die Tanzlehrerin hatte sich zu Alice gesellt. Die zuckte kurz erschrocken zusammen und schaute Emmi beim Tanzen zu. Sie übte gerade konzentriert eine dreifache Pirouette.
»Sie ist wirklich gut«, sagte Alice ernst. Nach einer weiteren halben Stunde war das Training vorbei. Alice nahm ihre Tasche und wollte schon gehen, da wurde Emmi noch einmal zu der Tanzlehrerin gerufen. Alice blieb draußen und wartete. Erst nach zwanzig Minuten kam Emmi wieder heraus. Ihr Gesicht glühte und sie strahlte übers ganze Gesicht.
»Ich darf endlich Spitze tanzen!«, verkündete sie, ohne ihren Stolz zu verbergen. Alice lächelte.
»Wie schön«, sagte sie. Doch das Lächeln war gezwungen. Zu sehr erinnerte sie sich an die wundervolle Zeit, die sie auf Spitze verbracht hatte. Emmi zeigte ihr einen handschriftlichen Zettel von der Tanzlehrerin.
7.5 M, Box 4, Geschmeidig.
»Das sind die Größen der Spitzenschuhe«, erklärte Emmi. Alice nickte.
»Ich weiß«, sagte sie freundlich. Sie dachte angestrengt nach. Sollte sie, oder sollte sie nicht?
»Die Tanzlehrerin hat mich die ganze Zeit Probeschuhe anziehen lassen, damit sie weiß, welche Größe ich brauche«, erzählte Emmi weiter. Alice hörte kaum zu. Als sie nach dem Training, es war schon Abend, nach Hause kamen, nahm Alice Emmi bei der Hand. Ihre Entscheidung war gefallen.
»Du brauchst Spitzenschuhe«, sagte Alice. Emmi nickte etwas verwirrt. »Komm, ich möchte dir etwas zeigen.« Alice führte Emmi zu einer Tür, die die Farbe der Tapete besaß und daher kaum auffiel. Emmi hatte sie bisher noch nicht gesehen.
»Was ist das?«, fragte sie. Alice atmete tief durch.
»Hier«, sagte sie, »war ich seit über zwei Jahren nicht mehr.« Sie zog einen Schlüssel aus der Tasche, mit dem sie die Tür aufschloss. Emmi und sie betraten einen großen, quadratischen, mit rosafarbenem Teppich ausgelegten Raum. Alice knipste das Licht an. An der Seite standen einige Regale, die gefüllt waren mit Spitzenschuhen und Ballettschleppchen. An einer Wand war eine Ballettstange aus Holz angebracht. »Das«, sagte Alice, »ist sozusagen meine Schatzkammer.« Sie wusste nicht, ob sie stolz oder verlegen sein sollte, doch auch sie überwältigte der Anblick. Seit drei Jahren war sie nicht mehr in ihrem ehemaligen Tanzzimmer gewesen. Und jetzt machte sich ein mulmiges Gefühl der Erinnerung breit, sie hatte die Szene plötzlich wieder vor sich. Schnell schüttelte sie den Kopf, um die Bilder aus ihren Gedanken zu vertreiben. »Warum hast du mich hierher geführt?«, fragte Emmi. Sie schaute sich noch immer mit riesigen Augen um. Für sie musste dieser Raum ein Paradies sein. »Ich...ich wollte dir etwas geben«, sagte Alice und ging zu einem der Regale. In einer Glasvitrine lag ein Paar kleiner Spitzenschuhe. »7.5 M, Box 4, Geschmeidig«, sagte Alice verträumt. »Meine ersten Spitzenschuhe.« Hätte sie Emmi in diesem Moment ins Gesicht gesehen, wäre ihr womöglich deren überraschter und bewundernder Blick aufgefallen. Doch so nahm sie ihre Nichte erst wieder wahr, als Emmis Stimme erklang. »Sie sind sehr schön«, sagte sie, vermutlich, um die Stille zu brechen, die bis eben noch in diesem wundersamen Raum geherrscht hatte. Alice nickte. Doch statt eine Antwort zu geben, öffnete sie die Glasvitrine und hob das Paar Spitzenschuhe behutsam aus dem Schrank. Sie wandte sich an Emmi und hielt ihr die Schuhe hin. »Und jetzt gehören sie dir. Emmi schien hin- und hergerissen. Alice sprach weiter. »Als ich die Maße deiner ersten Spitzenschuhe gesehen habe, erkannte ich natürlich sofort, dass es die gleiche Größe war wie die meiner allerersten Spitzenschuhe. Und diese Tatsache ist wirklich merkwürdig, wenn man bedenkt, dass es über tausend verschiedene Spitzenschuhpaare gibt. Ich möchte, dass meine einzige Nichte meine alten Schuhe kriegt. Außer natürlich, du hättest lieber neuere. Das könnte ich schon verstehen, Emmi.« Emmis Mund stand offen. Sie wollte keine neueren Schuhe, und sie fühlte sich sehr geehrt, dass sie Alices erste Spitzenschuhe bekam. Eine Weile schwiegen sie, und Emmi, die die Schuhe nun in der Hand trug und mit großen Augen bewundert hatte, stellte sich eine Frage. Eigentlich hatte diese Frage schon die ganze Zeit im Raum gestanden, doch nun quälte sie Emmi mehr denn je. Schüchtern hob sie den Kopf. »Alice«, fing sie an. Alice schaute sie an. »Warum ... Warum hast du mit dem Tanzen aufgehört?« Alice schaute sie eine ganze Weile weiter in Emmis große Augen. Sollte sie es ihr erzählen? Sollte sie die ganze Geschichte noch einmal in Worte fassen, die sie so oft in ihren Gedanken und Träumen durchlebt hatte? Es ging Emmi eigentlich nichts an, und doch meinte sie, ihre Nichte sollte es wissen. »Komm, setz dich«, sagte sie schließlich und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Auch Emmi setzte sich. Alice wartete noch einen Moment. Es war das erste Mal, dass sie es jemandem erzählte. »Es war die Aufführung von ‚Schwanensee’. Ich ... ich war Odette. Und es hat mir viel Spaß gemacht, diese riesige und anspruchsvolle Rolle zu tanzen, doch dann - nun, es war meine erste große Hauptrolle, ich war es noch nicht gewohnt, so viel auf einmal zu tanzen, und dann, als meine Füße in den Spitzenschuhen langsam müde wurden ... Ich rutschte ab, stolperte und stieß ein anderes Mädchen um. Das Mädchen ... es stürzte und schrie laut auf, mitten in der Vorstellung ... alle scharrten sich auf die Bühne, sogar das Publikum. Und bald wurde klar, dass die Achillessehne gerissen war. Sie musste operiert werden und schließlich stellte sich heraus, dass sie nie wieder tanzen könnte.« Sie senkte den Blick. Emmi wagte es nicht, zu sprechen. Sie wollte Alice die Gelegenheit geben, weiterzuerzählen. »Tanzen war ihr Leben, ihr Traum ... Sie liebte es wie ich es liebte, wie alle anderen Tänzer es liebten ... Und ich habe ihr ihren größten Traum ruiniert. Nur weil ich so schlecht war, durfte sie nicht mehr das tun, was ihr am meisten bedeutet hatte: Das Ballett. Ich ... ich glaube einfach, wenn sie es nicht mehr durfte, dann darf ich es auch nicht mehr.« Es blieb still. Emmi saß da und schaute Alice voller Mitleid, aber auch mit Unverständnis in den Augen an. »Alice?«, fragte sie. Sie wagte es nicht, ihre junge Tante einfach so anzusprechen. Alice sagte nichts, schaute Emmi aber an. Das nahm Emmi als Einverständnis auf. »Ich liebe das Tanzen auch«, sagte Emmi. »Und das, was du getan hast, war ein Unfall. Es hätte jedem passieren können. Du musst doch nicht dein Leben aufgeben, weil jemand anderes es nicht mehr leben kann.« Alice schüttelte den Kopf.
»Oh, es ist mir so furchtbar peinlich!« »Das muss es nicht sein. Es ist grässlich, dass das Mädchen nie wieder tanzen kann, aber das kann man nicht mehr ändern. Und ist ihr damit geholfen, wenn du auch nicht mehr tanzt?« Emmi sprach ernst und einfühlsam. Es war, als wäre plötzlich nicht mehr sie die Kleine, sondern Alice, die mit mattem Blick auf den Boden schaute.
»Und nun?«, fragte Alice. Emmi grinste.
»Nun werden wir dich wieder ans Tanzen gewöhnen!«, sagte sie fröhlich.
Es war, als wäre ein Wunder geschehen. Jahrelang hatte niemand Alice wieder zum Tanzen bringen können, und dann kam Emmi. Tatsächlich besuchte Alice wieder regelmäßig das Ballett. Emmi, die nach dem halben Jahr wieder zu ihren Eltern zurückgekehrt war, traf sich jedes Mal, wenn sie zur selben Zeit Unterricht hatten, am Eingang. Sie wurde eine große Tänzerin und wurde durch die Rolle der Odette in der Zweitfassung des Schwanensee-Balletts berühmt. Alice freute sich, ihre Nichte so groß werden zu sehen. Sie selbst studierte und wurde, nachdem ihre alte Tanzlehrerin in den Ruhestand ging, selbst Lehrerin an der Ballettschule. Und wer wusste schon, was ohne ihre Nichte Emilia aus Alice geworden wäre.
Die Familie, die das Haus Nr. 5 bewohnte, wurde von vielen als »gescheitert« betitelt. Vater und Mutter studierten und heirateten, kauften ein Haus und hatten vor, eine genauso vorbildliche Familie zu gründen wie alle anderen Familienangehörigen. Zwei Kinder sollten es werden, ein Junge, ein Mädchen, und als sich endlich Nachwuchs ankündigte, schien alles perfekt. Zwillinge wurden geboren, ein Junge und ein Mädchen, ganz nach den vorbildlichen Ansprüchen der Eltern. Sie wurden Mia und Kai getauft, Namen, die gemeinsam von der ganzen Familie erwählt worden waren. Doch schon bald wurde das Glas des Glücks in viele Einzelteile zerschlagen. Denn da erkannte man, dass Mia nicht gesund war. Sie konnte nicht sprechen, war stumm. Die Mutter ging nicht mehr zur Arbeit, auch nicht, als die Zwillinge aufwuchsen, Kai sprechend, Mia stumm. Und dann kam die Zeit, in der Mia verschwand. Es war wohl in ihrem achten Lebensjahr, als man das erste Mal nach ihr suchte. Drei volle Tage war sie weg gewesen, bis man sie endlich – in ihrem eigenen Kinderzimmer – gefunden hatte. Von nun an kam es öfter vor, dass Mia weg war. Die Eltern machten sich Sorgen, so sehr, dass letztendlich auch der Vater nur noch zur Arbeit ging, wenn Kai, Mia und die Mutter alle zu Hause waren. Doch so sehr man die Eltern des Mädchens auch bemitleiden mochte, am schwersten hatte es Kai. Von allen hatte er zu seiner Schwester das beste Verhältnis gehabt. Er verstand, was sie nicht ausdrücken konnte, half ihr, wenn sie Hilfe brauchte und spielte mit ihr, wenn sie sich einsam fühlte. Es war schwer für ihn, mitzuerleben, wie Mia ständig verschwand und ihm nie ein Zeichen gab, wo sie hinwollte. Fast ein wenig verraten fühlte er sich. Immer wieder fragte man ihn, ob er nicht wisse, wo Mia steckt, und niemand wollte ihm glauben, wenn er behauptete, er wisse tatsächlich nichts von Mias Aufenthaltsort.
»Vielleicht wird sie erpresst – oder regelmäßig entführt?!«, mutmaßte die Mutter einmal. Kai glaubte nicht an solche erschreckenden Vermutungen. Er wusste wie Mia war, klug, aber auch schüchtern. Er dachte vielmehr, Mia hätte eine Art Versteck, das nur sie kannte und betreten konnte. Ein Rückzugsort. Er sprach seine Schwester niemals auf diese Gedanken an, aus Angst, sie zöge sich von ihm zurück. Einmal jedoch spielten die beiden ein Brettspiel, da rief Kai triumphierend:
»Ha! Hab dich gefunden!« Natürlich war eine Spielfigur gemeint, doch Mia zuckte bei seinem Ausruf sofort erschrocken zusammen. Als sie bemerkte, wie Kai sie verwundert ansah, richtete sie sich wieder auf, lächelte und tat, als wäre nichts gewesen. Von nun an wusste Kai, dass seine Vermutung nicht unbegründet war. Mia verschwand noch in derselben Nacht das nächste Mal. Kai, der mit ihr ein Zimmer teilte, konnte sich nicht erklären, wie er nichts von ihrem Verschwinden hatte bemerken können. Es wurde ein schlechter Tag für Kai und seine Eltern. Wieder suchten sie bis in den späten Abend hinein, nur um Mia schließlich, scheinbar ruhig schlafend, im Zimmer vorzufinden. Kai war wütend auf Mia, weil sie ihm wieder nichts verraten hatte, und die Eltern waren wütend auf Kai, weil sie glaubten, er hätte seiner Zwillingsschwester geholfen. Kai fühlte sich elend. Den nächsten Tag blieb Mia zu Hause, und Kai würdigte sie keines Blickes, doch schon am übernächsten verschwand sie wieder. Dieses Mal suchte Kai nicht mit. Es würde ohnehin keinen Sinn machen. Merkten die Eltern denn nicht, dass Mia überhaupt nicht gefunden werden wollte? Sie würde wieder auftauchen und der ganze Tag wäre umsonst gewesen. Also saß er einfach nur auf seinem Bett und las ein Buch. Er war schon fast fertig, und bald hatte er es ausgelesen. Der Fortsetzungsband sollte spannend sein, und glücklicherweise, das wusste er, besaß Mia dieses Buch. Auf der Suche danach schaute er in ihren Schrank, suchte das Regal ab und kroch schließlich unters Bett. Was nun passierte, faszinierte ihn noch Jahre später. Nur einige Minuten später dachte er allerdings etwas anderes. War er wirklich unters Bett gekrochen? Er fand sich in scheinbar dem gleichen Augenblick auf weiten, grünen Wiesen wieder, nachdem er ein Gefühl verspürt hatte, als rutschte er einen Tunnel hinunter. Und dann entdeckte er jemanden. Neben ihm stand Mia, ein erschrockener Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.
»Du solltest nicht herkommen!«, rief sie aufgeregt. Sie hatte eine wunderschöne Stimme, hell und klar. Für Kai ging auf einmal sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung – seine Schwester sprechen zu hören. Er umarmte sie überschwänglich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Du sprichst!«, rief er, seine Wangen waren vor Aufregung gerötet. Mia nickte, diesmal konnte sie ein Grinsen nicht verbergen.
»Ja, das tue ich«, sagte sie, »und es fühlt sich wirklich toll an!« Doch dann wurde ihr Gesichtsausdruck wieder ernst.
»Du solltest nicht hierher kommen«, wiederholte sie. »Es ist nicht gut, in einer unrealistischen Welt zu leben.« Das verstand Kai nicht.
»Wie … wie meinst du das?«
»Ich … ist egal.« Kai schaute ein wenig überrascht, sagte aber nichts dazu. Stattdessen fragte er:
»Kannst du mir denn das hier zeigen?«
»Das hier?« Mia schien verwirrt.
»Diese … Gegend.« Erst sah es aus, als zögerte Mia, doch schließlich lächelte sie und nickte. Sie nahm Kais Hand und zog sie mit sich.
»Wo wir jetzt hingehen, da ist der Treffpunkt«, begann sie. Kai blieb kaum Zeit, sich alles anzusehen, doch ein paar Dinge schnappte er auf, wie die hellgrünen Wiesen, der ordentliche Kiesweg, auf dem sie gingen und die Bäume, allesamt gesund und kräftig, die den Wegrand säumten. Was Mia wohl mit »Treffpunkt« meinte? Kai fragte nicht, denn sie waren bereits an einer steinernen Plattform angekommen, auf der ein großer Holztisch stand. An dem Tisch saßen alle möglichen Menschen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sie sahen glücklich aus, lachten und unterhielten sich. Einige spielten Karten, aßen Eis oder tanzten zu Musik.
»Es sind Leute wie ich«, sagte Mia ein wenig verträumt. »Sie sind alle von ihren Behinderungen befreit, wenn sie hier sind.« Kai hörte zu. Er entdeckte einen kleinen Jungen, der fröhlich umherhüpfte mit einem größeren Mädchen, das ihm sehr ähnlich sah.
»Der kleine Junge da«, flüsterte Kai und sah Mia an, »was hat er?« Mia blickte zu Boden.
»Er kann nicht laufen. Wenn er hier ist, tanzt und hüpft er immer, er bleibt nie ruhig sitzen. Aber wer kann es ihm schon verdenken?« Kai nickte.
»Und das Mädchen neben ihm?« Es mochte nur ein paar Jahre älter sein als Mia und Kai.
»Oh, das ist seine Schwester«, erklärte Mia, »aber sie begleitet ihn nur hierhin.« Kai fühlte sich überrumpelt. Nicht von dem, was Mia ihm soeben gesagt hatte, nein, eher von der Tatsache, in einer anderen, parallelen Welt zu sein, von der seine Schwester gewusst hatte. Er erinnerte sich wieder an die Wut, die er verspürt hatte, als sie ihm nichts von ihrem Aufenthaltsort hatte verraten wollen, ihm kein Zeichen gegeben hatte, obwohl er von seinen Eltern ausgeschimpft worden war. Doch nun kam ihm der Zorn auf seine Zwillingsschwester sinnlos vor, beinahe egoistisch. Er freute sich so, Mia sprechen zu hören, und es tat ihm gut, sie so offen und befreit wie nie zu sehen. Kai war so in seinen Gedanken versunken gewesen, dass ihm gar nicht aufgefallen war, dass Mia ihn längst zu den Menschen gezogen hatte, die da an dem großen, hölzernen Tisch saßen.
»Das ist mein Zwillingsbruder Kai«, sagte Mia gerade zu einer jungen Frau.
»Hallo, Kai.« Die Frau schüttelte Kai die Hand und begutachtete ihn aufmerksam.
»Ja, ihr seht euch tatsächlich sehr ähnlich«, lachte sie dann. So wurde Kai allen einmal vorgestellt. Es waren sicher ein paar Stunden vergangen, als Mia das erste Mal sagte:
»Oh, ich glaube, wir müssen wieder nach Hause. Mama und Papa machen sich bestimmt schon Sorgen.« Beinahe musste Kai schmunzeln. Sie hatte ja keine Ahnung, dass innerhalb der letzten Stunden keine ruhige Minute im Hause Nr. 6 verbracht wurde. Trotzdem eilte er ihr hinterher, ohne zu wissen, wo sie überhaupt hinwollte. Sie lief zurück an den Ort, an dem er gelandet war, nachdem er unter Mias Bett gekrochen war. Da fiel ihm etwas ein.
»Warum warst du eigentlich direkt dort, als ich gekommen bin?«, fragte er.
»Ich wollte gerade wieder zurück nach Hause«, erklärte Mia. Das genügte Kai.
»Und … wie kommen wir jetzt wieder heim?« Mia antwortete nicht. Stattdessen sagte sie, wie zu sich selbst gewandt:
»Wir möchten nach Hause.« Auf einmal erschien vor ihnen ein Kreis aus Gras.
»Stell dich rein«, wies Mia Kai an, und Kai gehorchte und ging in den Kreis hinein, der gerade so groß war, dass Mia und er zu zweit Platz darin fanden. Sobald Mia ihren zweiten Fuß in den Kreis gesetzt hatte, verschwammen die grünen Wiesen vor den Augen der Kinder. Den Bruchteil einer Sekunde später saßen sie auf Mias Bett.
»Wie ist das möglich?« war die erste Frage, die Kai stellte, als er realisiert hatte, wo er war. Er bekam keine Antwort. Überrascht schaute er neben sich, um zu schauen, ob Mia da war. Sie saß neben ihm. Aber sie konnte nicht sprechen. Natürlich nicht, dachte Kai und rügte sich selbst für seine Dummheit. Hier konnte sie nicht sprechen, das hatte er vergessen.
Von nun an gingen die beiden oft zusammen in die »Gute Welt«, wie Kai sie gern nannte. In Hinsicht auf die Eltern machte es keinen Unterschied, sie hatten schließlich ohnehin vermutet, Kai hätte etwas mit Mias Verschwinden zu tun. Nur dass es zu der Zeit noch unbegründet gewesen war. Kai genoss die Ausflüge mit der glücklichen, sprechenden Mia. Er freundete sich mit vielen Menschen an, dort, wo alles gut war. Doch mit jedem Mal wurde diese Gute Welt zu einem Verlangen der Kinder. Was es in der Realität gab wurde für Kai und Mia zu schlecht. Sie wurden nicht hochnäsig oder undankbar und sie behielten das Gefühl für sich – doch es breitete sich mit jedem Besuch weiter aus. Und dann, eines Tages, schien ein Abendessen die schönsten und unrealistischsten Träume Kais und Mias zu zerschlagen. Es war eine Ankündigung, die der Vater machte.
»Wir ziehen um«, sagte er. Es folgte ein Gespräch, an dessen Ende Kai fragte:
»Und die Möbel – was wird zum Beispiel aus Mias und meinem Bett?« Er fragte es ganz beiläufig, um nicht den Anschein zu erwecken, er meinte gezielt die Betten.
»Die geben wir weg. Ihr wachst eh so langsam aus den alten Dingern raus.« Auf diese Antwort hin schauten sich Mia und Kai an. Ihnen war klar, was passieren würde, wenn das Bett nicht mehr existierte. Das Portal zur anderen Welt, der Welt, in der es Mia möglich war, zu sprechen – dieses Portal wäre fort. Kai gab sein bestes, seinen Vater umzustimmen, vergeblich. Auch seine weniger strenge Mutter sah nicht ein, weshalb sie das Bett behalten wollten. Und so saßen Kai und Mia an diesem Abend betrübt auf ihren Betten und dachten nach. Kai war es, der am nächsten Morgen sagte:
»Wir sollten sie wenigstens verabschieden. Ein letztes Mal dorthin gehen, um unserer Freunde willen.« Mia nickte. Ein paar Augenblicke später waren die Geschwister wieder bei den grünen Wiesen. Diesmal gingen sie langsam, um alles noch einmal zu erleben, zu spüren, und die Trauer um den Verlust dieses Ortes nicht übermächtig werden zu lassen. Als sie endlich am Treffpunkt angelangt waren, fiel es ihnen schwer, ihre Freunde zu verabschieden. Ein paar Stunden ließen sie sich Zeit, bis sie zum Portal zurückkehrten.
»Wir«, flüsterte Mia, doch ihre Stimme versagte. »Es wird das letzte sein, was ich aussprechen werde«, stellte sie betrübt fest. Sie griff Kais Hand. »Wir möchten nach Hause.« Wieder verschwamm die schöne Landschaft, wieder dauerte es nur den Bruchteil einer Sekunde, bis sie wieder auf dem Bett saßen. Nur sah es hier überhaupt nicht nach zu Hause aus. Noch immer Hand in Hand stiegen sie vom Bett, und ihnen wurde klar, wo sie waren: Auf einem großen, verdreckten Schrottplatz am Rande einer Hauptstraße. Mit geweiteten, angstvollen Augen blickten sie sich an.
»Papa muss das Bett schon weggebracht haben«, stellte Kai fest. Es war ein Moment der Verzweiflung und Fragen. Wie sollten sie hier wegkommen? Wie weit waren sie von ihrem Haus entfernt? Und durften sie überhaupt hier sein? Doch nach diesem Moment blitzte Freude in Kais Augen auf.
»Weißt du was? Wir wissen wenigstens, wo das Bett ist! Wir könnten – wenn wir herausgefunden haben, wo wir sind – das Bett von hier fortschaffen und uns ein Versteck ausdenken, wo wir es hinschafften können und wo wir immer hingehen können, wenn wir wieder in die Gute Welt wollen!« Zu Kais Überraschung schüttelte Mia den Kopf. Wahrscheinlich war es ihr nicht leicht gefallen, diese Bewegung. Doch eins war ihr Kopfschütteln wohl gewesen: Eine gut durchdachte, intelligente Entscheidung. Kai wusste, warum sie seinen Vorschlag nicht wollte. Es war genau das, was sie ihm am Anfang gesagt hatte: Es ist nicht gut, in einer unrealistischen Welt zu leben.
Sie fanden ihr Haus nach ein paar Stunden wieder, mit der Hilfe einiger freundlicher Passanten und eines Straßenplans. Das Bett ließen sie zurück.
Mia zog später wieder mit ihrer eigenen Familie in das Haus Nr. 6, Kai blieb mit ihr in Kontakt, obwohl er als Geschäftsmann ins Ausland gezogen war. Doch eines verbündete die beiden bis zu ihrem Tod – Die Erinnerung an eine Welt, in der man Hindernisse des wahren Lebens überwinden konnte.
Texte: Caitlin L. Willert
Bildmaterialien: Gimp Brushes by obsidianawn.com, Cover edited by Caitlin L. Willert
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Mama.