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1. Auflage Februar 2022 © Copyright 2022-Urheberrechtshinweis Alle Inhalte dieses Buches sind urheberrechtlich geschützt.
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Florin Sayer-Gabor-
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Coverschrift: Queen Inline Grunge von cruzine
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Plotanalyse: Silke Schiller
info@lektorat-wortart.de
www.lektorat-wortart.de
Buchsatz: Autorenträume
ISBN: 978-3-7487-9693-0
Für meine Kinder
Wenn Glaube, Fleiß und Mut stärker sind als alle zweifelhaften Gefühle, erhält man den gebührenden Lohn für die Erfüllung seines Traums.
»Meine Seele wird die Deine suchen, kein Schritt vermag zu lang zu sein, kein Weg erscheint zu weit. Die Zeit kann uns nichts anhaben, durch alle Gezeiten. Liebe erstickt die Furcht im Angesicht des Schreckens. Mein Herz pulsiert in Deinem im Schein des Mondes. So vermag ich zu versprechen, unter reißender Glut des Sternenzelts, unser Leben wird kommen, nicht hier und nicht heute, aber für immer irgendwann, bis in alle Ewigkeit.«
Ella schob die Daily Sun weit von sich und stieß einen Seufzer aus. »Elendiges Klatschblatt.«
Sie war es leid. Das Urteil war noch nicht gesprochen, und schon kursierten wilde Theorien, wie der Richter sich entscheiden könnte. Dabei war gerade der erste Prozesstag vorüber. An ein Urteil war noch lange nicht zu denken. Sie würde den Richter schon auf Trab halten. Es konnte ihrer Mandantin kein Mord vorgeworfen werden. Die Beweislast war lächerlich, ja sogar höchst amüsant.
Für Ella stand fest, dass sie alle etwas übersahen. Ein Stück des Puzzles fehlte, und sie war sich sicher, dass dieser Fall eine spektakuläre Wende bereit hielt. Sie war lange genug in diesem Job, um ihre Mandantin und die Lage einschätzen zu können. Zu oft war ihr schlampige Arbeit seitens der Spurensicherung untergekommen.
»Liebling, komm wieder ins Bett!«
Sie erwischte sich dabei, wie sie in sich hineinlächelte. Es war Sonntag, im Normalfall wäre sie Zanes Aufforderung nachgekommen und hätte sich an seine muskulöse Brust geschmiegt. Doch die Freiheit ihrer Mandantin stand auf dem Spiel, und sie würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um die fehlenden Entlastungen zu bekommen. Das war sie Sue Lancaster als gute Anwältin schuldig.
»Ella!«
»Wenn du mir versprichst, mich in fünf Minuten gehen zu lassen, überlege ich es mir!«
»Liebling, es ist Sonntag!«
»Auch Sonntag ist ein Werktag.«
Zane stöhnte auf. »Wenn ich nicht wüsste, dass du Gutes tust, würde ich es dir ziemlich übelnehmen.«
Sie blieb in der Tür stehen, hielt sich mit einer Hand lasziv am Rahmen fest und beugte sich ein wenig zur Seite, sodass ein Stück ihres wohlgeformten Hinterteils zu sehen war. Ella beobachtete Zane dabei. Sie liebte es, wie er sie fixierte, sah die Lust in seinem Blick, das Begehren, welches in seinen Pupillen aufflackerte. Ella trat an das Bett, und ehe sie sich versah, zog Zane sie an sich.
»So wird das nichts mit den fünf Minuten, wenn du so mit mir spielst, muss dir das klar sein«, flüsterte er. Seine Stimme vibrierte vor Lust und löste bei Ella eine aufsteigende Hitze aus. Ihre Körper schmiegten sich perfekt aneinander, als wären sie extra füreinander geschaffen worden. Hätte sie den Kopf frei gehabt, wäre sie hemmungslos über ihn hergefallen. Nie hatten sie über Sex diskutieren müssen. Jeder von ihnen wusste, was der andere begehrte. Er war wahrlich ihr perfektes Gegenstück. Manchmal fragte sie sich, womit sie diesen Mann verdient hatte. Er war der Pfeffer, der in ihrem Leben gefehlt hatte. Sie war nur das langweilige Salz, mit dem man jedem Essen ein wenig Geschmack verpassen konnte.
»Nun muss ich aber los, gib mich frei!«
»Dein Befehlston gefällt mir …« Die Art, wie er es sagte und dabei ihre Brüste ein letztes Mal knetete, bevor er ihr sanft aus dem Bett half, brachte die Schmetterlinge in Ellas Bauch zum Fliegen.
»Darling, ich begleite dich ein Stück, ich möchte nochmal im Frauenhaus nach dem Rechten sehen.«
»Ist so weit alles in Ordnung? Oder machst du dir um jemanden Sorgen?«
»Ich weiß nicht so recht, gestern machte Lynn auf mich einen wirren Eindruck, sie wirkte ein wenig verstört. Ich habe das Gefühl, sie verheimlicht mir etwas.«
»Wie meinst du das?«
»Es ist manchmal, als würde sie unter enormem Druck stehen. Als hätte irgendjemand Kontakt zu ihr aufgenommen, der ihr Angst macht. Ich fühle mich einfach besser, wenn ich nach ihr sehe. Dann hab ich wenigstens das Gefühl, heute etwas Sinnvolles getan zu haben.«
»Hey! Ich dachte, wir hätten gerade etwas Sinnvolles getan!« Sie untermalte ihre Anspielung mit einem Kichern.
»Wegen mir hätte ich das heute den ganzen Tag tun können.« Zane gab Ella einen verheißungsvollen Kuss. »Merk dir die Stelle, da knüpfen wir an, sobald du wieder zurück bist!«
Ella blickte in seine tiefbraunen Augen, in denen im Sonnenlicht feine Goldsprenkel glänzten. Ein stechender Schmerz durchzuckte wie aus dem Nichts ihr Handgelenk. Es fühlte sich so an, wie wenn es ihr jemand umdrehte. Unwillkürlich fuhr sie zusammen. »Verdammt was war das denn …?«
»Alles in Ordnung?«
»Ja, wahrscheinlich nur eine falsche Bewegung. Nicht weiter schlimm. Bis später, Liebling.« Ella drückte Zane einen festen Kuss auf seine sinnlichen Lippen, bevor sie eilig das Haus verließ.
»Diese Frau bringt mich nochmal um den Verstand.« Amüsiert zog Zane seine Jacke an, schlüpfte in seine Lieblingsturnschuhe und tat es Ella gleich. Im Gegensatz zu ihr ließ er sich Zeit. Er ging einmal ums Haus und genoss den Ausblick auf den See, der in der Sonne glitzerte. Zane inhalierte den Duft der Kirschblüten und schaute auf die gemütliche kleine Veranda. Er musterte den in die Jahre gekommenen Schaukelstuhl, den Ella in keinem Fall austauschen wollte. Bei ihrem Einzug war er schon dort gewesen.
›Er gehört zum Haus, Zane, aus ihm spricht das Leben, welches sich hier abgespielt hat. Auf keinem Fall dürfen wir ihn wegtun. Er benötigt nur einen kleinen Anstrich.‹
Bis jetzt war keiner von ihnen dazu gekommen, den Stuhl aufzupeppen. Wie auch, bei dem Haufen Arbeit, der jeden Tag auf beide wartete. Und dennoch hätte er nicht glücklicher sein können. Er lächelte, öffnete die Garage, startete seinen Pick-up und machte sich auf den Weg in das Frauenhaus, welches er vor drei Jahren übernommen hatte. Zum Glück, denn sonst hätte er Ella vermutlich nie kennengelernt. Damals hatte sie sich unermüdlich für eine Bewohnerin eingesetzt, die zu Hause von ihrem Mann grün und blau geschlagen worden war. Er erinnerte sich noch genau an ihr geschundenes Gesicht, als die Frau eines Abends, durchnässt vom Regen, an seine Tür geklopft hatte. Sie zitterte am ganzen Körper.
Nachdem er ihr frische Kleidung gebracht und einen Tee gemacht hatte, versuchte er herauszufinden, was mit ihr geschehen war. Doch sie weigerte sich, mit ihm zu sprechen. Da sie erhebliche Hämatome aufwies, wandte er sich an den Sozialdienst, der sofort einen Anwalt einbestellt hatte.
Bei dem Gedanken daran, als er sie das erste Mal gesehen und ihm fast die Luft weggeblieben war, pulsierte sein Herzschlag ein wenig schneller. Ellas konzentrierter Blick, die vollen herzförmigen Lippen, die ihrem schmalen Gesicht die gewisse Fülle verliehen. Ganz zu schweigen von ihren smaragdgrünen Augen, die wie kleine Kometen funkelten, wenn sie wütend war. Sie standen im starken Kontrast zu ihrem dunkelblonden Haar, welches in weichen Wellen um ihre Schultern fiel. Er konnte nicht leugnen, dass er vom ersten Augenblick an eine tiefe Verbundenheit gespürt hatte.
Auch heute war es noch so, bei jedem einzelnen Gedanken an sie. Was hatte er für ein Glück, diese Frau an seiner Seite zu haben. Er würde für sie sterben. Ein Leben ohne sie schien Zane undenkbar.
»Soll das ein Scherz sein? Deswegen bestellst du mich zum Sonntag ein?« Ella hatte sich mehr erhofft, Fingerabdrücke, ein Indiz, welches die Unschuld ihrer Mandantin bestätigte, irgendetwas.
»Du darfst nicht zu viel erwarten. Es ist doch schon mal ein Fortschritt, dass sie zum Zeitpunkt, als das Baby starb, gar nicht in dessen Nähe gewesen ist. Das beweist zumindest die Programmierung der Kaffeemaschine in der Gemeinschaftsküche.«
»Einen Scheiß beweist das! Die kann jeder programmiert haben.«
»Ihre Fingerabdrücke waren darauf, und wir haben mit der Leiterin im Haus gesprochen. Sie war mit dem Küchendienst an diesem Tag an der Reihe. Sie kann also ihr Baby nicht umgebracht haben.«
»Das ist zu wenig, das reicht in keinem Fall aus! Das Zeitfenster ist zu gering.«
Officer Earl Hicks zog seine Stirn in Falten. »Wir sind dran. Ich wünschte, ich könnte dir mehr Erkenntnisse liefern. Aber zu diesem Zeitpunkt unmöglich.«
Ella rollte mit den Augen. »Ist gut. Ihr müsst noch einmal ins Frauenhaus und alles auf den Kopf stellen, befragt alle Bewohner, geht allem nach, was euch suspekt erscheint. Bitte, Earl, es geht hier um das Leben einer Unschuldigen.«
Sie hörte selbst das Flehen in ihrer Stimme. Wie immer steckte sie ihr ganzes Herzblut in diesen Fall. Ella stellte sich vor, was es für ihre Mandantin bedeutete. Nicht nur, dass sie den Tod ihres Säuglings verkraften musste, nun musste sie auch noch um ihre Freiheit bangen. Und sie war diejenige, die ihr aus dieser Situation heraushelfen konnte. Nein, sie würde es. Sie könnte es sich nie verzeihen, wenn diese Frau unschuldig hinter Gittern vor sich hinschmoren würde, nur weil sie versagt hatte. Das durfte unter gar keinen Umständen passieren. Doch sie brauchten Beweise. Es waren keine fremden Fasern von Kleidungsstücken oder ähnliche Spuren am Tatort zu finden gewesen, ausschließlich die DNA von Mutter und Kind waren sichergestellt worden.
»Earl, ich schau bei Zane vorbei, er ist gerade im Frauenhaus, vielleicht kann er noch etwas zu unserem Fall beitragen.«
»Ist gut, ich werde nachher nochmal zur Befragung hinfahren. Halt die Ohren steif!«
»Du auch. Ich bin Tag und Nacht erreichbar!«
»Wie immer. Du solltest dich auch mal ausruhen! Bis dann.«
Als Ella am Frauenhaus anhielt, sah sie ein junge Frau, fast noch ein Mädchen, mittig auf den langen Treppen sitzen, die hinauf zur Eingangstür führten. Es waren viele Treppenstufen, sie schätzte um die fünfzig, gezählt hatte sie diese jedoch noch nie. Das Mädchen wirkte verloren und gleichzeitig so adrett. Ihren Rücken hatte sie durchgedrückt, ihre Beine eng geschlossen, die Hände auf die Knie abgelegt. Eine sehr unnatürliche Haltung für eine Frau ihres Alters. Es wirkte, als wäre sie einer anderen Zeit entsprungen, als hätte sie rein gar nichts mit dem heutigen Leben zu tun. Ella schluckte hart bei ihrem Anblick. Die Unbekannte bereitete ihr eine Gänsehaut, die sie sich nicht erklären konnte.
»Was zum Teufel …«, flüsterte sie vor sich hin. Sie musste unbedingt Zane zu ihr befragen. Ella wollte sich gerade abschnallen, als ihr Gurt klemmte. »Ach verdammt, was soll das denn jetzt?«
Mehrmals zog und rüttelte sie an dem Gurt, doch er wollte sich nicht lösen. Als sie wieder aufsah, kollidierte ihr Blick mit dem des Mädchens. Ihre Augen schienen sie förmlich zu durchbohren. Für einen kurzen Moment vergaß Ella zu atmen. Ihre Hände wurden feucht und zitterten. Hastig versuchte sie erneut den Gurt zu lösen, und endlich gelang es ihr.
Sie hob den Blick, öffnete die Autotür und bemerkte, dass jenes Mädchen verschwunden war. Wie vom Erdboden verschluckt. Ella sah sich langsam um und suchte mit ihren Augen systematisch die Gegend ab. »Das gibt es doch gar nicht …! Was zum Teufel geht hier vor?«
Ella schüttelte den Kopf und besann sich auf den Grund, weswegen sie hergekommen war. Sie klingelte an der verschnörkelten Eingangstür, die ihr schon immer gut gefallen hatte. Sie hatte etwas Romantisches, obwohl das, was dahinter stattfand, wenig mit Romantik zu tun hatte. Das Gegenteil war der Fall. Was für eine äußerliche Täuschung dies doch war.
Es dauerte nicht lange, bis ihr jemand öffnete. Die Hausdame, so wie Zane sie liebevoll nannte, der die Gutmütigkeit ins Gesicht geschrieben stand. Die kleinen Lachfältchen um ihre Augen ließen sie jünger wirken, als sie tatsächlich war. Zane hatte mal erwähnt, dass sie bereits um die sechzig Jahre zählte. Ella hoffte, in diesem Alter auch noch so frisch auszusehen und vor allem so lebensfroh zu sein. Sie brachte in die traurigen Geschichten, die dieses Haus zu erzählen hatte, ein wenig Fröhlichkeit.
»Hallo Ella, schön, Sie zu sehen, Kindchen. Falls Sie Zane suchen, der ist schon wieder fort. Sie müssen ihn ganz knapp verpasst haben.«
»Komisch, ich habe ihn nicht gesehen, obwohl ich eine Weile hier war, bevor ich geklingelt habe.«
Als Ella bemerkte, wie verblüfft Margret sie musterte, hatte sie das Gefühl, sich erklären zu müssen. »Ich habe ein Mädchen entdeckt, ich schätze sie gerade mal auf achtzehn, vielleicht auch jünger. Sie saß mitten auf den Treppen und machte auf mich einen unheimlichen Eindruck. Als ich zu ihr hinübergehen wollte, war sie plötzlich verschwunden. Können Sie mir sagen, wer das war?«
»Um ehrlich zu sein, fällt mir keine von unseren aktuellen Bewohnerinnen ein, auf die diese Beschreibung passen würde. Vielleicht hat sich nur jemand ausgeruht und ist dann weitergegangen.« Margret zuckte mit den Schultern.
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
Ella sah sich ein weiteres Mal um. Sie hegte die Hoffnung, das Mädchen doch noch irgendwo zu erspähen, doch vergeblich.
»Ich will Sie nicht aufhalten, Margret, ich wollte ohnehin zu Zane. Einen wundervollen Sonntag.«
»Das wünsche ich Ihnen auch, Miss Ella. Auf Wiedersehen!« Margrets Ausruf versprühte so viel Liebe und Zuneigung, wie sie es sich einst von ihrer Mutter gewünscht hätte. Ihr blieb keine Zeit, um jetzt darüber nachzudenken. Sie musste unbedingt mit Zane sprechen. Er wäre gar nicht erfreut, wenn er zuerst durch den Detective von der erneuten Untersuchung erfahren würde, anstatt durch sie.
»Zane, bist du hier?« Ella legte ihren Schlüssel in die kleine Schale auf der Kommode, zog ihre Jacke aus und trat einen Schritt in die Küche. »Zane? Liebling?«
»Ich bin hier!« Zanes Stimme kam aus der oberen Etage.
Ella nahm zwei Stufen auf einmal. Sie folgte den Duschgeräuschen, die sie jetzt erst wahrnahm.
»Ach hier bist du.«
Sie setzte sich auf die Toilette und ließ das Bild, welches Zane ihr bot, auf sich wirken. Er stand mit dem Rücken zu ihr und der Wasserstrahl prasselte auf sein breites Kreuz. Am liebsten hätte sie sich zu ihm in die Dusche gesellt, doch sobald es um die Arbeit ging, blendete sie ihre Empfindungen aus. Das war schon immer so gewesen. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren.
Zane drehte sich langsam zu ihr um und verzog seinen Mund zu einem verschmitzten Grinsen. »Willst du gar nicht reinkommen?«
Der dichte Nebel im Bad ließ ihn noch verführerischer wirken.
»Nein, ehrlich gesagt muss ich mit dir sprechen. Und es wird dir nicht gefallen …«
Zanes Miene wurde mit einem Schlag ernst. »Was ist los?«
»Der Detective wird erneut eine Untersuchung im Frauenhaus durchführen. Er ist wie ich der Meinung, dass etwas übersehen wurde.«
»Verdammt, Ella! Du weißt so gut wie ich, dass die Frauen meist traumatisiert sind. Muss das sein?!«
»Zane, ein Baby ist in eurem Haus auf höchst mysteriöse Art und Weise zu Tode gekommen! Bist du nicht daran interessiert, das aufzuklären?
»Doch, natürlich … Zane stieg aus der Dusche, zog Ella in seine Arme und küsste sie sanft auf ihre Lippen.
»Ich will sie doch nur schonen, sie haben teilweise Schlimmes durchgestanden.«
»Das versteh ich ja, Zane, dennoch muss der Täter gefunden werden. Ich bin mir sicher, dass Sue Lancaster es nicht war.«
»Was macht dich da so sicher?«
»Es ist ein Gefühl … Sie sagt die Wahrheit, ich spüre es einfach.« Ella stockte kurz. »Ich war heute am Frauenhaus, um dir von der Untersuchung zu erzählen, da hab ich ein ziemlich unheimliches Mädchen auf den Treppen sitzen sehen. Der Rücken kerzengerade durchgestreckt, Haare streng zusammen, aschbraunes Haar, blasse Haut, eine vornehme Eleganz. Kennst du sie?«
»Deine Beschreibung passt auf Lynn. Sie wirkt ein wenig seltsam und unheimlich. Aber ich glaube, das ist nur der äußere Schein.«
»Was weißt du über sie?«
»Noch nicht viel. Sie ist sehr schreckhaft und zurückgezogen, bekommt derweil psychologische Unterstützung, in der Hoffnung, dass sie dann mehr spricht.«
»Ich habe bei ihr kein gutes Gefühl. Versprich mir, dass du dich in Acht nimmst!«
Zane sah Ella liebevoll an und drückte ihr einen langen Kuss auf ihre Stirn. »Natürlich pass ich auf mich auf.«
Freya wischte sich die Schweißperlen mit dem Ärmel von der Stirn. Es war ein heißer Vormittag, und die Arbeit in der Küche am Feuer trug dazu bei, dass sich ihr Zustand so schnell nicht bessern würde. Die Übelkeit drohte sie zu übermannen. Schnell presste sie sich ihr selbst besticktes Tuch vor den Mund, um Schlimmeres zu verhindern.
»Freya, denkst wohl, du kannst dich hier ausruhen! Hurtig an die Arbeit, steh mir nicht im Weg.« Martha wedelte mit ihren knubbeligen kleinen Fingern, während sie Freya zurechtwies. In diesen Zeiten konnte man sich keine Sperenzchen erlauben. Man musste froh sein, sich als würdig erwiesen zu haben und einer Arbeit nachkommen zu dürfen, sei sie noch so erniedrigend. So fiel man am wenigsten auf.
Seit der alte Reverend das Dorf unter seine Fittiche genommen hatte, ging es nicht mehr mit rechten Dingen zu. Man hörte immer wieder von Menschen, die auf seltsame Art und Weise verschwanden. Man sagte ihnen nach, sie seien vom Teufel besessen.
»So ein Unsinn«, murmelte Freya vor sich hin, während sie die Kartoffeln schälte. Sie hatte nicht das Gefühl, dass es des Teufels Werk war, sondern des alten Reverends. Friedlich hatten sie bis vor Kurzem hier gelebt, doch seit er in seinen stundenlangen Predigten immer wieder von Unheil durch Hexerei und den Tanz mit dem Teufel erzählte, waren die Menschen in hellem Aufruhr.
Zu stark haftete der Aberglaube an ihnen, dass ihr gesunder Menschenverstand langsam aber sicher dahinsiechte.
Freya stieg die knarzende Treppe hinab, die von der Küche aus in den Keller führte. Hier lagerten die Essensvorräte in Reih und Glied, die das Überleben in diesen Zeiten sicherten.
Der Geruch von gedörrtem Fleisch stieg ihr in die Nase. Sie schöpfte aus einem großen Holzfass Wein, welcher dem Herrn des Hauses zu seinen Mahlzeiten serviert wurde.
Ein feiner Herr, wie sie fand. Ein junger Reverend, mit einem geschärften Verstand. Seine Augen klar und kühn. Nicht zu vergleichen mit dem altem Reverend, der bei seinen Predigten ihre Knie regelmäßig zum Zittern brachte. Bei Balthasar Asburry dagegen wähnte sie sich in Sicherheit. Sie hatte das Gefühl, dass dieser nicht den Auffassungen seines Gelehrten zustimmte. Er sprach es nie aus, aber sie sah seine Blicke bei seinen Predigten und glaubte bemerkt zu haben, wie sich seine Kieferknochen das ein oder andere Mal angespannt hatten. Sie wusste, dass es für ihn gefährlich war, eine andere Meinung zu vertreten, gerade weil der Großteil der Gemeinde der Stimme des Alten folgte. Er schien machtlos gegen ihn.
»Was brauchste denn so lange, Mädele? Denkst wohl, du kannst da unten ewig rumlungern und dich vor der Arbeit drücken. Aber nicht mit mir. Sieh zu, dass du hochkommst. Sonst mach ich dir Beine! Gesindel …!
Marthas Gezeter und Geschnaube bei jedem Schritt ihrer dicklichen Beine, die sich schwerfällig in der Küche auf und ab bewegten, dröhnten bis in den Keller.
»Ich komme schon, Martha.« Freya schnappte sich schnell den Speck, füllte drei Handvoll Sauerkraut ab und sputete sich auf dem Weg nach oben. Sie wusste, dass es keinen guten Eindruck machte, das Essen später als gewohnt aufzutischen.
Oben angekommen, erblickte sie Arthus, der sie mit einem eigentümlichen Grinsen bedachte. »Freya, schön, dich zu sehen.«
Er kaute dabei auf einem Grashalm und musterte sie mit lüsternem Blick.
»Danke, Arthus, das kann ich leider nicht zurückgeben.« Sie beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und ging ihrer Arbeit nach, um nicht noch mehr in Marthas Gunst zu fallen.
Diese prustete los, als sie Arthus' Gesicht wahrnahm. »Na, Jung, dass dir die Fratze mal nicht so stehen bleibt.«
Damit hob Martha Arthus' Laune nicht gerade an, wie man seiner finsteren Miene entnehmen konnte. Er packte Freya hart am Handgelenk und zischte ihr leise zu: »Du wirst dir noch wünschen mich besser behandelt zu haben, Freya, ich steh in der Gunst des alten Reverends. Nur eine Vermutung und du wirst in der Hölle schmoren.«
Als Freya versuchte ihm ihre Hand zu entziehen, durchzuckte ein stechender Schmerz ihr Handgelenk. Ihre Haut wurde so stark von seinem festen Griff gequetscht, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Sie biss sich fest auf die Unterlippe. Er würde sie nicht brechen, er nicht!
»Glaubst, du kannst mir Angst einjagen, und erhoffst dir so meine Zuneigung? Welch törichte Vorstellung. Und jetzt lass mich augenblicklich los!« Freya sprach ihre Worte langsam mit Bedacht und so leise, dass sich jedes einzelne davon wie ein Peitschenhieb anhörte.
»Was ist hier los? Mr. Thurgood, Ihr seid Gast in meinem Haus, ich würde Euch bitten, Euch auch dementsprechend zu benehmen!«
Widerwillig ließ Arthus Freyas Handgelenk los, welches bereits einen feinen Striemen aufwies. Sie fuhr sich vorsichtig über die rot geränderte Stelle, senkte ihren Blick und setzte ihre Arbeit fort, um dem mahnenden Auge Arthus' zu entgehen.
Sie vernahm, wie er ein paar Schritte auf Mr. Asburry zuging. Sie erkannte ihn am Klang seiner Stiefel, die gefährlich auf dem Boden widerhallten. Unter tausenden würde sie diese heraushören.
»Mr. Asburry, würde sich Euer Gesindel einem Herrn wie mir gegenüber einwandfrei benehmen, müsste ich wohl kaum Strenge walten lassen, meint Ihr nicht auch?
»Ihr vergreift Euch im Ton, Mr. Thurgood. Mir ist nicht bekannt, dass ich Gesindel beschäftigen würde. Was führt Euch in mein Haus?«
»Nun, mich schickt Reverend Godwins, um Euch die Predigt zu überreichen. Er hat Euren Teil markiert.«
»Seid so freundlich und richtet ihm aus, dass ich meine Predigten selbst schreibe.«
Arthus sah Balthasar Asburry misstrauisch an. Als dieser sich aus dem Raum entfernte, rief er hinter ihm her: »Das wird ihm gar nicht gefallen, Mr. Asburry, Ihr werdet wohl verstehen, dass er dieses nicht einfach so hinnehmen wird!«
Balthasar drehte sich abrupt herum. »Nun, Mr. Thurgood, ich denke nicht, dass dies Euer Problem sein dürfte. Guten Tag.«
Mit diesem letzten unmissverständlichen Gruß verließ er den Raum.
Arthus donnerte mit der Faust so heftig auf die Arbeitsplatte, dass diese vibrierte und Martha aus dem Gleichgewicht geriet. Ehe sie sich über sein flegelhaftes Verhalten beschweren konnte, war er bereits durch den Kücheneingang, der in den Hinterhof führte, hinausgeprescht.
»Da hat der Bengel aber Glück gehabt, dass der Reverend kam, sonst hätte ich ihm mit der Pfanne direkt eins über seinen arroganten Schädel gezogen. Was glaubt er, wer er ist, ein Jünger vom lieben Gott? Des Teufels Brut, das ist er!«
So streng Martha auch schien, umso größer wuchs ihr Herz für in Not Geratene. Das hatte Freya bereits einige Male miterlebt. Sie wusste bloß nicht, ob es auf Eigennutz beruhte oder auf Warmherzigkeit. Schließlich würde Martha eine Hilfskraft fehlen, wenn Freya wegfiel.
»Ein Heiliger ist er nicht, so viel steht fest. Ich hab ein sehr ungutes Gefühl. Als wenn sich ein Unheil über uns zusammenbrauen würde.«
»Wenn wundert’s bei dem Spektakel, welches der alte Reverend veranstaltet! Fortjagen sollte man ihn, ohne Erbarmen!«
»Mich würde interessieren, was in der Predigt für Reverend Asburry steht.«
»Fräulein, steck deine Nase nicht in fremde Angelegenheiten. Bringt nur Unheil. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede, etliche habe ich vor die Hunde gehen sehen. Gehängt haben sie die, ohne Gnade. Hüte dich und deine vorlaute Zunge!«
Sie wusste, dass Martha recht hatte. Hatte man zu viel Kenntnis, konnte es einem in diesen Zeiten schnell zum Verhängnis werden. Vor allem durfte man niemandem trauen.
»Martha, wann gedenkst du das Essen zu servieren?« Balthasar Asburry lugte zur Küchentür herein und reckte seine Nase wie ein kleiner Junge in die Höhe, der es kaum noch abwarten konnte, das Essen in die Finger zu bekommen.
»Wenn die Kirchuhr sechsmal schlägt, Reverend.«
»Wunderbar.« Er holte seine goldene Taschenuhr hervor, nickte zufrieden und nahm in der Stube in seinem Lieblingssessel Platz.
Freya konnte nicht widerstehen ihn für einen kurzen Moment zu beobachten. Sie wusste nicht so recht, was sie verspürte, wenn sie ihn betrachtete.
War es Zuneigung auf Grund seiner Barmherzigkeit? Dankbarkeit, dass er ihr Unterschlupf bot?
Er starrte ruhig aus dem Fenster und bestaunte die Bäume, die vom Wind hin und her schaukelten. Wäre doch er an der Stelle des alten Reverend Godwins, dachte Freya, dann wäre es um einiges ruhiger in Salem.
Die Dürre hatte dafür gesorgt, dass eine Hungersnot über die Menschen gekommen war, weswegen sie nun Schuldige suchten. Meistens waren es Frauen, die angeblich Machenschaften mit dem Teufel betrieben. Freya hatte ein paar Dorfbewohner bei Besorgungen in der Stadt hinter vorgehaltener Hand reden hören. Sie hatte im Vorbeigehen aufgeschnappt, dass man junge Frauen an ihren Haaren aus ihren Häusern geschleift, sie erst gefoltert und dann auf dem Scheiterhaufen bei lebendigem Leibe verbrannt hätte.
Davon hörte sie nicht zum ersten Mal, im Gegenteil. Sie hatte es einst mit eigenen Augen gesehen, als Geistliche das Stroh entzündeten, welches unter den nackten Füßen der schreienden Frauen in Flammen aufgegangen war und alles niedergebrannt hatte.
Übelkeit übermannte sie erneut, als ihr die damaligen Bilder im Kopf umhergingen. Noch immer roch sie verbranntes Fleisch. Dieser Geruch manifestierte sich so stark in ihren Sinnen, dass sie manchmal das Gefühl hatte, geisteskrank zu werden. Sie war damals selbst fast noch ein Kind gewesen und hatte sich ohnmächtig durch die Befeuerungsrufe der Dorfbewohner gefühlt. Welch charakterliche Schwäche sie doch alle hatten …
Balthasar stand in der kleinen Dorfkirche, die eine gemütliche Behaglichkeit ausstrahlte, und blickte auf die leeren Bänke, welche sich bald füllen würden. Es gefiel ihm nicht, mit seiner Predigt zurückstecken zu müssen, doch er hatte keine Wahl. Bis der alte Reverend Godwins das Zepter aus der Hand geben würde, vergingen aller Wahrscheinlichkeit nach noch Jahre. Es sei denn, er ließe sich etwas zuschulden kommen oder verstarb. Unverzüglich verwarf er den Gedanken an so etwas Abstruses. Er war ein Geistlicher, ein Gläubiger, kein Sünder. Wenn auch ein ziemlich Wagemutiger. Er lebte jetzt zwei Monate in Salem, von Reverend Godwins höchst persönlich einbestellt. Was er vorhatte, konnte Balthasar nur erahnen. Er würde jedoch die Gräueltaten, von denen er immer wieder hörte, nicht ausführen, dessen war er sich sicher. Egal wie viel er dafür würde leiden müssen. Er stand im Amt Gottes. Sollte lehren und nicht töten.
Die Hetzpredigt von Reverend Godwins, die sogleich die Kirche füllen würde, bereitete ihm Sorge. Was, wenn sich die Menschen im Dorf verleiten ließen? Er war der Neue, kannte die Dorfbewohner kaum, konnte nicht einschätzen, wie sie tickten, hier in der Provinz. Er wusste nicht einmal, ob er seinem Personal trauen konnte, dessen Loyalität genoss. Noch etwas bereitete ihm Sorge, die Auseinandersetzung mit Arthus Thurgood hatte ihn erahnen lassen, dass sich seine Angestellte Freya in Gefahr befand. Er konnte noch nicht sagen, woher dies rührte, wusste aber insgeheim, dass er in ihr eine Verbündete gefunden hatte, die zum Angriff bereit war. Er hatte es deutlich in ihren Augen gesehen, wie sie ihn trotz des Schmerzes warnend angefunkelt hatte, anstatt zu Kreuze zu kriechen. Dafür war sie eine zu stolze Persönlichkeit. Er musste unbedingt herausfinden, warum Thurgood es auf sie abgesehen hatte und was er von ihr wollte. Erpresste er sie womöglich?
Balthasar bereitete den Altar vor, entzündete die Kerzen und schlug im Werk Gottes nach. Er würde keine einzige Zeile der diktierten Predigt des alten Godwins halten. Eher würde er sich die Zunge abbeißen oder sich in Stillschweigen üben. Er würde nicht dafür verantwortlich sein wollen, dass Menschen ihr Leben im Fegefeuer ließen. Er musste geschickt vorgehen, das war gewiss. Balthasar konnte nicht riskieren, dass man ihn dem Teufel gleichsetzte.
»Balthasar, pünktlich im Dienste Gottes, das erfreut mich. Wie ich hörte, habt Ihr meine für Euch angedachte Predigt verschmäht?«
»Ich habe mir erlaubt, eine eigene Predigt zu schreiben.«
»Eine eigene Predigt? Maßt Ihr Euch da nicht zu viel an, Balthasar? Hochachtung und Demut zeichnen einen jungen Reverend Eurer Rangordnung aus! Ich denke, wir verstehen uns.«
»Gewiss, Reverend, gewiss.«
Es leuchtete ihm ein, dass er sich noch nicht in der Position befand, Ansprüche zu stellen. Trotzdem würde er es wagen, solche Diktaturen geschickt zu umgehen. Er würde die Gemeinde auf die Probe stellen. Balthasar beobachtete, wie die ersten Platz nahmen, er betrachtete jedes einzelne Gesicht, welches die Kirche betrat, ein Versuch, ihren Ausdruck zu deuten, zu erahnen …, so lange bis Reverend Godwins an das Pult trat.
»Gemeinde, so erhöret Gottes Wort, welches spricht durch das Antlitz des Bösen. Hinaufgestiegen zu den Seelen der Sünder, den Ehrenlosen, den Verrätern. Schaut Euch um unter Euren Brüdern und Schwestern, jenen, die sich abwenden, um nicht aufzufallen. Besessen von Macht und Habgier, besessen von Dämonen. Ewig sollen sie verdammt sein, um in den Abgründen des Feuers Gefangene zu sein. Fürchtet, fürchtet den, der mächtig ist, in das Verderben zu leiten. Fürchtet den, dem wir mit Leib und Seele ausgeliefert sind. Wir alle sind unversehens mit der Hölle konfrontiert, es obliegt einem jedem, sich zu entscheiden, ob er bereit ist, gegen das Böse in den Kampf zu ziehen oder sich an deren Seite zu stellen. Gott wird richten all diejenigen, die den Teufel walten lassen, denn Recht tritt vor Gnade. Niedergefahren zur Hölle.
Die schlimmste Qual der Hölle besteht im ewigen Getrenntsein von Gott …
Zane bog von der Madburry Road in die Littleworth Road ein, wo sich am Ende der Straße das Frauenhaus befand. Er sah schon von Weitem das Polizeiaufgebot und konnte seinen Unmut darüber kaum in Worte fassen. »Was zur Hölle ist hier los?«
Ella hatte von einer erneuten Untersuchung und nicht von einem Großaufgebot gesprochen, wie man es sonst nur im Fernsehen zu Gesicht bekam. Er zählte die Autos, als er sich näherte. Mindestens sechs Streifen standen mit Blaulicht vor dem Eingang, zwei sah er am Seitenausgang, und er wettete, dass sich weitere Fahrzeuge am hinteren Gartenbereich befanden. Er sah eine Weile auf das vertraute Gebäude, und sein Kiefer knackte vor Wut.
»Verflucht nochmal.« Zane schlug mit voller Wucht auf den Lenker. Was hatte sich Ella dabei nur gedacht? Sie wusste genau, wie es um die Frauen bestellt war. Es würde Ewigkeiten dauern, bis sie sich wieder öffnen würden. All die Arbeit der vergangenen Wochen völlig umsonst.
Zane sah, wie Earl sich auf sein Auto zubewegte, er stieg aus und eilte auf ihn zu.
»Verdammt nochmal, Earl, was zum Teufel soll das hier? Es war von einer erneuten Spurensuche die Rede, nicht von einem Großaufgebot, an dem die gesamte Polizei des Staates New Hampshire beteiligt ist. Auf wessen Mist ist das gewachsen?«
»Ich führe nur die Befehle von oben aus, Zane. Es gibt Ungereimtheiten, denen wir auf den Grund gehen müssen. Das verstehst du doch …?«
»Earl, wir haben es hier mit traumatisierten Frauen zu tun. Sie sind geflüchtet aus Angst und Not. Was glaubst du, was bei so einem Einsatz passiert? Ich kann es dir sagen, sie verlieren das Vertrauen. Ich brauche dir nicht zu erklären, was das im Umkehrschluss bedeutet! Denk mal dran, wie es damals Laura Field erging!«
»Ich weiß, Zane, ich weiß … Es ist ein Dilemma, aber letzten Endes geht es hier um einen Mordfall. Das ist ein schlimmes Vergehen. Und es hat hier stattgefunden, in deinem Haus.«
Zane blickte zu Boden und rieb sich mit seiner Hand die Stirn. Er musste jetzt einen klaren Kopf bewahren, um die Situation irgendwie zu entschärfen.
»Wir vernehmen heute nochmals alle Bewohnerinnen. Detective Miller ist schon dabei.«
»Wie bitte? Ihr habt angefangen, ohne auf mich zu warten? Dazu habt ihr kein Recht! Ich bin der Leiter des Frauenhauses, und keiner wird ohne mein Beisein verhört!« Zane stapfte zum Eingang, schob sich an den umherstehenden Polizisten vorbei und steuerte geradewegs auf sein Büro zu. Fast hätte er die gute alte Margret über den Haufen gerannt, die gerade um die Kurve bog.
»Gott sei Dank sind Sie hier, Zane. Mir ist schon ganz bange zumute. Herrgott, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich habe damit gerechnet, dass Sie gleich kommen würden, deswegen hab ich mir den Anruf gespart.«
»Ist Ella schon hier?« Zane musste sein Temperament zügeln, um seinen Zorn nicht an Margret auszulassen, die ihn fast ängstlich anschaute.
»Nein, nein. Ich habe sie noch nicht zu Gesicht bekommen. Ms. Ella hat doch damit nichts zu tun, oder?«
»Da sprechen wir später drüber, Margret.«
Als Zane in sein Büro trat, sah er dort Detective Miller mit Isabella sitzen. Sie schaute ihn aus großen Augen an und knetete unentwegt ihre Hände. Ihr Blick ging immer wieder zu Boden. Die Gespräche verstummten, als er eintrat.
»Mr. Parker. Wir sind mitten in einem Verhör, ich würde Sie bitten vor der Tür zu warten.«
»Kein Verhör findet ohne mich statt. Ich lasse nicht zu, dass Sie schwer traumatisierte Frauen ohne Beistand mit Ihren Fragen in die Enge treiben!«
Als Detective Miller mit dem Stuhl, Zanes Stuhl, zur Seite rutschte, gab er den Blick auf Ella frei.
»Du … Du bist also doch hieran beteiligt. Du wusstest die ganze Zeit, was hier vor sich geht, und lässt mich im Dunkeln tappen?«
»Zane … Dass es ein so großer Einsatz wird, hab ich nicht erwartet. Aber ich wollte unbedingt dabei sein, um mir ein Bild machen zu können. Ich muss einfach alles daransetzen, Sue Lancaster aus dem Gefängnis zu bekommen. Dazu gehört, dass ich einen Gesamteindruck von der Situation bekomme, deswegen hab ich Detective Miller gebeten, dabei sein zu dürfen.«
»Das mach ich dir auch gar nicht zum Vorwurf, sondern dass du mich nicht informiert hast, Ella!«
Detective Miller räusperte sich vernehmlich. »Können wir fortfahren? Ihre privaten Streitigkeiten können Sie zu Hause klären. Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun, als mich damit zu befassen.«
»Nur zu, fahren Sie fort.«
Zane warf Ella einen Blick zu, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie hatte gewusst, wie wütend er sein würde, wenn sie bei dem Verhör ohne sein Einverständnis anwesend war. Da sie ihm kaum einen Wunsch abschlagen konnte, hatte sie sich entschieden, es ihm nicht im Vorfeld zu erzählen, sondern die Situation auf sich zukommen zu lassen. So, dass er keine andere Wahl haben würde, als die Umstände in diesem Moment zu akzeptieren. Sie war sich darüber im Klaren, dass es für sie ein Nachspiel haben würde. Sie würde es ihm zu Hause in Ruhe erklären, aber vielleicht war das nach diesem Tag auch gar nicht mehr notwendig, weil er erkennen würde, dass diese Verhöre ihre Berechtigung hatten.
»So, Ms. Lopez, nun nochmal von vorne. Wo genau haben Sie sich aufgehalten, als Ms. Sue Lancaster den Küchendienst hatte?«
»Aber das habe ich Ihnen doch schon zweimal erzählt.«
»Antworten Sie einfach nur auf meine Fragen, Ms. Lopez. Also, wo haben Sie sich aufgehalten?«
»Ich war erst im Bad und habe Zähne geputzt, dann bin ich wieder in mein Zimmer gegangen, um mich schlafen zu legen.«
»Sind Sie an dem Zimmer von Ms. Lancaster vorbeigekommen?«
»Nein, es liegt am hinteren Ende des Flures, ich bin im vorderen Bereich untergebracht.«
»Haben Sie irgendwelche Auffälligkeiten feststellen können? Ist jemand zur selben Zeit wie Sie auf dem Flur gewesen oder haben Sie unbekannte Geräusche vernommen?«
»Nein, mir ist nichts aufgefallen. Ich habe nicht mal bemerkt, dass Sue noch in der Küche war. Es war auch schon spät, und ich war sehr müde. Ich kann nicht sagen, ob irgendetwas anders war.«
»Denken Sie nochmal genau darüber nach, Ms. Lopez.«
Zane beobachtete den Detective, der Isabella genauestens musterte. Er spürte ihre Angst. Bei ihr war er sich zu tausend Prozent sicher, dass sie absolut nicht das Geringste damit zu tun hatte. Sie und Sue hatten so gut wie überhaupt keine Berührungspunkte gehabt, weder freundschaftlich noch feindschaftlich. Sie waren nicht auf einer Wellenlänge und hatten kaum miteinander gesprochen. Deswegen konnte er sich nicht vorstellen, dass Isabella ihr so etwas hätte antun können. Das konnte er bei keiner Frau, die hier lebte.
Stunde um Stunde verging, eine Bewohnerin folgte der nächsten. Nur eine kleine Pause hatte Detective Miller zwischendurch eingelegt. Immer und immer wieder die gleichen Fragen. Er sah zu Ella hinüber, die den Bewohnerinnen an den Lippen hing und jedes noch so kleine Detail analysierte. Er erkannte es an ihrem Blick. Sie schrieb fleißig mit und würde es hundertfach durchgehen, bis sich der Kreis schließen würde. Er liebte sie für ihren Kampfgeist, obwohl ihn genau das auch ziemlich an ihr nervte. Jeder, der Ella Hadley beauftragte, konnte davon ausgehen, eine Anwältin an der Seite zu haben, die bis zum Letzten für ihn kämpfte. Ja, sogar ihre gesamte Freizeit aufopferte, um ihre Mandanten vor Schlimmerem zu bewahren. So war sie eben, loyal und mutig, seine Ella.
Auch wenn die erste Wut verraucht war, würde er mit ihr darüber nochmal reden müssen. So leicht käme sie ihm diesmal nicht davon. Er respektierte ihre Arbeit, aber sie musste auch seine würdigen, und das hatte sie diesmal nicht getan. Sondern ihn obendrein eiskalt ins offene Messer laufen lassen. Eigentlich war er selbst schuld. Er hatte ihr verschwiegen, dass er Sue für schuldig hielt. Im Vertrauen hatte Sue Lancaster ihm damals offenbart, wie überfordert sie sich mit ihrem Säugling fühlte, kurz darauf war der kleine Junge tot. Er wollte jedoch, dass Ella wie für jeden anderen Mandanten auch aufrichtig ihr Bestes gab, ohne beeinflusst zu werden, denn schließlich war es nur seine persönliche Vermutung, und die Beweislast schien Sue Lancaster bereits ohne sein Zutun zu erdrücken.
»So, die letzten vier Bewohner, die ich hier auf meiner Liste habe, Ms. Turner, Ms. Marshall, Ms. Banks sowie Ms. Lee.«
Margret, die gerade mit einer Kanne frischem Kaffee den Raum betrat, wurde leichenblass.
»Geht es Ihnen nicht gut, Margret? Kommen Sie, ich nehme Ihnen das Tablett ab.« Ellas feines Gespür hatte Zane aufhorchen lassen.
Nun bemerkte auch er, wie blass Margret mit einem Mal war. Sie sah aus, als hätte sie einen Geist entdeckt. Er ging hinüber zu dem kleinen Besuchersessel, auf dem Margret Platz genommen hatte.
»Nun gut, ich denke, wir haben uns alle eine kleine Pause verdient«, brummte Detective Miller. »Ich werde mir ein bisschen die Beine vertreten und der Spurensicherung einen Besuch abstatten. Ich bin in fünfzehn Minuten wieder hier.«
Zane wartete, bis er nicht mehr zu sehen und zu hören war, und wandte sich dann an Margret.
»Margret«, flüsterte er, »wenn Sie irgendetwas wissen, dann müssen Sie mir das sagen.«
»Nein, ich weiß nichts, Zane, es ist nur so, dass Ms. Marshall nicht auffindbar ist.«
»Was soll das heißen, sie ist nicht auffindbar?«
»Ich wusste, dass mit ihr etwas nicht stimmt!« Ella, die bis eben noch vor Magret gehockt und ihre Hand gehalten hatte, stand auf und trat ans Fenster. Dabei trommelte sie mit ihren Fingerspitzen auf die Fensterbank.
»Sie ist nicht im Haus, ich habe überall nachgesehen, sie ist nicht da.«
»Das Gebäude ist umzingelt von Polizisten, wie soll sie hier rausgekommen sein?«
»Ich … Ich kann es mir selbst nicht erklären. Dem armen Mädchen muss angst und bange geworden sein. Och Gottchen, nicht auszudenken, wenn ihr etwas passiert ist.«
»Oder sie hat mit der ganzen Sache etwas zu tun und ist deswegen geflüchtet.«
»Ella, nun lass es gut sein! Ich kümmere mich drum«, sagte Zane an Margret gewandt. »Ich werde sie suchen. Kein Wort zum Detective, hast du mich verstanden, Ella?« Zane hob bedrohlich den Zeigefinger in Ellas Richtung.
Sie wusste, was das bedeutete. Er würde keinen Widerspruch zulassen.
»Was soll ich sagen, wenn er nach dir fragt?«
»Dir wird schon was einfallen!«
Zane sah zuerst in Lynns Zimmer nach, in ihrem Schrank, unter ihrem Bett. Er ging systematisch alle Flure ab, kontrollierte die Waschräume und Toiletten. Keine Spur von Lynn weit und breit. Auch an ihren Lieblingsplatz im Garten hatte er gedacht. Nichts. Langsam machte er sich Sorgen. Ihre Klamotten waren noch da, sonst hätte er vermutet, dass sie die nackte Angst gepackt hätte und sie einfach abgehauen war.
Was war nur los mit ihr? Er hoffte, dass sie nichts mit dem Vorfall zu tun hatte. Nein. Das durfte er nicht einmal denken. Konnte er sich so getäuscht haben in seiner Menschenkenntnis? Es gab dafür sicherlich eine logische Erklärung. Sie würde bestimmt bald wieder auftauchen, und dann könnten alle Missverständnisse beseitigt werden. Er musste bloß dem Chief ein überzeugendes Argument liefern. Zane eilte durch die Flure zurück ins Büro. Detective Miller saß bereits mit der letzten Bewohnerin am Tisch und beendete gerade seine Befragung.
»Ach, Mr. Parker, dafür dass Sie anfangs ganz wild darauf waren, bei allen Befragungen dabei zu sein, haben Sie sich aber ganz schön viel Zeit gelassen.«
»Es gab noch einige Dinge zu erledigen, Sie halten schon den ganzen Tag meinen Betrieb auf.«
»Ja, nun denn … Fehlt nur noch Ms. Marshall.«
»Sie ist nicht hier. Sie hatte heute Morgen einen Schwächeanfall und wurde zur Vorsicht in ein Krankenhaus gebracht. Da sie dem Personenschutz untersteht, ist auch mir ihr Aufenthaltsort verwehrt geblieben. Sie wird spätestens morgen Abend wieder hier sein. Dann können Sie Ihre Befragung fortsetzen.«
»Höchst
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Jou F. Hall
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2022
ISBN: 978-3-7554-0629-7
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