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1. »Aller Anfang ist schwer.«

Oh, der »Lonely-Planet« hat gelogen! Die Pflichtlektüre aller Rucksacktouristen versprach beim Ankommen am Flughafen von Delhi die Anwesenheit von weiteren Reisenden, mit denen man sich, brüderlich vereint, ein Taxi nehmen könne, um so einer sicheren Bleibe fürs Erste näherzukommen. Hier ist nur gerade niemand, der sich um diese mitternächtliche Stunde nach einer gemeinsamen »Verschwisterung« sehnt.
So nehme ich all meinen Mut zusammen und spreche zwei Reisegruppen zwecks gemeinsamer Fahrt zu einem Schlafplatz an. Leider bleibt mir der Erfolg versagt, denn beide Gemeinschaften sind vorbildlich organisiert und werden termingetreu zu ihren bereits reservierten Unterkünften abgeholt. Ich werde den deprimierenden Eindruck nicht los, dass die eine Reiseleiterin in ihrem »Nein, danke« ein »Gott, wie ungeplant« durchscheinen ließ.
Um 2 Uhr nachts, mitten im Dezember, befinde ich mich also in Delhi auf dem nun fast menschenleeren Flughafen. Nur die uniformierten Wachleute, deren Gewehre mindestens zweimal so groß wie ihre Träger sind, leisten mir noch Gesellschaft.
Mir geistert die Warnung der bereits erwähnten Reiselektüre durch den Kopf, mich beim Verlassen dieses Gebäudes niemals in ein nicht autorisiertes Flughafentaxi zu setzen. Massivster Geldverlust und ein Ankommen im indischen Niemandsland wären die unausweichlichen Folgen.
Die letzte brandneue Information, die mich ebenfalls noch kurz vor meiner Abreise erreicht hatte, war die über einen nun leider nicht mehr unter uns verweilenden Australier, der einfach keine Lust hatte, seinen Geldbeutel auf diese Art und Weise erleichtert zu wissen. »Herrje!«
Dann habe ich noch eine kleine Zusatzanmerkung, die mir leichte Magenschmerzen bereitet und latent stets gegenwärtig ist. Dafür muss ich ein bisschen ausholen.

Eine Spökenkiekerin kreuzte einst meinen Weg und hat mich anfangs magisch in ihren Bann ziehen können, weil es bemerkenswerte Dinge gab, welche sie meinen Augen, Händen und den Tarotkarten entlockte. Ich hielt den Kontakt zu dieser Frau lose aufrecht.
Doch als ich ihr kurz vor meinem Abflug von meiner geplanten Indienreise erzählte, warnte sie mich eindringlich vor einer mir drohenden Todesgefahr. Ihrer Meinung nach sollte ich eine gut überlegte Entscheidung treffen. Ich wollte ihre Worte nicht gehört haben, doch flugs setzten sich diese ganz tief in diversen Hirnerinnerungswindungen fest und blieben dort vorerst verankert.

Ich setze mich auf eine Bank im Wartesaal und suche nach Hilfe in meinem kleinen magischen Antwortenbuch. Nach mehrmaligem Durchblättern stoppt mein Daumen genau bei diesem Ratschlag: »Mache eine kurze Pause, aber warte nicht.« Gemäß den Umständen, die mich derzeit umgeben, verwerfe ich allerdings den Fingerzeig und entscheide mich dafür, noch ein wenig länger auf eventuell vorbeikommende Rucksacktouristen zu warten.
So verharre ich weiterhin auf der unbequemen Bank in der Wartehalle. Mein Reisegepäck sicher zwischen meinen Füßen eingeklemmt, fühle ich mich im Schein des kalten Neonlichts gerade sehr kläglich und komme mir einsam und verlassen vor. Eine kleine Träne der Verzweiflung rollt mir die Wange herunter und signalisiert den beginnenden Spannungsabbau.
Als Facharbeiterin für Körperertüchtigung und freiwillig Sinnsuchende bin ich natürlich in verschiedene Relaxationsmethoden eingeweiht, dennoch ist die für mich immer noch hilfreichste Strategie in just solchen Momenten die des Tagebuchschreibens. Folglich greife ich flugs zu Stift und Papier und fange an, mir die Spannung aus dem Leib zu schreiben. Ich klammere mich förmlich an meinen kleinen Notizblock und schreibe, was das Zeug hält. Die ersten tiefen Atemzüge stellen sich ein.

Tja, warum bin ich eigentlich nach Indien gereist? Relativ früh habe ich ein ausgeprägtes Faible für das Thema Gesundheit entwickelt. Meine Oma hat mich einmal als Zwölfjährige, in ein Kräuterbuch vertieft, vorgefunden und daraufhin mein Leseverhalten als nicht altersgerecht beurteilt.
Als ich offiziell alt genug war, alles Mögliche in meinem Leben zu tätigen, bin ich in den heimischen Gefilden meinem besonderen Interesse an der Gesundung des Menschen auf körperlicher und geistiger Ebene nachgegangen und habe einige Jahre später eine mittlere Anzahl golden umrahmter Zertifikate mein Eigen genannt.
Nun möchte ich im Mutterland des Yoga und Ayurveda herausfinden, wie hier weitere Methoden der heilsamen Entspannung und vielleicht auch ein bisschen die der Verjüngung zelebriert werden.
Bezüglich eindeutiger Ja oder Nein Antworten könnte diese Reise eine mittelschwere Herausforderung für mich darstellen. Wenn ich den gängigen Meinungen Glauben schenken darf, sollte man sich als Alleinreisende der eigenen Sache und seiner Selbst sehr sicher und bewusst sein. Weil es an Letztgenanntem noch etwas hapert, setze ich mich freiwillig dieser erzieherischen Maßnahme aus und hoffe, so meinem Seelenheil ein Stück näherzukommen.
Und weil ich auch nur ein Mensch bin, möchte ich unbedingt Urlaub machen und mich um nichts in der Welt kümmern müssen. Am allerliebsten wäre mir eine einsame Hütte direkt am Meer. Letztendlich haben die äußerst niedrigen Lebenshaltungskosten meine Entscheidung, nach Indien zu reisen, sicherlich auch begünstigt, denn mein Reiseetat für die folgenden sechs Monate ist knapp bemessen.

Ich blicke auf die Uhr im Wartesaal und errechne, eine ganze Stunde schreibend ausgeharrt zu haben. Die Morgendämmerung will sich aber noch nicht einstellen. Da ich jetzt unbedingt aufbrechen möchte, beende ich mein unfreiwilliges Nachtlager und versuche, mich zu erinnern, wie der Ortsteil heißt, in dem Rucksackreisende erst einmal sicher und preiswert unterkommen können. Ich erhebe mich, schnalle mir meinen großen Rucksack auf den Rücken, klemme mir den kleinen unter den Arm und marschiere gen Ausgang.
Alle Taxifahrer, vor denen man mich so eindringlich gewarnt hatte, stehen wedelnd und schreiend da. Schnurstracks laufe ich der scheinbaren Ausgangstür entgegen und werde dort sehr bestimmt von den Uniformierten zurückgehalten.
Sie weisen mich an, die gegenüberliegende Seite zu passieren. Bewusst ignoriere ich die werbende Meute der Taxifahrer und entdecke direkt vor dem Flughafengebäude einen Bus.
Erleichtert stürme ich mit meinen Rucksäcken in seine Richtung. Ich erklimme die Eingangsstufen und frage den Fahrer hoffnungsvoll, ob er nach Paharganj fährt, dem besagten Stadtteil, in dem man als günstig Reisender vorerst unterkommen kann.
Seine Antwort begeistert mich nicht – er würde mein Ziel nicht direkt anfahren und könne mich daher nur in der Nähe absetzen.
Auf jeden Fall möchte ich erst einmal vom Flughafen weg und entschließe mich mitzufahren. Ich richte mich aus der Fragestellerhaltung auf und wende mich zum Fahrgastraum.
Der nächste Schreck durchfährt mich, als ich in die funkelnden Augen blicke, die mich aus dunklen Gesichtern durchweg männlicher Passagiere anschauen. Eingewickelt in dicke Tücher, nehmen sie mich intensiv in Augenschein. »Ja, ich bin eine allein reisende Touristin!«
Ein kurzer Blick in die Menge verrät mir deutlich typisch indische Gesichtszüge. Aber unter den Gesichtern der Einheimischen entdecke ich unerwartet auch eines, das europäische Strukturen aufweist. Entgegen meiner sonstigen natürlichen Scheu steuere ich direkt auf Herrn Europa zu und spreche ihn an.
Auf meine Frage, ob er mir zwecks Wegfindung helfen könnte, antwortet Herr Europa im Flüsterton, auf dem Weg in den sonnigen Süden zu sein. Per Zug möchte er nach Gokarna und er sei daher gerade auf dem Weg zu einem bestimmten Bahnhof. Er bietet mir an, sich ihm anzuschließen und lässt beruhigenderweise verlauten, nicht das erste Mal in Indien zu sein.
Worum ich definitiv weiß, ist die jetzt im Winter sinnvolle Reise in den Süden aufgrund der wärmenden Sonnenstrahlen. Allerdings entflieht man wiederum den südlichen Hemisphären in den unerträglich heißen Sommermonaten und sucht dann die schattenspendenden Berge des Himalayagebirges im Norden des Landes auf. – Ich habe keine weiteren Fragen mehr und nehme sein Angebot dankend an.
Der Busfahrer startet den Motor. Ich nehme auf einem der polsterlosen Metallsitze dieses staatlich gekennzeichneten Vehikels Platz und reflektiere die letzten Minuten.
Mein Englisch klang in meiner Aufregung ein wenig ungeschickt, aber glücklicherweise bin ich ja verstanden worden. Erleichtert über den Umstand, vorerst einen Weggefährten gefunden zu haben, spüre ich meine Atemzüge wieder in die Tiefe gehend.
Ich schiele noch einmal zu meinem neuen Nachbarn hinüber und realisiere seine Schmächtigkeit: Ob er ein extremes Yoga praktiziert? Er gibt sich sehr wortkarg. Das ist mir recht so, denn ich möchte versuchen, alle bisherigen Eindrücke zu sammeln und zu sortieren.
Vielleicht ist es mir doch nicht so recht, mutmaße ich unsicher. Mir kommt in den Sinn, mein neuer Kontakt könnte sich unter Umständen von mir bedrängt fühlen. Meine Freude am Bittstellen hat sich schon immer in Grenzen gehalten. Zuhause in Deutschland kenne ich mich gut aus und unterlasse es in der Regel, Fremde zu fragen. Obwohl, beruhige ich mich, jetzt bin ich ja in Indien!
Schneller als erwartet, hält der Bus am Zielbahnhof. Ich schnappe mir meine Rucksäcke, zahle im Vorbeigehen meine Fahrkartenschulden und stehe nun direkt vor der Eingangshalle des Bahnhofs. Mir entgeht nicht, mit wie wenig Gepäck mein Begleiter den Bus verlässt. Nur einen klitzekleinen Rucksack trägt er mit sich. Bisher hielt ich einen Großteil meines Rucksackinhalts eigentlich für berechtigt.
Noch immer ist es ziemlich dunkel. Umso mehr erschreckt es mich, als ich auf dem Weg zum Fahrkartenschalter über zugedeckte Menschenleiber stolpere, die um den gesamten Eingangsbereich des Bahnhofs herumliegen. Ich folge Herrn Europa und bin über die Vielzahl der neugierigen Blicke beunruhigt, die mich in der grell erleuchteten Halle eingehend taxieren. Dabei muss ich schrecklich übermüdet aussehen, gebe ich bezüglich dieser ungewohnten Aufmerksamkeit zu bedenken.
Wir treten zum Schalter hinüber und ein exakt gescheitelter Fahrkartenverkäufer begrüßt uns. Weil ein längerer Aufenthalt in Delhi meinerseits eigentlich nicht geplant ist, traue ich meinen Ohren nicht, als ich von den fünf Tagen Wartezeit für alle Zugfahrten gen Süden höre.
Mir fällt die folgende Aussage meines Reiseführers ein: Entweder man liebt Indien oder man hasst es. Jene Gefühlslage sei stark davon abhängig, inwieweit man sich auf den indischen Rhythmus einlassen könne. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich noch an einen weiteren Hinweis, den ich in seinem Ausmaß noch nicht so recht einschätzen kann, nämlich dass angeblich stets positiv geantwortet würde, wenn man einem Einheimischen eine Frage stellt.
Der Mann am Schalter erwähnt uns gegenüber die Möglichkeit einer Busreise. Um diese zu buchen, müssten wir ein Reisebüro genau in Paharganj aufsuchen. In Windeseile drückt der akkurat Gescheitelte Herrn Europa eine entsprechende Visitenkarte in die Hand und rät ihm freundlich, aber bestimmt, diese angeblich letzte Chance zu nutzen.
Trotz der frühen Morgenstunde entschließen wir uns, jetzt schon in das Zentrum zu fahren. So ganz zwischendurch bemerke ich endlich die ersehnte Morgendämmerung.
Einige Zeit später kommen wir in Paharganj an und bewegen uns in Richtung »Main Bazaar«, der Hauptgeschäftsstraße im Viertel. Zu beiden Seiten ist sie mit unzähligen Geschäften bestückt und zugleich mit allerhand Abfall bepackt.
Obwohl der Tag gerade erst begonnen hat, wird es auf dem Basar schnell eng und ich dränge mich mit meinem Gepäck an laut hupenden Fortbewegungsmitteln aller Art vorbei. Wir entscheiden uns, eine Pause einzulegen, und setzen uns in eine einfache Imbissstube.
Zum ersten Mal trinke ich einen echten Massala Chai, einen indischen Gewürztee, der angenehm nach Zimt und Kardamom riecht und schmeckt. Zeitgleich beobachte ich das erwachende Treiben auf dem Basar, welches zunehmend geschäftiger wird.
Ich sehe Inder in Plusterhosen und langen Hemden und entdecke Turban tragende Männer, die ihre Geschäfte eröffnen. Bauchladenhändler ziehen vorüber und bieten lautstark ihre Waren an. Am Straßenrand sitzt eine verwahrloste Gestalt, die apathisch und mit leeren Augen in die Menge guckt. Unter den Einheimischen bemerke ich die ersten Touristen, die gerade genervt einer Bettlerin ihren Wunsch abschlagen.
Und in all diesem Trubel entdecke ich die bekanntesten Tiere Indiens, deren Status der Unantastbarkeit es jedem gläubigen Hindu verbietet, ihr Fleisch zu essen. Denn die Anhänger der drittgrößten Religion der Welt sind nicht nur Vegetarier und glauben an die Wiedergeburt, sondern sie betrachten die Kühe auch als heilige Wesen.
Trotz ihrer Heiligkeit wirken die Kühe unglaublich abgemagert. Beim genaueren Hinsehen entdecke ich, dass die Kühe Plastiktüten fressen. Warum nagt die heilige Kuh denn am Plastiksack, frage ich mich verwundert.
Mein Magen knurrt lautstark. Aufgrund der eindeutigen Geräuschkulisse meiner Gedärme erkundigt sich mein Gegenüber, ob ich etwas essen möchte. Auf mein Nicken hin bestellt Herr Europa zwei Gerichte namens Thali, die binnen weniger Minuten serviert werden.
Interessiert schaue ich auf meinen blechernen Teller. Ich erkenne ein zerkochtes Häufchen Reis, eine kleine Portion Gemüse, welche in einer Wasserlache schwimmt, einen etwa teelöffelgroßen Klacks Paste und eine Handvoll Salat.
Um zu sehen, inwieweit es meinem Nachbarn mundet, erhebe ich den Blick und registriere zu meiner Verwunderung seinen kompletten Verzicht auf die Besteckbenutzung. Nach indischer Manier isst er gekonnt mit der Hand und lässt es sich augenscheinlich gut schmecken.
Noch kann ich es mir nicht vorstellen, auf den gewohnten Umgang mit Messer und Gabel zu verzichten und nehme sie daher in Gebrauch, um auch mir endlich das Mahl schmecken zu lassen. Der Klacks entpuppt sich als feurig-scharf, der Reis wartet dagegen mit einem eher faden Geschmack auf. Generell wurde wohl etwas am Fett gespart, dennoch lasse ich mich gern durch Authentizität beeindrucken. Mein erstes Fazit lautet daher: Der Preis ist lächerlich, der Geschmack gewöhnungsbedürftig.
Nach Beendigung dieser ungewöhnlichen Frühstücksmahlzeit gebe ich Herrn Europa zu verstehen, meinen spürbaren Zahnbelag entfernen zu wollen. Ehe ich mich versehe, steckt mir dieser ein dünnes Ästchen in den Mund und fordert mich auf, darauf herumzukauen. Er tätigt selbiges und nach einigen Momenten des intensiven Draufbeißens habe ich das Gefühl reinlich polierter Zahnflächen. Fantastisch, ich bin beeindruckt!
Das nonverbale Kommando zum gemeinsamen Aufbruch in Richtung Reisebüro lässt mich gekonnt meine Rucksäcke aufwerfen. Gespannt folge ich Herrn Wortkarg durch das immer enger werdende Gedränge. Doch meine Stimmung wandelt sich ziemlich schnell. Gestresst reagiere ich auf die mich umgebenden Menschenmengen, auf die intensiven Begutachtungen und die ersten mich bedrängenden Kaufangebote.
Weil Herr Europa gerade wider Erwarten stehen bleibt, halte ich natürlich folgsam an. Allerdings ungern in diesem Gedränge, mein Ratgeberbüchlein hat auch hier vorzügliche Informationsdienste geleistet und mich ermahnt, unter solchen Umständen sorgsam auf mein Gepäck aufzupassen.
Urplötzlich, als hätte mich mein siebter Reisesinn gewarnt, drehe ich mich um und gucke in das düstere Gesicht eines Mannes. Mir schwant Böses. Ich kontrolliere sofort meinen Rucksack und entdecke, dass meine gesamte Fronttasche offen ist. In meiner angespannten Grundstimmung kann ich mich nicht mehr zurückhalten und beschimpfe den Langfinger heftig.
Da ich meine Zornesworte in deutscher Sprache auf ihn einprasseln lasse, versteht er diese bestimmt nicht, aber die Intention meiner Phonation ist mehr als eindeutig. Und so bewirkt diese bei meinem ungebetenen Hintermann ein Fletschen seiner Beißerchen, welche hässlich rot eingefärbt sind und eigentlich mehr Stumpf als Zahn präsentieren.
Diesen Zustand seines Gebisses hat er garantiert dem in Indien gängigen Genuss von Betelpriem, einer Art Kautabak, zu verdanken. Der Mix aus rotfärbender Betelnuss, Betelblatt, Kalk und Tabak wirkt in erster Linie stimulierend auf den gesamten Organismus, kann bei stärkerer Dosierung aber auch Rauschzustände beim Konsumenten auslösen.
Alles ist halb so schlimm. Die wichtigsten Dokumente kleben mir natürlich am Bauch, der Betelkauer ist untergetaucht und glücklicherweise wurde Herr Reden-ist-Silber-Schweigen-ist-Gold fündig. Wir drängeln zu unserem nächsten Etappenziel und betreten erwartungsfroh den Laden.
Dort erfahren wir allerdings, dass infolge der Vorweihnachtszeit auch sämtliche Buslinien gen Süden ausgebucht sind. Doch anstelle der staatlichen Busse gäbe es noch die Möglichkeit, private Busunternehmen zu nutzen, unterbreitet man uns.
Leicht entnervt kaufen wir die angeblich so raren Fahrkarten, die uns versprechen, bereits in zwei Tagen unter Gokarnas Himmel verweilen zu können.


2. »Unverhofft kommt oft.«

Kurz vor den Toren Gokarnas hält der Bus auf einmal unvermittelt an. Der Fahrer öffnet per Knopfdruck alle Türen, bleibt entspannt sitzen und gibt kein Sterbenswörtchen von sich.
Ich lehne mich zurück und glaube, mich dem indischen Lebensgefühl schon ein wenig angenähert zu haben. Mitfühlend und auch ein wenig bewundernd begutachte ich meinen Bauch, welcher inzwischen an Umfang eindeutig verloren hat. Wie war das nur möglich? Ich gestatte mir kurz vor der Ankunft und gefühlte sieben Tage später einen kurzen Rückblick.

Der Bus fuhr in Delhi wie geplant los. Alle Plätze waren belegt und erneut erblickte ich ausnahmslos männliche Mitreisende. Ich saß neben Herrn Europa, von dem ich erfuhr, dass er aus der slowenischen Ecke stamme. Prompt benannte ich ihn der kartografischen Genauigkeit wegen in Herrn Slowenia um.
Es war unglaublich eng im Bus, unglaublich eng. An Schlafen war gar nicht zu denken, nicht einmal an ein Dösen, denn mein Kopf wäre garantiert durch die einsetzende Erschlaffung des Muskeltonus auf des Nachbarn Schulter gelandet. Meine Augen brannten vor Müdigkeit.
Ich ignorierte alle Hunger- und Durstgefühle, denn regelmäßige Pinkelpausen sah der Fahrer leider nicht vor. Eine Bustoilette war natürlich nicht vorhanden, die hätte wahrscheinlich extrem vom authentischen Busreisegefühl in Indien abgelenkt. Hin und wieder biss ich von den übriggebliebenen deutschen Müsliriegeln einen Happen ab und höchstwahrscheinlich sorgte diese Art der extremen Kalorienreduzierung für meinen flachen Bauch.
So ganz nebenbei gab es durch das ewig flimmernde TV im Bus eine mehr oder weniger freiwillige Einführung in die Filmindustrie Indiens. »Bollywood« ist das indische Pendant zu »Hollywood« und bekannt für die Produktion von klassisch-kitschigen Liebesfilmen. Ich entwickelte ein eher mäßiges Interesse für schnurrbärtige, tanzende und zugleich weinende Männer. Die im Film ewig schmachtenden Frauen fielen höchstens aufgrund ihrer Armreife auf, die sie in großer Anzahl trugen.
Die gefühlten sieben Tage Verweildauer im Bus ergaben sich unter anderem durch einen ungeplanten Stopp in der Riesenmetropole Mumbai, in der »Bollywood« zufällig sein Zuhause hat. Das unerwartete Ende dieser Busfahrt war spätestens dann ersichtlich, als alle anderen Passagiere wortlos das Gefährt verließen. Wir erfuhren von der Weiterfahrt eines anderen Busses nach Gokarna, nur zu einer beträchtlichen Stundenanzahl später.
Wieder mit großem und kleinem Rucksack bepackt, standen wir beide in der äußerst belebten Hauptstadt Maharashtras. Herrn Slowenia kam die Idee, eine öffentliche Dusche zwecks körperlicher Grobreinigung aufzusuchen. Auf der einen Seite erfreute es mich sehr, mein Reinlichkeitsbedürfnis nach dem langen Flug und der anschließenden Busfahrt endlich in die Praxis umsetzen zu können. Auf der anderen Seite irritierte mich die Öffentlichkeit besagter Institution ein klein wenig.
Die volkstümliche Dusche befand sich in einem ruinenähnlichen Gebäude, das von außen als ein hervorragend einsehbares Pissoir diente und innen die streng nach Geschlecht getrennte Reinigungsvorrichtung beherbergte.
Die Warteschlange vor der Kabine war zum Glück überschaubar, vor mir stand nur eine Frau. Allerdings sah diese Frau in ihrer Gesamterscheinung ziemlich heruntergekommen und überaus verwahrlost aus.
Sie würde also vor mir die Dusche benutzen wollen, dachte ich naserümpfend. Ich vergaß für einige Augenblicke, dass ich mich gerade in einer der bevölkerungsreichsten indischen Großstädte aufhielt, und ignorierte daher auch den Fakt, welche soziale Schicht hier in Mumbai wohl eine öffentliche Dusche benutzen würde.
Als besagte Frau die Nasszelle wieder verließ, versuchte ich ihr mein unvoreingenommenstes Lächeln anzutragen. Ich war mir nicht ganz sicher, eine Regung ihrerseits bemerkt zu haben.
Flach brustatmend, betrat ich den weiß gekachelten Raum und sah mich zum ersten Mal mit einer indischen Dusche konfrontiert, bestehend aus Eimer, Wasserhahn, Abflussloch und einem vergitterten Fenster. Flugs entledigte ich mich meiner verschwitzten Klamotten inklusive der am Bauch klebenden »Dokugeheimtasche«. Ich überlastete die Kleiderhaken an der Wand mit meinen Rucksäcken um ein Vielfaches, denn den Bodenkontakt strebte ich nur über meine mit Badelatschen bestückten Füße an. Anschließend fischte ich nach der Seife, welche ein liebevolles Abschiedsgeschenk meiner Mama war, und seifte mich von oben bis unten ein.
Das der Seife innewohnende Aromaöl muss meine Geruchsnerven so positiv stimuliert haben, dass ich nicht mit einem Atemzug mehr an meine Vorgängerin dachte. Erfrischt verließ ich das Gebäude und atmete tief in mich das Gefühl des Rucksackreisens ein.

Mein Rückblick endet schlagartig, als mich just in diesem Moment ein Beamter im harschen angelsächsischen Befehlston auffordert, ihm meinen Pass auszuhändigen. Ich habe den Eindruck, als schaue er sich auffällig lang mein Passfoto an. Nach einigen Minuten gibt er mir mein Dokument, zufrieden nickend, zurück und wünscht mir eine gute Fahrt.
Die Busreise wird weiter fortgesetzt und Herr Slowenia verrät mir, Gokarna sei ideal dazu geeignet, die erste Brücke zwischen Europa und dem indischen Subkontinent zu schlagen. Er wolle dort unter anderem ein befreundetes Pärchen, ebenfalls slowenischer Herkunft, treffen. Außerdem könnte er uns bei unserer Ankunft auch eine billige Hütte besorgen.
Die circa 6qm kleine Hütte ist ungelogen billig, befindet sich, wie gewünscht, in Strandnähe und besteht aus genau fünf geflochtenen Bambuswänden, wovon eine die anderen vier im Quadrat stehenden komplett abdeckt. Der Schlafplatz ist ökologisch korrekt, denn der Boden besteht aus purer Erde. »Na gut«, atme ich tief aus und erinnere mich an die Absicht, meine Lebenshaltungskosten so niedrig wie möglich halten zu wollen.
Die Gesellschaft des slowenischen Asketen, in der ich mich immer noch befinde, hat ihre berechtigten Gründe. Er scheint ungefährlich zu sein, hat mir sehr geholfen und könnte mir vielleicht noch den einen oder anderen Überlebenstrick verraten.
Doch was sehe ich da! Herr Slowenia lüftet das Geheimnis um den Inhalt seines winzigen Gepäckstücks und entnimmt diesem den einzig gewichtigen Gegenstand. Es handelt sich um eine handfeste Bibel, welche er als seinen größten Schatz deklariert. Daher hütet er diese Kostbarkeit wie seinen eigenen Augapfel und trägt sie von nun an jederzeit bei sich.
Als ehemalige Inhaberin eines regelmäßig gestempelten Pionierausweises bin ich im atheistischen Glauben erzogen worden. Dennoch konnte ich mich auf meiner bisherigen Suche nach dem Sinn des Lebens mit dem Gedanken an ein großes übergeordnetes Prinzip anfreunden. Also Glaube ja, aber derart demonstrativ?
In den kommenden Tagen wage ich meinen höchstpersönlichen Brückenschlag hier in Gokarna. Diese kleine überschaubare Tempelstadt liegt direkt am Arabischen Meer, das Teil des Indischen Ozeans ist, und vereinigt auf harmonische Weise die Tradition mit der Moderne. Denn Gokarna ist auf der einen Seite ein Wallfahrtsort für hinduistische Gläubige, auf der anderen Seite ein Urlaubsparadies, das eine Menge westlich und hippiesk aussehende Reisende beherbergt. Der altertümliche Stadtkern präsentiert sich mit bunten Märkten, einer Menge Restaurants und zahlreichen Pensionen.
Für das erfolgreiche Gelingen meines Brückenschlags muss ich mich auch der unumgänglichen Herausforderung stellen, jahrelange Gewohnheiten plötzlich radikal zu verändern. Dazu eignen sich besonders meine Erfahrungen rund um das ortsansässige WC.
Für den täglichen Toilettengang stehen ein mäßig abgeschirmtes Erdloch und ein mit Wasser gefülltes Kännchen zur Verfügung. Toilettenpapier benutzen die Inder nicht, dieses wird stattdessen durch die linke Hand ersetzt. Diese landesweite Angewohnheit bringt es mit sich, den Status der Reinheit einzig und allein der rechten Hand zuzubilligen. Daher isst und berührt niemand in Indien etwas mit der unreinen linken Hand.
Das Verrichten der Notdurft auf die hiesige Art und Weise ist durch das Einnehmen einer tiefen Hocke ebenfalls gewöhnungsbedürftig, jedoch unvermeidbar. Allerdings habe ich diversen Schriften entnommen, wie gesund diese Hockposition sei, weil sie die vollständige Darmentleerung prima unterstützt. Und genau aus diesem Grund würde man dadurch allen Darmerkrankungen, angefangen von den Hämorrhoiden bis hin zum Darmkrebs, den Garaus machen. – Ja, meine Gesinnung als Facharbeiterin für Gesundheit lässt mich nur schwer los.
Ansonsten begnüge ich mich mit vielen Aufenthalten im lauwarmen Meerwasser und verzehre Unmengen an heimischem Obst, wobei mir besonders die Papaya an das kulinarische Herz gewachsen ist. Dieses süße orangene Fruchtfleisch ist in Form eines Milkshakes einfach unschlagbar lecker. Die Warnung vor den darin enthaltenen, möglicherweise mit Durchfallerregern infizierten Eiswürfeln schlage ich vor lauter Berauschung meiner Geschmackssinne einfach in den Wind.
Herr Slowenia liest stundenlang in seiner Bibel und bleibt ein Meister der wenigen Worte. Irgendwann treffen wir zufällig das slowenische Pärchen am Strand, das in erster Linie durch den immensen Altersunterschied auffällt. Er ist der Ältere und auch der ihrerseits offensichtlich Angehimmelte. Die Landsleute begrüßen sich auf das Herzlichste und überreden mich, sich ihnen anzuschließen.
Nach einem kurzen Spaziergang finden wir uns in einer lässigen Strandbar ein, in der noch viel lässigere Typen anzutreffen sind. Das entlarvt zumindest mein erster Draufblick. Es riecht auffällig kräutrig und ehe ich mich versehe, ist auch schon ein superfetter Joint bei mir gelandet. Ich lehne dankend ab, für ein kollektives Zwangsrauchen bin ich überhaupt nicht zu haben. – Meine letzten unfreiwilligen Spezialkekse haben mir bei einer Afrikareise während des Schnorchelns eine Heidenangst eingeflößt, als beim Untertauchen plötzlich ein Walkonzert »nur für mich« startete …
Herr Slowenia lässt es sich gutgehen und isst den Joint fast auf. Ich habe nur wenig Gefallen an diesem Szenario und fühle mich überhaupt nicht dazugehörig. Nach einigen Momenten des Abwägens entscheide ich, mich von der qualmenden Kifferrunde zu verabschieden.
Ich wandere den Strand zurück und werde von einem Rudel herrenloser Hunde begleitet. Wie tröstlich! Ohnehin bin ich auf der Suche nach mir selbst und beschließe, mich nach einer eigenen Hütte umzuschauen und selbstständig zu werden.

Am nächsten Morgen wache ich früh auf und entnehme meiner Stimmung ein noch immerwährendes Formtief und beschließe daher, diesem nun auf die typischste aller westlichen Entspannungsformen zu begegnen: Ich werde am Strand joggen! Sogar für ein korrektes Abpuffern der strapazierten Kniegelenke wäre somit gesorgt.
In ausnahmsweise kurzen Hosen laufe ich los. – Ich hoffe, die vorgeschriebene Kleiderordnung, der ich mich als angepasste Reisende natürlich beuge und aufgrund derer ich maximal meine nackten Waden und Unterarme präsentiere, akzeptiert diese kleine sportliche Ausnahme.
Ein wenig steif komme ich mir noch vor, die letzte intensive körperliche Betätigung liegt schon Tage zurück. Ich fühle den nassen Sand an meinen Füßen, spüre die Tiefe meiner Atmung und laufe frohgemut mitten in den Sonnenaufgang hinein.
Mhm, nicht nur in diesen! Leicht geblendet vom Sonnenlicht und in Unwissenheit über die morgendlichen Gewohnheiten indischer Fischer, sprinte ich in eine Ansammlung eben jener Hockenden hinein, welche zumindest gerade ein gutes Morgengeschäft tätigen. Das ist mir sehr unangenehm!
Sie sitzen nicht wie die Hühner auf der Stange, sondern sind über den gesamten Strandabschnitt verstreut. Im Slalom muss ich um die kackenden Fischer herumrennen. Sonderbarerweise reagiert niemand auffällig erstaunt. »Renne ich etwa zu schnell?«
Ich bin mir nicht sicher, ob die Fischer so entspannt bleiben werden und lasse sie deshalb so geschwind wie möglich hinter mir.
Die Idee, die Meereswellen derart als Klospülung umzufunktionieren, finde ich wirklich ausgeklügelt. Als fanatische Badenixe – unzählige Schwimmabzeichen sowie etliche Aufenthalte in heimischen Gewässern im zarten Kindesalter haben auch mir ihren Stempel aufgedrückt – frage ich mich dennoch beklommen, inwieweit die Inhalte diverser Darmpassagen sofort auf den Grund des Meeresboden gedrückt werden und dort auch bis zu ihrer vollständigen Auflösung verweilen.
Fast eine Stunde später kehre ich, verschwitzt und mein Stimmungstief gegen ein Hoch eingetauscht habend, vom Strand zurück und begebe ich mich auf den Weg zu einer Quelle, von der ich mir Durstlöschung, Wohlgeschmack und zusätzlich ein Auffüllen meines eben geleerten Mineraldepots verspreche. Ich höre das Knattern der Motoren schon von weitem und weiß dank Herrn Slowenia, dass hier gerade der frischeste Zuckerrohrsaft der Welt von Hand durch die Presse geschoben wird.
Ich lasse mich auf einen der beiden Plastikstühle fallen, gebe ein Handzeichen an den Kellner und habe binnen der nächsten Minuten ein Glas mit gesundgrünem Inhalt vor mir stehen.
Es dauert gar nicht lange, bis der Stuhl neben mir von einem jungen Mann besetzt wird. Seinem akzentlosen »How are you?« entnehme ich definitiv deutsche Sprachwurzeln. Wie zu vermuten war, hat sich die Existenz dieses zuckersüßen Saftes herumgesprochen. Aber was der Mensch aus Österreich – das Geheimnis seiner Herkunft freiwillig preisgebend – serviert bekommt, sieht ja noch viel grüner und nach starker Beimengung von garantiert lebensverlängernden Kräutern aus.
Wahrscheinlich bemerkt er mein fragendes Gesicht und klärt mich, milde lächelnd, über seinen echten Bang-Lassie auf. – Oh, meine Sirenen gehen an. Ich erinnere mich an die Warnung meines besonnenen Vorab-Reiseführers. Diese Joghurtgetränke bestechen nicht nur durch ihre probiotischen Bakterienkulturen, sondern auch durch ihre halluzinogenen Wirkstoffe.
Österreich winkt ab. Er ist sich der geringen Dosis dieses psychedelischen Getränks sicher und glaubt, ohne jegliche Auswirkung zwei Portionen besagten Rauschjoghurts trinken zu können. Ich bilde mir ein, wenn er zwei Gläser dieses Tonikums verträgt, könnte mir ein einziges Glas bekömmlich sein. Gegen alle guten Ratschläge und weil ich mir heute zufällig genau an Heiligabend selber ein Geschenk machen will, bestelle ich ebenfalls diesen tiefgrünen Kräutertrank.
Er wird mir rasch serviert, ich setze an und trinke das Glas aus. Der Inhalt schmeckt gut, ich habe nichts zu beanstanden. Ich sitze aufrecht, atme den Benzingeruch des soeben wieder angeworfenen Motors der Fruchtpresse ein, sehe Österreich nicht doppelt und gebe mich der weiteren Unterhaltung hin.
Irgendwann entscheide ich mich zu gehen, bezahle und trotte in Richtung Hütte, die in nicht allzu weiter Entfernung auf mich wartet. Es ist schwül, die Sonne brennt kräftig von oben herab und ich fange leicht an zu schweben. »He, der Bang-Lassie sollte doch gar nicht …!« Der Gedanke, Österreich könnte wesentlich abgehärteter als ich gewesen sein, kommt mir erst jetzt. Ich verspüre ein dringendes Bedürfnis nach den sicheren vier Wänden und bin froh, diese endlich erreicht zu haben.
In der Hütte bin ich nicht allein. Und ich meine nicht die unzähligen Reiter auf den Pferden, die den Eindruck erwecken, als befänden sie sich auf einem riesigen Schlachtfeld. Herr Slowenia, mit seinem Routinegepäck ausgestattet, schickt sich gerade an zu gehen und wirft mir noch einen spöttischen Blick zu. »Bin ich denn so deutlich zu lesen?«, wehklage ich. Nach Nächstenliebe steht ihm der Sinn jedenfalls gerade nicht, wortlos geht er aus der Tür.
»Wahnsinn, was die Reiter hier plötzlich an Staub aufwirbeln!« Ich glaube, mich ganz schnell hinlegen zu müssen. Während ich auf meine Matte niedersinke, tauchen noch mehr Bilder vor meinem geistigen Auge auf. Ich versuche, mich zu konzentrieren, vielleicht gibt es ja eine Botschaft für mich. Nein, ich will meine Kontrolle nicht abgeben …

»Willst du Weihnachten verschlafen?« Mein Hüttenmitbewohner informiert mich darüber, dass heute bereits der Nachmittag des ersten Festtages zu verzeichnen ist. Da ich bisher in meinem Leben noch nie ein Weihnachtsfest versäumt habe, bin ich über den verpassten Heiligabend etwas bestürzt. Tja, ich war auch noch nie um diese Zeit in Indien und liebäugelte mit einem mir unbekannten Zaubertrank. Danke, Österreich!
Um die letzten Ereignisse innerlich zu verarbeiten, brauche ich ausreichend Raum und Zeit. Bei all den Eindrücken habe ich das Gefühl, den Kontakt zu mir ein bisschen verloren zu haben. Und weil ich meine Gedanken gerne laut ohne Zeugenschaft meiner Umwelt kundtue, suche ich erneut den abgeschiedenen Strand um den frühen Nachmittag auf.
Ich wandere am Meeresufer entlang und muss feststellen, mich schon lange nicht mehr so hilflos gefühlt zu haben. Indien ist wirklich befremdend, so angsteinflößend. Oder sollte meine Gemütslage nur an der latent präsenten Indien-ist-nicht-gut-für-dich-Prognose der deutschen Geisterseherin liegen!
Neulich beim Tee hat mir jemand erzählt, viele Reisende würden sehr schnell nach Sri Lanka übersiedeln, weil dort das Leben weitaus überschaubarer und gemäßigter über die Bühne gehen soll. Nun, so hätte ich ja zur Not eine Alternative.
Plötzlich fällt mir ein, von einem Fluss am Ende dieses Strandes gehört zu haben, den man kurz überqueren muss, um auf eine Insel zu gelangen. Angeblich locken dort traumhafte Buchten und einsame Plätze, die man sich nur mit einigen Aussteigern zu teilen bräuchte. Ja, genau danach war mir jetzt. Zumindest anschauen würde ich mir diese Robinson Crusoe Idylle gern. Von den angedachten Prozessen der Retrospektive abgekommen, suche ich nun den Strand voreilig mit meinen Augen ab.
Zehn Minuten später kreuzt tatsächlich ein Fluss meinen Weg und beendet vorerst diesen Strandabschnitt, der in täuschender Ähnlichkeit am anderen Flussufer seine Fortsetzung findet. Rein theoretisch könnte ich jetzt schwimmenderweise übersetzen. Ich bin zwar mit einer langen Flatterhose bekleidet und einem ebenso plustrigen Oberteil, aber das andere Ufer liegt höchstens einen Steinwurf weit entfernt.
Nochmals werfe ich einen kontrollierenden Blick auf das Wasser, mir fällt nichts Ominöses auf und sogleich setze ich an, über das Wasser zu gelangen. Ich muss lachen, weil sich meine Kleidungsstücke aufblähen und mir ein ballonartiges Gefühl vermitteln. So gut es geht, kraule ich entspannt auf das andere Ufer zu, wechsele zum Brustschwimmen und sehe das Ziel deutlich vor mir.
Nach einigen Minuten muss ich zu meinem Unmut feststellen, dem Ufer nicht nähergekommen zu sein. Es beunruhigt mich zusehends, nicht durch einen einzigen kraftvollen Armzug wenigstens annähernd zum Ziel zu gelangen. Der Fluss drückt mich unweigerlich in Richtung Meer und siedend heiß fällt mir ein, die Strömung des Flusses komplett außer Acht gelassen zu haben. Beide Ufer sind nun immer weniger zum Greifen nahe. Ich muss mich zwingen, ruhig zu bleiben! Panik hilft mir jetzt überhaupt nicht weiter. Ungewollt bin ich fast am Ende des Flussbetts angelangt und drohe, ins offene Meer gespült zu werden.
Aus den Augenwinkeln erkenne ich ein Fischerboot. Irgendjemand darauf schreit mir etwas Unverständliches zu, obwohl der Kahn in eine ganz andere Richtung steuert. Nun, ich winke ja auch nicht. Ich bin mir sicher, mich alleine retten zu können. Denn ich werde mich einfach ins Meer treiben lassen und von dort aus ganz gemächlich an den mir bekannten Strand zurückschwimmen. Nur der leichte Wellengang beunruhigt mich. Ich muss unbedingt ruhig bleiben!
Ich gebe das Kraulen auf und entschließe mich, um der Orientierung willen nur noch mit dem Kopf über Wasser zu schwimmen. Trotz meiner tatkräftigen Bewegungen komme ich keinen Zentimeter vorwärts. Der Strand ist komplett leer.
»Shanti-Shanti« habe ich in den letzten Tagen vernommen, ein Wort, das man gleichermaßen für Frieden und Ruhe verwenden kann. Also fange ich langsam an, den Wellen ein »Shanti-Shanti« zuzuflüstern. Ich nähere mich immer noch nicht dem rettenden Ufer und die Angst klopft noch stärker an. Mir wird klar, wie ungünstig ein Panikanfall unter diesen Umständen wäre.
Eigentlich schreie ich sehr selten, vielleicht könnte ich jetzt einfach versuchen, meine Angst herauszubrüllen. »Shanti-Shanti« herrsche ich das Meer nun an und es fühlt sich irgendwie befreiend an. Allerdings habe ich das Gefühl, als würden meine Kräfte anfangen zu schwinden.
Kurzerhand lege ich mich auf den Rücken, um auszuruhen. Doch diese Lage beunruhigt mich zusehends und so drehe ich mich wieder herum und will anfangen zu schreien. Was ich auf einmal erblicke, lässt mich komplett verstummen. Ich steuere direkt auf den Strand zu. Um noch etwas schneller das rettende Ufer zu erreichen, mobilisiere ich meine allerletzten Kräfte.
Puh, die letzten Meter kämpfe ich mich aus dem Wasser, lasse mich wie ein nasser Sack in den Sand fallen und bedanke mich unendlich viele Male. Atmung, Herz, Kreislauf arbeiten auf Hochtouren. Ich lege mich auf den Rücken, blinzle in die Sonne und hauche sanft »Shanti-Shanti«.

Die letzten Tage des Jahres nutze ich, um in den Adressenbesitz empfehlenswerter Ayurveda-Kliniken zu gelangen. Gleich zu Beginn des nächsten Jahres möchte ich nämlich aufbrechen und mein Vorhaben der theoretischen und praktischen Hospitation in einer ayurvedischen Einrichtung in die Tat umsetzen.
Mein Hüttenwirt scheint mir als Informant geeignet und gerät während seiner Empfehlungen ins Schwärmen. Er rät mir zu einer Uniklinik in Katpadi, in der er von einem chronischen Leiden geheilt worden ist. Zufrieden mit seiner Auskunft und das nächste Ziel meiner Reise erahnend, nehme ich den erstbesten Bus und bin gespannt, ob nebst der Reinigungskur im ayurvedischen Sinne auch das Erlernen wichtiger Massagegriffe möglich sein wird.
In der Klinik angelangt, werde ich äußerst zuvorkommend an der Rezeption empfangen und umgehend dem zuständigen Doktor vorgestellt. Meine Behandlungswünsche segnet dieser problemlos ab und kurzerhand werde ich in einer eigens für mich angelegten Mappe registriert. Wunderbar, freue ich mich, in einigen Tagen werde ich hier mit Sack und Pack erscheinen und mich den geübten Händen der Masseure hingeben.
Entspannt fahre ich zu meinem derzeitigen Zuhause zurück und genieße die ersten selbstständigen Schritte. In froher Erwartung auf den baldigen Ortswechsel führt mich mein Weg geradewegs in ein kleines Lokal. Ich überlege angestrengt, ob ich vor diesem oder dem Nachbarrestaurant bezüglich der Bekömmlichkeit der Speisen gewarnt worden bin. Der Durchfall ist nämlich des Reisenden Handikap Nummer Eins in Indien und keiner scheint gegen die üble Seuche gefeit.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, um welches Lokal ich besser einen Bogen machen sollte, und betrete das zuerst angedachte. Vorsichtshalber bestelle ich einen Ghee-Reis. In ihm vermute ich das geringste Risiko, Eigentümer von ungewollten Bakterienstämmen in meinen Gedärmen zu werden. – Wenn etwas aus der gesunden Ayurveda-Küche nach Deutschland herüber geschwappt ist, dann dieses hochgelobte Butterfett namens Ghee, angeblich ein Allheilmittel für alles Gute und gegen alles Schlechte!
Auf den heilsbringenden Reis wartend, überdenke ich meinen Aufenthalt hier in Gokarna noch einmal und rufe vereinzelte Szenen in mein Gedächtnis zurück.

Mir fällt das junge Mädchen vom Markt ein, das mir mit großem Verkaufsgeschick gleich zwei Strandtücher auf einmal aufschwatzte. Ich erinnere mich an die verschleierten Frauen am Strand, die ab und zu knöcheltief ins Wasser gingen, während ihre Männer sich freudig in die hohen Wellen stürzten.
Ein Meister besonderer geistiger Größe war der örtliche Buchladeninhaber, der mir beim Kauf eines Yogabuches ungefragt ein Autogramm in dieses schlierte. Der junge Mann wurde in seiner überzogenen Selbstwahrnehmung auch noch gefördert. Mir kam zu Ohren, wie sehr sich seine deutsche Frau über die Audienzen grämte, die er vorzugsweise seinen hingebungsvollen Jüngerinnen gewährte.
Eine Szene am Strand von Gokarna war von einer ganz besonderen Mystik geprägt. Eines sehr sehr frühen Morgens beobachtete ich eine Ansammlung von Männern, welche in dunklen Gewändern im Kreise standen, sich umarmten und ihren Kehlen tiefe Gesangstöne entlockten. Die entzündeten Fackeln um sie herum taten ihr Übriges, um mir einen leichten Schauer über den Rücken laufen zu lassen.

Eine ziemlich überraschende Begegnung fällt mir noch ein, doch gerade wird mir der glänzende Reis serviert und ein gebuttertes Reiskorn nach dem anderen verschwindet in meiner Mundhöhle. »Möge das Fett mir Heil und Segen bringen«, wünsche ich mir selbst alles Gute. Ich empfinde die Wirtsleute als auffallend distanziert, lasse mir trotzdem genügend Zeit beim Essen und widme mich in Gedanken der sonderbaren Begegnung, die ich neulich hatte.

Ich hockte in Flussnähe und wollte mein Obstmesser abspülen, als sich ein nur mit einem Lendenschurz bekleideter Mann zu mir gesellte. Während er seine Blechschüssel abwusch, musterte ich ihn eingehend. Seine grauen und langen Haare waren verfilzt und zu einem Dutt zusammengebunden, seine Haut erschien dunkelbraun und durch die Sonne gegerbt. Gebetsketten zierten seinen Hals und der orangene Lendenschurz war das einzige Kleidungsstück, welches er am äußerst dünnen Leib trug. Allem äußeren Anschein nach handelte es sich bei dem Mann neben mir um einen Sadhu, einen religiösen Asketen, der allem Weltlichen entsagt, um so seine spirituelle Entwicklung voranzutreiben.
»Wo kommst'n her?« Diese Frage entsprang allen Ernstes dem Mund des heiligen Mannes neben mir. Ich konnte mir gerade überhaupt nicht erklären, wieso dieser indische Sadhu meine Muttersprache beherrschte. Mein Gesicht muss wahre Bände gesprochen haben und so erhielt ich einige unglaubliche Antworten meines ungewöhnlichen Gegenübers.
Der Sadhu erzählte mir, ursprünglich aus Köln zu stammen. Vor langer Zeit unternahm er seine ersten Indienreisen und hatte danach immer weniger Interesse an seinem Bürojob. Auf seiner letzten Reise, die laut seinen eigenen Angaben über zwanzig Jahre zurücklag, tat er, was einem Zivilisationsmenschen unvorstellbar erscheint. Er verbrannte seinen Pass und war fortan als Sadhu unterwegs.
Wie er die Zeit so verbringe, wollte ich von ihm wissen. Der Asket berichtete mir daraufhin von der Zeit der Wanderschaft, die für viele Sadhus im Frühsommer einsetzt und sie ins Himalayagebirge ziehen lässt. Barfüßig würden sie laufen, betonte er. Es gibt welche, die den gesamten Winter über dort oben ausharren, Männer wie Frauen. Und wenn sie zusammen wandern, wäre das immer ein äußerst interessanter Austausch.
Des Weiteren erzählte er mir von der sorgenfreien Beschaffung der täglichen Nahrung, denn Essensspenden sind für die Inder religiöse Selbstverständlichkeiten. Einer alten Überlieferung nach bringen sie dem Gönner großes Glück.
Der Sadhu gab auch preis, dass sich einige Kriminelle unter das heilige Volk gemischt haben, weil man so quasi den Status eines beinah Erleuchteten hat und relativ unbehelligt leben kann. Plötzlich verschwand mein Gegenüber wieder und zwar genauso schnell, wie er gekommen war und ich blickte etwas ratlos drein.

Mein Reisteller ist blankgeputzt und ich verabschiede mich aus dem Wirtshaus. In einem Café schlürfe ich genüsslich einen Chai, der zu meinem Lieblingsheißgetränk avanciert ist. Mit meinem Tagebuch auf dem Schoß beobachte ich eine englische Urlauberfraktion, die mich mit ihrer hohen Frequenz des Biernachbestellens beeindruckt.
»Oh, was spüre ich denn da?« In der Regel wird mir nie schlecht, wenn ich anderen Leuten beim Biertrinken zusehe. Ich kann mir nicht erklären, warum mir auf einmal so übel ist. Meine Magenregion pulsiert und der zuvor gerade eingenommene Tee stößt brennend wieder auf. Ich habe eine Riesenunlust, mich zu erbrechen. Die Unlust ist ein wenig mit Angst vor dem Ersticken gepaart. Verflixt, ich muss aufs Klo. Kein Aufschub ist mehr möglich.
Ich lasse alles stehen und liegen, nehme die erste freie Toilette und übergebe mich. Nach Beendigung dieser unfreiwilligen Magenreinigung schaue ich in den sternenbedeckten Nachthimmel und stelle fest, mutterseelenallein gekotzt und überlebt zu haben.
Erst nachdem ich mich im Laufe des nächsten Tages das vierte Mal in Folge übergeben habe und zusätzlich von Durchfallattacken heimgesucht wurde, denke ich mir etwas dabei. Ich werde von erfahrenen Leidensgenossen auf »rice&curd« eingeschworen, eine geschmacklose Pampe aus Reis und Joghurt, die wahrscheinlich zum Gesunden meiner Darmflora angedacht ist.
Außerdem werde ich auf die schreckliche Unsitte skrupelloser Restaurantbesitzer hingewiesen, welche ihren Gästen mit Absicht verdorbenes Essen servieren, um sie anschließend in überteuerten Kliniken gnadenlos abzukassieren.

Zu Silvester sitze ich am Strand und habe den Eindruck, als würde dieser Abend noch ruhiger als alle anderen Abende über die Bühne gehen. Hin und wieder tauchen vereinzelt Leute mit ebenso wenigen Knallkörpern auf.
Tschüss Gokarna, danke für den Empfang! Tschüss Herr Slowenia, danke fürs Mitnehmen! Meine Reise wird weitergehen, und schon morgen mache ich mich auf den Weg nach Katpadi. »Prost Neujahr!«

Es folgen noch 10 weitere spannende Kapitel.

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Tag der Veröffentlichung: 11.05.2010

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