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Er saß im Zug. Die ganze Zeit saß er im Zug. Sein Blick war stur auf sein Buch gerichtet, ich kann nicht einmal genau sagen, ob er es wirklich las. Vielleicht war es der knöchellange, schwarze Ledermantel, möglicherweise aber auch die riesigen Rockerstiefel, letztendlich kann ich aber nicht genau beurteilen, weshalb mir bereits beim Eintreten in das Abteil ein Schauer über den Rücken lief. Kein Platz war mehr frei, außer dem gegenüber des Mannes. Und niemand schien sich dort hinsetzen zu wollen. Es war Berufsverkehr, der Zug wurde schnell voll und meine Platzangst setzte ein. Ein innerer Kampf begann. Er war mir unheimlich, alles sträubte sich in mir, mich zu ihm zu setzen. Aber hatte ich nicht gelernt, dass Vorurteile nicht immer berechtigt sind? Erst letztes Jahr, als ich bei einem Schüleraustausch in England war und man mir, weil ich Deutsche bin, Schweinshaxe und Sauerkraut aufgetischt hat? Dabei hasse ich das.
Jemand stieß mir unsanft in die Rippen. So langsam bekam ich Panik, zu viele Menschen standen um mich herum, ich wollte Platz haben, wenigstens ein bisschen - und den würde mir nur der breite Sitz gegenüber ihm

geben. Schließlich verdrängte ich meine Zweifel, ich musste

mich einfach setzen. Mit zusammengekniffenen Augen drängte ich mich auf den Platz. Sofort verspürte ich Erleichterung, niemand haute mir noch Ellbogen in die Rippen, ich konnte wieder ruhig atmen. Und dann erinnerte ich mich daran, vor wem ich da gerade saß. Nervös spannte ich meine Muskeln an, um jederzeit weglaufen zu können.

Die nächsten Minuten verstrichen, ohne dass der Mann sich bewegte. Und, wie mir schließlich auffiel, blätterte er zu keiner Zeit eine Seite seines Buches um. Er las also wirklich nicht. Es machte mich beinahe wahnsinnig, wie er war, das Gesicht im Schatten liegend. Jetzt, da ich davon ausging, er bemerkte es nicht, traute ich mich auch, ihn weiter zu mustern. Seine schwarzen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine Finger, mit denen er das Buch hielt, waren weiß und dünn. Wie Vampirfinger, schoss es mir auf einmal durch den Kopf. Diese Vorstellung ließ mir eine Gänsehaut über die Arme laufen. Schnell zog ich die Ärmel meiner Jacke weiter nach unten und rückte meinen Schal so zurecht, dass er meinen Hals verdeckte. Sicher ist sicher.

Doch auch die nächste Stunde verlief ereignislos. Ich befand diese Tatsache für beruhigend und verstörend zugleich. Mit jeder Station stiegen mehr Leute aus, kaum jemand trat noch ein. Ich musste heute Nacht erst aussteigen, weil ich zu einer Tante fuhr, die weiter von meinem Heimatort entfernt lebte. Nun wurden auch mehr Sitze frei. Ich beobachtete mit sehnsuchtsvollen Augen, wie Plätze ganz am Ende des Abteils leer und verlassen waren. Wie gern wäre ich aufgestanden und hätte mich dorthin gesetzt, weit weg von dem gruseligen Mann, der auf so unheimliche Art teilnahmslos in sein Buch starrte. Doch ich hatte zu sehr Angst, dass er dann plötzlich ein langes, scharfes Messer unter seinem Mantel herziehen und mich damit erstechen würde, weil ich es gewagt hatte, einen Platz viel, viel weiter weg von ihm einzunehmen. Meine Vorstellungskraft bescherte mir beim Anblick dieses Mannes eine zu hohe Bandbreite an schaurigen Fantasien. Lieber nicht wegsetzen. Vielleicht tut er dann ja nichts.

Und so gingen auch die nächsten Stunden ohne eine Bewegung des Typen zu Ende. Das Abteil war jetzt bis auf ein, zwei alte Damen komplett leer. Draußen wurde es dunkel, kalter, stechender Herbstwind drang durch das offene Fenster. Es war mir zuvor noch gar nicht aufgefallen. Ich wollte schon aufstehen und es zu machen, doch der Griff war viel zu hoch für mich. Abgesehen davon bot ich dem Mann die perfekte Angriffsmöglichkeit, wenn ich da so naiv und unvorsichtig auf Zehenspitzen ging und mich streckte, um an den Fenstergriff zu kommen. Ich zog noch weiter an meinen Ärmeln, sodass der ausgeleierte Stoff bald auch meine eiskalten Hände verdeckte. Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Es herrschte eiskalte Finsternis. Heruntergekommene, einsam wirkene Fabriken kennzeichneten sich in der Umgebung ab. Vermutlich fuhren wir gerade irgendwo im Nirgendwo, möglicherweise am Ende der Welt, denn weit und breit war weder ein Haus, noch ein Mensch zu sehen. Mit der Zeit schienen die Gleise unebener zu werden, der Zug ruckelte und es quietschte oft unter meinen Füßen. Diese Geräusche minderten mein Unbehagen nicht unbedingt, im Gegenteil, sie verschlimmerten dieses dumpfe, leere Gefühl in meinem Magen sogar. Wie sehr wünschte ich mir gerade, wieder daheim im Warmen zu sitzen, in eine Decke gewickelt und in ein schönes, spannendes Buch vertieft. Im Grunde genommen war mir im Moment alles lieber, als hier vor IHM in diesem wackelnden, kalten Zug durch die Finsternis zu fahren. Da fiel mir ein, dass ich noch ein Buch in der Tasche haben musste. Warum war es mir nicht vorher eingefallen? Mit etwas Glück lenkte es mich vielleicht von meinen Schauergedanken ab. Ich wühlte in meiner Umhängetasche herum, die ich bis eben fest umschlungen an meiner Rechten liegen hatte, und zog schließlich das Buch heraus. Es war ein langweiliges Buch, das ich wohl nur gekauft hatte, um ein Buch zu kaufen. Ja, ich hatte da so einen Tick. Mit seinem rosafarbenen Umschlag und der silbrigen Schrift stand es im völligen Kontrast zu meinen momentan herrschenden Gefühlen, Gedanken und meiner nicht gerade gemütlichen Umgebung. Vielleicht war es tatsächlich eine gute Ablenkung. Ich schlug das Buch auf.

Es ist ein schöner, sonniger Frühlingstag. Die Vögel zwitschern ihr Morgenkonzert und eine warme, beschwingende Brise weht in Lauras Zimmer. Heute soll ein toller Tag werden. Sie würde ...



An dieser Stelle hielt ich inne und schaute aus dem Fenster. Gleißendes Licht durchbrach die Dunkelheit. Es blitze. Oh nein, bloß kein Gewitter! Ich hatte nämlich furchtbare Angst vor Gewitter ... Instinktiv sah ich zu meinem Gegenüber. Er starrte noch immer auf die Buchseite, wenn auch nicht mehr ganz so starr, denn der Zug ruckelte ganz schön. Da entdeckte ich plötzlich etwas, das mir beinahe einen schrillen Schrei entlockte. Durch das Ruckeln des Zugs ist seine Hand vom Buch abgerutscht. Nur ganz leicht, aber doch so, dass ich auf seinen Handrücken blicken konnte. Dort, zwischen Adern und Dreck, war ein Zeichen. Es war rot umrandet, beinahe, als wäre es eingeritzt worden. Und es zeigte eine kantige, lange Fledermaus. Mir stockte der Atem. Es passte alles zusammen, die Vampirfinger, das Fledermauszeichen: Er war ein Vampir! Vor meinem inneren Auge sah ich die Fledermaus schon aus der Hand springen und sich im Kreis mehrmals um den Vampirmann drehen. Schließlich würde der Vampirmann - der dann ein Fledermausmann war - aus dem geöffneten Zugfenster fliegen. Nur um kurz darauf wieder zu kommen um mir seine spitzen Eckzähne in den Hals zu rammen. Rasch warf ich einen Blick aus dem Fenster. Es war kein Vollmond. Auch schien ihn absolut nichts in seiner gruseligen Ruhe zu stören. Also senkte ich, schaudernd nun, meinen Blick wieder auf mein eigenes Buch. Pferde waren allgemein besser als Vampire. Vollkommen unkonzentriert las ich zwei Zeilen.

Sie würde endlich wieder reiten gehen dürfen! In Gedanken malt sie sich den Ausritt über weite, grüne Felder aus.



Sofort schreckte ich wieder hoch. Ein weiterer Blitz zuckte am Horizont. Kurze Zeit später hörte ich das Donnergrollen. Mein Bauch spannte sich an und meine Finger klammerten sich an das Buch. Es kam näher. Das Geräusch hallte in meinen Ohren wider und ließ mich zu völliger Regungslosigkeit verharren. Ich hasste Donner. Es hörte sich immer an, als stürzten Häuser zusammen. Der Zug ruckelte heftig. Mein Buch fiel mir aus der Hand auf den Boden, ich bückte mich nicht, um es aufzuheben. Ich blieb einfach sitzen. Der Mann regte sich noch immer nicht. Wahrscheinlich machte Gewitter Vampiren nichts aus. Regen peitschte in dicken Tropfen gegen die Scheibe und wurde bald zu Hagel. Das Fenster war noch immer auf und verstärkte die Lautstärke des Donners und die Kälte des Windes um Unendliches. Da - Oh Gott, was war das gerade am Fenster? Eine Fledermaus?! Mir liefen eiskalte Schauer über den Rücken, mein Magen drehte Saltos und ich hatte Gänsehaut am ganzen Körper. Mein Blick huschte zur Fledermaus auf seiner

Hand. Der Ärmel verdeckte den Handrücken wieder. Es war wie in den schauerlichsten Gruselfilmen. Jetzt musste nur noch der Vampir mit seinen langfingrigen Händen kommen und ... Nein, ich wagte nicht, mir weiteres auszumalen. Kalter Angstschweiß lief mir über die Stirn. Ich presste mich mit dem Rücken an meinen Sitz. Das Polster fühlte sich wie Stein an auf meiner Wirbelsäule. Es ruckelte noch einmal. Das Licht ging aus. Verdammt, das war ja wirklich wie im Film! Meine Zähne schlotterten, ich konnte nicht sagen, ob vor Kälte oder aus Angst. Womöglich beides. Ich bemühte mich krampfhaft, die Zähne zusammenzubeißen. Der Mann bewegte sich nicht. Er blickte in das Buch. So langsam erfasste die Wut mich. Wie konnte dieser grauenvolle Vampir-Fledermaus-Mann da sitzen, während ich hier beinahe vor Angst starb? Wut und Angst schwirrten in meinem Herzen. Ich ballte meine eiskalten Hände zu Fäusten. Und da geschah es. Es ruckelte noch einmal, aber viel stärker als die letzten Male, dann bremste der Zug abrupt. Es ruckelte wieder. Das einzige, woran ich mich später erinnern konnte, war, wie der Zug umgekippt und ich mit dem Kopf gegen irgendwas geknallt war. Ehrlich gesagt wollte ich es gar nicht so genau wissen. Manchmal war es einfach besser, nichts zu wissen. Oder nicht alles. Jedenfalls bin ich sehr hart mit dem Kopf aufgeschlagen. Eine Zeit lang sah ich Flecken, irgendwann Schwarz oder gar nichts mehr. Und dann verlor ich das Bewusstsein.

"Hallo? Bist du wach?" Die besorgte Stimme meiner Tante drang in meine Ohren. Sie klang unendlich weit entfernt und hallte als Echo in meinem Kopf wider. Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, dass ich in einem Bett lag. Oder wenigstens auf einer Matratze. Nein, ich lag auf einem Bett, wie ich kurze Zeit später feststellte, als ich die Augen öffnete. Mir war schwindelig. Mein Kopf dröhnte und pochte. Ich wollte am liebsten wieder einschlafen.
"Gott sei Dank!" Der erleichterte Ruf kam eindeutig von meiner Mutter. Wo war ich genau? Was war passiert? Es dauerte ein paar Minuten, bis ich endlich verstand, was Mama und meine Tante mir sagen wollten. Langsam und deutlich erklärten sie mir, dass ich böse auf dem Kopf aufgeschlagen sei und mir eine Platzwunde und eine Gehirnerschütterung eingehandelt habe. Der Zug sei entgleist. Die Ursache sei noch unklar. "Und der Mann?" Es war das erste, was ich sagte. "Welcher Mann?", fragte meine Tante verwundert. "Der gruselige, der mit dem langen Mantel und den schwarzen Haaren." Ich weiß nicht, warum ich davon ausging, dass meine Tante ihn gesehen hatte. "Ach der!", rief sie plötzlich. Ich schaute sie verwundert an. Instinktiv fasste ich an meinen nackten Hals. Ich spürte keine Wunde. "Ja, der hat dich aus dem ruinierten Zug gebracht und mich mit deinem Handy arlarmiert. Und das, obwohl er selbst verletzt war. Toll, dieser Mensch!"


Impressum

Texte: imagine26
Bildmaterialien: Titelbild von hellokids.com
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2012

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