Ich atme tief ein, bemühe mich, meine Lungen in regelmäßigen Abständen zu füllen und zu leeren. Ich sitze und warte. Es würden die entscheidenen Fehler sein, die ich gleich im Saal mache, vor den fünf Menschen, die über meine Zukunft bestimmen würden. Der Gedanke macht mich mutlos. Ich weiß, ich habe keine große Chance, nicht bei all den anderen, besseren Tänzerinnen. Aber eine kleine Möglichkeit, die winzige Chance auf ein Stipendium, das ich so dringend brauche, besteht. Und ich werde sie nutzen. Meine Füße fühlen sich wie taub an, wie sie in den abgenutzten, beinahe zu kleinen Spitzenschuhen stecken. Nein, ein kleines Kribbeln ist noch vorhanden, in meinem großen Zeh. Ungefähr so viel wie meine Hoffnung auf das Stipendium. Ich beginne zu schwitzen. Ich schwitze vor Angst. Also stehe ich auf und gehe zum Stuhl. Der Stuhl ist klein, ich muss meinen Arm ganz ausstrecken, um mich stehend daran festhalten zu können. Aber es macht nichts. Ich muss mich aufwärmen. Wenigstens kann ich dann von mir behaupten, ich bin nicht aufgeregt, sondern schwitze wegen des harten Aufwärmtraianings. Welch eine Lüge. Ich mache nur ein paar Übungen, weil ich mich nicht konzentrieren kann. Mein Platz bei dem Stuhl ist ganz hinten in der Ecke. Alle paar Minuten kommt ein anderes Mädchen hinein und schickt ein weiteres aus dem Saal. Ihre Gesichter sind hoffnungsvoll, niedergeschlagen, manchmal verweint und geschwollen. Aber ich werde nicht weinen. Das weiß ich, obwohl ich mich frage, ob ich zu Atmen aufhöre, wenn ich einen Fehler in meinem Tanz ertappt habe. Wahrscheinlich. Mir fällt auf, dass ich die ganze Zeit die gleiche Beinbewegung mache. Hoch, runter, hoch, runter. Der Stuhl knarrt bei jedem Grand battement, aber niemand schaut zu mir, weil alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Die, die schon getanzt haben, wägen still und nervös ihre Chancen ab. Sie wissen aber im Grunde, dass sie nichts mehr tun können. Anders als diejenigen, die noch nicht draußen waren und vorgetanzt haben. Die machen, wie ich, einige Aufwärmübungen, dehnen sich oder flüstern Gebete. Ich weiß, alle hier sind abhängig von dem Stipendium. Nur eine würde weiter an dieser Ballettschule bleiben können, die anderen können das Geld nicht mehr aufbringen und sind gezwungen, ihren Traum aufzugeben. Aber aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, ich habe es mehr verdient als die anderen. Ich denke, ich habe härter gearbeitet und es mir mehr erträumt. Aber das stimmt wahrscheinlich nicht. Womöglich denken die anderen momentan genau dasselbe. Gerade kommt das Mädchen Nummer 20 in die Umkleide. Ihre Schultern hängen mutlos und traurig herunter. Ich weiß, dass sie nicht besonders gut ist. Ich habe sie einmal beim Training gesehen, aber sie ist auch viel jünger als die meisten hier. Ich schaue sie an. Nummer 20 - ich bin Nummer 28. Ich habe also noch ein wenig Zeit. Ob es mich beruhigt, kann ich selbst nicht genau sagen. Auf der einen Seite hätte ich es am liebsten sofort hinter mir, auf der anderen möchte ich es noch ein wenig vor mir herschieben, ein wenig Zeit gewinnen. Aber eigentlich ist das nutzlos. Als ob ich in dieser Zeit besser würde. Ich sinke in ein Plié. Strecke meine Beine wieder. Es hilft nicht. Ich werde dadurch nicht besser. Dann stelle ich mich auf Spitze. Ein unangenehmes Kribbeln läuft durch meine Zehen und verdrängt das Gefühl der Taubheit in meinen Füßen.
Nummer 21 kommt herein. Ich sehe das dunkelhäutige Mädchen in die Arme ihrer Freundinnen stürzen. Das Gesicht kann ich nicht erkennen. Ich habe hier keine Freundinnen. Das heißt, ich habe einmal eine gehabt, aber die ist gegangen. Nicht weil sie zu schlecht war, nein, sie ist nach Russland gegangen. Wo all diese berühmten Tänzerinnen sind. Und jetzt bin ich allein. Ich drehe mich kurz und unsauber. Meine Muskeln sind hart und verspannt.
Nummer 22 kommt. Sie ist die kleinste hier, geht mir kaum bis zu den Schultern. Dabei bin ich nicht groß, sondern sogar nur knapp unter dem Mittelmaß. Ich streiche mir mit der Hand über die Stirn. Das Stipendium reicht für ein ganzes Jahr. Genug, um dann wieder für ein Stipendium vorzutanzen. Es gäbe mir Sicherheit. Die Sicherheit, meinen Traum zu verwirklichen. Die Sicherheit, zu tanzen.
Nummer 23. Ich vollende eine Pirouette, indem ich den Stuhl umwerfe und so mindestens ein paar erschrockende Blicke auf mich ziehe.
Nummer 24.
Dann Nummer 25. Meine Hände können den Stuhl, den ich eben aufgehoben habe, gar nicht mehr halten. Sie sind schweißnass und glitschig.
Nummer 26. Ich versuche mich ohne Hilfe auf die Zehen zu stellen. Aber meine Beine schlottern dermaßen, dass ich es aufgebe. Ich sinke in den Spagat, um meine Muskeln zu dehnen. Nummer 27 geht rein. Ich stehe auf. Sobald das dürre Mädchen mit der 27 wieder reinkommt, muss ich hinein. Ich bekomme Kopfschmerzen. Vielleicht nehme ich lieber eine Tablette und verschiebe das Vortanzen. Auf morgen. Oder lieber auf nächstes Jahr. Eine Falte bildet sich auf meiner Stirn. Nein, ich will jetzt tanzen. Ich bewege mich schon zur Tür. Jeden Schritt setze ich gezwungen, ich möchte am liebsten stehen bleiben, die vereinzelten "Viel Glück"-Wünsche nicht hören. Aber da kommt Nummer 27 rein. Sie scheint gar nicht niedergeschlagen zu sein. Im Gegenteil - völlig überflüssigerweise sagt sie mir noch, ich müsse jetzt reingehen. Am liebsten hätte ich ihr eine geknallt. Stattdessen gehe ich durch die Tür. Meine Schritte sind schwer. Ich gehe den Gang entlang, ohne ein Auge auf die Umgebung zu werfen. Meine Füße sind wieder taub. Dafür dreht sich mein Magen gerade um 360 Grad. Meine Füße tragen mich mit ungeheurem Kraftaufwand bis zur großen, zweiflügeligen Tür des Vortanzsaales. Mir ist heiß und kalt zugleich. Der Schweiß rinnt über die Gänsehaut. Es ist ein schreckliches Gefühl. Noch einmal kontrolliere ich, ob ich atme. Ja, ich tue es. Glaube ich. Dann schließen sich meine zitternden Finger um den vergoldeten Türgriff. Ich drücke ihn herunter, öffne den Türflügel, gehe hindurch und schließe in wieder. Erst dann drehe ich mich zu den Prüfern um, fünf an der Zahl, die mich mit durchdringenden Augen anstarren. Ich beiße die Zähne zusammen und bemühe mich um ein Lächeln. Ein undurchdringliches, ruhiges, selbstsicheres und freundliches Lächeln. Ich glaube, es wirkt eher wie eine schiefe Grimasse. Ich stelle mich in die Mitte des Raumes.
"Nummer 28, Alice Willert, richtig?", fragt eine Frau, die mit den grauen Haaren, dem strengen Dutt und der zierlichen Brille nur die Schulleiterin sein kann. Ich nicke höflich und hoffe, nicht zu hektisch den Kopf bewegt zu haben. "Nun denn, du kannst beginnen. Musik, bitte!" Der Pianist, der mich zuvor noch mit einer Spur von Mitleid angeschaut hat, dreht sich wieder zu den Tasten und beginnt, die Noten anzustimmen, die ich ausgewählt habe. Nur dieser Tanz würde zwischen mir und meinem Traum stehen. Nur dieser Tanz, vorrausgesetzt, ich tanze ihn perfekt. Jetzt oder nie. Meine Füße bewegen sich von nun an automatisch. Ich kontrolliere sie nicht, auch nicht meinen Kopf, meinen Gesichtsausdruck, meine Körperhaltung, meine Arme. Ich weiß nicht, was ich mache. Ich bewege mich einfach. Die Musik ist auf einmal wie ein Surfbrett für mich, auf dem ich die starken Wellen des Meeres bezwingen kann. Ich tanze. Ich merke nicht, ob ich einen Fehler mache. Ich spüre nicht, ob meine Zehen taub sind oder nicht. Ich registriere keinen der Blicke der älteren Leute, die mir beim Tanzen zusehen. Und als die Musik verstummt, ich noch einmal knickse und dann weglaufe, kann ich mich nicht einmal erinnern, ob ich überhaupt getanzt habe. Natürlich habe ich das. Nur wahrscheinlich nicht besonders gut. Ich laufe wie in Trance wieder zurück zur Mädchengarderobe. Erst als ich wieder sitze, meine Spitzenschuhe ausziehe und mich dann, ganz langsam, wieder in einen warmen Pullover hülle, erwache ich wieder. Zwei weitere Tage vergehen, in denen ich normal genau das mache, was ich sonst auch mache - essen, schlafen, lernen. Nur das Tanzen fällt in diesen Tagen aus. Und dann, nach dieser erdrückenden, halben Ewigkeit, wird verkündet: Die Stipendien sind verteilt. Die Namen der Glücklichen sind am Schwarzen Brett zu finden. Ich gehe mit dem Strom. Aber ich halte mich ganz hinten, versuche, mich auf das Ergebnis, das höchstwahrscheinlich zu meinem Bedauern ausfallen wird, vorzubereiten. Jeden Funken Hoffnung zu verdrängen. Doch als ich ankomme, schauen mir alle entgegen. Neid schwimmt in ihren Augen, Bedauern, und ich sehe sofort, warum. Ich sehe meinen Namen auf dem Schwarzen Brett. Nummer 28. Alice Willert.
Texte: imagine26
Bildmaterialien: Cover by imagine26
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2012
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