1.
Zögerlich streckte ich meinen Finger in Richtung des kleinen Klingelknopfes aus, der sich neben dem Eingangstor befand. Ich wusste nicht, ob ich es wagen sollte diesen zu betätigen. Schließlich hatte ich nirgendwo ein Namensschild gefunden und befürchtete, dass mich entweder mein Navigationssystem oder der Bekannte von Megan in die Irre geführt hatte. Denn das hier war keine Gegend, in der jemand darauf angewiesen war, einen Teil seiner Behausung zur Untervermietung zur Verfügung zu stellen.
Um mir eine Peinlichkeit zu ersparen, ließ ich deshalb enttäuscht meinen Arm wieder sinken. So wie es aussah, musste ich die Nächte weiterhin auf dem Fußboden des zwölf Quadratmeter großen Zimmers meiner Freundin verbringen. Mein Rücken war davon zwar wenig begeistert, aber die Wohnungssuche gestaltete sich aufgrund meines bisher noch unregelmäßigen Einkommens schwerer als erwartet.
Bevor ich mich allerdings umwandte und zurück zu meinem Auto lief, versuchte ich noch einmal durch das dichte Grün des üppigen Gartens einen Blick auf das Haus zu werfen. Doch es war zu gut versteckt. Gerade als ich meine Nase vergeblich gegen die Gitterstäbe des Eisentores drückte, vernahm ich ein leises Motorengeräusch hinter mir.
Erschrocken drehte ich mich um und sah wie ein schwarzer Lamborghini direkt vor mir zum Stehen kam. In diesem Moment blendete mich die Sonne so stark, dass ich den Fahrer nicht sehen konnte. Ich blinzelte und hörte wie eine Tür geöffnet wurde. Blöderweise hatte ich meine Sonnenbrille im Auto vergessen und konnte mein Gegenüber erst erkennen, nachdem ich meine Augen mit der Hand abgeschirmt hatte.
Nur wenige Meter von mir entfernt stand ein großer und dunkelhaariger Mann. Zunächst fiel mir sein attraktiv geschnittenes Gesicht auf, seine hohen Wangenknochen, die ausgeprägte Kieferpartie und die etwas größere, aber sehr wohl geformte Nase. Seine Augen waren hinter schwarzen Gläsern verborgen.
Doch nicht nur sein Gesicht war ein Blickmagnet, sondern auch sein schlanker und überaus athletischer Körper, der aufgrund einer schwarzen Röhrenjeans und einem ebenso engen Muskelshirt bestens zur Geltung kam.
Ich schluckte, hatte jedoch kaum mehr Flüssigkeit im Mund. Los Angeles hatte wahrlich viele gut aussehende Männer zu bieten. Doch das vor mir befindliche Exemplar stach aus der Masse gut aussehender Typen eindeutig hervor. Kein Wunder also, dass meine inneren Alarmglocken sofort zu schrillen begannen. Der Anblick schöner Männer war zwar eine Freude, doch von meiner Freundin Rachel wusste ich nur zu gut, dass es besser war, einen Bogen um sie zu machen.
Am meisten ließen mich jedoch die vielen Tätowierungen an den Armen des Mannes, innerlich auf Distanz zu ihm gehen. Ein oder zwei Tattoos auf dem Oberarmen waren ja ok, aber sich die kompletten Arme dauerhaft bemalen zu lassen, war für mich eine verehrende Jugendsünde, die auf einen leichtsinnigen Charakter hindeutete.
„Hi“, sagte der Mann, während er sich mit einem Arm an dem Dach seines Autos abstützte und seine Lippen zu einem Schmunzeln verzog. „Was machst du hier?“
Seine Stimme war tief und sexy und riss mich augenblicklich aus meiner Erstarrung.
„Ich .. ähm …“, stotterte ich und machte einen Schritt auf ihn zu, „ich wollte mich wegen des freien Zimmers erkundigen bei Mr. Ferris.“ Gespannt hielt ich die Luft an und blickte zu dem bestimmt an die 1,90 Meter großen Kerl hinüber. Der lachte kurz auf und begann mich anschließend eingehend zu mustern. Was sollte das? Und warum zum Teufel wirkte er die ganze Zeit so amüsiert. An mir war doch nichts komisch? Oder? Ich warf einen schnellen prüfenden Blick an mir hinunter. Meine blaue Bluse war perfekt gebügelt, ebenso wie meine dreiviertellange Stoffhose. Auch mein glattes hellbraunes Haar hatte ich zuvor sorgfältig geföhnt und geglättet. Ein leichtes Make-up rundete meine gepflegte Erscheinung ab.
„Du willst bei mir einziehen“, erwiderte mein Gegenüber schließlich, nachdem er ungeniert jeden Körperteil von mir in Augenschein genommen hatte.
Er war Mr. Ferris?!? Ungläubig starrte ich den Tattoo-Mann an, der weder wie ein Geschäftsmann noch ein Anwalt aussah und fragte mich, wie er sich ein Anwesen in dieser noblen Gegend leisten konnte. Entweder er hatte die Immobilie geerbt … oder aber er war ein berühmter Schauspieler?
Nun begann ich ihn eingehend zu mustern. Seine Sonnenbrille verbarg zwar einen Teil seines Gesichtes, aber ich war mir trotzdem sicher, dass wenn er ein Hollywoodschauspieler war, ich ihn erkennen würde. Immerhin hatte ich die letzten Monate bevor ich nach L.A. gegangen war, meine Tage und die halben Nächte damit zugebracht, Filme und Serien zu schauen. Ich kniff meine Augen ein wenig zusammen, konnte mein Gegenüber aber zu keinem mir bekannten Schauspieler zuordnen. Und auch der Name Malcom Ferris sagte mir in diesem Zusammenhang nichts.
„Nun, wenn das Zimmer noch frei ist“, rang ich mich schließlich zu einer Antwort durch, denn wenn der immer noch blöd grinsende Typ mein neuer Vermieter sein sollte, hatte ich längst entschieden, nicht bei ihm einzuziehen. Obwohl ich eigentlich nicht wählerisch sein durfte und auch die Lage perfekt war, da sie die Nähe zu meinen potentiellen und hoffentlich zahlungskräftigen Kunden versprach.
Der gut gebaute Mann schwang sich von seinem Wagen ab und machte nun seinerseits einige Schritte auf mich zu und blieb einen halben Meter vor mir stehen. Unser Größenunterschied zwang mich dazu meinen Kopf leicht in den Nacken zu legen. In seiner Nähe fiel mir das Atmen schwer und noch schwerer wurde es, als er seine Sonnenbrille abnahm und ich direkt in seine dunkelgrünen und erstaunlich großen Augen blickte. Es war wirklich eine Schande, dass ein so gut aussehender Mann, sich mit Tätowierungen derart verschandelt hatte.
„Und jetzt?“, fragte er mich und strich sich mit dem Zeigefinger über seine Unterlippe. Unser Gespräch schien ihm zu gefallen, ohne dass ich wusste, was ihn dabei erheiterte. „Ein Bekannter hat gemeint, dass Mr. Ferris ein Zimmer frei hätte. Wenn ich mich in der Adresse geirrt habe, entschuldigen Sie mich bitte“, teilte ich ihm mit fester Stimme mit und drückte dabei meine Bewerbungsunterlagen fest gegen meinen Oberkörper.
„Nein, das hast du nicht“, antwortete er, ohne dabei auch nur eine Sekunde den Blick von mir abzuwenden. „Wie heißt denn dein Bekannter?“
„Mike Connor.“
„Kenn ich nicht.“
Wie konnte das sein und woher hatte dieser Mike die Information, dass bei Mr. Ferris ein Zimmer frei war. Das alles kam mir zunehmend seltsam vor.
„Und wer bist du?“, riss mich der angebliche Mr. Ferris aus meinen Gedanken.
„Anne Winter“.
„Und woran hältst du dich so krampfhaft fest, Anne?“
Er machte sich über mich lustig. Ärgerlich drückte ich meine Lippen aufeinander und hielt mich dabei kerzengerade.
„Meine Bewerbungsunterlagen“, presste ich hervor und reichte ihm meine Papiere nicht ohne Widerwillen. Am liebsten wäre ich sofort abgehauen, aber das würde ja noch komischer wirken.
Nachdem er meine Unterlagen genommen hatte, studierte er diese überraschend konzentriert und ließ mir dadurch die Möglichkeit mich wieder zu sammeln.
Die Mittagssonne knallte unerbittlich auf uns nieder und bis auf das leise Rauschen der Palmenblätter, die über die Mauer des Anwesens ragten, war es ungewöhnlich still. Als hätte die Hitze alle Geräusche erstickt.
„Du bist Klavierlehrerin?“, fragte er und blickte interessiert zu mir auf.
Ich nickte. „Ich habe mich erst vor kurzem selbständig gemacht, habe aber schon einige Schüler gefunden. Nun… mein Name wird mir in Zukunft sicherlich zugutekommen.“
Seine Augen wanderten wieder zurück zu dem Papier, das er in der Hand hielt. „Anne Winter“, wiederholte er leise meinen Namen. Er strich sich mit der Hand durch sein dunkelbraunes und leicht gewelltes Haar, während er mich nachdenklich anschaute.
„Ich war früher einmal Pianistin“, erklärte ich ihm.
„Das kleine Genie?“, fragte er, „klar kenne ich dich, aber ohne deinem rosa Kleidchen und den Zöpfchen hab ich dich nicht gleich wiedererkannt. Ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen Miss Winter.“ Er verbeugte sich leicht, wirkte dabei aber nicht besonders ernst. Blödmann. Ich war mir auch nicht sicher, ob er mich wirklich erkannte, denn ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass er etwas für klassische Musik übrig hatte. Außerdem lag meine Karriere schon viele Jahre zurück und die Leute erinnerte sich nur solange an einen, wie man auf den Bühnen der Welt zu sehen war.
„Warum hast du aufgehört, wenn ich fragen darf?“, wollte er von mir wissen.
„Immer wiederkehrende Sehnenscheidenentzündungen haben eine professionelle Laufbahn unmöglich gemacht.“ Dieser Satz war mir mittlerweile schon so oft über die Lippen gehuscht, dass er nichts mehr mit mir zu tun zu haben schien. Es waren nur leere Worte, auf die in der Regel immer ein „Oh, das tut mir leid“, „Wie tragisch“ oder „Kann man da denn gar nichts gegen machen?“ folgte.
Doch mein Gegenüber nickte zu meinem Erstaunen nur und widmete sich dann wieder meiner Bewerbung.
Da er sich so viel Zeit nahm, meine Unterlagen zu lesen, vermutete ich an, dass er wohl tatsächlich ein Zimmer zu vermieten hatte. Als er seinen Kopf erneut hob, sah er mich interessiert an, als wäre ich ein seltsames Insekt, das er zuvor noch nie gesehen hatte.
„Und wo wohnst du zurzeit?“, erlöste er mich aus dem stummen Angestarrt werden.
„Bei einer Freundin auf dem Fußboden.“
Er runzelte die Stirn.
„Tja, wenn das so ist, kannst du gerne bei mir pennen.“
Ich schluckte und wusste nicht recht, wie ich sein Worte zu deuten hatte.
„Wenn du ein Zimmer untervermietest, bin ich an einer Besichtigung interessiert.“
Ich wusste zwar nicht warum, aber meine Aussage, brachte ihn schon wieder zum Schmunzeln. Ich hatte wirklich keine Ahnung, was an dem, was ich von mir gab, so lustig war. Und eigentlich hatte ich auch schon entschieden, nicht bei ihm einzuziehen, wagte aber aus Höflichkeit nicht, ihm das bereits jetzt mitzuteilen.
Als wir bei seinem Wagen waren, hielt er mir die Tür auf und verbeugte sich schon wieder. Was für ein Affe, dachte ich mir.
Kaum hatte ich mich auf den edel aussehenden Ledersitz niedergelassen, hechtete der Mann auf die Fahrerseite und als er sich hinters Steuer platziert hatte, stieg mir sein angenehm männlicher Duft in die Nase. Und während sich das Eingangstor vor uns öffnete, pochte mein Herz wie ein Trommelwirbel gegen meinen Brustkorb, ohne dass ich wusste, warum ich so aufgeregt war.
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2015
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