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Die Mutprobe

 

Die Faust traf mich mit solch einer Geschwindigkeit, dass ich nicht den Hauch einer Chance hatte, ihr auszuweichen. Der Hieb erzielte seine gewünschte Wirkung und schickte mich zu Boden.

Der Schläger, zu dem die Faust gehörte, hieß Axel Fabisch oder Fiebig oder irgendwie anders. Aber das war völlig egal, da wir ihn alle in der Schule ohnehin immer nur Tonne nannten. Weil er genau so rund und fett und schwer wie eine Tonne war.

Ich lag im Dreck und spürte meine Nase nicht mehr. Instinktiv griff ich zu der Stelle, um mich vom Gegenteil zu überzeugen. Okay, sie war noch immer an ihrem vorbestimmten Fleck und schien – Gott sei Dank – nicht gebrochen zu sein. Gleichzeitig fühlte ich jedoch etwas anderes, flüssiges und klebriges – mein eigenes Blut.

„Du fette Drecksau! Das zahle ich Dir heim!“, schrie ich ihm einfältig entgegen.

Ein heftiger Tritt in die Weichteile lies mich dann doch schnell vom Gegenteil überzeugen und laut aufschreiben.

Da lag ich also, vor Schmerzen zusammen gekrümmt, auf dem Schulhof. Eine Horde von Schülern unterschiedlicher Altersklassen rings um mich herum. Alle zeigten sie mit den Fingern auf den Gedemütigten am Boden und lachten ihn aus. Nicht ein einziges Mädchen war zu sehen, welches mir einen mitleidsvollen Blick zuwarf. Aber auch kein Klassenkamerad, der mir wieder auf die Beine half.

Tonne stand triumphierend über mir und die Meute jubelte laut auf. Scheinbar hatten sie alle ihren Spaß.

Leise stieß ich einen, kaum wahrnehmbaren, Fluch aus. Warum ist man in solchen Augenblicken immer so verdammt einsam? Und wo zum Teufel steckten die Lehrer, wenn man schon mal einen von ihnen brauchte?

Ich zermarterte mir mein Hirn, wie dieser Streit angefangen hatte. Derweil ich mich noch immer zusammengekrümmt im Dreck wälzte, wollte mir einfach kein plausibler Grund einfallen. War ich nur ein zufälliges Opfer, welches Tonne für seine regelmäßigen Prügelorgien ausgewählt hatte?

Aber warum ausgerechnet ich? Schließlich war ich doch nicht der Einzige, der ihn als Tonne oder, schlimmer noch, Fettsack titulierte. Und schon gar nicht in seiner Nähe. Denn das wäre einem Selbstmord gleichgekommen.

E versetzte mir einen weiteren Tritt in die Nierengegend und da fiel es mir schlagartig wieder ein. Er hatte auf dem Schulklo heimlich geraucht und dort ebenfalls Zigaretten an Schüler verkauft, welche nicht einmal dreizehn Jahre alt waren. Daraufhin hatte ich ihn beim Direktor gemeldet und das ist vermutlich durch eine undichte Quelle bis zu ihm durchgesickert.

„Wenn Du mich noch ein einmal verpfeifst, dann schlage ich dich tot!“, brüllte er und trat mir dermaßen kräftig in die Magengrube, dass ich zur Belustigung der umstehenden Meute das zuvor genossene Mittagessen auskotzte.

Das Klingeln, welches das Pausenende einläutete, war für mich eine regelrechte Befreiung. Niemals hätte ich gedacht, dass ich dieses Geräusch einmal willkommen heißen würde.

 

Geschlagen und gedemütigt schlich ich nach Hause, wo ich mich grob säuberte und hinterher aufs Bett legte. Stundenlang grübelte ich über eine Möglichkeit nach, es Tonne mit gleicher Münze heimzuzahlen. Allerdings verwarf ich die meisten Einfälle schnell wieder, da er mir körperlich klar überlegen war. Gab es denn keine andere Lösung?

Ich war dermaßen in Gedanken versunken, dass ich völlig vergaß, in die Schule zurückzukehren. Egal. Dort hätten sie mich ohnehin nur belustigt angeschaut und blöde Witze gerissen. Auch die nächsten zwei Tage blieb ich zu Hause. Meinen Eltern sagte ich, dass es mir nicht gut ginge und ich mich ständig übergeben müsse. Sie kauften mir die kleine Notlüge ab und bedauerten, dass sie wegen ihrer Arbeit nicht bei mir bleiben und mich gesund pflegen könnten. Es war mir ganz recht, denn so hatte ich die Gelegenheit, einen raffinierten Plan auszuhecken.

 

Mein Vater arbeite seit einiger Zeit als selbstständiger Immobilienmakler und betreute, neben vielen anderen, auch das Haus der alten Elli Jaenicke, die vor zwei Jahren unter mysteriösen Umständen gestorben war. In unserem Ort tuschelte man hinter vorgehaltener, dass sich ihre zwanzig Katzen, welche bei ihr lebten, auf sie gestürzt und sie so lange gebissen hätten, dass sie an den Folgen verstarb. Als die Polizei später das Haus durchsuchte, fanden sie allerdings keine einzige Katze mehr. Da die Bisswunden jedoch eindeutig tierischen Ursprungs waren, wurde der Fall geschlossen und zu den Akten gelegt. Man vermutete, dass sich die Tiere nach dem Ableben der alten Frau auf und davon gemacht haben. Seit diesem Tag stand das Haus leer und es fand ich kein Käufer, der in das Gruselhaus – so wie wir Kinder es nannten – ziehen wollte.

Da ich wusste, wo mein Vater die Schlüssel aufbewahrte, war es für mich ein Leichtes, sie vorübergehend für meine Zwecke zu entwenden. Der Plan sah vor, Tonne zu überreden, sich kurz im Haus aufzuhalten und drinnen ein wenig umzusehen. Wie wir anderen hatte er aber genauso Angst vor dem Haus und würde sicherlich kneifen. Ich beabsichtigte, ihn dabei mit meinem Smartphone filmen, wie er sich schlotternd fast in die Hosen macht, und hätte für alle Zeiten etwas gegen ihn in der Hand. Wenn er mich danach weiterhin belästigte, brauchte ich nur kurz das besagte Filmchen zu erwähnen und er würde mich in Ruhe lassen.

Soweit die Theorie. Was aber dann geschah, hatte ich in meinem, ach so perfekt ausgeklügelten, Plan nicht vorhergesehen.

 

Welcher Tag würde sich besser eignen, diesen in die Tat umzusetzen, als Halloween?

Um wie die kleinen Kinder nach Süßigkeiten bettelnd um die Häuser zu ziehen, dafür kam ich mir eindeutig zu alt vor. Und da Tonne sogar ein Jahr älter war, vermutete ich, dass er zu Hause sein und sich ein Horrorfilm nach dem anderen anschauen würde.

Oh ja, gleich wirst Du echten Horror am eigenen Leib spüren. Grinsend schnappte ich mir das entsprechende Schlüsselbund, setzte mich auf mein Fahrrad und fuhr drei Straßen weiter zu der kleinen Villa, in der Tonne mit seinen Eltern wohnte.

Ich atmete tief ein und aus, bevor ich auf den Klingelknopf drückte. Es vergingen ein paar Sekunden, welche sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlten. Mit einem Mal war ich mir meines Planes nicht mehr so sicher. Für einen Rückzieher war es jetzt jedoch zu spät.

Die Haustür wurde mit einem Ruck aufgerissen und Tonne füllte mit seinem massigen Körper fast den ganzen Türrahmen aus. Ungläubig starrte er mich an, als wolle er nicht wahrhaben, dass ich es war, der jetzt vor ihm stand.

„Das glaube ich doch nicht“, sprach er, nachdem er sich gefangen hatte. „Was hast Du kleine Mistkröte hier zu suchen? Möchtest Du einen Nachschlag von neulich haben? Oder bist Du einfach nur lebensmüde?“

Ich schluckte und nahm meinen ganzen Mut zusammen. Zumindest soviel, wie mir davon geblieben war.

„Nun ...“, zögerlich legte ich eine Pause ein, um meine Gedanken zu sortieren. „Ich möchte Dir ein Friedensangebot unterbreiten. Oder einen Tauschhandel. Nenn es wie Du willst!“

Tonne verschränkte die Arme vor seinem voluminösen Bauch. „Ich höre!“

„Es geht dabei um eine Mutprobe!“

Mein Gegenüber horchte auf. „Eine Mutprobe? Interessant! Erzähl weiter! Ich habe vor gar nichts Angst!“

Insgeheim rieb ich mir vor Schadenfreude schon die Hände. Innerlich blieb ich überraschenderweise völlig gelassen.

„Wenn Du sie bestehst, werde ich für den Rest der Schulzeit Dein persönlicher Sklave sein. Aber wenn Du kneifst, dann lässt Dich ab sofort in Ruhe!“

Tonne rieb sich das Kinn und schien nachzudenken.

„Also, was sagst Du?“, drängte ich auf eine Antwort.

Boshaft grinste er mir ins Gesicht. „Ich sage, Du kannst Dich schon einmal auf ein paar sehr unangenehme Dinge einstellen, die Du bald für mich erledigen wirst. Und nur damit Du es weißt, in welche Richtung es geht ... Hundescheiße von meinen Schuhen zu lecken, wird noch zu den angenehmeren Sachen gehören! Haben wir uns verstanden?“

Schluckend nickte ich und mich überkam plötzlich eine Heidenangst. Was, wenn er die Mutprobe tatsächlich bestand? Dann war ich für alle Zeiten erledigt und würde in Folge dessen von hier fortziehen müssen. Ganz weit weg. In eine andere Stadt, ein anderes Land oder am besten gleich auf einen anderen Kontinent.

„Haben wir einen Deal, zukünftiger Sklave?“, fragte er mich siegessicher.

„Deal!“, antwortete ich und streckte ihn meine Hand entgegen.

 

„Also, an was für eine Mutprobe hast Du gedacht?“ Tonne rieb sich sardonisch die Hände. „Soll ich bei Rot über die Ampel laufen oder im Tabakladen eine Packung Zigaretten klauen. Nur als kleinen Hinweis für Dich – das wäre für mich nicht das erste Mal!“ Lachend schüttelte er seinen Kopf.

„Nein“, sagte ich, „nichts von alledem. Du sollst einfach nur in das alte Jaenicke spazieren und von dort irgendetwas mitbringen!“

Schlagartig versteinerte sich seine Miene und er wurde kalkweiß im Gesicht.

„Das ... das ... alte Jaenicke Haus?“, stammelte er ungläubig.

„Ganz genau das!“, triumphierte ich auf.

„Aber da soll es doch spuken!“. Schwang da etwa Angst in seiner Stimme mit? Innerlich bereitete ich mich schon auf einen Erdrutschsieg zu meinen Gunsten vor.

„Das sind doch blioß dumme Gerüchte“, entgegnete ich. „Du weißt doch so gut wie ich, dass weder Geister noch Gespenster gibt.“

„Stimmt! Stimmt!“ Tonne schien sich zu beruhigen. „Also lass uns aufbrechen und es hinter uns bringen.“

Gleich darauf war er wieder ganz der Alte. „Und im Anschluß poste ich überall im Internet, dass Du ab sofort mein Sklave bist. Man, wird das ein Spaß. Du bist sowas von erledigt!“

 

Nachdem Tonne sein Fahrrad aus der Garage geholt hatte, radelten wir los. Er trat kräftig in die Pedale, um schneller wie ich zu sein. Ihm diesen Spaß gönnend, fuhr ich gemächlich hinter ihm her.

Am alten Jaenicke-Haus stoppten wir und lehnten unsere Räder an den halb verfallenen Zaun. Das Grundstück sah verwildert aus und überall spross das Unkraut. Man sah deutlich, dass hier schon lange niemand mehr wohnte. In der Mitte stand einsam das verlassene Haus und versprühte keinen einladenden Charme. Vielmehr wirkte es düster und bedrohlich.

Unvermittelt hörten wir ein Geräusch, welches uns beide zusammenzucken ließ. Was war das? Und vor allem: Woher kam es? Aus dem Haus? Das war unmöglich. Oder etwa doch?

Wir schauten uns an und ich merkte deutlich, dass Tonne jetzt nicht mehr so sicher war. Sein Mut schien gesunken zu sein.

„Wenn Du abrechen willst, ist das okay!“, versicherte ich ihm. „Aber dann habe ich gewonnen!“

Tonne schüttelte den Kopf. „Bist Du verrückt? Und mir die Chance entgehen lassen, Dich als willenlosen Sklaven zu haben? Nichts da. Ich gehe jetzt da rein. Gib mir die Schlüssel.“

Ich überreichte sie ihm und er lief langsam, fast schon zögerlich, auf das Haus zu.

„Falls Dir eine Katze über den Weg läuft, dann streichel sie auf gar keinen Fall!“, versuchte ich zu scherzen und ihn zur Umkehr zu bewegen. Denn wenn er das Gebäude erst einmal betrat, hätte ich verloren.

„Halt die Fresse!“, erwiderte er und lief ohne Unterbrechung weiter.

Stumm zückte ich mein Smartphone und stellte die Videofunktion ein, um somit jeden Schritt von Tonne zu filmen. Man, wird das ein Heidenspaß, wenn er gleich schreiend zurückgerannt kommt.

 

Aber er schrie nicht. Und er kam auch nicht zurückgerannt. Er stand jetzt direkt vor dem Eingang und steckte mit zittrigen Händen den Schlüssel in das alte Türschloss.

Und dann drehte er ihn um.

Mit einem Geräusch, dass einem Gewehrschuss ähnelte, entriegelte sich die Tür und schwang nach innen auf. Nichts passierte. Was hatte ich denn erwartet? Das ein Monster herausgesprungen kam? Oder eine Schar Katzen?

Tonne drehte sich zu mir um und sah mich stumm an. Er hatte einen merkwürdigen Ausdruck auf seinem Gesicht, den ich zuvor noch nie einem Menschen gesehen hatte. Es kam mir vor, dass er zögerte, das Haus zu betreten. War er unschlüssig, was ihn dort erwarten würde oder hatte er tatsächlich Angst? Aber auf der anderen Seite würde er sich auch nicht die Blöße geben, um am Ende als Versager dazu stehen. Hin und hergerissen von seinen Gefühlen setzte er den ersten Schritt in das Haus.

Es war das letzte Mal, dass ich Tonne lebend gesehen habe.

 

Nachdem er das Haus betreten hatte, fiel hinter ihm die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss. Erschrocken zuckte ich zusammen und ein paar Tropfen Urin benetzten meine Unterhose. Tonne rüttelte von innen an der Tür, aber sie ließ sich nicht öffnen.

„Lass den Scheiß!“, hörte ich gedämpft seine verärgerte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Frederick Caputh
Cover: Frederick Caputh
Lektorat: Frecap
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2020
ISBN: 978-3-7487-6758-9

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für A.K., I.H., A.G. und alle, die sich angesprochen fühlen.

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