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Als ich den großen, matt beleuchteten Raum betrat, schmeichelte der vertraute Geruch bedruckten Papiers sofort meiner Nase. Ich blieb kurz stehen, atmete den Geruch noch einmal ein und trat tiefer in den Raum. Es war still. Niemand schien da zu sein. Niemand, außer mir. Mein Blick glitt über die Regale. Bücher über Bücher reihten sich nebeneinander, sie enthielten Unmengen an Wissen, Entdeckungen, Unbekanntes. Doch hier war nicht, was ich suchte. Ich ging weiter und stieg die vier hölzernen Treppenstufen hinauf, die unter meinen Füßen ein leises Knarren vernehmen ließen. Die Treppe brachte mich in einen weiteren dieser duftenden Räume. Da, in der rechten Ecke ganz hinten, glaubte ich zu finden, was ich suchte. Es war ein breites, bis an die Decke reichendes Regal. Es war aus dem gleichen Holz gefertigt wie die anderen Regale, gealtertes, raues Holz, doch man sah sofort, dass mehr Arbeit in ihm steckte. Geschnitzte Verzierungen waren auf dem Holz angebracht, liebevoll waren Gestalten aus dem Holz gearbeitet und angemalt worden. Das Regal der fantastischen Geschichten, der Mythen und Sagen, so wurde es genannt. Meine Hand fuhr über die Einbände. Sie waren aus Samt und Leder, manchmal auch aus geprägtem Papier. Ich spürte die Materialien an meinen Fingerspitzen. Schließlich zog ich ein Werk heraus, der Schriftsteller dieses Stücks war mir unbekannt. Es war der Einband, der mich faszinierte. Er war smaragdfarben und gezeichnet von goldener Schrift. Detaillierte Zeichnungen ließen es so lebendig wirken, als wären die Figuren real - ich musste einfach hineinschauen. Und so ließ ich mich auf dem breiten, gepolsterten und mehrfach geflickten Sessel nieder, der neben dem Regal stand, und schlug das Buch auf. Meine Augen wanderten an den Buchstaben entlang, die wie ein Pfad wirkten, der mich durch die Seiten führte. Zeile für Zeile nahm ich die Geschichte auf. Erst nach ein paar Seiten registrierte ich, dass ich nicht mehr allein war. Zwei zierliche, weibliche Gestalten, kaum eine Elle lang, schwebten rechts und links von mir. Sie trugen kurze, smaragdgrüne Kleider und gespitzte silberfarbene Schühchen. Die Flügel fielen mir nicht sofort auf. Sie waren beinahe durchsichtig, was sie verriet war nicht ihre Größe, sondern ihr sonderbarer, alles um sie herum in den Schatten stellenden Schimmer. Ich war so beschäftigt damit, zwischen Realität und Fantasewelt zu unterscheiden, dass ich nicht bemerkte, wie auf einmal ein gutes Dutzend kleine, verschmutzte Menschen auftauchten. Sie hoben ihre tiefen, rauen Stimmen, die ihnen meine - wenn auch nicht ganz ungeteilte - Aufmerksamkeit schenkte. Je weiter ich las, desto mehr Figuren, Kreaturen und Gestalten erschienen im Raum. Sie alle waren umgeben von diesem ungewöhnlichen Schimmer.
"Wir schließen." Die ganz und gar menschliche Stimme der Buchhälterin holte mich aus der Geschichte. Ich hob den Kopf, schlug das Buch zu und stand auf. Verwirrung tanzte in meinem Kopf, schwirrte wie ein im Wind losgelassenes Tuch. Ich bemühte mich, mein Gedanken zu ordnen.
"Ich möchte gern dieses Buch hier kaufen." Die Verkäuferin nickte, ich ging zur Kassse und bezahlte das Buch. Aus irgendeinem Grund wusste ich sofort, dass dieses Buch noch viele, viele Jahre mein Lieblingsbuch sein würde.


Impressum

Texte: imagine26
Bildmaterialien: Cover by imagine26 | Handwriting Brush (Background) by obsidiandawn.com
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
"Es geht uns mit Büchern wie mit den Menschen. Wir machen zwar viele Bekanntschaften, aber nur wenige erwählen wir zu unseren Freunden." Ludwig Feuerbach

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