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Leseprobe




Das vollständige Buch, 314 Seiten, ist zu erwerben bei Amazon, im Buchhandel oder auch bei der Autorin zum Preis von 18,80 EURO


Copyright: Renate Kronberg, Hamburg, 2006
Alle Rechte liegen bei der Autorin.
Herstellung: 2007 by edition fischer GmbH
ISBN 978-3-8301-0998-3


Für Z d z i s e k,
dem ich so viele Inspirationen
zu diesem Buch verdanke.


Ich danke allen meinen deutsch-polnischen
Verwandten, den lebenden und den bereits
verstorbenen, daß sie mir ihre Erinnerungen
erzählt haben, die das Salz der Suppe in diesem
Roman sind.


V o r w o r t
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Noch ist Polen nicht verloren.
Das klingt wie ein Stoßgebet, wie ein verzweifelter stolzer und ungebrochener Durchhaltewillen.
Doch viermal war es fast so weit. Staaten, zwischen zwei oder gar mehreren Großmächten eingeklemmt, können leicht zum Spielball dieser Mächte werden. Entweder sie brauchen den einen als Verbündeten,
um sich gegen die Okkupationsgelüste des anderen zur Wehr zu setzen und werden anschließend von dem Verbündeten gefressen oder die Mächtigen verbünden sich der Einfachheit halber gleich gegen den Schwächeren, um ihn zu zerschlagen und die Beute unter sich aufzuteilen.
Und Polen wurde fast von ihnen aufgerieben.
Im Jahre 1241 kamen die Tataren. Sie wollten sich den Staat Polen zwar nicht einverleiben, aber sie wollten ihn bis auf das letzte Hemd ausplündern. Die 'Goldene Stadt Krakau' war das erste Ziel ihrer Beutegier. Und auf dem Weg dorthin brandschatzten und erschlugen sie alles, was ihnen in die Quere kam, als Aufwärmübung sozusagen, eiskalt und erbarmungslos. Da sie lediglich auf ihren schnellen kleinen Pferden, mit denen sie verwachsen schienen, wie ein Gewittersturm herangebraust kamen, nur ein wenig Wegzehrung in ihren Satteltaschen, mußten sie sich frische Pferde und Nahrung aus den überfallenen Dörfern holen.
Was sie nicht brauchen oder mitschleppen konnten, wurde angezündet. Sie hinterließen im wahrsten Sinne des Wortes verbrannte Erde.
Ihr Sturm auf Krakau wurde durch einen auf dem Wachtturm postierten Späher vereitelt, der die Bevölkerung durch ein Trompetensignal warnte. Als er erneut seine Warnung in die Nacht schmetterte, schoß ihm ein tatarischer Bogenschütze einen Pfeil durch die Kehle. Seit diesem denkwürdigen Ereignis wird bis auf den heutigen Tag zu jeder vollen Stunde auf dem Großen Platz in Krakau das gleiche Signal geblasen und an der Stelle abgebrochen, an der der Pfeil seinerzeit sein todbringendes Ziel erreicht hatte.
Die Tataren brachten den Polen bei ihren immer wiederkehrenden Raubzügen keine neue befruchtende Kultur als Gastgeschenk mit, wie etwa die Sarazenen sie nach Spanien exportiert hatten, die Tataren
brachten nur Schrecken, Tod und Verderben und den vergewaltigten Frauen und Mädchen schlitzäugigen Nachwuchs, wenn sie denn die brutalen stundenlangen Vergewaltigungen überhaupt lebend überstanden
hatten und nicht auch noch anschließend in die Versklavung verschleppt worden waren.

Wenn König Konrad I. von Masowien geahnt hätte, welche Folgen es haben würde, den heimatlos gewordenen Deutschritterorden ins Land zu holen, damit er ihm bei der Bekämpfung der Tataren und der Heiden an seiner Nordgrenze behilflich wäre und dem Orden für seine Gefälligkeit ein Stück Land zur Verfügung gestellt hatte, dann hätte er sich ganz sicher nicht diese Laus in den Pelz gesetzt. Die Deutschritter, kaum dass sie Fuß gefasst und sich ihre fast uneinnehmbare mächtige Marienburg erbaut hatten, machten sich sofort daran, ihren göttlichen Auftrag, das Land zu christianisieren, zu erfüllen.
Die Pruzzen, die das Pech hatten, im Machtbereich der Deutschritter zu leben, wurden der Einfachheit halber ausgerottet und in das Vakuum holten sie deutsche Bauern, Handwerker und Händler und als später Preußen zu Glanz und Gloria aufstieg, gab es keinen einzigen echten Pruzzen mehr im Land, nur das eingedeutschte Wort Preußen erinnerte noch schwach an die ehemaligen Pruzzen.
Der Macht- und Landhunger der Deutschritter war aber noch längst nicht gestillt und so hatten sie bereits ein begehrliches Auge auf das schon seit langem christianisierte und reiche Polen geworfen, das sie sich mit seinen riesigen Kornkammern gar zu gerne einverleibt hätten. Um ihre Angriffslust vor Gott und dem Papst zu rechtfertigen, wurden sie nicht müde, die Polen so lange zu Heiden zu erklären, bis auch der Letzte westlich der Grenzen von Polen daran glaubte, so dass am 10. Juli 1410 bei Grunwald und Tannenberg nicht nur die Deutschritter und Brandenburger, sondern auch Engländer, Franzosen und Italiener aufmarschierten, um Polen und Litauen zu unterwerfen, um es angeblich zu christianisieren.
Die Menschen hatten die Deutschritter wohl täuschen können, Gott jedoch nicht. Und der erhörte an diesem schicksalsschweren Tag die Gebete der Polen und Litauer und schenkte ihnen, ihrem König Jagiello
und seinem litauischen Verbündeten, Vetter Witold, einen grandiosen Sieg über die Invasoren, die im unerschütterlichen Glauben an sich und ihre Übermacht an Mensch und Material angetreten waren,
um die Polen und ihre Verbündeten zu vernichten, so daß ihre Niederlage umso bitterer war, als auch noch ihr Hochmeister Ulrich von Jungingen in dieser Schlacht den Tod fand.
In ihrem Hochmut hatten die Deutschritter geglaubt, sie könnten Polen mit einem Handstreich nehmen und sie übersahen dabei, daß gerade ihre unerträgliche Arroganz den Widerstandswillen der Polen bis zum äussersten angestachelt und ihnen letztendlich den Sieg geschenkt hatte.

Doch 1655 ging es schon wieder um das nackte Überleben. Dieses Mal hatten sie die Schweden auf dem Hals, die die Ostseeküste unter ihre Kontrolle bringen wollten.
Der schwedische König Karl X. Gustav war der Cousin des aus Schweden importierten polnischen Königs Johann Kasimir, ein in der Wolle gefärbter protestantischer Katholik, von dem der schwedische
Verwandte annahm, daß dieser nicht nur die polnische, sondern auch noch die schwedische Krone tragen wollte. Und da Karl X. Gustav ein
lutherischer Fanatiker war, der sich geschworen hatte, sämtliche Papisten auszurotten, hatte er schließlich drei Gründe, in Polen einzumarschieren. Die Polen hatten dieses Mal wesentlich schlechtere Karten, denn die Schweden verfügten bereits über Kanonen, mit denen sie wehrhafte Burgen und Festungen sturmreif schießen konnten. Und wieder einmal war der Angreifer ein von seinem Glauben beflügelter Rachegott, der mit unglaublicher Brutalität über seine Opfer herfiel. Am 21. Juli
1655 marschierten die Schweden in Polen ein und am 1. September hatten sie bereits ganz Polen besetzt einschließlich Litauen. Und wo ein fettes Wild gerissen ist, umkreisen bereits die Hyänen mit tropfendem Maul die Beute, um sich ebenfalls ein Stück daraus zu sichern. Und so feilschten sie wie die Marktweiber, die Schweden, die Brandenburger, die Siebenbürger und die Kosaken. Schließlich waren
sie sich einig, daß Polen von der Landkarte verschwinden müßte und gingen daran, ihre Beute wie eine Torte aufzuteilen. Doch sie hatten wieder einmal die Rechnung ohne den Wirt gemacht. An Zamość, die letzte von den Polen verteidigte Festung bissen sie sich die Zähne aus.

Und als der müde gewordene Schwede Karl X. Gustav mit seiner Armee wieder abgezogen war, nicht ohne sich vorher noch reichlich an den Schätzen Polens zu bedienen, schlugen die mit neuer Kraft erfüllten Polen auch noch Siebenbürgen kurz und klein und konnten jetzt erst einmal in Ruhe ihr zerstörtes Land wieder aufbauen. Das ging so schnell, daß sich alle nur erstaunt die Augen reiben konnten. Und als im Januar 1683 Vertreter von fünf europäischen Regierungen sich in Warschau die Klinke in die Hand gaben, um Hilfe zu erbitten gegen die Bedrohung des Christentums aus dem Süden, war das wieder erstarkte
Polen bereit, unter seinem jetzigen König Johann Sobieski den Kampf gegen die Türken aufzunehmen und den in Wien bereits eingeschlossenen Österreichern zu Hilfe zu eilen. Der Sieg, den Polen zusammen mit Österreich gegen die Türken errang, war grandios
und beutereich.
Doch mit der Dankbarkeit ist das so eine Sache. Denn als es um die Verteilung der Siegeslorbeeren ging, wurde für den polnischen König nur ein unscheinbares Denkmal in einer unscheinbaren Ecke Wiens aufgestellt und lediglich die Kapelle auf dem Kahlen Berg, in der seinerzeit für den Sieg gebetet wurde, trägt bis zum heutigen Tage den Namen Sobieski.
Kaiser Leopold I., der sich vorsichtshalber kurz vor der bevorstehenden Erstürmung der Stadt durch die Türken mit seinem Hofstaat nach Passau abgesetzt hatte, kam dann nach dem Sieg über die Türken nach Wien zurück und ließ sich feiern. Als die Türken es dann später noch einmal versuchten, sich Wien unter den Nagel zu reißen, hatte Leopold bereits den genialen Prinzen Eugen an seiner Seite, der ihm einen endgültigen Sieg über die Türken einfuhr, so daß die dankbaren Landeskinder ihren Kaiser bis auf den heutigen Tag 'Türkenpoldl'
nennen und die strategische Leistung Sobieski's dahinter nun fast vollends verschwand.

Von 1771 bis 1793 fanden sich dann Rußland, Österreich und Preußen zu geheimen Verhandlungen zusammen, um dieses reiche Polen nunmehr endgültig zu zerschlagen und unter sich aufzuteilen.
Sie hatten entschieden etwas dagegen, das der derzeitige polnische König Stanisław August Poniatowski, den sie im übrigen für völlig
unfähig hielten, sich daran machte, eine Demokratie zu errichten und seinem Land eine Verfassung zu geben, die die erste in Europa und die zweite nach der amerikanischen in der ganzen Welt war, was den drei Großmächten ganz und gar nicht schmeckte, weil sie Angst hatten, ihre Leibeigenen könnten ebenfalls nach diesen Reformen verlangen, notfalls mit Aufstand und Revolution. So fielen sie mit Brachialgewalt über die sich verzweifelt wehrenden Polen her, die zum Teil mit einer Bauernwehr und mit zu Bajonetten umfunktionierten Sensen auf ihre Angreifer losgingen, und teilten es restlos unter sich auf, um es für 125 Jahre nicht mehr aus ihren Fängen zu lassen, so daß Polen in dieser Zeit von der Landkarte verschwand.

Ein kleiner Hoffnungsschimmer glomm noch einmal auf, als Kaiser Napoleon sich daran machte, Europa nach seinen Vorstellungen neu zu ordnen, bzw. sich unterzuordnen. Doch der Kaiser war weniger an der polnischen Souveränität, als mehr an den als äußerst tapfer und mutig bekannten polnischen Offizieren interessiert, die er liebend gern in seine Dienste nahm, um sie überall dort in die Schlacht zu werfen, wo es besonders brenzlig war, um seine "mon brave's", seine Franzosen möglichst lange aus der Schußlinie zu halten, womit er sich auch noch brüstete, daß wenig französisches Blut auf den Schlachtfeldern geflossen sei, da er vorwiegend fremde Söldner den hohen Blutzoll entrichten ließ. Und nach Waterloo und endgültiger Verbannung des Franzosenkaisers auf die Insel St. Helena blieb dann sowieso alles wieder beim Alten.
Der Wiener Kongreß tanzte und nebenbei saßen sie im Sitzungsraum des Palais' am Ballhausplatz über Landkarten und Globen und feilschten um die Neuordnung Europas und legten die neuen Grenzen fest, wobei sich Zar Alexander I. kräftig bediente, indem er für sich Finnland und weite Teile Polens reklamierte und sich auch noch von Preußen polnische Gebiete abtreten ließ, das dafür im Westen mit Pommern, Rheinprovinz und Westfalen entschädigt wurde. Und da der österreichische Kaiser Franz I. bereits mit dem Gedanken spielte, sich auch noch zum König von Polen krönen zu lassen, obwohl er seine Hände bereits bis zu den Ellenbogen in Polen stecken hatte, einigte man sich schließlich auf diese zugegebenermaßen ungeliebte Lösung. Jeder bekam nun seinen Teil mit einigen Abstrichen und war einigermaßen zufrieden und man rüstete sich zum großen Abschlußball.

Den unter preußischer Herrschaft lebenden Polen war es nun ziemlich einerlei, ob sie ihre Haut auf fremder Scholle für fremde Gutsherren zu Markte trugen, wo sie auch nur von der Hand in den Mund lebten ohne einen Hoffnungsschimmer auf irgendeine wirtschaftliche Besserung oder ob sie dem Ruf deutscher Werber folgten, um in der rasant aufstrebenden Industrialisierung am Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts in den Bergwerken des Ruhrgebietes für den immensen Bedarf an Kohle für die Eisenhütten zu schuften, dafür aber mit der kleinen Hoffnung im Herzen, vielleicht doch ein wenig teilzuhaben am allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung und ihren Kindern damit eine bessere Zukunft bieten zu können.
Sie kamen mit polnischem Sand in den Schuhen, einer Flasche Wasser aus ihrer geliebten Weichsel und einer Flasche Wodka für die Seele. Sie kamen mit der Hoffnung auf ein besseres Leben und der unstillbaren Sehnsucht nach ihrer schönen Heimat im Herzen, die sie eines Tages unter besseren Bedingungen wiederzusehen hofften.
Denn: Jeszcze Polska nie zgineła, kiedy my żyjemy. Noch ist Polen nicht verloren, wenn wir leben.


(Die Weichsel mit Blick auf den Wawel)


Uns ist die Erinnerung geschenkt
worden, damit wir sie
weitergeben.


1. Kapitel
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Der Zigeuner


Sie starrte in den Graben, in den man den Leichnam geworfen hatte, und die Knie drohten ihr den Dienst zu versagen. In den gebrochenen Augen des jungen Mannes stand noch das Entsetzen und der Mund war zu einem unhörbaren Schrei weit aufgerissen. Das anfängliche Grauen, das Jadwiga erfaßt hatte, verwandelte sich in Mitleid.
Sie beugte sich zu dem Toten hinab, um ihm Augen und Mund zu schließen und ließ für Sekunden ihre Hand fast zärtlich auf seinem Gesicht liegen. Ihr Blick streifte über seinen gemarterten Körper und sie mußte gegen das Würgen ankämpfen, das ihren Mageninhalt nach oben zu befördern drohte. Sein Unterleib schwamm im Blut, die Hose stand offen und das, was ihn einmal zum Mann gemacht hatte, lag abgetrennt neben ihm im Graben. Überall schwirrten Schmeißfliegen auf dem Toten herum und taten sich gütlich. Die gerade aufgegangene Sonne verkündete bereits einen heißen Sommertag, das Blut roch süßlich und Jadwiga mußte wieder gegen ihre Übelkeit ankämpfen, die, wie sie wußte, nicht nur von dem Toten herrührte. Sie richtete sich mühsam wieder auf, ging über die Lützowstraße ins Haus zurück, um ihre Tochter Bronislawa auf das vorzubereiten, was sie gerade gesehen hatte, denn sie ahnte, was da abgelaufen sein könnte und wer eventuell dahinter steckte.
Bronislawa, die größten Wert darauf legte, mit Bruni angesprochen zu werden, weil sie die polnische Herkunft ihrer Eltern am liebsten vergessen hätte und es ihrer Mutter übel nahm, daß die ihren Vornamen Jadwiga nicht längst in Hedwig hatte ändern lassen und sich als Krönung sozusagen auch noch von ihren Verwandten mit ihrem Kosenamen Dschadscha ansprechen ließ, fühlte sich zu Höherem berufen, wenn sie auch nur eine schwache Vorstellung von ihrem künftigen Höhenflug hatte. Nur eines wußte sie genau, sie wollte heraus aus dem Dreck und dem Mief der Lützowstraße, die ihrem hehren Namen wenig Ehre machte, und nur 'das Pollackenviertel' genannt wurde.
Sie wollte eigentlich keine Kinder, dafür einen tatkräftigen, möglichst wohlhabenden deutschen Mann, der etwas auf die Beine stellte, sie auf Händen trug und ihr seinen deutschen Namen gab, hinter dem sie ihre polnische Herkunft verstecken konnte. Sie wollte außerdem eine große sonnige Wohnung mit eigener Toilette und Bad und einer richtigen Diele in einer piekfeinen Gegend, wie zum Beispiel in der Parkstraße mit ihren eleganten Villen, die sich wie Schmuckstücke aus dem üppigen Grün der großen Parkanlage heraushoben in einer Stadt, in der sonst eher grau und schwarz die dominierenden Farben waren. Sie wollte raus aus dem Loch, in dem sie selbst hausten. Wo man vom Treppenhaus gleich in die Küche fiel und von da aus in die Schlafkammer, deren Tür mit einem Stück Seil zugehalten wurde, weil der Vater sie im betrunkenen Zustand eingetreten hatte und für ein neues Schloß niemals Geld da war. Brunis Lebenserfahrung war einfach und zwingend: Viele Kinder, wenig zu essen und viel Not, keine Kinder, viel zu essen und Wohlstand.
Doch seitdem Brunis Klassenlehrer einmal mehr im Scherz gefragt hatte, ob ihre Familie mit dem berühmten polnischen Dichter und Nobelpreisträger Henryk Sienkiewicz verwandt sei, war sie mit ihrer Herkunft etwas versöhnt und faßte augenblicklich die Gelegenheit beim Schopfe, sich mit diesem Dichter als einem entfernten Onkel zu schmücken. Sie wußte zwar nicht, was ein Nobelpreisträger war, aber daß es etwas besonderes sein mußte, hatte sie aus dem Tonfall ihres Lehrers herausgehört und der Glanz dieses Dichters würde sie und ihre Familie über die anderen Puchulken in ihrer Nachbarschaft herausheben, über die Bruni nur die Nase rümpfte. Nur ihr Ziel, sich in eine Deutsche zu verwandeln, verlor sie darüber trotzdem nicht aus den Augen, auch wenn ihr erster Versuch in dieser Richtung kläglich gescheitert war. Nach ihrem mäßigen Volksschulabschluß, der noch dadurch erschwert war, daß zu Hause fast nur polnisch gesprochen wurde, kam Bruni zu den Mandelbaums als Dienstmädchen in Stellung. Diese Stellung hatte sie auch nur ihrer Tante Hanka, Jadwigas älterer Schwester, zu verdanken, die mit Lea Mandelbaum dick befreundet war und für die sie ab und zu nähte.
Bruni witterte Morgenluft und hatte ziemlich schnell versucht, den jungen hochbegabten und etwas weltfremden David mit ihren üppigen und durchaus ansehnlichen Rundungen zu verführen, um sich ein komfortables Nest zu sichern. Doch als man die beiden zwischen den Laken erwischte, machten seine Eltern kurzen Prozeß und warfen Bruni ohne Handgeld und ohne Zeugnis aus dem Haus. Ein Techtelmechtel
mit einem Dienstmädchen und noch dazu mit einer Goj, das wohlmöglich noch Folgen hätte, das war völlig undenkbar. Damit hatten sie sich nichtsahnend Brunis Verachtung zugezogen, die auch noch irgendwo aufgeschnappt hatte, daß das jüdische Kapital schuld am Niedergang des deutschen Volkes sei. Sie hatte zwar keine Ahnung von den Zusammenhängen des jüdischen Kapitals mit der Wirtschaft, aber es schürte ihren Hass gegen die wohlhabenden Mandelsbaums, als wären die höchstpersönlich für die Misere in Brunis Familie verantwortlich. Und die eigentlich gutmütige Lea Mandelbaum, die nichts von Brunis seelischen Untiefen ahnte, und meinte, man könne Jadwiga nicht für das schamlose Verhalten ihrer Tochter bestrafen, schickte auch noch abgelegte Kleider an Jadwiga, die Bruni verächtlich in die Ecke schleuderte und meinte: "Hier sind die alten Plünnen von der jüdschen Kapitalistin. Für uns sind die ja gerade noch gut genug."
Und Jadwiga bat händeringend: "Kind versündige dich nicht. Wärst du nicht so schamlos gewesen, dich an den jungen David ranzumachen, würdest du immer noch ihr Brot essen. Außerdem, ich kann bei Jakob Mandelbaum auf Pump kaufen und er drängelt nicht mit dem Bezahlen. Und wenn ich ihm in der Woche nur fünfzig Pfennig abstottere, ist er auch zufrieden."
"Ja, und wenn du die fünzig Pfennig auch nicht hast, dann bölkst du durch die Tür, er möge doch bitte ein anderes Mal wiederkommen, weil du gerade in der Badewanne hockst und plätscherst dabei ein bißchen mit dem Wasser im Eimer," lachte Bruni gallig.
Bruni hing nun zum großen Ärger ihrer Mutter zu Hause herum, hielt Ausschau nach neuen eventuell in Frage kommenden Opfern und versorgte in der Zwischenzeit mißgelaunt den Haushalt und ihre jüngeren Geschwister, während die Mutter den mageren Lebensunterhalt in der Küche des Knappschaftskrankenhauses verdiente. Inzwischen hatte Bruni gleich zwei Anwärter an der Angel und befand sich in einem totalen Gefühlschaos. Der eine war der ersehnte Freier mit dem deutschen Namen und kam aus einer annehmbaren Familie und der andere war Janos, der Zigeuner, der ihre sämtlichen Prinzipien und Zukunftsplanungen nach nur einem einzigen Blick in seine Glutaugen gründlich über den Haufen geworfen hatte.
Kurz nachdem vor ein paar Wochen der Ruf durch die Häuser der Lützowstraße schallte: "Holt die Kinder herein und nehmt die Wäsche von der Leine, die Zigeuner kommen", hatte Janos an ihre Wohnungstür geklopft und mit seiner melodiösen samtweichen Stimme gefragt, ob sie Messer und Scheren zum Schleifen hätte. Dabei hatte er sie mit seinen dunklen Augen angesehen, daß Bruni das Gefühl gehabt hatte, sein Blick sei ihr bis in die tiefsten Tiefen ihrer Seele gerutscht. Das hatte ein Kribbeln bei ihr ausgelöst, das sie zuvor noch nie gespürt hatte. Sie hing wie hypnotisiert an seinen Augen, ließ ihn schlafwandlerisch in die Küche und suchte mit zitternden Händen nach den Messern und Scheren, um sie Janos auszuhändigen. Er ging mit einem wissenden Grinsen davon und seitdem war sie ihm verfallen.
Er war nicht sehr groß, aber sein Körperbau war von wunderbarer Ebenmäßigkeit. Breite Schultern, muskulöse Arme und kräftige kleine Hände, die unerwartet fest zupacken konnten, mit schmalen Hand- und Fußgelenken, einer engen Taille, schmalen Hüften und wohl geformten Beinen. Er war das Abbild des griechischen Gottes Apoll und Bruni konnte sich nicht satt sehen an ihm.

Die Zigeuner hatten sich mit ihren bunten Wagen, den zähen kleinen Pferden, dem Tanzbären und ein paar quirligen Äffchen auf der gegenüberliegenden Wiese niedergelassen, die lediglich mit einem dünnen Drahtzaun zur Straße hin abgesichert war, so daß die Anwohner in der ängstlichen Erwartung lebten, der Bär könnte sich selbständig machen und ihnen einen unerwünschten Besuch abstatten.
Bruni hing ständig bei den Wagen herum immer in der Hoffnung, einen Blick von ihm zu erhaschen. Sie sah ihm zu, wenn er auf einem der kleinen zottigen Steppenpferde ohne Sattel über die Wiese galoppierte, über kleine Hürden sprang und Kunststückchen vollführte, die er nachmittags und abends in der Vorstellung für ein paar Pfennige
vorführen wollte und ihr wurde dabei ganz warm um's Herz. Und wenn er erst seine Guitarre hervorholte und abends zusammen mit den anderen Männern aufspielte, so daß der wilde und harte Rhytmus ihr Blut zum Pulsieren brachte, und er dann auch noch mit seiner dunklen und warmen Stimme seine Sehnsucht in die Nacht hinaus sang, dann war es vollends um Bruni geschehen. In solchen Momenten vergaß sie alles um sich herum, bisher nicht gekannte Gefühle durchfluteten sie und jede Faser ihres Körpers gierte nach Janos.
Und so war es dann bald in der ganzen Straße herum, daß die bedauernswerte Jadwiga sich die Finger wund schuftete, um ihre Brut zu ernähren, während ihre mißratene und arbeitsscheue Tochter sich mit einem Zigeuner herumtreibt. Man hatte Jadwiga bereits detailgetreu berichtet, in welchen Ecken man Bruni und ihre neueste Errungenschaft in eindeutigen Positionen beobachtet hatte.
Als Jadwiga das Haus betreten wollte, kam ihr Bruni schon voll dunkler Ahnungen entgegengestürmt, rannte an ihr vorbei zum Graben, starrte mit weit aufgerissenen Augen verständnislos auf den Leichnam, um sich im nächsten Moment, ehe Jadwiga es noch verhindern konnte, mit einem markerschütternden Schrei auf ihn zu werfen.
Sie streichelte und küßte sein Gesicht, benetzte es mit ihren Tränen, und rief immer wieder unter Schluchzen: "Amor mio, Amor mio!" So hatte Janos sie immer in ihren Schäferstündchen genannt, niemals Bruni. Und nun war es das Letzte, was sie ihm zurückgeben konnte: "Amor mio!"
Durch Brunis Geschrei aufgeschreckt, kamen nun auch ein paar verschlafene Zigeuner aus ihren Wagen und wurden plötzlich sehr wach und hektisch, als sie ihren toten Stammesbruder in seinem Blute schwimmen sahen. Der einzige Polizist in ganz Ückendorf, wegen seiner blauen Uniform und seiner feuerroten Haare nur der 'rote Blaue' genannt, lief gerade Streife in der Schillstraße und hatte sich bereits vorgenommen, das bunte Völkchen auf der Wiese an der Lützowstraße im Auge zu behalten, als er ebenfalls von der Hektik bei den Zigeunern und dem allgemeinen Wehklagen, in das nun auch deren Frauen eingestimmt hatten, angelockt wurde und schnellen Schrittes, die gerade noch seinem Stand angemessen waren, herbeigeeilt kam, wobei er sich von Zeit zu Zeit mit seinem blaukarierten Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte. Ganz Autorität und sich der Bedeutung des Augenblicks bewußt, den ersten Mordfall in seiner Dienstlaufbahn vor sich zu haben, schritt er gravitätisch um den Tatort herum, scheuchte Fliegen, Frauen und Gaffer weg, wobei er nicht verhindern konnte, daß sämtliche Spuren zertrampelt wurden und überlegte angestrengt, was man in so einem Fall zu tun hatte. Das einzige, was ihm einfiel, war, auf seiner Trillerpfeife durchdringende Töne von sich zu geben in der Hoffnung, daß ihm irgendjemand zu Hilfe käme. Als niemand kam, erteilte er dem ihm am nächsten stehenden, gerade von der Schicht gekommenen Bergarbeiter Order, niemanden an den Toten zu lassen und eilte davon, um bei dem Kneipenwirt Sievers in der Bergmannstraße zu telefonieren.
Als er den endlich aus dem Bett geholt, mit seiner Dienststelle telefoniert und sich weisungsgemäß wieder an den Tatort zurückbegeben hatte, war der ganze Spuk vorbei und der rote Blaue glaubte an eine
Halluzination, der er aufgesessen war.

Die Zigeuner waren samt Leichnam verschwunden und hatten sich quasi in Luft aufgelöst, nicht ohne vorher noch den Bewohnern der Lützowstraße, in der sich nur drei Mietshäuser befanden, Blutrache zu schwören und ihnen anzudrohen, daß sie ganz sicher den Mörder finden würden im Gegensatz zu dem lächerlichen Polizisten mit seiner Trillerpfeife, den sie für einen Idioten hielten und der bestimmt nicht daran interessiert war, den Mörder eines Zigeuners zu finden. Denn sie waren sich sicher, daß Janos nicht von seinen eigenen Leuten umgebracht worden war. Sein heißes Techtelmechtel mit der vollbusigen Schickse aus dem Haus Nummer 2a war ihnen schließlich auch nicht verborgen geblieben, ebensowenig die ständig um Bruni sonst noch herumlungernden Freier, die mit hasserfüllten, auf Rache sinnenden Blicken das schamlose Treiben beobachtet hatten. Diese sogenannten Freier waren indes Brunis beiden Brüder Roman und Sascha sowie ihr zweites Eisen im Feuer, Manfred Lindner, aus der für Brunis Begriffe gesellschaftlich schon gehobeneren Ulmenstraße, auch Gardinenstrasse genannt, in der jede Familie ein eigenes kleines Reihenhaus mit einem Stall und einem kleinen Gemüsegarten besaß und die sich den Luxus von Gardinen an ihren Fenstern leisten konnten. Diese drei waren nun von Brunis plötzlichem Interesse für den dunkelhaarigen und dunkelhäutigen Zigeuner ganz und gar nicht begeistert und spuckten Gift und Galle. Die Brüder nicht, weil sie generell eine Abneigung gegen das fahrende Volk hatten, die ihrer Meinung nach arbeitsscheu und faul waren und nur darauf aus, die Leute zu betrügen, ihnen wertlose Teppiche anzudrehen, den Hausfrauen die Geldbörse aus der Schürzentasche zu angeln und sie, wenn die Gelegenheit günstig war, mit ihrem pomadigen Charme mal kurz über den Küchentisch zu legen, die Wäsche im Hof von der Leine zu klauen und kleine Kinder zu stehlen.
Und Manni war stocksauer, weil er sich selbst bereits Hoffnungen darauf gemacht hatte, daß ihm Bruni wie eine reife Frucht in den Schoß fallen würde. Denn immer, wenn er am Samstagabend bei Sievers zum Schwof aufspielte, seinem Bandoneon die sehnsüchtigsten und feurigsten Tangomelodien entlockte, schmolz Bruni dahin, himmelte ihn mit ihren funkelnden Augen an und er war sich sicher, wenn er nicht spielen müßte, sondern Bruni über das Parkett hätte schieben können, hätte er sie längst herumgekriegt. So hatte sich ihre Beziehung bisher darauf beschränkt, daß sich nur ihre Augen ineinander verhakten, er ihre Brüder über sie aushorchte und im übrigen auf eine günstige Gelegenheit wartete, denn Bruni war stets vor Beendigung des Tanzvergnügens verschwunden, da sie Manni weichkochen wollte, um ihn ihrerseits als williges Opfer zum Altar zu schleppen, bis ihr Janos über den Weg gelaufen war und ihre sämtlichen Pläne über den Haufen geworfen hatte. Denn für Janos hätte sie alles aufgegeben, wäre mit ihm in seinem bunten Wagen durch die Lande gezogen, nach Stammessitte fünf Schritte hinter ihm hergelatscht, hätte ihre Haare unter einem Kopftuch verborgen, sich die bunten Flatterröcke angezogen und das Familienvermögen, das die Zigeuner verständlicherweise nicht zur Bank brachten, in Form von schwerem goldenen Schmuck um Hals und Arme getragen, was ihr besonders gut gefiel. Allerdings hielten die Seßhaften das goldene Geklingel für Talmi, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß die Zigeuner echten Schmuck besaßen.
Bruni war so süchtig nach seinen Umarmungen, daß daneben nichts anderes mehr existierte. Ständig ging ihr das kleine Lied durch den Kopf: "Lustig ist das Zigeunerleben, faria, faria ho, brauchst dem Kaiser kein Zins zu geben, faria, faria ho."
Doch nun war Schluß mit lustig. Und die Art und Weise, wie Janos um's Leben gekommen war, ließ nur den Schluß zu, daß hier Eifersucht und Rache im Spiel waren. Man brauchte nur noch zwei und zwei zusammen zu zählen.
Vor dem roten Blauen hatte niemand Angst, denn da die Zigeuner mit dem corpus delicti abgezogen waren, konnte auch nicht mehr ermittelt werden. Unbehagen dagegen bereitete ihnen der Rachedurst der Zigeuner, die die Sache ganz sicher nicht auf sich beruhen ließen und noch weniger zuerst Fragen stellen würden, wenn sie ihr vermeintliches Opfer erwischt hätten. So gingen denn alle die, die sich berechtigt oder unberechtigt bedroht fühlten, zunächst einmal auf Tauchstation und es wurde ziemlich ruhig im Viertel.
Nachdem Bruni den ersten Schock ihres Lebens überwunden hatte, stellte sie mit Entsetzen fest, daß sie schwanger war. Ihr erster Impuls war, zu den Mandelbaums zu gehen und zu behaupten, deren Sohn David sei der Vater ihres zu erwartenden Kindes, denn schließlich waren sie ja in einer eindeutigen Situation erwischt worden, aber dann verwarf sie den Gedanken wieder, denn sie wußte, die Mandelbaums würden sie hochkantig zur Tür hinauswerfen, ehe sie ihren Satz überhaupt zu Ende gesprochen hätte.
Blieb also nur noch Manni. Bruni konnte sich zwar nicht vorstellen, daß Manni oder ihr eigener Bruder Roman etwas mit der Bluttat zu tun hatten, aber ein kleiner Zweifel nagte und nagte in ihrem Hinterkopf und wollte keine Ruhe geben, zumal Roman sich verdächtig ruhig verhielt und auch von Manni kaum noch etwas zu sehen war. Doch schnelles Handeln war jetzt vonnöten. Und sie wußte, daß Manni scharf auf sie war. Sie war sich sicher, daß das Schicksal ihr höchstpersönlich in die Hände spielte, als ihr Manni kurz darauf auf der Bergmannstraße begegnete und sie ihn bitten konnte, ihren schweren Einkaufskorb zu tragen, was er auch bereitwillig tat. Da die Wohnung stets von ihren Geschwistern bevölkert war, lockte sie Manni unter einem Vorwand in den Keller. Der faßte denn auch sofort die Gelegenheit beim Schopfe, drückte Bruni auf einen Kohlenhaufen und freute sich einerseits, daß er so ein leichtes Spiel bei ihr gehabt hatte, andererseits jedoch fragte er sich, ob Bruni es tatsächlich nicht so genau nahm im Umgang mit dem anderen Geschlecht und daß an dem allgemeinen Getuschel hinter der vorgehaltenen Hand doch mehr dran war als nur Klatsch und Tratsch. Zweifel nagten jedenfalls an seinem Erobererstolz und machten ihn zu einem faden Vergnügen. Doch Bruni verstand es, seine Zweifel zu zerstreuen, ebenso bei ihren Brüdern, die die Familienehre hoch hielten und glaubten, sie verteidigen zu müssen.
Und Bruni verbot sich, Äpfel mit Birnen zu vergleichen, denn im Vergleich mit dem feurigen Janos schnitt Manni nicht besonders gut ab. Sie ließ ihn aber nun nicht mehr von der Leine, wenn sie ihren Traum von einem besseren Leben innerhalb einer gut situierten und angesehen Familie nicht endgültig begraben wollte, der nun nach Janos Tod wieder zwingend in den Vordergrund gerückt war. Und als sie Manni kurz darauf tränenreich mitteilte, daß sie von ihm schwanger sei, glaubte er tatsächlich, er sei der Vater und wollte sich seiner Verantwortung nicht entziehen, was Bruni mit Erleichterung zur Kenntnis nahm. Die beiden hatten jedoch die Rechnung ohne Mannis Mutter gemacht.


2. Kapitel
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Minchen

Trotz ihres Kosenamens aus Kindertagen, der an ihr klebte, wie ein Bonbon am Hemd, und trotz ihrer zarten kleinen Statur war Wilhelmine Lindner geborene Krimkowski eine Respekt einflößende Person, wenn sie aufrecht und gerade wie ein Ladestock mit einer sauberen Schürze vor dem sauberen Kleid und dem Henkelkorb am Arm durch die Ulmenstraße ging.
Als Józef Lindner bei ihrem Vater an der Tür klopfte und mit seinem melodischen polnischen Akzent um eine Unterkunft bat, wurde er gern als Kostgänger und Schlafbursche bei ihnen aufgenommen. Für ein kleines wöchentliches Kostgeld von ein paar Groschen wurde er von Minchens Mutter bekocht, mit polnischen Spezialitäten verwöhnt und bekam einen Schlafplatz unter der Treppe, der zum Flur hin durch eine Wolldecke notdürftig verdeckt war.Eine komfortablere Unterkunft konnte und wollte er sich nicht leisten, denn Józef war ehrgeizig und wollte schnell vorankommen. Im übrigen war er bescheiden, zurückhaltend und dankbar, so daß Minchen sich im Handumdrehen in ihn verliebte und bei ihren Eltern dank ihres Dickkopfes und ihrer gewohnten Willenskraft wenigstens erst einmal die Verlobung mit Józef durchsetzte, indem sie ihren Vater temperamentvoll daran erinnerte, daß er selbst als junger Mann aus Ostpreußen in das Ruhrgebiet eingewandert war, weil er sich von den Werbern hatte verlocken lassen, die von den Zechengesellschaften ausgesandt worden waren, um für die überall im Revier entstehenden Kohlegruben billige Arbeiter vor allem aus dem Osten anzuwerben und ihnen das Blaue vom Himmel und Milch und Honig versprachen. Daß es statt dessen nur Malocherei bis zum Umfallen, Kohlenstaub satt, der die Lungen zerbröselte, schwarzen Schweiß und trocken Brot gab und kaum eine Möglichkeit, irgendwo anständig unter zukommen, weil die Zechen für den großen Zustrom von Arbeitern gar nicht so schnell genügend Wohnraum bereitstellen konnten, merkte er erst vor Ort.
Inzwischen hatte er es aber sogar schon zu einem der billigen Bergmannshäuser mit Stall und kleinem Garten gebracht, was einerseits für ihn und seine Familie ein großer Luxus war, ihn andererseits aber auch an seine Zeche band, denn die Zechengesellschaften hatten diese Häuser nur gebaut und für ihre Arbeiter bereitgestellt, damit diese nicht ständig von einer Zeche zur anderen wechselten, weil es dort ein paar Pfennige mehr Lohn gab. So fand er denn auch, daß Józef als Kostgänger und Schlafbursche bei ihm den Himmel auf Erden und diesen Himmel nur dem Umstand zu verdanken hatte, daß er ebenfalls ein Zugewanderter war, das Jósef aber noch lange nicht das Recht gab, sich nun auch noch an seine einzige Tochter, seinen Augapfel und ganzen Stolz, heran zu machen. Aber Minchen setzte ihren Kopf durch und war fest entschlossen, ihren Józef nach Ablauf des Verlobungsjahres zu heiraten. Und Józef war fest entschlossen, fern der Heimat seinen Weg zu machen, sich hier festzukrallen und nichts wieder herzugeben. Als erstes hatte er sich seines für deutsche Zungen völlig unaussprechlichen Ruf- und Nachnamens entledigt, indem er seinen zweiten Vornamen Józef als Rufnamen benannte und sich von den deutschen Behörden, die ständig Schwierigkeiten mit dem Schreiben und Sprechen polnischer Namen hatten, einen deutschen Nachnamen zuweisen lassen. So fühlte er sich mit dem Namen Lindner nun schon
fast wie ein Deutscher, lernte mit Minchens Hilfe eifrig deutsch in Schrift und Sprache, so daß zu Minchens Bedauern bald sein geliebter polnischer Akzent immer mehr verschwand.
Józef schuftete wie ein Pferd. Er nahm jede Gelegenheit wahr, Geld zu verdienen, schob in aller hergotts Frühe seinen zweirädrigen Karren zum Großmarkt am Gelsenkirchener Hauptbahnhof und brachte Obst und Gemüse zu den verschiedenen Einzelhändlern. Danach arbeitete er als Platzarbeiter auf der Zeche Rhein-Elbe IV und nach Feierabend suchte er sich noch weitere Gelegenheiten zum Geld verdienen. Außerdem machte er sich in Haus und Garten seiner Schwiegereltern in spe nützlich, half dem Alten beim Tauben füttern und zeigte Interesse für dessen einzige Leidenschaft, die Taubenzucht, so daß er nicht nur bei den Frauen, sondern auch bei seinem künftigen Schwiegervater offene Türen einlief, als er noch einmal um Minchens Hand anhielt, die ihm dann nicht mehr verwehrt wurde.
Nach der Hochzeit bezog das junge Paar Wohnungen, die gerade fertiggestellt waren und trocken gewohnt werden mußten. Dafür bezahlten sie dann eine wesentlich geringere Miete. Doch nach der Geburt ihres ersten Sohnes, den sie auf den Namen August taufen ließen und Gustl nannten, kamen diese feuchten Wohnungen nicht mehr in Frage, um die Gesundheit ihres Kindes nicht zu gefährden. Trotzdem zogen sie ständig um, wenn Józef mal wieder irgendwo eine freie Wohnung entdeckt hatte, deren Miete um fünfzig Pfennig billiger war, als die, die sie gerade bewohnten. Dann wurde ihre wenige Habe erneut auf die Schottsche Karre gepackt und zur nächsten Wohnung gekarrt.
Minchen hatte eigentlich Gustl auf den Namen seines Vaters Jósef taufen lassen wollen, aber der hatte abgelehnt und gemeint, er würde von seinen Kollegen nur Jupp genannt und Jupp und Jüppchen, das würde doch ziemlich lächerlich klingen für Vater und Sohn, fast schon, wie Dick und Doof.
Nach Gustl, der nur Mädchenkleider trug und deshalb auch wegen seines Namens ständig für ein Mädchen gehalten wurde, wurden dann noch die Söhne Walter, Manfred, Albert und Werner sowie das Nesthäkchen Elisabeth geboren. Gustl's Kinderkleider stammten noch von Minchen, die ihre Mutter penibel zusammengefaltet, eingemottet und auf dem Dachboden in einem verschließbaren Reisekorb aufgehoben hatte. Damit sparten sie sich jetzt die teuren Ausgaben für die Erstausstattung ihrer Kinder und da es sowieso allgemein üblich war, die kleinen Knaben bis zum Schulalter in Mädchenkleider zu stecken, fiel das auch nicht weiter auf.

Józef war vom Platzarbeiter in die Zeche gewechselt, arbeitete dort unter Tage zunächst als Streckenarbeiter, Schlepper und dann als Hauer vor Ort und verdiente 5,25 Mark pro Schicht. Mit dem Fortschreiten seiner Deutschkenntnisse wurde er Geselle, Rutschenbaas und stieg schließlich zum Steiger auf.
Das Siedlungshaus in der Ulmenstraße, das sie inzwischen bezogen hatten, band Józef zwar für immer an seine Zeche, bot aber mit seinem Stall und Garten Gelegenheit, Kleinvieh zu halten und Gemüse anzubauen sowie nun ihrerseits einen Kostgänger bei sich aufzunehmen, um das schmale Einkommen, das mit jedem Kind noch ein bißchen schmäler wurde, aufzubessern. Denn Józef hatte Pläne mit seinen Kindern, die von Minchen voll und ganz mitgetragen wurden. Ihre Kinder sollten es einmal besser haben. Voraussetzung dafür war eine gute Schulbildung und die sollten sie bekommen. Und außerdem, welch ein Luxus und welch eine Verschwendung, sollte jedes Kind ein Musikinstrument spielen lernen. Und die Instrumente und der Musikunterricht verschlangen dabei fast ihr ganzes Budget. Und Józef hatte noch nicht einmal eine Ahnung, wie weise seine Entscheidung war.
Gustl lernte Geige spielen, Walter wurde nicht weiter genötigt, da sich herausstellte, daß er völlig unmusikalisch war, dafür beherrschte Manni virtuos sein Bandoneon, Albert spielte leidlich Klarinette, Werner dafür umso besser Konzertzither und Elisabeth zupfte mit Hingabe auf ihrer Laute und sang dazu mit Inbrunst.
Und Minchen unterstützte Józef dabei nach Kräften. Unermüdlich war sie auf den Beinen, hielt das Haus in Ordnung, arbeitete im Garten, versorgte das Kleinvieh, saß bis tief in die Nacht an der Nähmaschine, wendete Mäntel und Anzüge, nähte aus zwei abgetragenen Kleidern ein neues und strickte Strümpfe und Pullover, bis ihr die Augen zufielen.
Blanke Kragen wurden mit schwarzem Kaffee aufgebürstet, die Hosenfalten mit feuchten Tüchern scharf gebügelt und die abgetragenen Schuhe so lange gewienert, bis sie wie neu glänzten und dann ging es Sonntags in die Kirche zur Messe, um das Ansehen zu genießen, daß sie inzwischen im Viertel hatten.
Nur wenn Józef dann in der Kirchenbank saß, mit seiner Müdigkeit kämpfte und auf die Orgelklänge lauschte, beschlich ihn manchmal tief in seinem Herzen eine uneingestandene Sehnsucht nach seiner schönen Heimat, den dichten Wäldern, durch deren Bäume das Sonnenlicht flirrte, den klaren stillen Seen und den Wurzeln seiner uralten Kultur.
Doch wenn er nach der Messe aus der Kirche trat, sich mit ein paar Kumpeln und Minchens Segen noch einen kleinen Frühschoppen in der nahe gelegenen Kneipe gönnte, war diese Anwandlung der Wehmut wieder verflogen. Er blickte mit Stolz auf das zurück, was er inzwischen in seiner neuen Heimat geschafft hatte.
Sein Ältester war Sachbearbeiter bei Küppersbusch und würde es noch weit bringen. Walter allerdings war sein großer Kummer. Der hatte keinen Ehrgeiz. Manni hatte wenigstens Kunstschmiede gelernt, aber er fühlte sich auch nicht zu Höherem berufen und behauptete immer, er wäre nicht dazu geschaffen, anderen Leuten Befehle zu erteilen, genauso wenig, wie Albert, der den Bäckerberuf erlernt hatte.
Dafür setzte Józef seine ganze Hoffnung auf Werner, der das Abitur mit Auszeichnung bestanden hatte und Priester werden sollte sowie auf Elisabeth, die ebenfalls ihr Fachabitur gemacht hatte, und noch schwankte, ob sie nun Hebamme oder Lehrerin werden wollte oder doch lieber eine blaustrümpfige Suffragette, wie Emmeline Pankhurst, deren kämpferischen Bemühungen um das Wahlrecht der Frauen in England für viel Aufregung gesorgt und vor allem bei den Männern großen Unmut ausgelöst hatte, weil die schon ihre sämtlichen Felle und ihre althergebrachten Vorrechte davonschwimmen und sich im Geiste mit ihren aufmüpfigen Eheweibern herumprügeln sahen. Doch diese aufrührerischen Anwandlungen von Liesbeth wurden von ihren Eltern sofort und erfolgreich im Keime erstickt, denn im Grunde war sie eine gehorsame Tochter.
Auf jeden Fall waren sie eine respektable Familie, arbeitssam und kaisertreu, was bei den Nachbarn Neid auslöste und Tuschelei hervorrief.
Józef wurde als Streber bezeichnet und Minchen als hochnäsig und eingebildet,weil ihre Kinder unbedingt etwas Besseres werden sollten, womit sie ihre eigenen bescheidenen Erfolge geschmälert sahen.
Aber trotzdem konnten sie den Lindners bei allem Nase rümpfen die Anerkennung nicht versagen, denn Minchen war immer hilfsbereit, stand jedem in Not geratenen Nachbarn hilfreich mit Rat und Tat zur Seite und auch Józef hatte stets ein offenes Ohr für seine Nachbarn und Kollegen, so daß sich die Kritik in Grenzen hielt. Józef hatte das Gefühl, es geschafft zu haben und war zufrieden. Er war mit ganzem Herzen Sozialdemokrat und Bismarck hatte den Arbeitern noch 1883 die Versicherungsgesetze gegen Krankheit, 1884 gegen Unfall und 1889 gegen Alter und Invalidität beschert, wenn auch nicht ganz freiwillig, denn sein vorausgegangener Vernichtungs Feldzug gegen die Sozialdemokraten als dem sogenannten 'Reichsfeind' hatte einen derartigen Wirbel ausgelöst, der beruhigt werden mußte. Dafür waren die Arbeiter jetzt die Nutznießer dieser
segensreichen Einrichtung, die ein Zeitgenosse als die große unsterbliche Tat Bismarcks bezeichnet hatte.
Józef hatte daher allen Grund zu glauben, seine und die Zukunft seiner Kinder sei überschaubar, gesichert und es ginge stetig aufwärts. Die Schüsse von Sarajewo auf das österreichische Thronfolgerpaar und der Ausbruch des ersten Weltkrieges im August 1914 rissen dann ihn und seine Familie aus ihren schönsten Blütenträumen. Hatten sie zunächst noch gehofft, Österreich würde mit seinen Problemen auf dem Balkan allein fertig werden, so sahen sie sich darin bald getäuscht. Zwar tauschten noch der russische Zar Nikolaus und der deutsche Kaiser Wilhelm II. freundschaftliche Noten aus, in denen sie ihren Friedenswillen bekundeten und der Hoffnung Ausdruck gaben, daß die Diplomaten es schon richten würden, unterzeichnet mit 'Dein lieber Nicki' oder 'Dein lieber Willi', aber die Diplomaten versiebten die Sache gründlichst und ehe sie sich versahen, waren aus den friedliebenden freund- und verwandschaftlich verbundenen Fürsten kriegerische Kontrahenten geworden, weil sie sich in ihren jeweiligen Bündnissen verheddert hatten. Und nun dachten alle, wenn es denn schon sein muß, dann machen wir es eben jetzt kurz und bündig und holen uns schleunigst das größte Stück aus dem Bärenfell von dem Bären, den sie noch gar nicht erlegt hatten. Zu Weihnachten sind wir wieder zu Hause, glaubten
sie siegessicher.
Österreich hoffte, mit Hilfe seines Bündnispartners Deutschland die renitenten Balkanvölker endlich zur Räson und zur Ruhe zu bringen;
Serbien bildete sich ein, mit Hilfe Rußlands die Österreicher besiegen zu können, um sich selbst den österreichischen Flickenteppich als Groß-Serbien unter den Nagel zu reißen;
Rußland spekulierte ebenfalls, über und mit seinen serbischen Brüdern bis zum Bosporus durchzurauschen und den 'kranken Mann am Bosporus' in denselben zu schubsen, um sich die Dardanellen und damit einen Zugang zum Mittelmeer zu sichern;
Frankreich lechzte nach Revanche für die Niederlage von 1871 und wollte Satisfaktion und das Elsaß Lothringen von den Deutschen zurück;
Italien wollte bei der allgemeinen Schnäppchenjagd auch nicht abseits stehen und hoffte auf fette Beute;
und die Windsors im Buckingham Palace brannten darauf, ihrem lieben Vetter Willi eins auf die Prinz-Heinrich-Mütze zu hauen, weil der gar zu unverfroren und angeberisch mit seiner Flotte, die in Wilhelmshaven wie am Fließband vom Stapel lief, vor ihrer Haustür herumgurkte und die Königlichen Hoheiten befürchten ließ, daß er ihnen die Seehoheit streitig machen wollte. Man war not amused.

Józef war geschockt. Er brauchte zwar nicht einzurücken, man hatte ihn wegen seiner Staublunge freigestellt, aber seine drei Ältesten waren kaum zu halten, als die ersten Soldaten nach der Musterung mit klingendem Spiel und Blumen in den aufgepflanzten Bajonetten singend zum Bahnhof marschierten, um sich in Frankreich ihrem von der Presse schmackhaft gemachten Erbfeind entgegen zu werfen.
Daß Kaiser Wilhelm II. seinen Bündnispakt gegenüber seinem Bundesgenossen, dem österreichischen Kaiser Franz-Josef erfüllte, war selbstverständlich eine Frage der Ehre, wie es für Franz-Josef eine Frage der Ehre war, das schändliche Attentat auf den Thronfolger und dessen Gemahlin in Sarajewo zu ahnden. Dafür konnte man schon ein paar Monate opfern, denn wie gesagt, Weihnachten wollten sie alle wieder zu Hause sein, so dachten sie jedenfalls, und die andere Seite dachte vermutlich dasselbe.
Doch der Krieg zog sich hin und je länger er dauerte -er hatte sich inzwischen durch die verschiedenen Bündnisse zu einem Weltkrieg ausgeweitet-, je mehr schwand die Begeisterung der Menschen und machte schließlich Ermüdung und Erschöpfung Platz. Ehre hin, Ehre her. Die Nachrichten aus dem Felde waren erschreckend. Männer kamen nach Hause, die ihre Lungen bröckchenweise aushusteten, weil sie mit dem gefürchteten Senfgas in Berührung gekommen waren. Der Grabenkrieg in Frankreich, in dem sich die Soldaten buchstäblich an jeden Zentimeter Boden krallten und bis zum Halse in Schlamm und Blut wateten, war wohl das Schlimmste und Grauenhafteste, was sie je erlebt hatten. Das stundenlange Trommelfeuer auf ihre Stellungen riß und zerrte an ihren Nerven und brachte sie fast um den Verstand und wenn es endlich verstummte, fiel der Feind mit sich selbst mutmachendem Geheul und aufgepflanzten Bajonetten über sie her.
Da haben sich dann so manches Mal zwei Kontrahenten für den Bruchteil einer Sekunde mit vor Schreck geweiteten Augen angestarrt, bis der Schnellere zugestoßen hatte.
Auch Manni hatte wie paralysiert in die Augen seines Gegners gestarrt unfähig, sich zu rühren, bis der plötzlich lautlos zu Boden sank von einem Bajonett durchbohrt, das sein Nebenmann ihm in die Brust gestoßen hatte.
Von da an gingen die beiden zusammen buchstäblich durch dick und dünn, Freunde und Blutsbrüder für's Leben. Manni Lindner und sein Nebenmann Roman Sienkiewicz.
Der Steckrübenwinter 1916/17 verstärkte dann noch die allgemeine Kriegsmüdigkeit. Die unzureichende Lebensmittelversorgung in der Heimat und an der Front ließ bald jeden Patriotismus auf den Nullpunkt sinken und die Menschen fragten sich immer öfter, was sie eigentlich mit diesem Krieg zu schaffen hatten.

In dieser Situation kam die deutsche Heeresleitung auf die folgenschwere Idee, den russischen Begründer des Bolschewismus, einer speziellen russischen Form des Marxismus, nämlich den in der Schweiz im Exil lebenden Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, im April 1917 in einem versiegelten Eisenbahnwagen zur Unterhöhlung der russischen Kampfkraft nach Rußland zu schaffen. Lenin brachte denn auch im zweiten Anlauf im November 1917 die Macht an sich und schloß im März 1918 mit den Deutschen den Separatfrieden von Brest-Litowsk, so daß diese, wie sie richtig kalkuliert hatten, nun an einer Front weniger kämpfen mußten. Dafür hatten sie dann ahnungslos dem Kommunismus Tür und Tor geöffnet.
Und um allem die Spitze aufzusetzen, brach 1918 auch noch die spanische Grippe aus, eine Pandemie, die sich schneller als die Pest verbreitete und nochmals etwa zwanzig Millionen Menschen dahinraffte, als hätte es nicht schon genug Opfer gegeben. Die Menschen waren ausgehungert, krank, verzweifelt und am Ende.
In Wilhelmshaven kam es bereits zu bedrohlichen Massenversammlungen. Die aufgebrachten Menschen bildeten am 6.November 1918 einen Soldaten- und Arbeiterrat, den sogenannten 21er Rat, den man mit den Spartakisten, wie sich die Kommunisten auch nannten, gleichsetzte und stellten ihre Bedingungen. Und die militärischen Befehlshaber fügten sich widerstandslos den Forderungen der revoltierenden Soldaten, um ein Blutvergießen unter der Bevölkerung zu vermeiden.
Mit der Abdankung Kaiser Wilhelms II. am 9. November 1918 brach der monarchische Obrigkeitsstaat zusammen. Eine provisorische Regierung schloß sofort einen Waffenstillstand ab und der Kaiser ging mit dem Kronprinzen nach Holland ins Exil. Und so, wie weiland der französische König Ludwig XVI. lieber gehandwerkelt als regiert hatte, widmete der abgedankte Kaiser Wilhelm II. sich jetzt seinem Hobby, dem Holz hacken und war zufrieden.
Den Triumph, mit ihren Schüssen einen verheerenden Flächenbrand ausgelöst zu haben, konnten die Attentäter von Sarajewo nicht auskosten, denn sie erlebten das Kriegsende nicht mehr. Sie erlebten daher auch nicht mehr, daß Kaiserreiche, die befreundeten, wie die verfeindeten, wie Kartenhäuser zusammenstürzten, daß die Zarenfamilie auf brutalste Weise von den kommunistischen Revoluzzern liquidiert wurde, daß prosperierende Industrien zusammenbrachen,
daß der Geldwert sich im freien Fall nach unten befand, daß Hunger und Not herrschte, daß die Menschen vor den Scherbenhaufen ihrer Existenzen standen und ganze Familien nur noch im Freitod einen Ausweg aus ihrem Elend sahen. Und sie bekamen daher auch nicht mehr mit, daß sie mit ihren Schüssen bereits den Keim für den nächsten Weltkrieg gelegt hatten, nach dessen Ende der Führer des Widerstandskampfes, Josip Broz Tito, den Balkan endlich zu dem neuen Staat Jugoslavien zusammenschmiedete und sich selbst zum
Staatspräsidenten ernennen ließ, was dann vielleicht ihren Vorstellungen entsprochen hätte.

Die spanische Grippe hatte auch Józef dahingerafft. Sein Gesundheitszustand war sowieso schon angegriffen gewesen, dann noch der Hungerwinter 1916/17, so daß er dieser Grippe nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Drei Tage lag Józef in der guten Stube aufgebahrt und alle Nachbarn kamen vorbei, um Abschied zu nehmen. Die Uhr war in der Stunde seines Todes angehalten worden, so daß jeder
wußte, wann Józef zu seinen Ahnen gegangen war. Und über der Haustür war ein Trauerflor angebracht. Doch die Besucher kamen von hinten durch die Küche herein und gingen von dort aus ins Totenzimmer.
Minchen saß gerade, tränenlos und würdevoll neben dem Sarg und hielt die Totenwache.
Die drei Söhne hatten Fronturlaub bekommen und auch Mannis Freund Roman Sienkiewicz kurierte einen schwierigen Splitterbruch in der Heimat aus, so daß er in Begleitung seiner Schwester Bruni ebenfalls an der Beerdigung teilnehmen konnte.
Der Sarg wurde von Józefs Söhnen aus dem Haus getragen und auf eine schwarz verhangene Lafette, die von zwei Rappen gezogen wurde, geschoben. Nun setzte sich der Zug in Bewegung. Hinter dem Leichenwagen ging der Pastor, dann kamen die Angehörigen und die Trauergäste, und zwar zuerst die Frauen und dann die Männer. Und es war eine Selbstverständlichkeit,daß aus jeder Nachbarsfamilie wenigstens einer mitging. Auf dem langen Weg zum Südfriedhof spielte die Bergmannskapelle Trauerlieder. Die Knappen in ihren schwarzen Uniformen mit den blanken Knöpfen und den Emblemen ihrer Zunft sowie den mit Federn geschmückten röhrenförmigen Kopfbedeckungen sahen sehr würdevoll aus und gaben dem Leichenzug erst das richtige Gepränge.
Zurück ging es dann mit klingendem Spiel und flotten Weisen, um zu verkünden, daß das Leben weitergeht, so oder so. Danach wurden nur noch die Verwandten, die nächsten Nachbarn und enge Freunde zu Kaffee und Streuselkuchen eingeladen, der bei jeder Beerdigung angeboten wurde und deshalb auch Beerdigungskuchen genannt wurde. Den Männern wurde noch Schnaps und Bier angeboten, wobei man selbstverständlich voraussetzte, daß diese sich bei den Getränken zurückhielten. Ein Verstoß dagegen wäre unverzeihlich gewesen. Aber in Minchens Gegenwart hätte sich sowieso niemand getraut, über die Stränge zu schlagen.

Bruni drückte sich auch zwischen den Trauergästen herum und versuchte, möglichst nicht aufzufallen, damit sie umso ungestörter Manni Lindner beobachten konnte, der in seiner schmucken Ulanenuniform und der stillen gedankenverlorenen Trauer, die ihm so gut zu Gesicht stand, einen unauslöschlichen Eindruck auf den vierzehnjährigen Backfisch machte, so daß sie ihn mit ihren hungrigen Augen förmlich verschlang.
Alle Lindners waren bis auf Manni, der braune Augen und brünette Haare hatte, so blond und blauäugig, so schmuck und propper, so ganz und gar deutsch, wie Bruni sich einbildete, die keine Ahnung hatte, daß beide Familien aus derselben Hefe stammten, so daß sie hier und jetzt beschloß, sich in dieser Familie, die so vielversprechend war, irgendwann in der Zukunft einzunisten. Wer im Pütt konnte es sich schon leisten, seine Kinder auf das Gymnasium zu schicken, das teure Schulgeld zu bezahlen und dann auch noch die erforderlichen Schuluniformen und passenden Mützen zu kaufen. Bruni war schwer beeindruckt und fest davon überzeugt, daß alle Lindner-Sprößlinge eine steile Karriere machen würden. Und da wollte sie sich dranhängen. Denn bei ihr zu Hause in der Lützowstraße in der mehr als beengten Zweizimmerwohnung kam keine Freude auf. Ihre Mutter Jadwiga sprach lieber polnisch als deutsch, hing jeden Freitag, wenn Zahltag war, bei dem alten Kujawa, der eine Etage unter ihnen wohnte, herum, um mit ihm in polnischer Sprache von der Heimat zu schwärmen, mit ihm gemeinsam einen Schoppen Schnaps zu trinken und seinen fetten Kater Stechlak zu dressieren, der, wenn Jadwiga sich bückte und "spring" rief, über ihren Rücken sprang oder wenn sie "tot" sagte und mit dem Finger auf den Fußboden zeigte, sich lang hinlegte, alle Viere von sich streckte und sich tot stellte. Auf diesen Erfolg gönnten sie sich dann einen weiteren Schnaps. Den Schnaps brachte Jadwiga mit, denn bei dem Kujawa war er vor Brunis Argusaugen sicher.
Aber der Alte lieferte auch seinen Beitrag. Er ging tagsüber von Tür zu Tür fechten und in seinen großen Manteltaschen sammelten sich dann die Pfennige und Brotscheiben und wenn er Glück hatte, bekam er auch mal eine Scheibe Wurst oder ein Stück Speck oder gar ein Stück Kuchen. Abends breitete er dann das ganze Sammelsurium auf dem Küchentisch aus, worunter sich manchmal auch noch ein Mutterklötzchen befand, das ein vermutlich leicht angesäuselter Bergmann auf dem Nachhauseweg verloren hatte. Das waren Holzscheiben von den zurechtgesägten Verstrebungen in den Flözen, die die Bergleute für ihre Frauen mit nach Hause nahmen zum Feuer anmachen und Heizen und wurden deshalb 'Mutterklötzchen' genannt.
Jadwiga zählte dann zusammen mit dem Alten das Geld und verstaute das Brot im Küchenschapp. Das Geld schob sie ihm zu und meinte: "Gute Einnahme, stary Big. Geh, hol für zehn Pfennig Abfallwurst und für zehn Pfennig Abfallspeck und nimm das Pullkannchen mit und bring noch ein Schöppken Klaren mit Speck mit für den Durst und die Seele."
"Mach' ich, Dschadscha. Du sitz man, wo bleeib und bleeib man, wo sitz. Wenn ich wiederkomm, feiern wir ein Fest und anschließend kommst du noch ein bißchen mit auf meine Matratze."
"Ne, du geiler Maupa, bestimmt nicht. Du stinkst und deine Matratze auch, die braucht dringend frisches Stroh."
"Nenn' mich nicht Affe, stary Baba, das ist nicht recht. Ich nenne dich auch nicht 'magere Hippe'. Außerdem stamme ich mütterlichseits in direkter Linie von Konrad von Masowien ab. Also bitte etwas mehr Respekt!"
Jadwiga lachte lauthals. "Ja, ja und ich stamme in direkter Linie von dem Nobelpreisträger Henryk Sienkiewicz ab und ich platze gleich vor Stolz. Bruni hätte das auch gar zu gerne. Geh' und vergiß nicht, deine Czapka aufzusetzen, sonst werden noch deine Ohren kalt. Und merk dir eins, alt bin ich auch nicht und eine magere Ziege schon gleich gar nicht, du alter verwitterter Knüttek!"
"Mója Kochany du bist ein toftes Weib und ich liebe dich."
Lachend zog er die Tür hinter sich zu. Wenn sie zusammen waren neckten sie sich ohne Unterlaß und jeder wollte immer das letzte Wort behalten.
Jetzt im vierten Kriegsjahr kam sie mit roten Haaren nach Hause, nicht, daß sie ihre Haare gefärbt hätte, sondern weil sie im Stahlwerk Grillo in Schalke Granaten drehen mußte und der Metallstaub ihren eigentlich schwarzen Haaren roten Glanz verlieh, der auch mit dem Waschen nie ganz herausging. Auch deshalb trank sie, um die roten Haare und die Schufterei an der Drehbank zu vergessen und um den Metallstaub hinunterzuspülen. Und als der Krieg zu Ende war, hatte sie wieder einen Grund zum Trinken, dieses Mal einen freudigen, denn sie konnte endlich ihre Drecksarbeit bei Grillo aufgeben und in der Küche des Knappschaftskrankenhauses als Küchen- und Putzhilfe anfangen. Das war ein wahrer Glücksfall, denn nun konnte sie ab und zu auch noch Essenreste mit nach Hause bringen. Und Bruni, die ihre Geschwister versorgen mußte, wenn ihre Mutter arbeiten ging, dachte immer öfter, ich muß hier raus.

Durch Józefs Tod hätte Minchen jetzt das Bergmannshaus räumen müssen, doch sie verdonnerte Walter dazu, einzufahren, da der verbummelte Walter es mangels Ehrgeiz zu keiner abgeschlossenen Lehre gebracht hatte und Minchen fand, dann könne er ebenso gut im Pütt arbeiten. Walter hatte zwar absolut keine Lust, sich unter Tage kaputt zu schuften, aber gegen seine Mutter kam er nicht an und das warme gepflegte Nest bei seiner Mamusia, wie er sie schmeichelnd zu nennen pflegte, wenn er etwas bei ihr erreichen wollte, mochte er eigentlich auch nicht aufgeben. Doch Mamusia war seinen Argumenten gegenüber taub und blind. So arbeitete er dann murrend und knurrend am Leseband, schluckte pfundweise Kohlenstaub, den er nach Schichtende und immer öfter auch schon während der Schicht mit Schnaps wegzuspülen versuchte. Schließlich vertrank er sein gesamtes Gedinge, wenn Minchen ihn nicht schon am Werktor abgefangen und ihm das Geld abgeknöpft hätte.
Als er wieder einmal volltrunken über den Zechenhof torkelte und zufällig über den Reviersteiger stolperte, war das seine letzte Schicht und er flog fristlos auf die Straße.
Minchen hätte jetzt ziemlich alt ausgesehen, wenn sie nicht einen stillen Verehrer in petto gehabt hätte, nämlich einen schüchternen Chorknaben, mit dem sie zusammen im Kirchenchor sang und der schon lange ein Auge auf die propere und immer noch gut aussehende Sangesschwester geworfen hatte.
Karl Lübcke war ein schmächtiger kleiner Mann,immer korrekt gekleidet mit Vatermörder, Weste und Hut und stets das Pencenet auf der Nase und er war Angestellter auf der Zeche Rhein-Elbe IV. Also fackelte sie nicht lange, zumal sie der Meinung war, ihre beiden Jüngsten brauchten noch einen Vater, und nahm den Antrag ihres Verehrers an, der nun endlich seine Stunde gekommen sah. Geduld zahlte sich eben immer aus, dachte er vergnügt und zukunftsfroh.
Doch der nun auf Wolke sieben schwebende Karolek, wie Minchen ihn liebevoll nannte, hatte die Rechnung ohne Minchens Söhne gemacht, die meinten, auch noch ein Wörtchen mitreden zu müssen und sich absolut nicht vorstellen konnten, daß ihre unantastbare und irgendwo hoch oben auf einem Sockel schwebende Mutter sich in die Niederungen ordinärer Fleischeslust begab, denn daß der neue Freier sich mit ein paar Streicheleinheiten und einem schwesterlichen Gute-Nacht-Kuß zufrieden geben würde, daran glaubten sie nicht. Also paßten sie ihn eines abends auf seinem Nachhauseweg ab und prügelten ihn halbtot in der Hoffnung, daß dieser schmalbrüstige Anwärter auf die Hand ihrer Mutter es sich nun gründlich überlegen würde, ob er sich mit dem Ja-Wort der Witwe Lindner eine lebensgefährliche Konfrontation mit ihren schlagkräftigen Söhnen einhandeln wollte.
Nur Werner, der Jüngste, von seinen Brüdern stets spöttisch als Betschwester bezeichnet, hatte sich an der Prügelei nicht beteiligt. Er haßte rohe Gewalt. Gewarnt hat er seinen künftigen Stiefvater aber auch nicht.
Minchen, eine couragierte Frau, dachte jedoch nicht im Traum daran, sich von ihrer Brut Vorschriften machen zu lassen. Nachdem sie ihren stark lädierten Karolek verarztet, ihm seine Wunden und Beulen gekühlt und sein verbogenes Pencenet wieder in Form gebracht und vor die kurzsichtigen Augen gesetzt hatte, holte sie die seit langem nicht mehr benutzte siebenschwänzige Katze aus dem Schrank und zitierte ihre Prügelknaben zu sich, zog den verdutzten Männern eins mit der Peitsche über und herrschte sie wütend an: "Geht einer von euch in den Pütt vor Kohle malochen, damit ich in diesem Haus wohnen bleiben kann, in dem ihr groß geworden seid?
Nein! Krieg ich von euch die Deputatkohle, damit ich es im Winter warm habe? Nein! Bringt ihr mir genügend Penunze nach Hause, damit wir anständig leben können? Nein! Also schert euch zum Teufel!
Ich heirate Karl und damit basta! Psiakrew noch mal! Zum Donnerwetter"!
Wenn Minchen wütend war, machte sie sich auch schon mal mit ein paar polnischen Flüchen Luft, die dann im krassen Gegensatz zu ihrer sonstigen distinguierten Haltung standen. Ihre Söhne waren sprachlos darüber, daß ihre Mutter so in Rage geraten konnte, daß sie sich die Züchtigung zunächst widerstandslos und leicht erstaunt gefallen ließen, bis Manni ihr lachend die Peitsche entwand, sie um die Hüften faßte, hochhob und in der Stube herumschwenkte und meinte, wenn sie den alten Knacker unbedingt heiraten will, dann solle sie das tun, nur sie würden dann das Haus verlassen, denn sie könnten mit diesem feinen Pinkel von Bürohengst nicht unter einem Dach leben.
Aber eigentlich zog dann nur Manni aus, für den die Heirat seiner Mutter die Gelegenheit war, sich in der Lützowstraße bei dem alten Kujawa eine billige Schlafstelle zu mieten. Freitags trank er dann zu Brunis Ärger mit ihm und Jadwiga, die sofort herunterkam, wenn der Kujawa mit seinem Krückstock gegen die Decke klopfte, ein oder auch zwei Schoppen Klaren oder den billigsten Fusel von Wehrmutwein, den sie auch Unterrockstürmer, Jungfrauenkiller, Schwiegermuttermörder oder Treppenschmeißer nannten, oder noch schlimmer den grünlichen mit Wasser verdünnten Absinth, ein gehirnaufweichendes Gesöff, bestehend aus Wermuth und Trinkbranntwein, das bei Gewöhnung zur Geistesschwäche führen konnte und deren Verkauf Mitte der zwanziger Jahre verboten wurde.
Da Mannis Schlafmatratze in der Küche lag, konnte er jeden Morgen beobachten, wenn der Kujawa nur mit einem viel zu kurzen Unterhemd bekleidet in die Küche geschlurft kam und sich am Küchentisch zu schaffen machte, um für sich und seinen Kater Stechlak das Frühstück zuzubereiten, wobei es passieren konnte, daß ihm auch schon mal sein Gemächt zwischen die Frühstücksutensilien geriet. Doch bei aller Nachlässigkeit vergaß er nie, jedesmal, wenn er ein frisches Brot anschnitt, mit dem Brotmesser ein Kreuz über den Brotlaib zu ritzen als Dank an seinen Schöpfer, der ihm dieses Brot beschert hat. Auch alles andere war für Manni gewöhnungsbedürftig, da er an die strenge Ordnung und Sauberkeit seiner Mutter gewöhnt war. Im Treppenflur stank es ständig nach abgestandener Kohlsuppe und Urin, denn im Haus befanden sich keine Toiletten. Die waren hinten im Hof und von Ratten bevölkert, so daß die meisten Hausbewohner und erst recht die Kinder ihre Notdurft wenigstens nachts im Eimer verrichteten. Und diese Eimer wurden dann einfach morgens in den auf der jeweiligen Etage befindlichen Ausguß geschüttet, wobei feste Rückstände entweder im Ausguß liegen blieben oder schon des nachts in Zeitungspapier gewickelt durch das Fenster in die sich hinter den Häusern befindlichen Gärten entsorgt wurden.
Das Treppengeländer durfte man nicht anfassen, weil man Gefahr lief, daran kleben zu bleiben. Die Kinder hatten darauf ihre Fingerabdrücke von ihren mit Marmelade- und Sirupbroten beschmierten Händen hinterlassen, mit denen sie sich vorher auch noch den ständig laufenden Rotz von den Nasen gewischt hatten.
Doch Manni nahm nach einiger Zeit diese Unzulänglichkeiten kaum noch wahr. Er war endlich den Argusaugen und den argwöhnischen Fragen seiner Mutter entschlüpft und konnte sich jetzt frei und ungehindert bewegen.
Waren die Eltern noch kaisertreue Untertanen mit einem Hang zum Sozialen gewesen, so waren die Söhne mit Ausnahme des Ältesten, dem seine Karriere wichtiger war als politische Weltanschauungen und Walter, dem sowieso alles egal war, so lange er seine Weltanschauung auf dem Grunde einer Schnapsflasche fand, immer weiter nach links gerutscht und waren inzwischen schon bei den Kommunisten angekommen.
Manni hatte sich zusammen mit seinem Bruder Albert, von allen nur Berti genannt und Kommunist bis auf die Knochen, und mit seinem Blutsbruder Roman nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches aktiv am Aufbau der Roten Armee beteiligt, die im Ruhrgebiet 1919 bereits eine Stärke von achtzigtausend Mann erreicht hatte und die die Räterepublik nach sowjetischem Vorbild ausrufen wollte. Und er hatte sich darum bemüht, in den 'Revolutionären Arbeiterrat' aufgenommen zu werden. Er war so durchdrungen von Karl Marx und dessen Ideen, 'die Ausbeutung der Menschen durch die Solidarität der Arbeiter endgültig zu beenden', daß er sich ohne Skrupel an den Schießereien rund um den Gasometer beteiligt hatte, wo ihm die Kugeln gefährlich nah um die Ohren pfiffen und er sich nur mit knapper Not der Verhaftung durch die Reichswehr entziehen konnte. Als glühender Bewunderer von Rosa Luxemburg, deren Ermordnung im Januar 1919 in Berlin er der Reichswehr zuschrieb, nahm er außerdem mit jeder Kugel, die er abfeuerte, Rache für Rosa.
Außerdem war er davon überzeugt, daß nur eine starke Gewerkschaft sich gegen das Lohndiktat der Arbeitgeber erfolgreich zur Wehr setzen konnte, so daß Manni sofort nach Beendigung seiner Lehre Mitglied der Gewerkschaft wurde und pünktlich seine Beiträge zahlte. Das fiel ihm schwer genug, doch er war der festen Überzeugung, nur wenn die Arbeiter ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nahmen, konnten sie etwas zu ihren Gunsten ändern. Und die Macht des Generalstreiks 1920, der die gesamte Wirtschaft in Deutschland von einem Tag zum anderen völlig lahmgelegt hatte und damit den Kapp-Putsch wie ein Kartenhaus zusammenstürzen ließ, bestärkte ihn in seiner Meinung und ließ ihn frohlocken.
"Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will".
Das war der Schlachtruf gewesen, der alle in einen Siegestaumel versetzt und ihnen zum ersten Mal klar gemacht hatte, welche Macht sie besaßen, wenn sie sich nur einig waren.
Manni war sich seiner polnischen Wurzeln zwar noch bewußt, trotzdem paßte es ihm nun ganz und gar nicht in den Kram, daß ausgerechnet jetzt die Polen ihre gerade erst wieder erlangte Souveränität unter ihrem neuen Staatschef General Józef Piłsųdski, der den zurückgetretenen musischen Premierminister und berühmten Pianisten Jan Paderewski abgelöst hatte, dazu benutzten, um umgehend ihre Ukraine von den Kommunisten zu befreien, was ihnen in einem grandiosen Handstreich gelungen war.
"Warum mischen die sich in die große Politik ein. Warum spielen sie nicht weiter Klavier und tanzen Mazurka, das können sie doch am besten", knurrte Manni erbost.
Doch die Siegesfeiern in Kiew waren noch nicht verklungen, da holte Lenin auch schon zum Gegenschlag aus. Für ihn war es die Gelegenheit,um seinen alleinseligmachenden Kommunismus bis zum Atlantik zu tragen. Er beauftragte General Tuchatschewskij und Marschall Budjonnyj damit, die Ukraine schleunigst wieder zurückzuholen und mit einem Zangenangriff auf Warschau und die Festung Zamośź ein Exempel an den Polen zu statuieren.
Am 2. August 1920 rief Leo Trotzkij seinen Truppen kurz und bündig zu:
"Laßt uns Warschau erobern, ihr Helden! Nur noch sechzehn Werst, und ganz Europa steht in Flammen!"
Tatsächlich hing das Schicksal Europas an diesen sechzehn Kilometern.
Hatten die Russen Warschau, hatten sie Polen, hatten sie Polen, hatten sie auch den Rest. Denn Deutschland, Frankreich und England waren noch zu erschöpft und ausgeblutet von dem gerade hinter ihnen liegenden Krieg und zum großen Teil sowieso schon infiziert von den ketzerischen Ideen von Marx und Engels. Und wieder einmal wurde vorschnell eine Zeitmarke gesetzt,denn dieses Mal prophezeite Lenin seinen Leuten: "Das Ende dieses Kampfes wird die Hinwendung ganz Europas zum Kommunismus noch vor Neujahr sein".
Sie waren sich ihres Sieges so sicher, daß Leo Trotzkij in Brest-Litowsk schon daran ging, wieder einmal das Bärenfell zu verteilen, bevor der Bär überhaupt erlegt war, und diktierte bereits seine demütigenden Friedensbedingungen mit dem zynischen Ausspruch:
"Worte in Brest, Schwerter in Warschau."
Doch auch sie hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. General Tuchatschewskij, der vor Warschau die Drohung ausgestoßen hatte:
"Bevor es Abend wird, ist Warschau unser und das polnische Heer wird in seinem eigenen Blut ersäufen!", hatte alle Hände voll zu tun,
um seine eigenen Leute davor zu bewahren, daß sie nicht selbst dieses Schicksal ereilte und Zamość machte wieder einmal seinem Ruf alle Ehre.
Marschall Budjonnyj tönte noch siegessicher:
"Nur noch dieses Städtchen, dann werden wir Antwerpen, Bordeaux und Le Havre nehmen. In Deutschland haben wir nichts zu befürchten
und noch vor dem Winter stehen unsere Truppen am Kanal!"
Doch er hatte nicht mit der Kampfbereitschaft und dem Todesmut seiner Gegner gerechnet. Alles was Beine und Pferde hatte, Reguläre und Freischärler stürzten sich auf den Feind. Ein Haufen bäuerlicher Sonntagsreiter gegen die bestgeschulte Kavallerie der Sowjetunion.
Und Zamość, das schon fast von den Russen umzingelt gewesen war,wurde in einem furiosen Kampf gerettet und mit Zamość gleich auch ganz Europa, denn nach dieser umfassenden Niederlage zogen die Russen sich resigniert wieder zurück, um erst einmal ihre Wunden zu lecken und dann hatten sie im eigenen Land wichtigeres zu tun, als die renitenten Polen unter ihre Knute zu zwingen. Dem Problem würden sie sich später widmen.
Die westlichen Völker nahmen wenig Notiz davon. Weder von der Gefahr, in der sie geschwebt hatten, noch von deren Abwendung. Sie hatten andere Sorgen.
Und Manni, der ein kommunistisches Europa freudig begrüßt hätte, mußte sich doch widerwillig eingestehen, daß sich seine polnischen Brüder tapfer geschlagen hatten und konnte sich eines verschämten Stolzes nicht erwehren, mit diesen unerschrockenen Kämpfern verwandt zu sein.
Minchen ahnte nichts von den politischen Untiefen in ihrer Familie, sonst hätte sie sicher mal wieder ihre siebenschwänzige Katze aus dem Schrank geholt, um ihrem Nachwuchs die rechte Gesinnung einzubleuen. Und sie hätte sich auch nicht gescheut, Mannis Blutsbruder Roman mit in das Strafgericht einzubeziehen, der für ihren Geschmack sowieso einen viel zu großen Einfluß auf ihren Sohn ausübte, ständig an Mannis Hacken klebte und irgend etwas Desperates mit ihm ausheckte. Sie hielt ihn zu Recht für den geborenen Umstürzler, Revoluzzer und Aufwiegler und war fest davon überzeugt, daß es mit ihm noch einmal ein schlimmes Ende nehmen würde. Und sie fürchtete, daß er dann Manni mit in seinen Untergang hineinziehen würde.
Die Erkenntnis, daß sie damit recht haben würde, sollte ihr erspart bleiben. Mannis zweiter Grund, sich von zu Hause abzusetzen, war natürlich Bruni. Als er seiner Mutter erklärte, daß Bruni schwanger sei und er beabsichtige, Bruni zu heiraten, bekam Minchen einen Tobsuchtsanfall und beschimpfte die ganze Brut aus der Lützowstraße als arbeitsscheues Gesindel und Manni solle sich ja nicht einfallen lassen, Bruni, diesen Feger, von der man ja so allerhand hörte, mit nach Hause zu bringen. Das Kind sei jedenfalls garantiert nicht von ihm, das könne er schriftlich von ihr haben. Und so lange Manni noch seine Füße unter ihren Tisch stellen und sich von ihr durchfüttern lassen würde, bekäme er auf gar keinen Fall ihre Zustimmung zu dieser Mesalliance. Manni lachte laut los: "Mama, du bist göttlich. Weißt du überhaupt, was Mesalliance bedeutet?"
"Natürlich! Wenn ein anständiger Mann ein Flittchen heiratet!"
"Ne Mama, wenn zum Beispiel ein Adeliger eine Bürgerliche heiratet - und Bruni ist kein Flittchen, merk dir das!"
Minchens Widerstand bewirkte genau das Gegenteil. Manni zog aus, bestellte das Aufgebot und heiratete vier Wochen später Bruni und vierzehn Tage später kam das Kind zur Welt. Ein Junge, den Bruni trotzig auf den Namen seines Vaters Manfred taufen lassen wollte, als wollte sie damit beweisen, daß Manni tatsächlich der Erzeuger dieses Kindes war.
Da Minchen sich nun in das Unvermeidliche schicken mußte und es keinen Sinn mehr hatte, über verschüttete Milch zu räsonieren, packte sie, wenn auch noch zähneknirschend, in einen Henkelkorb alles, was Küche und Garten an nahrhaften Dingen hergaben, damit die Wöchnerin wieder zu Kräften kam. Sogar ein Täubchen aus dem eigenen Schlag mußte sein Leben lassen für eine stärkende Suppe für die junge Mutter. Dann packte Minchen noch Dunkelbier ein, damit die Muttermilch reichlicher floß. Schließlich wußte sie, was sich gehörte und wollte sich nicht nachsagen lassen, sie sei eine Rabenoma.
Obendrauf legte Minchen noch die abgelegten und sorgfältig aufgehobenen Kinderkleider und ging mit ihren reichen Schätzen in die Lützowstraße, um ihr erstes Enkelkind zu begrüßen. Sie sah lange in den Wäschekorb, in dem der Kleine schlief und unschuldig an seinem Daumen nuckelte. Minchens Blick wurde eisig und ihre Stimme schneidend, als sie Bruni die unheilschwangeren Worte entgegenzischte:
"Ein Zigeunerbalg! Du Kurwa!"





I n h a l t

Vorwort: Noch ist Polen nicht verloren

1. Kapitel - Der Zigeuner
2. Kapitel - Minchen
3. Kapitel - Jadwiga
4. Kapitel - Lützow's wilde verwegene Jagd
5. Kapitel - Die Ruhrbesetzung
6. Kapitel - Laßt uns Schallern gehen
7. Kapitel - Der Ruhrpott ist rot
8. Kapitel - Die Machtübernahme
9. Kapitel - Schlicktown
10. Kapitel - Der Überfall auf Polen
11. Kapitel - Vorwärts, wir müssen zurück
12. Kapitel - Ende und Anfang
13. Kapitel - Das Leben geht weiter


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.05.2010

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