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Fingermalfarben




Den Herbst – wie sie ihn doch liebte!
All die Farben, die fallenden Blätter. Bunt, wie Marie sie sich auch in jeder anderen Jahreszeit wünschte. Das kleine Mädchen ließ den Blick durch den Park schweifen, in dem sie sich befand. Kaum noch ein grünes Blatt war an den unzähligen Bäumen zu erkennen. Manche hatten ihr Kleid schon vollkommen abgeworfen und standen nun kahl und verlassen da, in mitten der Pracht aus bunten Blättern, die sie umgaben.
Traurig müssen sie sein!

, dachte das Mädchen. All ihre Gefährten – zu ihrer Rechten und ihrer Linken – hatten ihre schönsten Farben zum Vorschein gebracht, reckten sich der Sonne empor, die zu dieser frühen Stunde schon das ein oder anderen Mal zwischen den Wolken hervor geluckt hatte. Und sie ließen ihre Zweige hängen.
Maries Unterkiefer schob sich unwillkürlich ein Stück weit hervor und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Hätte sie doch bloß ihre Fingerfarben mitgenommen, dann hätte sie die grauen Bäume jetzt schön anmalen können.
Vielleicht wären sie dann auch etwas fröhlicher, wenn Marie morgen wieder hierher kommen würde. Das Mädchen legte den Kopf schief, wie sie es immer tat, wenn sie gerade wieder eine Idee ausheckte.

Marie drehte sich zu ihrer Mama um, die am blau angestrichenen Klettergerüst stand und gerade mit Maries großer Schwester Anna redete. Das Erwachsene wirklich einfach so dastehen konnten, wenn doch nur ein paar Schritte von ihnen entfernt die Schaukel stand!
Marie für ihren Teil liebte es zu schaukeln. Dann hatte sie das Gefühl getragen zu werden, wie ein kleines, trockenes Herbstblatt im Wind. Und manchmal, wenn sie die Augen dabei schloss, dann vergas sie fast, dass es noch einen Boden gab, der darauf wartete, wieder von ihren kleinen Füßen getreten zu werden.
Das Klettergerüst mochte Marie aber nicht – es war schließlich blau!
Die Farbe, die Marie am wenigsten mochte. Es sah so falsch aus, in diesem Park. Wenn alles in Orange und Brauntönen erstrahlte, in rot und gold…
Anna – Maries große Schwester – war ein Herbstkind. Maries Mama sagte es oft zu dieser Jahreszeit. Sie sagte, Annas Haare hatten genau den gleichen, orangeroten Farbton, wie all die Bäume, vor ihrer Haustür.
Marie streckte dem Rücken ihrer Schwester die Zunge raus. Warum konnte sie nicht auch so schöne Haare haben, wie fast jeder in der Familie? Stattdessen waren ihre Haare braun. Baumstammbraun…


Und zottelig noch dazu! Und vorwitzig, wenn sie sich mal wieder aus dem Zopf lösten, den ihrer Mama ihr jeden Morgen machte. Doch sie legten sich lieber über ihrer Nase oder wehten ihr in den Mund, als da zu bleiben, wo sie hingehörten.
Marie packte die störendste Strähne grob und legte sie sich hinters Ohr, um sie wenigstens etwas besser von ihrem Gesicht fern zu halten.
Sie hatte ihre Entscheidung getroffen! Sie wollte nicht, dass die Bäume auch traurig waren, weil jemand anderes schönere Farben hatte, als sie. Sie wollte, dass sie wieder fröhlich und voller Farben sein konnten!

Marie ging ein paar Schritte rückwärts. Ihre Mama und Anna dachten, sie würde spielen… Ihnen würde es kaum auffallen, wenn sie mal kurz verschwinden würde. Sie müsste ja auch nur kurz nach Hause, um ihre Farben zu holen. Das könnte doch nicht so lange dauern. Ihre Geschwister gingen den Weg schließlich fast täglich nach der Schule!
Und wenn sie sich hinten am Wald lang schleichen würde… Noch in dem Moment, in dem die Idee Marie durchfuhr, drehte sie sich um und rannte zum nahen Waldrand.
Als sie angekommen war, wand sie sich noch ein letztes Mal zu ihrer Mama um. Sie stand immer noch genauso da, wie vorher, hatte sich nicht einmal umgedreht um nach ihr zu sehen.
Aber Anna hatte! Sie streifte Marie mit einem flüchtigen Blick, schien sich jedoch nicht weiter um sie zu kümmern, denn gleich darauf wand sie sich wieder Maries Mama zu. Anna schien das alles wohl nur wieder für eines von Maries Spielchen zu halten…
Aber das war kein Spiel! Das hier war bitterer Ernst! Hier ging es um die Bäume.
Also rannte Marie so schnell, wie ihre kleinen Beinchen sie trugen am Waldrand entlang, gerade hinter genug Bäumen versteckt, dass nicht mal Anna sie noch sehen könnte, wenn sie sich noch mal umsah.

Später als sie erwartet hatte, erreichte Marie eine Straße. Ihre Schritte hatten sich schon lange wieder verlangsamt. Sie war noch nie ein großer Freud von Wettrennen gewesen, dass war immer eher die Sache von ihrem Bruder Sam gewesen, nie von ihr.
Marie sah sich auf der Straße um. Sie wurde gesäumt von großen Wohnhäusern, an die sie sich so in ihrem Dorf gar nicht erinnern konnte. Allerdings hatte sie sich auch nie wirklich etwas aus den Häusern gemacht, in denen nicht entweder sie selbst, oder ihre Freunde wohnten.
Marie wand ihren Kopf nach rechts. Häuser über Häuser standen da, und am Ende der Straße meinte sie das orangebraun einiger Baumkronen erkennen zu können.
Marie wand ihren Kopf nach links und fast das gleiche Bild erstreckte sich vor ihr. „Hhm…“, entfuhr es ihr kritisch. Sie sah wieder nach rechts, dann nach wieder nach links. Und als ihr das nach rechts und links Gesehe zu doof wurde, zuckte sie mit den Schultern und hüpfte in eine Richtung davon.

Nach einiger Zeit entdeckte Marie etwas, dass ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie stoppte. Ein spitzbübisches Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, das aber nicht von dem Glitzern in ihren Augen ablenken konnte. Marie sah sich auf der Straße um und als niemanden zu entdecken war, schlich sie sich näher an das Objekt ihrer Begierde.
Vorsichtig, um ja kein Blatt herunter zu schubsen, steckte Marie ihre dünnen Arme in den Laubhaufen und huuui…
Mit nur einer ruckartigen Bewegung ihrerseits wirbelten die Blätter wild durch die Luft. Marie stieß ein lautes Lachen aus, und fing an unter den tanzenden Blättern auf und ab zu springen.
Sie lachte und tanzte. Tanze mit den Blättern im Takt, bis ein jedes von ihnen wieder auf dem grauen Gehweg zur Ruhe gekommen war.
Sie wusste, dass sie es nicht tun sollte. Nicht immer die Laubhaufen von anderen zum fliegen bringen sollte – das hatte ihr ihre Mama schließlich schon oft genug gesagt – aber jedes Mal, wenn sie wieder einen Haufen getrockneter Blätter sah, konnte sie einfach nicht wiederstehen. Es war ihr, als wäre das Laub nur für sie da am Wegrand gestapelt worden.
Ein freudiges Glucksen ertönte, als Marie auf den Bürgersteig sah, der jetzt von vielen, braunen Blättern verschönert wurde. Was hatten die Erwachsenen eigentlich immer mit ihren Laubhaufen? Sah doch viel schöner aus so!

Und in dem Wissen, heute mit der Verschönerung eines Bürgersteins schon mindestens eine gute Sache getan zu haben, ging Marie weiter.

Marie nahm Anlauf und… „Platsch!“, rief sie, als ihre rotgepunkteten Gummistiefel in der Regenpfütze landeten. „Platsch! Platsch!“, sie stampfte mit jedem Fuß einmal auf. Gerade wollte sie wieder in die Knie gehen und zu einem weiteren Sprung ansetzen, als sie das dunkelgrüne Auto bemerkte, das am Straßenrad neben ihr zum stehen gekommen war.
Marie richtete sich zu voller Größe auf und blickte das Auto gespannt an. Eines der vorderen Fenster öffnete sich und ein Mann streckte seinen Kopf heraus. Er sah komisch aus, fand Marie, mit der Kappe so tief ins Gesicht gezogen.
„Na junges Fräulein?“, fragte er mit rauchiger Stimme, „Bist du etwa ganz allein unterwegs?“.
Marie nickte skeptisch.
„Wo soll’s denn hingehen, zu dieser frühen Stunde?“, fragte er weiter.
„Ich will nach Hause“, antwortete Marie in bestimmtem Tonfall, „Meine Fingermalfarben holen! Die Bäume sollen doch nicht mehr traurig sein“.
Ein kehliges Lachen ertönte, „Wie weit hast du es denn noch nach Hause? Ich kann dich mitnehmen, wenn du willst“.
Marie überlegte kurz und ließ den Blick dabei wieder über die Straße schweifen. Eigentlich hatte sie ja auch gar keine Ahnung wo sie überhaupt war…
Also zuckte Marie mit den Schultern, „Gut!“, meinte sie und lief ums Auto, um auf den Beifahrersitz zu klettern.


Impressum

Texte: Copyright by Garou
Tag der Veröffentlichung: 22.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Anna, ich kann es einfach nicht lassen, über dich zu schreiben. Es tut mir fast schon leid. Und für meine kleine Marie, die sich für Immer einen Platz in meinem Herzen ergattert hat.

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