Zurückblickend auf das Jahr 1902, hätte ich den Brief, welcher mich damals am 13. Mai erreichte, ohne zu lesen direkt ins Feuer werfen sollen. Mit wären unerträgliche Strapazen und Tage voller Grauen erspart geblieben. Da er jedoch von meinem, als verschollen geglaubten Studienfreund Alfred Bloch kam, öffnete ich ihn bedenkenlos. Dabei hätte mir bereits seine ungewohnt zittrige Handschrift eine Warnung sein sollen.
Erst heute, nach über fünfzig Jahren, bringe ich den Mut auf, nieder zu schreiben, was damals geschehen ist. Vorab jedoch eine Warnung an all jene, die unter einem schwachen Herzen leiden. Mein Bericht enthält erschreckende Details, welche sie bis ins Mark erschüttern und – Gott bewahre – ernsthafte gesundheitliche Schäden zufügen könnten.
Alfred Bloch schien beim Verfassen der Zeilen in großer Eile gewesen zu sein. Seine fahrig dahin gekritzelten Sätze, waren für mich mühsam zu entziffern. Ich vermutete, dass er zu diesem Zeitpunkt entweder unter Fieberschüben litt oder enorme Angst hatte. Zumindest schienen seine folgenden Zeilen auf Letzteres hinzuweisen. Diesen entnahm ich, dass er etwas derart Schreckliches aufgedeckt hatte, dass er es nicht vermochte, in Worte zu fassen. Es hätte sein ganzes bisheriges Weltbild ins Schwanken gebracht, fügte er hinzu. Abschließend bat er mich, so schnell, wie es mir nur möglich wäre, nach Backnang zu kommen, um ihn dort zu treffen. Dann hörte der Brief schlagartig auf. Er enthielt nicht einmal die üblichen höflichen Abschiedsfloskeln. Was mich abermals arg verwunderte. Kannte ich Alfred Bloch doch bisher immer als einen überaus freundlichen und stets auf Anstand und Sitte bedachten Menschen.
Ein Ort namens Backnang war mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht unbekannt. Ich stellte mir die Frage, wie es meinen Freund dahin verschlagen hatte. Ein Blick auf den Poststempel verriet mir, dass er den Brief bereits vor über drei Wochen verschickt hatte. Eine lange Zeit, die Alfred Bloch jetzt schon auf mich wartete. Und bis zum Wiedersehen würden weitere Tage vergehen. Ich hatte noch verschiedene Angelegenheiten zu regeln und letzte Besorgungen zu tätigen. Die Vermieterin meiner bescheidenen Wohnung bat ich, die Räumlichkeit in der Zwischenzeit nicht anderweitig zu vergeben.
Der Koffer war schnell gepackt. Bewusst verzichtete ich auf größere Habseligkeiten, um das Gepäck leicht zu halten. Am wichtigsten waren für mich ohnehin ein zur Hälfte vollgeschriebenes Notizbuch und meine Bibel, in welcher ich jeden Abend vor dem Schlafengehen las.
Bei der Wahl meines Reisegefährts entschied ich mich nach reichlicher Überlegung für die Postkutsche. Deutlich komfortabler und wesentlich schneller wäre ich mit einem zu dieser Zeit aufkommenden neumodischen Fortbewegungsmittel namens Automobil gereist. Eine solche Fahrt überstieg jedoch meine finanziellen Mittel und, wenn ich ehrlich bin, hatte ich kein Vertrauen in diese Technik. Ich war damals der Meinung, dass sich das Automobil niemals gegen die guten alten Pferdekutschen durchsetzen würde. Es war nicht das letzte Mal in den nächsten fünfzig Jahren, dass ich mit einer Vermutung falschlag.
Nachdem ich die Vorbereitungen beendet hatte, fuhren wir an einem trüben Montagmorgen noch vor Sonnenaufgang los. Die Reise war beschwerlich und dauerte fünf lange Tage. Es galt einen weiten Weg zurückzulegen und wir schafften nicht mehr als hundert Kilometer am Tag. Dann brauchten die Pferde sowie die Kutscher und Insassen eine verdiente Pause.
Wir übernachteten in derart üblen Spelunken, welche sogar für Tiere unwürdig waren. Immer mit der Angst lebend, dass man in der Nacht von zwielichtigem Gesindel die Kehle durchgeschnitten bekam und man sämtlicher Habseligkeiten beraubt wurde. Ohnehin kam ich kaum zum Schlafen, da mir nahezu alle Knochen im Leib schmerzten. Eine leider unerfreuliche Begleiterscheinung, welche auftritt, wenn die Kutsche über keinerlei Federung verfügt. Ich sehnte den Tag der Ankunft in Backnang herbei.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: R.S. Wiener
Bildmaterialien: Baum Foto erstellt von kjpargeter - de.freepik.com
Cover: Frecap
Lektorat: Frecap
Korrektorat: Frecap
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2021
ISBN: 978-3-7487-8512-5
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