Im Frühling 1972
Eine heisse Dunstglocke lag drückend über der pulsierenden Stadt. Die hohe Luftfeuchtigkeit erschwerte jeden Atemzug und jede Bewegung. Langsam schlenderte ich, ohne ein wirkliches Ziel zu haben, durch die belebten, schmutzigen Gassen. Am Strassenrand entlang den Hauswänden hatten verschiedene Händler ihre Waren ausgelegt, die sie lautstark an die vorbeieilenden, in Saris gehüllten Frauen und Turban tragenden Männer zum Verkauf anboten. Vor einem Gemüsestand blickte mit stumpfen Augen eine weisse, bis auf die Knochen abgemagerte Kuh auf das leckere, für sie unerreichbare Grünzeug. Kurz darauf wendete sie ihre Aufmerksamkeit einigen in den Strassengraben geworfenen leeren Kartons zu und begann, diese lustlos zu verschlingen.
Eine Lawine von klapprigen Fahrradrikschas ergoss sich pausenlos durch die mit starken Gerüchen gesättigten Strassen. Geschickt steuerten die dunkelhäutigen und hageren Lenker, ununterbrochen klingelnd und nach Kundschaft Ausschau haltend, ihre Vehikel durch die bunte Fussgängermasse. Tag und Nacht bevölkerten sie die Grossstadtgassen, um sich schliesslich für einige wenige Stunden erschöpft auf der kurzen Fahrradbank hinzulegen und auszuruhen.
Ein Dentist sass mit gekreuzten Beinen auf den heissen Pflastersteinen und pries mit lautem Wortschwall seine Dienste an. Vor sich hatte er ein schwarzes, fadenscheiniges Tuch ausgebreitet. Darauf lagen säuberlich ausgelegt einige unterschiedlich grosse, silbern glänzende Zangen mit hölzernen Griffen.
In langen Reihen präsentierten sich Backen- und Schneidezähne, die früher ihre ehemaligen Besitzer peinigten und nun dazu dienten, die Berufserfahrung des stolzen Meisters zu belegen.
Sobald sich ein Opfer fand, dessen heftige Zahnschmerzen alle Bedenken und Ängste vor der archaischen Prozedur übertrafen und das daher bereit war, sich jener zu unterwerfen, strömten die Neugierigen heran und umringten eng den interessanten Schauplatz.
An diesem Tag - es war mein achtzehnter Geburtstag - liess ich für einen Moment das bunte Treiben auf mich einwirken und beschloss anschliessend, zurück zum Stadtpark zu gehen, wo ich meinen deutschen Freund Martin zu treffen hoffte.
Dass ich gerade Geburtstag hatte, erzählte ich niemandem.
Im mit Palmen umsäumten Park lebte eine kleine Schar Jugendlicher, die aus Europa und den USA stammten. Verbunden durch den Traum der Freiheit und dem Preis der Armut lebte diese sich ständig durch An- und Abreisende verändernde Gruppe im grünen, kurzgeschnittenen Gras. Schon von weitem erblickte ich Anna, eine blonde Engländerin, die ich einen Monat zuvor in Srinagar, am Fusse des Himalaja kennen gelernt hatte. Gemeinsam hatten wir einige Tage am Dal-lake verbracht, einem kühlen, klaren See, in welchem sich die hohen Berge spiegelten, die ihn umsäumten. Eine Freundschaft wie viele, unverbindlich und ohne Verpflichtungen. Mit dem obersten Ziel der Freiheit und Unabhängigkeit gingen wir dann wieder unserer eigenen Wege.
Dass wir uns wieder in Delhi treffen würden, war nicht vereinbart. Umso mehr freuten wir uns über dieses Wiedersehen.
Anna war die einzige Frau in unserer Gemeinschaft, und wie wir alle konnte auch sie sich kein Hotelzimmer leisten.
Die Einheimischen nutzten die etwas kühlen Abendstunden, um im Stadtpark der Strassenhektik zu entfliehen. Einige von ihnen wurden zunehmend aufdringlich, offensichtlich hatten sie es auf Anna abgesehen. Die mit weissen Tüchern bekleideten Männer verunmöglichten ein ruhiges Zusammensein. Bald merkten wir, dass es Anna unmöglich sein würde, hier zu übernachten; alle Bemühungen, einige besonders aufdringliche Kerle loszuwerden, schlugen fehl. Ich war verzweifelt und wütend zugleich. Die jungen Männer drängten sie mitzukommen, um bei ihnen zu übernachten. Zu meiner Überraschung willigte Anna, wenn auch widerwillig, bei einem der Männer ein, mit ihm zu gehen und bei ihm zu übernachten. Das Angebot, in einem richtigen Bett schlafen zu können und erst noch etwas zu Essen zu bekommen, veranlasste sie, sich von mir zu verabschieden. Ihr verlegenes Lächeln verriet ihr schlechtes Gewissen und Reue.
Die Armut war der Preis für die Freiheit, nach der wir strebten. Einige der Hippies hatten nur noch ein zerschlissenes Tuch um die Hüften gewickelt; dies war ihr einziger Besitz. Andere waren krank und lagen abgemagert unter einem Baum im Schatten und warteten darauf zu sterben. So wie tausende von Einheimischen lebten wir auf der Strasse und erhaschten ab und zu ein paar Rupien, die wir sogleich in etwas Essbares umtauschten. Wir gehörten zur kastenlosen Gesellschaftsschicht, zu diesen Menschen, die auf der Strasse gezeugt und geboren wurden, dann ein Leben in Armut verbrachten, um schliesslich irgendwann auf dem Gehsteig zu sterben.
Anna habe ich nie wieder getroffen.
Martin fand ich am nächsten Morgen im Bahnhofgebäude in einer dunklen, schmutzigen Ecke kauernd, in die wir uns schon oft gemeinsam zurückgezogen hatten. Offensichtlich hatte sich Martin kurz zuvor eine Dosis seines Heroinvorrates gespritzt und war daher nicht ansprechbar. Ich setzte mich neben ihn auf den kühlen Boden und betrachtete ihn von der Seite. Er kam mir heute noch dünner vor als sonst. Seine dünne Gestalt wirkte krank gebrechlich.
Dies war die andere Seite der Suche nach der grossen Freiheit. Sie führte viele Jugendliche in eine erschreckende Abhängigkeit, aus der sie nicht wieder herausfanden. Martin gehörte zu jenen, um die in weiter Ferne eine Mutter weinte, sonst aber so vergessen waren, als wären sie bereits tot. Wir gehörten einer Generation Jugendlicher an, die von zu Hause ausgerissen waren mit dem Ziel, das ferne Indien zu erreichen.
Mit wenig Geld reisten die Hippies per Anhalter durch den Balkan bis nach Istanbul, dann durch die Türkei bis an die iranische Grenze. Beim iranischen Zoll musste es ihnen gelingen, die Beamten davon zu überzeugen, dass man ihr Land ohne Visa lediglich durchreisen will. Die Visa waren zu teuer, und man bekam sie nur in Istanbul; das lag aber eintausend Kilometer weit zurück.
Irgendwie schafften es die meisten Jugendlichen, durch den Iran zu reisen. An der afghanischen Grenze hatten sie dann das Problem, dass nur einreisen durfte, wer eine gewisse Geldsumme vorweisen konnte. Auf dieser Strecke gab es damals viele Banditen, die Reisende überfielen und ausraubten. Eine solche oder ähnliche Geschichte verhalf den Hippies dazu, auch ohne Geld den Zoll zu passieren.
Afghanistan durchreiste man am besten in einer Gruppe, um vor den Strassenräubern möglichst sicher zu sein. Über den Kaiber Pass ging es dann nach Pakistan, welches damals mit Indien Krieg führte und die trampenden Hippies vor neue Probleme stellte. Indien war das Endziel aller Träume oder für viele der Anfang eines Alptraumes.
Ich kauerte nun schon eine Stunde neben Martin, der langsam wieder ansprechbar wurde. Aus der Ferne hörte ich Glockenläuten. Es waren Kirchenglocken wie im fernen Zuhause. Die Richtung, aus denen die Klänge kamen, konnte ich nicht ausmachen.
„Eigenartig“, dachte ich mir, „es gibt in dieser Stadt nur moslemische Moscheen und hinduistische Tempel, wie kann es sein, dass ich Glockengeläute höre?“ „Kannst du die Glocken hören?“, fragte ich meinen Freund.
Martin, der zunehmend nüchtern wurde, antwortete auf meine Frage: „Nein, ich höre sie nicht.“ Dann fing er an, von seiner Heimat zu erzählen und von seiner Mutter, die er bewunderte und ebenso vermisste.
Während der folgenden Wochen wurde das Leben zunehmend schwieriger, weil der Monsun täglich Regen brachte und wir nicht mehr im Freien übernachten konnten. So schlief ich an den verschiedensten Orten, die nur eine Bedingung hatten, sie mussten einigermassen trocken sein. Martin, der meist berauscht vor sich hin döste und so der rauen Wirklichkeit entfloh, besuchte ich immer weniger. Für ihn spielte die Umgebung, in der er lebte, keine Rolle mehr, weil er meist nicht wirklich anwesend war. Mich störte es zunehmend, in den finstersten Winkeln zu leben. Ich fühlte mich bei den einheimischen Bettlern, die mir gut gesinnt waren und mich als ihresgleichen akzeptierten, eher zu Hause.
Eines Tages war mir schwindlig und ich fühlte mich sehr schwach. Wieder einmal schien die Sonne und erwärmte die schwüle, stickige Luft. Trotzdem fror ich und legte mich deshalb in ein Laken gehüllt auf einer Wiese in die wärmende Sonne. Den ganzen Tag über schüttelte es mich, und mir fehlte die Kraft zum Aufstehen.
Kranke Menschen gibt es in Indien viele; sie liegen an den Strassenrändern und vor den Moscheen. Es sind die mit den infektiösen, offenen Wunden, schwarz von den vielen Fliegen, die sich auf dem eiternden, übel riechenden Fleisch tummeln. Dann die Leprösen: sie erkennt man an den schmutzigen Lappen, die um ihre verwesenden Gliedmassen gewickelt sind. Dann die Tausende Verkrüppelter, die jede Stadt bevölkern; sie, die seit ihrer Geburt fehlende oder missgebildete Gliedmassen haben, dafür aber beim Betteln am erfolgreichsten sind. Nicht zu vergessen die vielen Blinden mit ihren leeren Augen und die Verwirrten, die in ihrer eigenen Welt leben.
So fiel es niemandem auf, dass noch ein Kranker mehr in Tücher gehüllt am Boden lag. Meine Augen waren gelb geworden, und essen mochte ich nichts. Mir wurde bewusst, dass ich Hilfe brauchte, denn sonst würde ich nicht überleben.
Also mobilisierte ich meine restlichen Kräfte und begab mich in das nächste Spital in der Hoffnung, dass ich da wieder gesund gepflegt würde. In Indien war damals das Leben eines Mittellosen wenig wert. Betten wurden von denjenigen belegt, die den Spitalaufenthalt bezahlen konnten, und so entschieden oft ein paar Rupien über Leben und Tod. Nach einer kurzen Untersuchung drückte mir der Arzt einige farbige Pillen in die Hand.
Kurz darauf stand ich wieder im Freien, wo ich mich frierend und erschöpft in die tropische Sonne legte.
Hätte ich auch noch irgendwelche Drogen konsumiert, so wäre dies mein Ende gewesen. Ich merkte, dass meine Kräfte schnell dahinschmolzen, und wusste, jetzt muss etwas geschehen.
Am nächsten Tag quälte ich mich durch viele Gassen bis zum schweizerischen Konsulat.
Hier reagierte das Personal unbürokratisch und hilfsbereit. Sie beschafften mir ein Flugticket zurück in die Schweiz.
Einen Monat später - ich war von der üppigen Nahrung wieder gesund - lernte ich in einer berüchtigten Kneipe meine zukünftige Frau Silvia kennen.
In den folgenden Jahren unternahmen wir immer wieder ausgedehnte Reisen und genossen gemeinsam unsere Jugend.
Die erste Reise führte uns nach Indien, das mich trotz allem immer noch faszinierte, Silvia aber überforderte.
Ein anderes Mal bereisten wir mit einem Campingbus ein halbes Jahr lang Europa zwischen Nordkap und Gibraltar.
Immer noch nach der grossen Freiheit strebend erwarben wir zusammen alle Segelscheine und ein dreizehn Meter langes Segelschiff. Auf diesem lebten wir während den folgenden Jahren jeweils so lange, wie unser Erspartes gerade reichte, und zwischendurch reisten wir wieder in die Schweiz zurück, um da Geld zu verdienen.
Am Anfang der neunziger Jahre erwarben wir ein grösseres Segelschiff mit dem Namen „Troll“. Dieses setzten wir für Chartertörns mit Segeltouristen ein.
Kapitel 2
Schiffsbau 1985
Eine leichte Brise schob weisse Nebelschwaden sanft vor sich her und liess auf dem Wasser kleine Wellen, geschmückt mit weissen Schaumkronen entstehen.
Das Schiff, auf dessen Deck Wüppert stand, war ein Küstenfrachter mit Zielhafen Hamburg.
Er lehnte an der Reling und blickte in die kalte, bleierne Nordsee hinaus. Der Schiffsmotor verursachte ein monotones Geräusch und liess die Planken unter Wüpperts Füssen leicht vibrieren. Der Wind wehte seine blonden Haare nach hinten und entblösste ein von Sonne und Wetter gegerbtes Gesicht. Seine Statur war schlank und kräftig, und sein Blick drückte eine zielstrebige Entschlossenheit aus. Er war 45 Jahre alt und konnte auf eine langjährige seemännische Erfahrung zurückblicken.
Schritt für Schritt hatte er sich im Lauf der Zeit vom einfachen Schiffsjungen bis zum ersten Offizier emporgearbeitet. Schliesslich verschlug es ihn für einige Jahre nach Kanada auf einen Haifischfänger. Später fuhr er dann wieder auf deutschen Schiffen Frachtgut.
Wüppert war einer jenen Schlages, der nicht mehr häufig vorkommt, der bezüglich Seefahrt und Schiffe alles kennt, alles weiss und alles macht.
Seine Gedanken schweiften in die Zukunft, von der er klare Vorstellungen hatte.
Er träumte von einem Segelschiff, das ihm gehören sollte und das er als Charterschiff für Urlaubsgäste einsetzen wollte. Wüppert nahm sich vor, dieses Schiff mit seinen eigenen Händen zu bauen.
Seine ganze umfangreiche Erfahrung sollte in dieses Schiff mit eingebaut werden. In Gedanken plante er bereits Details.
Kompromisse wollte er dabei keine eingehen, nur die besten Lösungen wären gut genug für sein zukünftiges Schiff.
Vor seinem inneren Auge erschien sein Segelschoner mit zwei 30 Meter hohen Masten und einem Gewicht von 150 Tonnen. Den Stahlrumpf wollte er auf einer Werft an der Weser bauen lassen. In seiner Heimat auf Borkum, wo die Akkermanns so zahlreich sind, dass man meinen könnte, sie allein bewohnten die Nordseeinsel, wollte er den Innenausbau durchführen.
Er stellte sich einen Rumpf vor, der mit seinen sanft geschwungenen und eleganten Linien exzellente Segeleigenschaften versprach. Dieser Schoner müsste so stark gebaut sein, dass er jedem Wetter und jedem Sturm trotzen würde, so dass Wüppert ihn auf allen Weltmeeren einsetzen könnte.
Weltweite Fahrten vollzog er in seinen Gedanken. Mit seinem Schiff in der Karibik oder der Südsee, dies war das höchste Ziel seiner Träume. Türkisfarbene Lagunen, umsäumt von Kokospalmen und weissen Sandstränden, und mittendrin sein Segelschiff, elegant und majestätisch.
Frei und unabhängig, das wollte er sein; dafür war er bereit, alles herzugeben, sogar die beiden Häuser, die sich zurzeit noch in seinem Besitz befanden. Sie standen in seiner Heimat, auf der Nordseeinsel Borkum. Wüppert Akkermann wollte wirklich alles aufgeben und verkaufen, derart versessen war er auf seinen Traum, dem er in jeder freien Minute verfallen war.
Einen Namen hatte sein Traumschiff auch schon. Satansbraut sollte sein Schoner heissen.
Wüppert hielt sich selber für einen Teufelskerl; vielleicht hat er deshalb diesen Namen ausgewählt.
Doch im Moment befand er sich noch in der Nordsee auf einem alten Küstenmotorschiff, das mit seinem dicken Bauch voller Frachtgut die braune Nordsee durchpflügte. Diese Arbeit brachte ihm gutes Geld, mit dem er den Bau seines neuen Schiffes zusätzlich finanzieren wollte.
Drei Jahre später im Sommer 1982:
Die Satansbraut war nun Wüpperts Leben. Für sie hatte er all seinen Besitz verkauft.
Der Stahlrumpf war inzwischen fertig gebaut. Er entsprach voll und ganz den Vorstellungen seines Besitzers. Besonders markant war der tiefgehende, lange Kiel, der mit sechzig Tonnen Eisenballast gefüllt war. Dieser Ballast bewirkt, dass das Schiff mit seinem schnittigen Rumpf aufrecht im Wasser steht. Ohne ihn würde sich die Satansbraut schon im Hafen auf die Seite legen, mit Wasser volllaufen und untergehen. Das Gewicht des Eisenballastes ist so berechnet, dass sich das Schiff immer wieder aufrichtet, auch dann, wenn es durch eine starke Böe oder einer besonders mächtigen See auf die Seite gedrückt wird. Wie ein Stehaufmännchen sollte sich sein Schiff aus jeder Schräglage wieder aufrichten.
Zwölf Bullaugen wurden in die Bordwand eingelassen. Sie waren aus zwei Zentimeter dickem Panzerglas gefertigt. Zusätzlich konnten sie mit runden Eisenplatten verschlossen werden. Diese Einrichtung würde auch dem schwersten Brecher standhalten.
Auf dem Achterdeck stand ein geschlossenes Kartenhaus, dessen Fenster ebenfalls aus Panzerglas gefertigt waren.
Darin wurden alle Navigationsgeräte wie Radar, Echolot, Satellitennavigator, Funkgeräte, verschiedene Über- wachungsgeräte und Wetterempfänger installiert. An dessen Rückwand errichtete er einen grossen, hölzernen Kartentisch. Dieser hatte fünf grosse Schubladen, in welchen die Seekarten untergebracht wurden. Wüppert nahm dann zusammen mit seinem Bruder Gerhard den Innenausbau in Angriff. Die beiden statteten zuerst die Achterkabine aus. So konnte Wüppert an Bord leben und ersparte sich dadurch die Wohnungsmiete. Vier Jahre lang beschäftigte die Satansbraut ihren Eigner, von früh morgens bis spät in die Nacht.
Tag für Tag schuftete Wüppert fluchend, schimpfend und mit einer fast unerschöpflichen Energie an seinem Schiff.
Kabine um Kabine baute er in den unersättlichen und erbarmungslosen Schiffskörper. Dieser verschlang Unmengen verschiedenster Materialien. Riesige Mengen mussten herangeschafft werden: Holzplatten, Leisten, Fenster, Türen, Waschbecken, Lampen, Leitungen mit ihren kilometerlangen Kabeln und vieles mehr.
Wenn Wüpperts Bruder Gerhard Zeit hatte, kam ihm dieser immer wieder zu Hilfe.
Selbst die kältesten Wintertage konnten Wüppert nicht bremsen. Nicht einmal dann, wenn ihn sein schmerzender Rücken plagte, und auch nicht, wenn er sich Verletzungen zuzog.
Sein Arbeitswahn hielt auch den heissesten Sommertagen stand, wenn sich der stählerne Rumpf während der steigenden Sonne immer mehr erwärmte und die Hitze im Schiffsbauch unerträglich wurde.
Über zehntausend harte Arbeitstunden investierte er in dieses Schiff.
Die Satansbraut machte ihren Erbauer zum Sklaven und drohte, den Junggesellen zu verschlingen.
Das Schiff erhielt schliesslich neun Schlafkabinen, einen Salon, eine Kombüse, drei Toiletten mit Duschen und einen geräumigen Maschinenraum.
Im Maschinenraum befanden sich die Hauptmaschine, zwei Generatoren für die Stromherstellung, verschiedene Lenzpumpen für die Bilgen und den Fäkalientank, eine Heizung und eine Werkbank für anfallende Reparaturarbeiten.
An Deck glänzten vier neue Winschen, mit deren Hilfe die über fünfhundert Quadratmeter grossen Segel bedient werden konnten. Sieben grosse Segel konnten die beiden Masten tragen. Nach einer alten Nordseetradition wurden sie braun eingefärbt.
Auf dem Vordeck stand das Ankerspill mit zwei schweren Ankern und zwei über einhundert Meter langen Ketten.
Den äusseren Steuerstand baute Wüppert ganz hinten aufs Achterdeck. Das Steuerrad und die Kompasssäule waren aus Teakholz gefertigt.
Ein zweiter Steuerstand mit Motorenbedienung und Überwachung befand sich im Kartenhaus.
Im geräumigen Salon schraubte Wüppert, für alle gut sichtbar, ein Messingschild an die Wand. Auf diesem Schild war folgender Spruch eingraviert: Die Satansbraut ist für den Kapitän der Himmel und für die Mannschaft die Hölle.
Als das Ende der Bauarbeiten endlich nahte, war Wüppert gesundheitlich stark angeschlagen.
Die Schufterei hatte ihren Tribut gefordert!
Alle Ersparnisse waren aufgebraucht, sogar der Verkaufserlös der beiden Häuser. Ausserdem belastete eine hohe Hypothek seine finanzielle Situation.
Nach den ersten Probefahrten erhielt die Satansbraut im Mai 1988 vom Germanischen Lloyd die Klasse 100 A 4.
Alles war stark und solide gebaut, auch bei der Ausrüstung wurde nicht gespart. Wüppert Akkermann hatte sein Traumschiff, aber kein Betriebskapital, um das damit geplante Geschäft ebenso solide aufzubauen.
Kapitel 3
Die erste Reise
Die drei bis fünf Mann Besatzung, die er anführte, waren Freunde und Verwandte, die von kristallklarem Wasser und einem immerblauen Karibikhimmel träumten. Sie verlangten keine Heuer und kosteten ihn nur ein gelegentliches Taschengeld sowie eine Krankenversicherung.
Er ernannte sie zu Matrosen und Offizieren, dachte aber nicht daran, sie ihren Stellungen entsprechend auszubilden. Dadurch war er stets der uneingeschränkte und unangefochtene Herrscher und Befehlshaber.
Auf Drängen der zuständigen Wasserschutzpolizei auf Borkum erwarb er wenigstens ein Bootszeugnis, das zu nichts verpflichtet, und einen Gewerbeschein.
Vor dem Seeamt nickte die neue Crew zustimmend, als der Vorsitzende ihre Beschäftigung mit "Hand gegen Koje" bezeichnete. Dies bedeutet, ohne Heuer zu arbeiten und dafür nur einen Platz in einem Bett zu bekommen, das sich auf dem Schiff befindet.
Zu mehr reichte es nicht, und damit begann der unheilvolle Teil dieser Geschichte.
Wüppert hatte sein letztes Geld in die Werbung gesteckt und fand dadurch einige zahlende Gäste. Sie hatten bei ihm eine Reise entlang der norwegischen Küste gebucht, und dies war dann zugleich die Jungfernfahrt der Satansbraut.
Als die sieben schweren Segel zum ersten Mal gesetzt wurden und der steife Westwind sie aufblähte, entfaltete der Schoner seine ganze Kraft und Wendigkeit.
Seine Bewegungen waren sanft.
Der scharfe Bug teilte die Seen in zwei Hälften und schmiss die Wassermassen weiss schäumend zur Seite. Der frisch singende Wind verursachte eine tonnenschwere Belastung, die den Schoner um etwa zwanzig Grad auf die Seite legte und ihn mit einer verblüffenden Leichtigkeit beschleunigte und vorwärtstrieb.
Das stehende Gut und die Masten begannen leicht im Wind zu schwingen und übertrugen ein leichtes Vibrieren auf den Rumpf.
Die Leinen, mit denen die Segel befestigt waren, spannten sich so stark, sodass sie sich wie Stahl anfühlten.
Die Satansbraut wurde als Gaffelschoner gebaut, ein Schiffstyp, den man schon in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kannte.
Damals wurden solche Schiffe in Nordamerika als Fischerei- Fahrzeuge eingesetzt.
Zu dieser Zeit gab es zwei verschiedene, äusserst lukrative Unternehmensgebiete:
Das eine war die Erschliessung des Landes durch den Bau des Eisenbahnnetzes und dessen Betrieb.
Das zweite grosse Geschäft machte die Fischerei auf den Grand Banks aus. Diese befinden sich weit draussen im rauen Atlantik vor der Küste Neufundlands.
Hier in der Weite der nördlichen See trifft der warme Golfstrom auf die kalten Polarmeerströmungen. In diesen Temperaturgrenzschichten ist der Fischreichtum auch heute noch sehr gross.
Der Schwertfischfang war zu jener Zeit sehr rentabel. Bereits zwei bis drei Reisen in diese Fischgründe deckten die Ausgaben für den Bau eines Grand Bank Gaffelschoners.
Der Name Schoner entstand, als ein Fischer die leicht gebauten Fahrzeuge mit ihren riesigen Segelflächen als über dem Wasser schwebende Schiffe (Schoner) bezeichnete.
Diese hölzernen Schoner mussten mit ihren stählernen Besatzungen den harten Bedingungen des nordatlantischen Ozeans trotzen.
Die Reisen in die Fischgründe erfolgten mit dem Wind; so brauchte man nur wenig Ballast im Kielraum mitzuführen. Dadurch wurden diese Fahrten noch schneller, aber auch gefährlicher.
Auf der Rückreise, die gegen den Wind erfolgte, diente die Fischladung als Ballast und verhinderte so das Kentern der Schiffe. Die Zeit spielte dabei eine sehr grosse Rolle.
Diese Schoner mussten schnell sein, weil die gefangenen Fische, die noch nicht gekühlt werden konnten, bei zu langen Reisen verdorben wären. So hatte die Schnelligkeit oberste Priorität und nicht etwa die Sicherheit oder irgendeine Form von Komfort. Die Arbeitsbedingungen waren sehr hart und bedeuteten reinste Knochenarbeit. Dies machte den Schoner zu einem Gefährt, das immer wieder viele Menschenleben forderte.
In der Blütezeit des Schwertfischfangs sanken in wenigen Jahren über hundert Schoner und rissen dabei ihre Besatzungen mit in die kalten Tiefen.
Ganze Landstriche wurden gerodet, um die gesunkenen Schiffe so schnell wie möglich zu ersetzen.
Weil die Bezahlung gut war, fanden die Reeder erneut Besatzungen, die bereit waren, ein derart grosses Risiko einzugehen.
Die Satansbraut mit ihrem sechzig Tonnen Ballast und einer Antriebsmaschine ist da bedeutend sicherer.
Aber Wüppert benutzte seine Maschine nur selten, denn Dieseltreibstoff war teuer.
Er segelte sein Schiff so hart, als ginge es jedes Mal darum, ein Rennen zu gewinnen.
Erbarmungslos weigerte er sich, bei starkem Wind die Segelflächen zu verkleinern. Ohne Rücksicht auf seine
Besatzung, die oft seekrank in ihren Kojen lag, segelte er sein Schiff bis an die Grenzen der Belastbarkeit von Mannschaft und Material. Die sich an Bord befindenden Chartergäste waren heilfroh, als die Reise zu Ende war und sie wieder festen Boden unter ihren Füssen hatten.
Bevor der nächste Winter einbrach, verliess die Satansbraut die Nordsee.
Die zweite Reise führte sie in die Karibik, um da neue Chartergäste zu übernehmen.
In den verschiedenen Häfen, die sie anliefen, heuerte Wüppert abermals Leute an, die bereit waren, für ein Taschengeld die anfallenden Arbeiten zu erledigen.
Kaum einer hatte eine Ausbildung im nautischen Bereich.
Wüppert ernannte sie trotzdem zu Matrosen und Offizieren.
So wuchs er zum unangefochtenen Kapitän empor, der weder Kritik noch Widersprüche duldete.
Auch diese zweite Reise verlief bei weitem nicht kostendeckend. So stand Wüppert am Ende der Chartersaison kurz vor dem finanziellen Ruin.
Als die Hurrikansaison über den Westindischen Inseln ihren Anfang nahm, verliess die Satansbraut die Karibik Richtung Europa mit Zwischenstopp auf den Bermudas.
Dort bunkerte Wüppert noch einmal Diesel, Wasser sowie die nötigen Mengen Lebensmittel. Vor ihm lag nun die grosse Überfahrt mit dem Zielhafen Horta auf den Azoren. Die Reise würde etwa zwei Wochen dauern, rechnete sich Wüppert aus.
Die Besatzung setzte sich aus seinem Bruder Gerhard, dem amerikanischen Weltenbummler Turner und seiner Schwester Hilde zusammen. Hilde hatte sich im letzten Moment bereit erklärt, als Köchin und Deckhilfe mitzufahren. Wüppert lernte Turner auf den Bermudas kennen, heuerte in an und gab ihm den Posten des Matrosen. Dieser hatte jedoch von der Seefahrt keine Ahnung und benutzte die Gelegenheit nur, um preiswert nach Europa zu gelangen.
Bezahlende Gäste befanden sich keine an Bord; auf sie wäre Wüppert, besonders jetzt, angewiesen gewesen.
Am 20. April startete das Schiff für die Heimreise über den rauen Nordatlantik.
In den drei Tagen, seit sie von den Bermudas losgesegelt waren, trafen sie auf frischen Segelwind, der die Satansbraut schnell durch das klare Wasser schob.
In der dritten Nacht - der Sternenhimmel breitete sich mit Tausenden heller kleiner Punkte über das weite Himmelsfirmament aus - löste Wüppert um drei Uhr morgens seinen Bruder von der Wache ab. Dieser war froh, nach endlosen Stunden schliesslich erlöst zu werden. Immer wieder war er eingenickt, um im nächsten Moment wieder aufzuschrecken und dann erneut gegen den Schlaf zu kämpfen. Die Hundswache dauert von Mitternacht bis drei Uhr morgens, sie ist die schwierigste und verdient ihren Namen zu Recht.
Doch jetzt war Wüppert an der Reihe:
Er bereitete sich auf die Wache zwischen drei und sechs Uhr vor. In der frühen Morgendämmerung würde er die Wache an Hilde übergeben. Der Autopilot bewegte surrend die Ruderanlage und erledigte seine Arbeit zuverlässig.
Kurz vor vier Uhr trug Wüppert den Standort, in Längen- und Breitengraden in das Logbuch ein.
Diese Daten las er vom Satelliten-Navigationsgerät ab.
Seit kurzem sind diese Geräte auf dem Markt zu erwerben und erleichtern die Navigation um ein Vielfaches.
Es verlief alles normal, weshalb ein besonderer Vermerk nicht notwendig war. Zu den regelmässigen Logbucheintragungen gehören unter anderem das Einschreiben der Lufttemperatur.
Ein Thermometer befand sich über dem Tisch im Kartenhaus. Ein zweites war im Freien hinter der Eingangstür festgeschraubt.
Zuerst wollte Wüppert die Temperatur im Kartenhaus ablesen und eintragen. Diese hatte jedoch für gewöhnlich eine kleine Abweichung gegenüber der des Aussenthermometers.
Wüppert dachte sich, dass er ja genügend Zeit habe, und wollte es deshalb genau wissen. So schritt er aus dem Kartenhaus und versuchte die Temperatur hier draussen abzulesen.
Der Wind wehte im Moment mit etwa dreissig Knoten. Die See war rau und pechschwarz. Wie üblich hatte er viel Segeltuch gesetzt, das sich im Wind blähte.
Eine kurze, aber steile See hob das Schiff hoch und legte es etwa zwanzig Grad zur Seite.
Dies geschah in jener Nacht häufig, und wenn man nicht ausrutschen wollte, musste man sich kräftig festhalten. Wüppert, der die Temperatur ablesen wollte, hielt sich an der offenen Kartenhaustüre fest.
Die Türe war aber nicht eingehängt, sodass sie nachgab und er den Halt verlor. Er stolperte quer übers Deck und schlug gegen die untere Reling. Diese vermochte seinen Sturz nicht aufzuhalten; es gelang ihm auch nicht, sich an ihr festzuhalten.
Wüppert fiel über Bord und klatschte in die schwarze See, die sich sogleich über ihm schloss. Sofort tauchte er wieder auf und schrie aus Leibeskräften nach seinem Bruder.
Gerhard lag in seiner Koje; er hatte einen leichten Schlaf. Durch das plötzliche Überrollen des Schiffes erwachte er. Dann hörte er plötzlich seinen Namen rufen. Beunruhigt sprang er aus der Koje und stürzte in den Gang hinaus. Hier traf er auf Turner, der ebenfalls einen Hilferuf gehört hatte.
Zusammen stürmten sie an Deck und zündeten die Deckbeleuchtung an. Im hellen Scheinwerferlicht erkannten sie,
dass Wüppert, dessen Rufen sie gehört hatten, nicht mehr an Bord war.
Turner reagierte als Erster und schleuderte einen Rettungsring in die Dunkelheit hinaus.
Gerhard sprang ins Kartenhaus, riss den Funkhörer aus der Halterung, stellte den Notrufkanal ein und rief laut: "Mayday, Mayday, Mayday, kann uns jemand hören?"
Die Satansbraut wurde immer noch von dem Autopiloten auf Kurs gehalten.
Inzwischen merkte Gerhard, dass Turner den falschen Rettungsring, den ohne Nachtbeleuchtung, geworfen hatte. Er war sich bewusst, dass Wüppert in der Finsternis nicht den Hauch einer Chance hatte, diesen zu finden. Also rannte er über das Deck, löste den beleuchteten Ring aus seiner Halterung und warf ihn ebenfalls über Bord.
Inzwischen waren etwa drei Minuten vergangen, seit Wüppert über Bord gefallen war.
Hilde, durch die plötzliche Unruhe aufgeschreckt, kam mit fragendem Gesicht den Niedergang hoch. Verschlafen stolperte sie ins Kartenhaus und verstand erst nicht, was geschehen war.
Am Funk meldete sich eine Englisch sprechende, tiefe Stimme.
"Hier ist Tanker Amocco, an Mayday Rufenden, bitte antworten!" Turner hielt den Funkhörer nervös und umständlich an sein Ohr und erklärte mit aufgewühlter Stimme, was geschehen war. Dann gab er die Position durch, die er auf dem Navigationsgerät ablesen konnte. Nun erkannte auch Hilde, was geschehen war. Sie stand mit bleichem Gesicht, mit dem Rücken zur Kartenhauswand.
Der Tankerkapitän teilte ihnen mit, dass er in etwa einer Stunde ihre Position erreichen würde. Dann wolle er sich an der Suche nach dem über Bord Gefallenen beteiligen.
Ausserdem versprach er, sogleich den Seenot-Rettungsdienst zu benachrichtigen. Erst jetzt hatte die kleine Besatzung Zeit, das Segelschiff auf einen anderen Kurs zu bringen, um den enormen Druck aus den Segeln zu bekommen. Sogleich fingen die Segel an zu killen und knatterten im Wind wie Maschinengewehre. Die Satansbraut wurde allmählich langsamer und begann durch den abnehmenden Druck in den Segeln wie wild zu rollen.
Mit ganzer Kraft versuchten die drei verzweifelt, die Segel zu bergen. Sie rissen an Fallen, lösten die Schotten und fierten die Geitaue auf, doch es gelang ihnen nicht, die grossen Nylontücher zu bergen.
Für diese Schiffsgrösse waren sie eine zu kleine Crew und erst noch unerfahren. Den Kräften der um sich schlagenden, schweren Segel und Spieren waren sie nicht gewachsen.
Schliesslich holte Gerhard aus der Kombüse ein scharfes Messer und schnitt damit alle Fallen durch, an denen die Segel befestigt waren. Sogleich bedeckte ein wildes Durcheinander aus Segeln und Leinen die beiden Decks. Hilde startete die Maschine und steuerte das Schiff auf Gegenkurs.
Inzwischen war eine volle Stunde verstrichen. Die wild gewordene Satansbraut legte in dieser Zeit mehrere Seemeilen zwischen sich und ihrem im Wasser treibenden Kapitän zurück.
Erschrocken erkannte Wüppert die Ernsthaftigkeit seiner Notlage. Der starke Wind und die hohen Seen würden die Suche nach ihm sehr erschweren.
Bestimmt spürte Wüppert: dies war etwas Endgültiges! Das sich entfernende Schiff verabschiedete sich, nicht wie ein Freund, den man lieb gewonnen hat, nein, die Satansbraut hatte etwas unheimlich Gleichgültiges. Sie entfernte sich ohne zu zögern und ohne Erbarmen gegenüber ihrem Schöpfer und Kapitän. Das weisse Hecklicht verschwand schon bald hinter der ersten See, leuchtete dann noch einige Male auf und verschwand darauf hinter den Wellen in der Finsternis.
Wüppert musste in diesem Moment gewusst haben, dass es keinen Sinn hatte, seinem Schiff nachzuschwimmen. Dafür war es viel zu schnell. Das Wasser fühlte sich frisch an, er begann zu frieren.
Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit.
Die Seen trugen ihn immer wieder in die Höhe, um ihn im nächsten Moment in das nächste Tal gleiten zu lassen. Die Schaumkronen durchmischten und aktivierten die im Wasser treibenden phosphoreszierenden Organismen. Dadurch leuchteten sie hell türkis. Am Horizont war ein zartes Rot als Vorbote der Sonne zu erkennen. Vielleicht bemerkte er noch einmal die Schönheit der ihn umgebenden See.
Wüppert hatte sich bisher keine Zeit genommen, sich der Schönheit der Natur hinzugeben.
Er wollte immer frei sein und war es doch nie. Nie hatte er eigene Kinder, und er war auch nie verheiratet.
Seine Braut war sein Schiff, eine unglückliche Liebe. Um etwas zu ändern, war es jetzt zu spät.
Inzwischen war es hell geworden. Ein riesiger Tanker schwamm an der Unfallstelle. Er hatte zwei Beiboote ausgebracht, die nach dem über Bord Gefallenen Ausschau hielten. Der Tankerkapitän hatte die Küstenwache alarmiert, und diese schickte ein Flugzeug, welches mit seinen präzisen Instrumenten die Wasseroberfläche abtastete.
Die Satansbraut war ebenfalls wieder an der Unglückstelle eingetroffen. Sie hatte eine verängstigte Crew an Bord, die verzweifelt und mit angestrengten Augen die See absuchte. Die beiden Rettungskörper, die sie über Bord geworfen hatten,
damit Wüppert sich festhalten könnte, waren gefunden - ohne Kapitän.
Nach drei Stunden zog das Suchflugzeug Richtung Bermudas ab.
Der Tankerkapitän meldete sich um vier Uhr nachmittags über Funk bei der Crew der Satansbraut.
Er hielt eine Weitersuche für zwecklos, weil ein Mann bei den derzeitigen Wassertemperaturen keine zwölf Stunden überleben könne. Er orderte seine Boote zurück und verabschiedete sich bei der Crew.
Gerhard war verzweifelt, er konnte sich nicht erklären, warum sein Bruder nicht gefunden wurde. "Ein Leichnam schwimmt doch an der Wasseroberfläche", dachte er sich, "und warum hat er sich nicht an einem der Rettungskörper festgehalten?"
Hilde kauerte im Kartenhaus auf dem Boden und weinte.
Die Satansbraut hatte ihren Herrn und Meister über Bord geworfen.
Jetzt wurde ihnen plötzlich bewusst, wie alleine sie waren inmitten des weiten Atlantiks.
Sie kamen sich alle sehr verlassen und einsam vor.
Notdürftig räumte die Crew das Deck auf, startete die Maschine und hielt Kurs Richtung Bermudas.
Segel konnten sie keine setzen, weil die Fallen durchgeschnitten und ausgerauscht waren.
So pflügten sie unter Maschinenkraft drei Tage zurück Richtung Westen, wo sie von der Wasserschutzpolizei empfangen wurden. Hier hielt man die Besatzung drei Wochen lang fest, bis sich die Polizei sicher war, dass kein Verbrechen vorgefallen war.
Danach reisten alle nach Hause.
Eine Versicherungsgesellschaft sorgte dann für die Überführung des Schiffes in den Heimathafen an der Weser.
Die Satansbraut war zu diesem Zeitpunkt noch immer mit der vollen Hypothek belastet, und die Versicherung war nur eine, von mehreren Gläubigern.
Um zu verhindern, dass irgendwer die Satansbraut in einen anderen Hafen bringen könnte, legten die zuständigen Behörden das Schiff vorerst an die Kette.
Das Seeamt in Emden beschäftigte sich nun mit dem Tod des Kapitäns.
Es stellte fest, dass die dreiköpfige Crew eine Stunde gebraucht hatte, um die Segel zu bergen und mit Maschinenhilfe zu wenden.
Eine Viertelstunde hätte genügen müssen, meinte das Seeamt.
Es wich auch nicht von dieser Beurteilung ab, als Wüpperts Bruder Gerhard erklärte, dass die Satansbraut nicht so leicht zu handhaben sei, wie das bei einer kleinen Yacht der Fall ist.
Wer das Kommando führte, war auch nicht einfach auszuloten. Gerhard Akkermann widersprach nicht, als der Vorsitzende meinte, dann sei er wohl der Oberbefehlshaber gewesen. Ob der Mayday-Ruf wirklich schon nach einer Minute abgegeben wurde, war auch nicht eindeutig zu klären. Als man funkte, hatte man nach kurzer Zeit über UKW Kontakt mit dem Tanker gehabt. Fehlerhaft, so der Spruch des Seeamtes, habe sich allein der "Matrose" Turner verhalten, weil er seinem Kapitän zuerst einen einfachen Rettungsring und erst später einen Ring mit Beleuchtung zugeworfen habe. Doch der Amerikaner kam schon gar nicht erst zur Seeamtsverhandlung. Ihn kümmerte es wenig, was ihm in Deutschland von Amts wegen nachgesagt wurde.
Die Rettungsmassnahmen blieben erfolglos, stellte das Seeamt fest, weil der Kapitän nicht für eine ausreichende Besatzung und die Durchführung von Sicherheits- massnahmen gesorgt habe. Solange ihr Herr und Meister an Bord war, ist mit der
"Satansbraut" nie ein "Mann-über-Bord-Manöver" gefahren worden.
"Ihr seid doch alle einmal zur See gefahren, ihr wisst, wie das geht", hatte Wüppert lange vor dem Unfall auf eine entsprechende Frage geantwortet. Als es darauf ankam, wusste es seine Mannschaft jedoch nicht.
Vielleicht war sich Wüppert darüber im Klaren. Er konnte sich vieles erlauben, die Seeberufsgenossenschaft ausmanövrieren: eine Mannschaft anheuern, die so gut wie nichts kostete, und Passagiere mit einem Gewerbeschein über den Atlantik schippern.
Gewusst hat Wüppert ganz sicher, dass er eines nicht durfte: über Bord fallen.
Gerhard war der Einzige, der sich später hin und wieder an Bord aufhielt. Von Amts wegen hatte er den Auftrag, nach dem Rechten zu sehen. Auf dem Schiff übernachten, das durfte er nicht. So lag die Satansbraut den Sommer hindurch verlassen an der Mole. An Land stritten sich die Erben mit den Gläubigern um das Schicksal des Schiffes.
Zum Jahresende wurde es bitterkalt an der Weser. Um den Maschinenraum vor Frostschäden zu bewahren, nahm Gerhard die Heizung in Betrieb.
In einer sehr kalten Nacht im Dezember arbeitete die Dieselheizung besonders stark.
Das Abgasrohr wurde sehr warm und entzündete dabei die sich in der Nähe befindenden brennbaren Materialien.
Dadurch entstand ein Schwelbrand, der eine hohe Hitze entfachte. Alle Luken waren geschlossen, so konnte sich kein offenes Feuer entwickeln.
Der Brand entstand im Salon und breitete sich in die hinteren Kabinen und ins Kartenhaus aus.
In diesem Bereich, etwa der Hälfte des Schiffes, wurde alles zerstört.
Erst nach mehreren Stunden bemerkte ein Passant das Unglück, welcher die Feuerwehr alarmierte. Durch den mutigen Einsatz gelang es den Männern den Brandherd zu löschen.
Am nächsten Tag erschien ein Vertreter der zuständigen Versicherungsgesellschaft.
Nach einer gründlichen Untersuchung des entstandenen Schadens stellte er fest, die Hitze im Rumpf sei so gross gewesen, dass ein Messingschild, welches an der Wand hing, schmolz und heruntertropfte. "Bei diesen Temperaturen," sagte er, "muss sich der Rumpf verzogen haben."
Wenn das zutrifft, würde dies den Totalschaden des Schiffes bedeuten.
Kurz darauf erschien in einer bekannten Fachzeitschrift ein Artikel mit folgender Schlagzeile: "Satansbraut, Skipper über Bord". Dazu erschien ein ausführlicher Bericht über die tragisch endende Gemeinschaft zwischen Wüppert und seinem Schiff.
So wurde diese schicksalshafte Geschichte im ganzen deutschsprachigen Raum bekannt.
An der Weser war es inzwischen wieder Frühling geworden, und die Satansbraut lag immer noch verlassen an ihrem Platz.
Im Auftrag der Erbengemeinschaft und der verschiedenen Gläubiger wurde ein Experte damit beauftragt, die durch den Brand entstandenen Schäden zu untersuchen. Sie wollten nicht an einen Totalschaden glauben.
Ein Verschrotten des Schiffes hätte für alle Beteiligten den Verlust einer Menge Geld bedeutet.
Der Experte erstellte ein Gutachten, welches folgenden Zustand beschrieb:
"Die Stahlhülle hat sich nicht verzogen, weil alle Luken geschlossen waren und sich kein offener Brand entwickeln konnte.
Eine Reparatur des Schiffes ist grundsätzlich möglich, wenn auch sehr teuer.
Rund die Hälfte des Innenraums ist zerstört und muss komplett ersetzt werden.
Das ganze Stromnetz, das Sanitärnetz und alle Antennenkabel die durch den Salon und die Kombüse verlegt sind, müssen ausgewechselt werden."
Die zuständige Versicherung entschied, die Satansbraut nach Greifswald zu überführen. Sie hatte eine Werft ausfindig gemacht, die bereit war, die Reparatur preiswert zu übernehmen.
Danach sollte das Schiff im Interesse der Gläubiger und der Erbengemeinschaft veräussert werden. Man einigte sich darauf, die Satansbraut in einer Fachzeitschrift zum Verkauf auszuschreiben.
Die Überführung nach Greifswald führte zu erneuten Schäden durch eine Grundberührung im Nord-Ostsee-Kanal.
Angeschlagen wie ein Wrack lag nun die Satansbraut im Museumshafen, passend zu den grauen alten DDR-Häusern, die den Hafen umsäumten. Die Werft machte sich daran, das ganze Achterschiff auszuräumen.
Der Innenausbau sollte vier Jahre dauern.
Kaufinteressierte fanden sich in dieser Zeit viele. Die Situation war jedoch zu verworren, sodass es nie zu einem Vertragsabschluss kam. Potentielle Käufer zogen sich wieder zurück, sobald sie die komplizierte Situation erkannten.
Inzwischen wurde ein Nachlassverwalter eingeschaltet mit dem Mandat, das Erbe Akkermann zu regeln und das Schiff zu verkaufen.
Aussen wurden keine Unterhaltsarbeiten mehr gemacht, weil die Werft nur den Auftrag für den Innenausbau hatte.
Das feuchte Klima hinterliess Spuren der Verwitterung am ganzen Schiff. Das Holz wurde schon bald grau und rissig.
Die Farbschichten auf dem Stahl blätterten ab, und die Decks waren mit Schmutz und Abfall bedeckt.
An vielen Stellen begann der Stahl zu rosten. Aus dem stolzen Schoner war nun ein hässlicher grauer Stahlklotz geworden. Dies trug zusätzlich dazu bei, dass Kaufinteressierte schon bald wieder verunsichert ausstiegen.
Kapitel 4
Chartern mit der Troll
Der im Winter 1991 ausgebrochene Golfkrieg verunsicherte die Touristen. Sie mochten in dieser Krisenzeit nicht an Urlaub denken. Die Yacht-Charterverträge für den kommenden Sommer werden normalerweise bis Ende März abgeschlossen. In diesem Jahr war jedoch alles anders.
Kurz vor Saisonbeginn ereignete sich im Golf von Genua ein Tankerunglück.
Aus bisher ungeklärten Ursachen entzündete sich auf diesem Schiff, das auf Reede lag, die Ladung. Schnell breitete sich das Feuer aus. Es brannte mehrere Tage, bis der Tanker schliesslich sank und einen Teil der Riviera mit Schweröl verschmutzte.
Von diesem Moment an liessen sich in dieser Gegend keine Segeltörns mehr verkaufen.
Um das Sommergeschäft zu retten, war nun schnelles Handeln angesagt.
Ich änderte meinen Törnplan und gedachte Törns nach Korsika und Sardinien zu organisieren. Danach informierte ich meine Kunden und versuchte sie zu überzeugen, ihre Urlaubsziele neu festzulegen.
Unser fünfzig Tonnen schwerer Zweimaster mit dem Namen Troll hatte Platz für acht Urlauber. Meine Frau Silvia betreute in der Schweiz die Kunden und erledigte die Administration, während ich in den Sommermonaten die Segeltörns im Mittelmeer fuhr.
In diesem Frühling lief das Geschäft dann doch recht gut an. Alle ein bis zwei Wochen kamen neue Gäste an Bord, um auf unserem Segelschiff dem Alltagsstress zu entfliehen, sich zu entspannen oder etwas zu erleben.
Zu den Gästen gehörten Studenten- und Tauchgruppen, die das ganze Schiff mieteten.
Gäste aus der gehobenen Gesellschaftsschicht gehörten ebenso dazu wie Familien, die Ruhe und Abgeschiedenheit vom Massentourismus suchten. Die Familien waren meine liebsten Reisebegleiter.
Gutgelaunte und fröhliche Urlauber waren ebenso mein Alltag wie Gäste, die sich nach kurzer Zeit stritten und schlechte Laune verbreiteten.
Dann gab es noch die Einzelgänger. Diese mussten Silvia und ich schon im vornherein aufwendig betreuen mittels regem Briefwechsel, Reiseinformationen und stetigem Beraten. Auf der Troll waren sie dann diejenigen, für die ich auch noch den Alleinunterhalter oder Pausenclown spielen musste, irgendwie erwarteten sie dies auch dann, wenn ich keine Lust dazu hatte.
Das Mittelmeer ist ein tiefes Seebecken zwischen dem kühlen Alpenraum und der heissen Sahara.
Diese Besonderheit sorgt immer wieder für meteorologische Überraschungen.
Bei Seereisen in dieser Region muss ein Skipper immer aufmerksam sein. Die Wettersituation kann sehr schnell wechseln. Unaufmerksame Yachtbesitzer befinden sich dann plötzlich in einer gefährlichen Lage.
Dies macht das Mittelmeer zu einem anspruchsvollen Seegebiet, vor dem viele Seeleute grossen Respekt haben.
Nautische Neulinge sollten dieses Gebiet ausserhalb der Sommermonate meiden.
Starkwind-Situationen treten hier zu allen Jahreszeiten auf, besonders häufig jedoch in den Übergangszeiten Frühling und Herbst. Sie können sehr plötzlich und ohne die sonst typischen Wettervorzeichen auftreten.
Der Löwengolf hat eine ähnlich hohe Sturmhäufigkeit wie das Kap Horn an der Südspitze von Feuerland.
Er trägt seinen Namen zu Recht, denn wenn hier der Wind weht - und dies tut er oft - brüllt er kräftig wie ein Löwe.
Es ist der Mistral; die Korsen nennen ihn mit viel Respekt den Maistrale.
Jeder Mittelmeerstaat hatte zu jener Zeit eigene Vorschriften, die das Chartergeschäft für Ausländer oft in eine Grauzone rückte. Vom Schengener Abkommen hatten die Behörden noch nicht viel mitbekommen. Sie arbeiteten zu Beginn der Neunzigerjahre immer noch nach den alten Vorschriften, die ihnen vertraut waren und diese zu ändern sie keine Lust hatten. Diese Tatsache erschwerte dem selbstständig erwerbenden Skipper zusätzlich das Leben.
In einer lauen Sommernacht lagen wir mit der Troll in einer Ankerbucht bei Elba. Dies war meine Lieblingsbucht, hier fühlte ich mich zu Hause.
In dieser vor westlichen, südlichen und östlichen Winden gut geschützten Bucht hatte ich schon oft übernachtet.
Das am Vorabend gefahrene Ankermanöver verlief routinemässig. Ich nahm an, der Anker hätte sich mit seinen Flunken tief im schlammigen Grund eingegraben.
Meine Gäste waren zufrieden, weil es hier einfach schön ist; die grüne Landschaft mit den alten Bäumen oberhalb des Sandstrandes, die antike Hafenstadt im Hintergrund und ein beeindruckender Sonnenuntergang. Dieser färbte den Himmel glutrot und liess den obligatorischen "Sundown"-Cocktail besonders frisch schmecken. Wie üblich wurde es sehr spät, bis ich in meine Koje kam, weil wir einmal mehr die Probleme dieser Welt lösen wollten, dies uns aber auch in dieser lauen Sommernacht nicht ganz gelang. So schliefen wir besonders tief, ebenso meine Gäste.
Plötzlich - es war etwa zwei Uhr - schwankte die Troll zuerst auf die eine und dann auf die andere Seite, danach lag sie wieder ruhig, so als ob nichts geschehen wäre.
Diese Bewegung war so stark, dass ich beinah aus meiner Koje geschleudert wurde.
Verschlafen stieg ich den Niedergang hoch, um nach dem Rechten zu sehen.
Diese mondlose Nacht war besonders dunkel. Land konnte ich nicht erkennen, nur einige Strassenlaternen liessen Landnähe erahnen. Der Wind hatte etwas aufgefrischt, was mich nicht sonderlich beunruhigte, weil ich mir sicher war, dass der gute Ankergrund das Schiff auf Position halten würde. Die starke, plötzliche Schiffsbewegung konnte ich mir nicht erklären. Als erfahrener Seemann hätte ich mir mehr Gedanken über deren Ursache machen müssen. In tiefen Nachtstunden fällt es mir nicht schwer, Bedenken zu verdrängen, und der Verlockung einer noch warmen Koje zu widerstehen, hatte ich keine Lust. So schlurfte ich wieder unter Deck, legte mich hin und schlief nach wenigen Sekunden wieder ein.
Nach kurzer Zeit rollte das Schiff erneut über. Diesmal so stark, dass ein akustisches Warnsignal in der Nähe der Gästekabinen ausgelöst wurde. Aufgeweckt durch das laute Heulen stolperte einer der Gäste über das Deck, um mich in der Vorkabine zu wecken.
Noch verschlafener als zuvor stand ich erneut auf, um zuerst den sonoren Schlafstörer auszuschalten. Hierbei musste ich mich beherrschen, dies am Schalter direkt und nicht mittels Hammer zu tun.
Danach kontrollierte ich widerwillig und mürrisch mit einer Taschenlampe bewaffnet, die Ankerkette.
Diese hing senkrecht nach unten. "Eigenartig", dachte ich mir, "bei diesem Wind müsste die Kette unter grosser Belastung gespannt in die Windrichtung zeigen." Auf einen Schlag war ich hellwach. "Hier stimmt etwas nicht!", fuhr es mir endlich durch meinen Kopf.
Auf der Steuerbordseite erkannte ich jetzt einen schwarzen Felsen, auf den die Troll zudriftete und aufzulaufen drohte. Schnell startete ich die Maschine und manövrierte das Schiff aus der Gefahrenzone. Dann holte ich mit dem Ankerspill die Kette ein. Dabei entdeckte ich, dass der Anker in einer Fischreuse steckte, die verhinderte, dass sich dieser eingraben konnte. Der Anker musste am Vorabend direkt in die Reuse gefallen sein, sodass ihn diese mit ihrem Drahtgitter umspannte.
Wäre ich in dieser Nacht nicht rechtzeitig geweckt worden, so würde das Wrack der Troll bis heute diesen Felsen als dahinrostendes Stahlgerippe verunstalten. Dies hätte das Bedürfnis nach Hafengeschichten, die sich die Yachtis hier so gerne erzählen, für Wochen, wenn nicht für Monate gestillt; zumal man mich und mein Schiff in dieser Gegend recht gut kannte. Gegönnt hätte ich ihnen dies allerdings nicht!
Doch was hatte mich denn eigentlich geweckt? Ach ja, die plötzliche Schiffsbewegung; doch was löste diese aus? Die See war nicht besonders rau. Damals fand ich keine Erklärung dafür. Es schien mir, als hätte jemand mit einer grossen Hand die beiden Masten ergriffen und die Troll geschüttelt, um mich aus meiner Koje zu werfen.
"Glück gehabt!", dachte ich mir, denn ich hatte mein Schiff aus finanziellen Gründen nicht versichern lassen. Ein Totalschaden der Troll hätte für uns den finanziellen Untergang bedeutet.
Zu jenem Zeitpunkt hatte ich angefangen, in einer kleinen schwarzen Bibel zu lesen. Sie war ein Abschiedsgeschenk von meiner Frau Silvia. Sie hatte vor kurzem "etwas" gefunden, wovon ich glaubte, dass es nicht lange anhalten würde und nur eine zeitlich begrenzte kleine "Himmelfahrt" von Silvia sei. Was ich jedoch in dem kleinen schwarzen Buch zu lesen fand, beeindruckte mich dann doch.
Einer meiner Gäste hiess Kurt. Er verbrachte bei mir seine schönsten Wochen, zusammen mit seinem Sohn, der normalerweise bei seiner Mutter in Deutschland lebte. Als Deutscher Staatsbürger und Anwalt in Südafrika konnte er es sich leisten, alles besser zu wissen. Bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr hatte er sich einen runden, dicken Bauch angefuttert. An Bord konnte er durch seine überhebliche Art seine Mitsegler und auch mich oft aufs Äusserste verärgern.
Im Gegensatz zu meinen lieben Gästen durfte ich dies nicht zeigen.
Er selbst fühlte sich nach solchen Auseinandersetzungen, die er ausgelöst hatte, frustriert und enttäuscht.
In einer Lagune vor der Küste Sardiniens erlebte er einen Tiefpunkt.
Es war Abend und bereits dunkel, als Kurt über Bord sprang und zur Strandbar hinüberschwamm. Er plante, so überlegte ich mir, sich zuerst äusserlich abzukühlen, indem er durch die Bucht schwamm, und dann innerlich, indem er einen Drink an der Theke bestellte. Eine Abkühlung würde ihm gut tun, überlegte ich mit leichtem Sarkasmus. Trotzdem wollte ich ihn nicht alleine lassen.
Im Dunkeln eine Ankerbucht schwimmend zu durchqueren, ist nicht ganz ungefährlich. So sprang ich kopfüber ins kühle Nass und schwamm hinter ihm her.
Am Ufer angekommen, schlurften wir, ohne ein Wort zu wechseln, den Sandstrand hinauf. Dann setzten wir uns, nur mit Badehosen bekleidet und tropfnass an die Bar und bestellten bei der hübschen Bardame zwei kühle Bier.
Nur in Badehosen - und dies zu einer Tageszeit, an der sich normale Leute zum Nachtessen fein gemacht haben - hinterliessen wir nicht den Eindruck, als kämen wir aus bestem Hause.
Trotzdem bediente uns die Dame, jedoch mit einem Gesichtsausdruck, der uns andeuten sollte, dass sie unser Auftreten nur ausnahmsweise tolerieren würde.
Kurt wollte von mir wissen, was denn dieses kleine schwarze Buch sei, in dem ich täglich lesen würde. "Eine Bibel", antwortete ich ihm mit einem möglichst gelassenen Ton. Darauf erzählte er mir von seinem Leben und dass er in seinen jungen Jahren Theologie studieren wollte. Nun hatten wir etwas Gemeinsames, das uns irgendwie verband, so dass die restlichen Tage etwas entspannter verliefen. Kurt und die anderen Gäste gingen, und einen Tag später standen wieder neue an Deck.
Diesmal war es eine unternehmungsfreudige und lustige Studentengruppe; drei Männer und drei Frauen, alle zwischen achtzehn und zwanzig Jahre alt.
Eine der Frauen bemerkte begeistert, als sie mit ihrem Gepäckberg zum ersten Mal vor der Troll stand: "Ist das ein grosses Schiff, kann denn das überhaupt noch schaukeln?" Da wusste ich, dass ich wieder einmal einen Törn mit Neulingen zu fahren hatte, die von der Seefahrt keine Ahnung haben. Zu diesem Zeitpunkt war ich jedoch schon derart abgehärtet, dass mich solche Bemerkungen kaum noch aus der Fassung bringen und nur wenig erschüttern konnten.
Die Jungen Männer forderten mich schon am ersten Tag dazu auf, mich mit ihnen im Ringkampf zu messen. Damals war ich noch jung und kräftig.
Der Kampf sollte auf der Hafenmole ausgetragen werden.
Sie wollten herausfinden, wer dem anderen überlegen sein würde.
Irgendwie gelang es mir, diesen Jungs die Stirn zu bieten und mir, wenigstens für den Moment, den nötigen Respekt zu verschaffen.
Erich war mein Bootsmann; er sollte noch am selben Abend an Bord kommen, um mich bei dieser Reise zu unterstützen.
Wie schon so oft war er auch diesmal nicht pünktlich. Die sechs Studenten kamen um 23 Uhr vom abendlichen Landgang zurück an Bord. Erich war noch immer nicht aufgetaucht. Es begann zu regnen, und der Wind frischte auf. Deshalb entschied ich mich, die Landleinen zu verlängern, um dadurch eine grössere Distanz zwischen Schiff und Steg zu bekommen. Erich würde sich dann schon irgendwie bemerkbar machen, dachte ich mir; so ging ich schlafen.
Ein kräftiges Klopfen an der Bordwand weckte mich um drei Uhr morgens auf. Ich kroch aus meiner Koje und kletterte den Niedergang hoch. Als ich an Deck stand, entdeckte ich das kleine Polizeiboot neben der Troll. Zwei Polizeibeamte stützten zusammen eine völlig durchnässte Gestalt, die offensichtlich grosse Mühe hatte, auf eigenen Beinen zu stehen. Die italienischen Beamten sagten: "Gehört der zu ihnen?" Jetzt erst erkannte ich Ihn und antwortete: "Ja, das ist mein Bootsmann."
Die Polizisten berichteten mir, dass sie ihn auf dem Gehsteig hinter dem Schiff gefunden hätten. Er sei da im Regen gelegen und hätte geschlafen.
Nachdem sie ihn mit Mühe wecken konnten, habe er ihnen erzählt, dass er auf dieses Schiff, die Troll, gehen wolle. Leider komme er nicht an Bord, weil die Distanz zwischen Schiff und Steg zu gross sei. Danach hätten sie ein Boot organisiert und ihn rübergebracht.
Ich half Erich, an Deck zu klettern, und verabschiedete mich dankend von den beiden Polizisten. Offensichtlich war Erich ziemlich betrunken; zudem schlotterte er am ganzen Leib.
In der Kabine erzählte er mir, dass er eben müde gewesen sei und, weil er nicht an Bord steigen konnte, sich hingelegt hätte und eingeschlafen sei. Die Tatsache, dass es Bindfäden regnete, hinderte ihn nicht daran.
Ausser einigen Fehltritten, die sich Erich hin und wieder erlaubte, war er eigentlich ein umgänglicher, etwas scheuer junger Mann. Als Bootsmann konnte ich ihn recht gut gebrauchen. Erich ist auf See aufgewachsen und hatte meist mit seinen Eltern auf Schiffen gelebt. Damals, als er noch ein kleiner Junge war, transportierte die Familie mit einem kleinen Stahlsegler Schmuggelware nach Skandinavien. Später segelten sie ins Mittelmeer, um nach neuen Verdienst- möglichkeiten zu suchen. Seine Mutter ertrank in der See, als Erich zwölf Jahre alt war - ein Fehltritt hatte genügt, und die restliche Familie, zwei Söhne mit Vater, mussten alleine zurechtkommen. Erich kannte kein anderes Leben als das auf See; sie war sein Schicksal und prägte sein Leben. Auf der Troll benahm er sich gegenüber den Gästen immer korrekt und anständig. Wenn er nicht gerade etwas anstellte, hielt er sich eher zurück, so dass man seine Anwesenheit kaum spürte.
Am nächsten Morgen erwartete uns ein sonniger Sommertag. Die Lebensmittel sollten für eine Woche reichen, alles wurde verstaut.
Diesel und Trinkwasser hatten wir gebunkert, so waren wir bereit, in See zu stechen.
Nach zwei Stunden, als das Land hinter dem Horizont versunken war und sich die See endlos weit und blau um das Schiff gelegt hatte, breitete sich unter den Studenten langsam Langeweile aus. Der Grund dafür war die Flaute und das spiegelglatte Wasser. Um vorwärts zu kommen, mussten wir unter Maschine fahren. Zum Zeitvertreib fingen meine jungen Gäste und Erich an, mich zu necken. Um Neptun ein Opfer zu bringen, wollten sie, laut ihrem Vorhaben, mich über Bord zu den Haien werfen. Neptun würde dann, gnädig gestimmt, sicherlich frischen Wind aufkommen lassen, um die Troll voranzutreiben.
Ich schlug ihnen vor, das Surfbrett an einer langen Leine an das Heck unseres Segelschiffes zu binden. Sie sollten doch nicht mich ins Wasser stossen, sondern selbst ins Wasser springen. Dann sollten sie versuchen, auf das Surfbrett zu steigen, um sich hinterherziehen zu lassen. Dies wäre bestimmt ein toller Spass, und die Langeweile würde schnell verfliegen.
Gesagt, getan! Alle vier Männer sprangen über Bord und klammerten sich in der starken Strömung, die durch das fahrende Schiff verursacht wurde, an das Surfbrett. Die drei Damen standen neben mir und sahen gespannt dem lauten Spektakel zu. Jetzt öffnete ich den Knoten der am Heck befestigten Surfbrettleine und liess sie ins Wasser gleiten. Unser Schiff entfernte sich mit schneller Fahrt vom Surfbrett und den zappelnden Jungs.
Durch das plötzliche Stoppen des Surfbretts fielen die vier jungen Männer ins Wasser. Als sie wieder auftauchten und sich an das Brett klammerten, merkten sie überrascht und erstaunt, was geschehen war.
So trieben sie wie verloren in der Weite der blauen Wasserwüste, und der Abstand zwischen ihnen und der Troll wurde immer grösser. Weil das Surfbrett keine Fahrt mehr machte, hatte es für die vier viel zu wenig Auftrieb. Die Versuche, sich trotzdem des Surfbretts zu bemächtigen, scheiterten kläglich und amüsierten mich prächtig. Mit den jungen Frauen an meiner Seite genoss ich triumphierend den Anblick ihrer im Wasser treibenden Freunde.
Dann überkam mich eine angenehme Siegesfreude und das Gefühl, meine männlichen Gäste ausgetrickst zu haben.
Als ich die in Not Geratenen wieder aufpickte, hatte ich mir endgültig den mir gebührenden Respekt verschafft. Einem gut gelingenden, 14 Tage dauernden Urlaubstörn konnte nun nichts mehr im Wege stehen.
Meine nächsten Gäste waren da schon etwas anspruchsvoller. Mit grossem Tatendrang standen sie am ersten Tag an Deck. Sie wollten in ihrem Urlaub so viele Seemeilen wie nur möglich absegeln und etwas erleben. Zuerst mussten wir jedoch wie immer Lebensmittel bunkern. So schickten wir sie mit einer langen Einkaufsliste in den nächstgelegenen Supermarkt.
Nun waren wir für einen kurzen Moment allein. "Ein Abenteuer muss da her", sagte Erich zu mir, sonst würden diese Gäste am Ende ihres Urlaubs nicht zufrieden von Bord gehen. "Ein Abenteuer mitten in diesem Flautengebiet, das wird schwierig werden", antwortete ich ihm nachdenklich. Erich hatte die Idee, die alten Vorsegel auszugraben; sie waren in einer tiefen Ecke verstaut. Er wollte sie anstelle der neuen Segel an den Vorstagen befestigen. Eigentlich hatte ich mir längst vorgenommen, sie wegzuwerfen, weil ihr Tuch durch jahrelange Sonneneinwirkung rissig und spröde geworden war.
Widerwillig erlaubte ich ihm, seine Idee umzusetzen.
Die Segelnähte waren so schwach, das man die Segel kaum noch spannen konnte.
Als unsere lieben Gäste vom Einkauf zurückkamen, waren die neuen Segel bereits verstaut und die alten, einsatzbereit und sauber gefaltet, an der Reling festgezurrt.
Am nächsten Morgen standen wir schon vor Sonnenaufgang auf. Wir tranken noch kurz einen Kaffee, um die Müdigkeit der vergangenen, halb durchzechten Nacht loszuwerden.
Dann lösten wir die Landleinen und hielten Kurs Richtung Kap Corse.
Die Luft war so klar, dass man die Berge von Korsika schon aus fünfzig Meilen Entfernung, deutlich umrissen, erkennen konnte. Der Himmel war, bis auf ein paar hohe Zirren, wolkenlos blau. Für den Nautiker bedeutet dies, vorsichtig und aufmerksam zu sein, weil dies auch die Vorzeichen von "Mistral", also Starkwind sein können.
Im Moment war der Wind noch schwach und wechselhaft. Mit dem Fernglas überprüfte ich in regelmässigen Abständen die Wasseroberfläche am Horizont. Dies ist wichtig, denn in diesem Gebiet können Stürme sehr plötzlich auftreten. Der Wind ist dann schon von weitem sichtbar; man erkennt ihn anhand der dichten weissen Schaumkronen und an einem unebenen Horizont. Ein erfahrener Nautiker kann die zu erwartende Windstärke im Voraus abschätzen. Dadurch bleibt ihm etwas mehr Zeit, um die Segelfläche zu reduzieren, die Luken zu schliessen und alle losen Teile festzuzurren.
Der Mistral wehte auch diesmal.
Eine Kaltluftfront, die im nördlichen Atlantik entstand und dann Frankreich überquerte, schob einen starken, kühlen Wind das Rhonetal hinunter Richtung Mittelmeer. Strahlenförmig breitete sich dann der Mistral aus und erreichte auf der einen Seite als Nordostwind die Balearen und auf der anderen Seite als Nordwestwind Korsika und Sardinien.
Gleichzeitig baute sich ein kleines Tief über Genua auf, das zusätzlich die Winde in unserem Seegebiet antrieb. Wieder einmal machte der "Golfe du Lion" seinem Namen Ehre und liess den Mistral brüllen wie ein Löwe. Erich hatte die guten Segel frühzeitig gerefft, nur die alten Vorsegel liess er ungerefft stehen.
Die Troll neigte sich im stärker werdenden Wind zur Seite und beschleunigte die Fahrt erfreulich. Unsere lieben Gäste stürmten, aufgeschreckt durch das plötzliche Getöse, an Deck und wollten wissen, ob dies denn noch normal sei.
Erich versicherte ihnen, dass wir alles unter Kontrolle hätten und sie sich keine Sorgen machen sollen. Nur die Schwimmwesten sollten sie jetzt anziehen und sich an der Reling anbinden, damit niemand über Bord fallen könne. Brav und etwas unsicher gehorchten sie ihm und kauerten dicht zusammengerückt und an die Reling geschnürt auf dem Deck.
Nach kurzer Zeit verfärbten sich die ersten Gesichter; zuerst wurden sie blass, dann grau und schliesslich fast grün. In diesem bunten Treiben übergaben sich dann bald die ersten Gäste und fütterten, den Kopf zwischen den Relingstützen hängend, die Fische.
An Deck wurde es zunehmend nass, immer wieder peitschte Gischt über uns hinweg.
Die Segel waren durch den Winddruck hart wie Bretter und ihre Segelfläche durch die ungerefften Vorsegel noch viel zu gross.
Es kam, wie es kommen musste - oder wie es von Erich geplant war. Die Vorsegel zerrissen und flatterten ohrenbetäubend im Wind. Wir fierten die Schoten auf, um die kaputten Segel zu bergen. Unsere lieben Gäste erschraken und klammerten sich noch fester an die Reling.
Beim Vorbeieilen hörte ich einen von ihnen sagen: "Jetzt gehen wir bestimmt unter." Erich und mir gelang es nicht, die Segel zu bergen; der Wind war einfach zu stark und das Durcheinander zu gross. So kämpften wir noch eine kurze Zeit, um doch noch etwas Ordnung in das entstandene Chaos zu bringen. Segelfetzen flogen inzwischen mit dem Wind davon. Dies war ein Abenteuer wie auf einem Tablett serviert. Enttäuschend fand ich nur, dass, obwohl wir uns so viel Mühe gaben, unsere Gäste keine Fotos von dem eindrucksvollen Spektakel schossen.
Zu sehr waren sie mit sich und ihrer Übelkeit beschäftigt. So bückten sie sich erneut in einer Reihe über die Reling und erbrachen sich in die bis dahin tiefblaue See.
Kurz darauf verschwanden sie, einer nach dem anderen, unter Deck. Dann schlüpften sie in ihre Kojen und verkeilten sich mittels Kissen und gefalteten Wolldecken, um nicht hin- und herzurutschen. Schliesslich versuchten sie, dem Sturmgetöse mit Schlafen zu entrinnen. Erich, der ebenfalls seekrank wurde, verschwand so unauffällig wie er nur konnte in seiner Kabine und versuchte gegen seine Übelkeit anzukämpfen. Der nüchternen Tatsache bewusst, dass ich nun alleine war, band ich mich am Steuerstand fest und steuerte das Schiff vor den Wind, so dass die Troll etwas ruhiger segelte.
Hinter dem Steuerrad befand sich ein Sitz, von dem aus man das Schiff bequem mit hochgelagerten Beinen steuern konnte. So hielt ich das Schiff Stunde um Stunde auf Kurs, bis es dämmerte. Eine schwarze Wolkendecke überzog langsam den Himmel und färbte die See ebenfalls schwarz. Die untergegangene Sonne zeichnete am Horizont, in einem starken Kontrast, einen schmalen, feuerroten Streifen, der sich zunehmend dunkelrot bis tiefblau verfärbte.
Einige Seevögel segelten neben der Troll, dicht über der aufgewühlten See, und begleiteten mich. Sie schienen mit den beiden Elementen zu spielen. Dabei verschwanden sie im nächsten Wellental und nutzten die aufgrund der Wellen entstandenen Windturbulenzen, um wieder an Höhe zu gewinnen. Ohne einen Flügelschlag schwebten sie geschickt über das schwarze Wasser und trugen so zu einer unbeschreiblichen Harmonie und Schönheit der mich umgebenden Natur bei.
Schliesslich wurde es ganz finster, und ich war allein mit der See, dem Wind und meinem Schiff.
Keine Sterne, kein Mond, kein Licht und kein Land, nichts.
Dies war die Freiheit, von der viele träumen. Niemand und nichts störte mich, auch nicht der starke Wind, nicht das Durcheinander an Deck und auch nicht das Schlagen der restlichen Segelfetzen am Mast. Alles wurde unbedeutend und unwichtig. Nur eines zählte, das Schiff auf Kurs zu halten und voranzukommen, nicht schnell, sondern langsam. Denn niemand und nichts drängte. Ich hatte genügend Zeit, ausreichend Raum, genug Wind und ein gutes Schiff, dem man vertrauen konnte.
Der Seemann liebt nicht die See, sondern sein Schiff.
Sie ist seine Braut, die er liebt, sein Begleiter, wenn er sich einsam fühlt, und sein Kamerad, auf den er sich verlässt, wenn ihn die See bedroht. Gegenüber der See hat er grossen Respekt; sie ist kompromisslos, kennt kein Erbarmen und vergibt keine Fehler. Mit ihr befreundet sich der Seemann nicht, sondern versucht, ihr durch seine Erfahrung gerecht zu werden. Dies erreicht er durch langjähriges er-fahren der See.
Ich verspürte keine Müdigkeit. Der steife Wind hielt mich wach, und ich genoss das Alleinsein bis in die Morgenstunden.
Etwa um drei Uhr in der Früh befand ich mich vor der Einfahrt zur Ankerbucht von Porto Vecchio. Die See war zu rauh und die Sicht zu schlecht, um die Durchfahrt bei Dunkelheit zu riskieren. So kreuzte ich noch einige Stunden vor der Bucht hin und her, bis es zu dämmern begann. Im ersten Morgenlicht wagte ich es, mein Schiff zwischen den Untiefen hindurchzusteuern. Dann startete ich die Maschine, barg die restlichen Segel und fuhr in einen gut geschützten Seitenarm der tiefen Bucht.
Auf fünf Meter Wassertiefe liess ich über weiss schimmernden Sandgrund den Anker fallen.
Danach drehte ich den Schlüssel, um die Maschine auszuschalten, und plötzlich war es still. Keine Windgeräusche, kein Motorenlärm, nichts ausser Stille. So, wie man sie nur selten erlebt, als wenn sie alles ausfüllt und man das Gefühl hat, sie mit Händen greifen zu können; dies aber nur deshalb unmöglich ist, weil jede Bewegung, selbst die kleinste, immer ein Geräusch verursacht und daher diese absolute Stille sofort wieder zunichte machen würde.
Einen kurzen Moment genoss ich diese Ruhe und liess sie mich durchströmen.
Als später die Sonne am Horizont erschien, stieg ich unter Deck, schlüpfte in meine Koje und schlief kurz darauf ein.
Erich und die Gäste konnten trotz der starken Schiffsbewegungen irgendwann in dieser Nacht einschlafen. Von der restlichen Fahrt und dem Einlaufen in die Bucht haben sie nichts mitbekommen.
Gegen Mittag standen wir alle auf und hockten uns, bestens gelaunt, an den Esstisch. Alle waren froh, die Nacht unbeschadet überstanden zu haben. Meine Gäste feierten mich als ihren Helden, der sie aus einer gefährlichen Lage gerettet hatte.
Widersprechen wäre jetzt nicht angebracht gewesen, stattdessen nahm ich diese kleine Ehre als Entschädigung für die schlaflose Nacht an. Erich hatte zu Beginn ein schlechtes Gewissen, weil er mich alleine gelassen hatte. Er hielt sich im Hintergrund auf und war ruhig. Als er jedoch merkte, dass ich ihm nicht böse war, gesellte er sich bald zu der lustigen Gemeinschaft und leistete seinen Beitrag zur allgemeinen Ausgelassenheit.
Erich, mein treuer Bootsmann, ging am Ende dieses Törns mit den Urlaubern von Bord, da ich ihn nicht für die ganze Saison beschäftigen konnte.
Jahre später verunfallte Erich, als er versuchte von Land auf ein Schiff zu steigen, dabei glitt er aus und viel ins Wasser. Wie seine Mutter ist er beim Versuch auf ein Schiff zu klettern ertrunken. Im Februar 2002 wurde mein treuer Bootsmann beerdigt.
Kapitel 5
Eine freie Woche
Die Sommermonate zogen dahin, und die Urlauber kamen und gingen, beinah so oft wie ich mein Hemd wechselte.
Einmal war es schön und lustig, das andere Mal war es wieder sehr anstrengend und nervenaufreibend.
Besonders schwierig wurde meine Arbeit dann, wenn sich die Gäste nicht verstanden oder wenn sie sich gar stritten.
Die Schiffstechnik konnte mir das Leben ebenfalls recht schwer machen, besonders dann, wenn etwas versagte und ich nicht genügend Zeit hatte, es wieder zu reparieren.
Mehrmals hatte ich auch Schwierigkeiten mit Zoll oder Hafenbehörden. Mitunter wollten sie meine Versicherungs-nachweise nicht akzeptieren oder sie machten Schwierigkeiten beim Crewwechsel.
Gleichwohl musste ich es irgendwie schaffen, ohne Unterbruch die Ferientörns zu fahren. Meine Urlauber investierten ihre schönsten Wochen, um bei mir Urlaub zu machen, sich zu entspannen und etwas zu erleben. Ich dagegen war für einen reibungslosen Ablauf verantwortlich, egal, ob dies den verschiedenen Behörden gefiel oder nicht.
Auch musste technisch immer alles in einwandfreiem Zustand sein. Denn Zeit für Reparaturen hatte ich keine.
Normalerweise ist der August immer voll belegt. Doch in diesem Jahr ergab sich mitten im Monat eine Woche, in der keine Charterbuchungen erfolgt waren.
Eigentlich war ich froh darüber, denn ich brauchte dringend eine Pause. Ich plante, die Troll für diese Woche in den Hafen von Olbia zu legen. "Dies wird ein guter und sicherer Platz sein", dachte ich mir.
Hier konnte ich meine Gäste gut ausladen und eine Woche später wieder neue Urlauber aufnehmen.
Einen Haken hatte das Ganze aber doch noch, denn für Jachten ist es normalerweise verboten, mehr als drei Tage im Handelshafen zu liegen. Genau das hatte ich aber vor.
Einen Liegeplatz in einem Jachthafen wollte ich mir aus finanziellen Gründen nicht leisten. Bis dahin hatte ich täglich in meiner Bibel gelesen. Nun wollte ich einmal ausprobieren, ob das, was da drin geschrieben steht, auch zutrifft. So betete ich zu Gott, dass Er mir das Liegen mit der Troll für eine Woche in diesem Hafen ermöglichen würde.
Ich wusste, dass es mitten in der Feriensaison sehr schwierig sein würde, überhaupt einen Platz zu bekommen, geschweige denn für eine Woche. So steuerte ich den Hafen von Olbia an. Von weitem sah ich die Handelsmole des Hafens. Öffentliche Plätze waren damals noch in ganz Italien kostenfrei. Schon aus der Ferne konnte ich erkennen, dass verschiedene Handelsschiffe damit beschäftigt waren, ihre Ladungen zu löschen. Meine Hoffnung, einen freien Platz zu bekommen, schmolz schnell dahin.
Mein Versuch, die Capitania von Olbia über Funk zu erreichen, blieb erfolglos; ich bekam keine Antwort.
So dachte ich mir, dass die Beamten wahrscheinlich zu beschäftigt waren und deshalb nicht antworteten.
Beim Näherkommen erkannte ich am Molenkopf einen freien Liegeplatz. Zwischen den grossen Frachtern würde die Troll eben noch hineinpassen. Da ich über Funk keine Einweisung erhalten hatte, steuerte ich kurz entschlossen diesen Platz an. Ich hoffte, wenigstens meine Gäste schnell ausladen zu können. In ein paar Stunden mussten sie auf dem Flughafen sein und ihre Rückreise antreten.
Ich besprach mit meiner Crew noch kurz das bevorstehende Anlegemanöver, sodass dies möglichst reibungslos ablaufen konnte. Wie abgemacht sprang einer meiner Gäste an Land, um die Festmacherleinen entgegenzunehmen. Auf der Mole erschien ein dunkelhäutiger, grosser und gut gekleideter Sarde, auf dem Kopf trug er eine Schiffermütze. Dicht neben unserem Schiff blieb er breitbeinig und mit verschränkten Armen stehen. Es schien, als würde er uns gleich wieder wegschicken wollen. Meine Gäste waren emsig mit den Leinen beschäftigt. Währenddessen versuchte ich, den auf der Mole stehenden Mann einzuschätzen.
Dann holte ich aus dem Deckhaus eine kühle Flasche Bier und reichte sie ihm hinüber. Verdutzt nahm er die Flasche entgegen, währenddem ich durchblicken liess, dass ich hier, mit meinem Schiff vorerst liegen bleiben wolle. Ich bin mir sicher, dass er uns eigentlich gleich wieder wegschicken wollte. Überrascht von dem offerierten Bier und meinem Anspruch auf diesen Platz, willigte er zu meiner grossen Verwunderung mit einem "Okay" ein. Meine Leute waren immer noch mit dem Festmachen beschäftigt, und schon hatte ich den Dockmeister überlistet. Als unser Schiff fertig vertäut war, stieg ich über die Gangway an Land.
Oben angekommen stellte ich fest, dass sich direkt neben der Troll ein Süsswasseranschluss befand, der einzige auf dieser Mole. Daher war dieser Liegeplatz für Jachten besonders begehrt; bald schon würde man mir den Platz streitig machen, dachte ich mir, und stieg zurück an Bord.
Am selben Abend verabschiedeten sich alle Gäste, und traten ihre Heimreise an. Endlich war ich wieder einmal allein und hatte etwas Zeit für mich und mein Schiff. An diesem Abend ging ich früh zu Bett.
Meine Gedanken schweiften noch einmal durch die letzten Wochen und Monate. Ich war sehr erschöpft und ausgelaugt, das Leben auf See ist doch sehr intensiv. Mitunter ist es ausserordentlich schön und dann wieder sehr anstrengend und mühsam.
Nach all den Jahren hatte ich vom Segelsport und von Schiffen so ziemlich genug und die Schnauze voll.
Seit einiger Zeit überlegte ich mir, wie ich aus diesem Beruf aussteigen könnte; und jetzt, erschöpft wie ich war, sehnte ich mich nach meiner Familie und einem normalen bürgerlichen Leben an Land. Dann schlief ich ein.
Am nächsten Morgen wurde ich durch ein lautes Klopfen geweckt. Als ich wieder einmal aus meinem süssen Schlaf gerissen verschlafen an Deck stieg, sah ich einen Hafenangestellten wichtigtuerisch auf der Mole stehen. Mit gebrochenem Englisch teilte er mir mit, dass er einen grossen Schwimmkran an diesen, meinen Platz verholen wolle.
Plötzlich erinnerte ich mich an mein Gebet um einen Liegeplatz. Enttäuscht zweifelte ich an dessen Erhörung und sah mich bereits vor dem ersten Frühstück mein Schiff verlegen. Dann sagte ich ihm, dass ich allein an Bord sei und mein Schiff nicht alleine verholen könne. Höflich versprach er mir, einige Arbeiter aufzutreiben, die mir helfen sollten. Entschlossen entfernte er sich mit schnellen Schritten von mir. Inzwischen ging ich unter Deck, um mir einen Kaffee zu kochen und zu frühstücken.
Nach etwa einer halben Stunde schreckte mich wildes Männergeschrei auf. Neugierig geworden stieg ich an Deck. Zu meiner Überraschung befand sich ein riesiger Schwimmkran direkt vor meinem Schiff.
Ein Dutzend fleissiger Arbeiter waren damit beschäftigt, das monströse Gefährt an der Troll vorbei an die Mole zu bugsieren. Offensichtlich hatten diese Arbeiter eine andere Lösung gefunden, sodass ich vorerst an meinem Platz bleiben konnte. Gerade als ich wieder zufrieden unter Deck steigen wollte, erschien neuerlich der Dockmeister und grüsste mich freundlich. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Unter Deck holte ich zwei Flaschen Bier und reichte ihm eine davon hinüber. Grinsend prostete er mir zu; dann stieg ich auf die Mole und setzte mich neben ihn auf den Poller. Uns gegenseitig zuprostend tranken wir das frühe Bier. Viele Worte brauchten wir nicht, denn wir verstanden uns auch ohne sie. Der Dockmeister kam von diesem Tag an jeden Morgen. Er liess sich das Frühstücksgetränk reichen, welches wir dann zusammen auf der Mole sitzend genossen.
Dieser Liegeplatz war mir von da an sicher, egal wie gross das Schiff oder wie dringend das Anliegen des jeweiligen Kapitäns sein würde, hier konnte ich mit meinem Schiff liegen bleiben.
War es wirklich Gott, der mir diesen Platz besorgt hat und warum war ihm dies so wichtig?
Oder war dies vielleicht doch nur ein Zufall?
Neugierig geworden überlegte ich mir, wie ich dies herausfinden könnte.
Ich beschloss, mir jeden Tag in dieser Woche eine Stunde für das Gespräch mit Gott zu reservieren. Ausserdem nahm ich mir vor, mir mehr Zeit für das Bibellesen zu nehmen.
Eins wusste ich schon lange, zuhause in der Schweiz hatte ich eine treue Frau, die für mich betete. Diese Gebete waren in meinem Leben immer wieder dringend nötig, besonders dann, wenn ich in Schwierigkeiten war.
Vielleicht hatten auch diesmal ihre Gebete dazu geführt, dass ich mitten in der Chartersaison eine Woche entspannen konnte.
In dieser Woche habe ich mein Leben Jesus übergeben, weil ich glaube, dass ich ihm wirklich wichtig bin.
Ich hatte mich bereits schon zu Beginn der Saison dazu entschlossen, mich nach all den Jahren Seefahrt vom Jachtsport abzuwenden. Diese Aufgabe war mir mit der anhaltenden Verantwortung zu anstrengend geworden. Eigentlich plante ich, eine Arbeit an Land zu suchen. Doch in dieser Woche hatte ich das Gefühl, Gott wolle mich auch weiterhin in der Schiffahrt haben.
Ich wusste damals nicht warum und schon gar nicht, was für einen Plan Er für mein zukünftiges Leben haben würde. Meine neuen Erkenntnisse beschäftigten mich in diesem Moment sehr. Andererseits musste ich mich mit der neuen, nicht sehr erfreulichen Situation auseinandersetzen, vielleicht weiterhin zur See zu fahren.
Ausgeruht und vollgetankt mit neuer Energie stürzte ich mich in die zweite Hälfte dieser Saison.
Gäste kamen, von ihrem Alltag gestresst, und gingen etwas erholter wieder von Bord; bisweilen machte es Spass und wiederholt war es eher mühsam und anstrengend.
Kapitel 6
Hochzeitstermin
Im Herbst, als die letzten Gäste von Bord gegangen waren, plante ich, die Troll aus dem Wasser zu nehmen.
In der Werft von Portoferraio wollte ich sie an Land stellen und dann zum Verkauf ausschreiben.
Für den folgenden Samstag war ich zur Hochzeit meiner Schwägerin Barbara und ihrem zukünftigen Mann eingeladen. Ich hatte also genau eine Woche Zeit, um alles vorzubereiten; das Schiff aufzudocken, winterfest zu machen und nach Hause in die Schweiz zu reisen.
Zuerst marschierte ich also zur Werft, um mich anzumelden.
Im Werftbüro angekommen, grüsste ich einen finster dreinblickenden Italiener, von dem ich dachte, dass er zum Kaderpersonal gehörte. Er sass hinter einem alten, abgewetzten Pult. Ohne den Blick von seiner Arbeit anzuheben, erwiderte er knapp meinen Gruss. Ich kratzte all meine Italienischkenntnisse zusammen und versuchte ihm mein Anliegen zu erklären. Es hatte den Anschein, als habe er mich verstanden, denn er holte aus einer unordentlichen Schublade ein Formular hervor, dass es nun auszufüllen galt.
Zuerst wollte er meinen Namen und dann die Schiffsdaten wissen, die er sogleich eintrug.
Als ich ihm den Namen des Schiffes nannte, schien dieser mürrische Mann plötzlich zu erwachen. Der Name "Troll" musste in ihm etwas ausgelöst haben, denn er stand auf und liess mich, verblüfft über seine Reaktion, alleine in seinem Büro sitzen. Minuten später kam er mit zwei anderen Männern in dunklen Anzügen zurück.
Einer der Männer war der Geschäftsführer. Dieser versicherte mir, dass er auf seiner Werft keinen Platz mehr habe, ausserdem wäre der Kran, der die Schiffe aus dem Wasser hebt, defekt.
Ich warf einen kurzen Blick aus dem Fenster und sah, dass der Werftplatz halb leer war. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, erwiderte er: "Nein, kein Platz!"
Mein Protestieren half nichts, die Werftmänner blieben bei ihrer Entscheidung. Offensichtlich waren sie fest entschlossen, mich abblitzen zu lassen, nichts würde sie davon abbringen.
Auf dem Fussmarsch zurück in den Stadthafen hatte ich genügend Zeit, um darüber nachzusinnen, warum die Werftleute so reagiert hatten. Ich führte es darauf zurück, dass die Vorbesitzer der Troll so manche Spur hinterlassen hatten; Machenschaften der verschiedenen vorherigen Eigner waren in diesen Gewässern bekannt und berüchtigt.
Die negativen Auswirkungen derselben bekam ich jetzt zu spüren. Einen Moment zögerte ich und wollte zurück auf die Werft gehen, um den Werftleuten mitzuteilen, dass inzwischen ein Besitzerwechsel stattgefunden hatte. Doch dann liess ich es doch sein; die Männer wirkten zu entschlossen, sie würden sich nicht umstimmen lassen.
Nun hatte ich ein Problem: die nächste Werft war weit entfernt, südlich von hier.
Eine Reise dahin würde mit den Vorbereitungen mindestens vier Tage dauern. Ausserdem wusste ich, dass die Troll vor Jahren in dieser Werft überwintert wurde.
Ich musste also damit rechnen, dass ich auch da abgewiesen würde. Mein Schiff musste unbedingt aus dem Wasser, ansonsten könnte ich es nicht alleine liegen lassen.
Die Hochzeit, zu der ich eingeladen war, konnte ich mit Sicherheit vergessen, so dachte ich mir.
An diesem Abend legte ich alles in die Hände des Herrn. Ich bat ihn, mir ein rechtzeitiges Erscheinen zur Hochzeit zu ermöglichen. Ich hielt dies zwar für unmöglich, denn die Zeit, die mir noch verblieb, war viel zu kurz.
Am nächsten Morgen trank ich in der Hafenkneipe, die sich direkt neben meinem Schiff befand, einen Kaffee.
Hier wollte ich mir überlegen, was weiterhin zu tun sei.
Ein etwa fünfzigjähriger Herr stand plötzlich vor mir und fragte mich auf Schweizerdeutsch, ob dieser Platz neben mir noch frei sei. Auf meine Zustimmung hin setzte er sich dann mir gegenüber an den Tisch. Er besass freundliche Augen und trug schulterlanges, grau meliertes Haar.
"Ich habe gesehen, dass sie auf diesem Segelschiff wohnen", stellte er fest und zeigte mit der Hand auf die Troll.
So entstand das Gespräch zwischen uns, und ich teilte ihm meine jüngsten Sorgen mit.
"Ich glaube, ich kann ihnen helfen", sagte er mir, "kommen sie morgen pünktlich um zehn Uhr wieder hierher, dann werden wir weiter sehen."
Anschliessend stand er auf, verabschiedete sich kurz von mir und ging davon.
Verblüfft sass ich vor meiner immer noch vollen Kaffeetasse.
Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was dieser Mann, der perfekt Schweizerdeutsch sprach, aber absolut nicht wie ein Schweizer aussah, vorhatte.
Sein Angebot klang so selbstverständlich und gewiss, sodass ich voller Neugier den nächsten Morgen abwartete.
Portoferraio ist ein Hafen mit einer sehr lebendigen Jacht- szene.
Im Herbst treffen sich hier die verschiedenen Schiffsbesitzer, um ihre Jachten für die kommende Überwinterung vorzubereiten und aufzudocken. Der vielen anspruchsvollen Feriengäste entledigt geniessen die Skipper ihre zurückgewonnene Freiheit.
In der Praxis bedeutet dies, nicht vor vier Uhr morgens in seine Koje zurückzukommen. Im Sommer muss man sich anpassen und die Ansprüche der Urlauber berücksichtigen. Im Herbst ist die Anspannung weg und macht einer sprudelnden Ausgelassenheit Platz.
Die Skipper haben dann endlich Zeit, das Erlebte vom vergangenen Sommer weiterzuerzählen, wobei sie in der Regel kräftig übertreiben. Das Verbreiten von Hafenklatsch wird dann zum Freizeitsport. Die kleine Hafenstadt wird dadurch zur Geburtsstätte glaubwürdigster und feinster Gerüchte.
Pünktlich befand ich mich am nächsten Morgen am vereinbarten Ort in der Hafenkneipe.
Kurz darauf erschien der grauhaarige Mann, dessen Namen ich nie erfahren sollte.
"Wir gehen jetzt zusammen auf die Werft," sagte er zu mir und lächelte mir zu. Mit einem Taxi liessen wir uns direkt vor das Werftgebäude fahren. Dann stiegen wir die Treppe hinauf zu jenem Büroraum, den ich zwei Tage zuvor aufgesucht hatte. Wir trafen auf viel Betriebsamkeit und Hektik. Offensichtlich wollten noch andere Schiffsbesitzer die Dienstleistungen der Werft in Anspruch nehmen.
Mein Begleiter stellte sich vor mich und reihte sich in der Warteschlange ein. Als sich die Menschenschlange endlich nicht mehr vor uns, sondern hinter uns befand, sprach er mit den beiden Männern, die hinter dem Schreibpult sassen, in akzentfreiem Italienisch.
Seiner Sache sicher teilte er ihnen mit: "Ich möchte gerne ein Schiff aus dem Wasser heben lassen."
Dann fügte er hinzu: "Ich habe gesehen, dass ihr noch einige Plätze frei habt."
Einer der beiden Männer sagte: "Ja, wir haben noch Platz."
Er holte eines der mir bereits bekannten Vertragsformulare aus der Schublade und begann nach den Schiffsdaten zu fragen. Anschliessend kritzelte er diese umständlich und konzentriert auf den Papierbogen.
Die Lift- und Liegegebühren wurden kurz ausgehandelt und zu meiner Verblüffung der folgende Tag als Lifttag festgelegt.
Der Werftmann unterschrieb den fertig ausgefüllten Vertrag und schob ihn meinem Helfer zu. In diesem Moment trat ich aus der Warteschlange und setzte schnell meine Unterschrift darunter. Verdutzt schauten mich die beiden Werftmänner an und wollten wissen, wie denn das Schiff heisse. Freundlich, aber bestimmt antwortete mein Begleiter wie selbstverständlich: "Es ist die Troll, die ihr morgen aus dem Wasser nehmen werdet." Zornesröte stieg in die Gesichter der Werftleute, dann folgte ein italienischer Wortschwall, dem ich nicht folgen konnte.
Doch dann mussten sie einsehen, dass der soeben abgeschlossene Vertrag für beide Seiten verbindlich war.
Mit ernsten Gesichtern, und doch heimlich lachend, verliessen wir das Werftbüro wieder.
Bewundernd bedankte ich mich bei meinem Begleiter und fragen ihn, wie ich mich denn erkenntlich zeigen könnte. Er hob seine Hand, winkte ab und sagte: "Ich habe noch etwas anderes vor und möchte mich jetzt verabschieden."
Er reichte mir seine Hand, drehte sich um und ging schnellen Schrittes davon. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte; es ging alles so verblüffend schnell.
Ich wusste nichts von ihm, nicht einmal, wo er wohnte, auch nicht, was für ein Landsmann er wirklich war.
Bis zum Ende dieser Woche stand mein Schiff sicher und gut, mit dicken Pfählen und Gestellen gestützt, an Land. Die Zeit reichte, um das Schiff mit einer Plane zu bedecken, die das viele Holz für die Wintermonate schützen würde, und auch für alle notwendigen Arbeiten, das Schiff winterfest zurücklassen zu können.
Ohne Stress reiste ich anschliessend in die Schweiz, wo ich am Samstag, rausgeputzt und fein gemacht, die besagte Hochzeit besuchte. Alles lief erstaunlich reibungslos und ohne Hektik. Aus irgendeinem Grund wollte mich Gott auf dieser Hochzeit haben. Oder wollte er mir nur zeigen, dass er meine Gebete ernst nimmt?
Kapitel 7
Magere Zeiten
In der Schweiz fand ich eine Arbeitsstelle als Handwerker im Bereich Lüftungstechnik. Unsere finanzielle Situation war damals ausserordentlich bedenklich. Um der Seefahrt vorerst ein Ende zu setzen, schrieb ich die Troll zum Verkauf aus.
Der alte Traum von Silvia und mir war, die Troll als Jugendschiff einzusetzen. Den mussten wir mit diesem Schritt endgültig begraben.
Mit unserem ersten Schiff segelten wir beide einige Jahre in den verschiedensten Gewässern.
In dieser Zeit begegneten wir mehrmals einem deutschen Jugendschiff, das Buben und Mädchen im Teenageralter betreute.
Diese waren zuhause in Deutschland, aus unterschiedlichen Gründen, auf die schiefe Bahn geraten. Sie hatten allesamt Mühe, sich in ihrem jungen Leben zurechtzufinden.
Die Behörden reagierten, indem sie die Kinder auf diesem Segler platzierten, um sie wenigstens von der Strasse zu bekommen.
Die Idee, mit Jugendlichen zur See zu fahren, um sie für eine gewisse Zeit von den Versuchungen des Landlebens fernzuhalten, faszinierte uns. Diese verwahrlosten Jungen und Mädchen hatten einen grossen Hunger nach Liebe und Geborgenheit; sie liessen uns dies deutlich spüren. Silvia und ich waren von dieser Arbeit so begeistert, dass wir uns vornahmen, irgendwann ein eigenes Jugendschiff-Projekt zu gründen. So wurde diese kurze Bekanntschaft für uns zu einem Schlüsselerlebnis, das uns in Zukunft immer wieder beschäftigen sollte.
Wir haben uns oft überlegt, wie wir die Troll als Jugendschiff einsetzen könnten. Um diesen Traum zu verwirklichen, fehlten uns sowohl die nötige Erfahrung wie auch die finanziellen Mittel.
Im Moment hatten wir uns jedoch entschieden, die Troll zu verkaufen. Dadurch rückte der Jugendschifftraum in weite Ferne und geriet beinah in Vergessenheit.
Ausserdem hatte ich im Moment ziemlich genug von der Seefahrt.
Im darauf folgenden Winter meldeten sich bei uns verschiedene Kaufinteressenten. Mehrmals fuhr ich nach Italien, um die Troll zum Verkauf vorzuführen, doch ohne Erfolg.
Im Januar kratzte ich unser letztes Geld zusammen, um ein weiteres Mal nach Italien zu fahren. Ein Mann aus Hamburg interessierte sich sehr für unser Schiff. Am Telefon vermittelte er viel Zuversicht. Er sagte mir, dass das Schiff seinen Vorstellungen entspräche und er sehr an einem Kauf interessiert sei.
Mit dem Nachtzug fuhr ich also nach Italien.
Auf der Werft angekommen reinigte ich zuerst den Segler von oben bis unten, damit er einen möglichst guten Eindruck vermittelte. Diese Arbeit beschäftigte mich den ganzen Tag bis spät in den Abend.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf, denn mein Kunde sollte an diesem Vormittag ankommen.
Doch er kam nicht. Nicht an diesem Tag und auch nicht am nächsten; er kam überhaupt nicht.
Meine Versuche, ihn zu erreichen, blieben ohne Erfolg. Den Grund, weshalb er nicht gekommen war, sollte ich nie erfahren.
So blieb mir nichts anderes übrig, als wieder nach Hause zu fahren.
In Mailand musste ich umsteigen. Mein Anschlusszug fuhr erst zwei Stunden später.
Um mir die Zeit zu vertreiben, setzte ich mich auf eine Bank mitten im riesigen Bahnhofgebäude und vertiefte mich in eine deutsche Zeitung.
Als ich nach einiger Zeit meinen Blick hob, stand ein kleiner, untersetzter Mann in mittlerem Alter vor mir. Er grüsste mich höflich und sagte:
"Ich befinde mich in einer Notlage."
Dann nach einer kurzen Pause: "Ich bin Jude und auf der Reise von Paris nach Rom, wo ich dringend erwartet werde." Mit einem Blick, der Mitleid erregen sollte, fügte er hinzu: "Leider ist mir mein Geld, das mir die Weitereise ermöglichen würde, gestohlen worden."
"Warum sprechen sie gerade mich an?", fragte ich ihn.
"Ich sah, dass sie eine deutsche Zeitung lesen und daher wusste ich, dass sie mich verstehen würden", sagte er mit gedämpfter Stimme.
Einem erfahrenen Weltenbummler wie mir machte eine derart banale Geschichte keinen Eindruck. Wie oft hatte ich schon Ähnliches gehört.
Mir war klar, dass dies nur ein Versuch war, mir mein Geld aus der Tasche zu ziehen. Ausserdem hatte ich ja gar kein Geld mehr. Die restlichen 45'000 Lire würden gerade noch für ein Nachtessen reichen. Meine Arbeit brachte mir zwar ein kleines Einkommen, doch davon musste ich die Hypothek für Haus und Schiff bezahlen.
Ich hatte mir ausgerechnet, dass ich in den nächsten drei Monaten kein Einkommen haben würde.
Der kleine Mann stand immer noch vor mir und schaute mich erwartungsvoll an.
"Warum gehen sie nicht auf ihre Botschaft; die können ihnen doch sicher weiterhelfen", sagte ich ungeduldig.
"Es ist Freitag abend, die Botschaft macht erst am Montag früh wieder auf. Solange kann ich nicht warten; ich werde in Rom dringend erwartet."
"Wieviel kostet denn die Bahnfahrt nach Rom?", wollte ich von ihm wissen.
"Einen Teil des Fahrgeldes kann ich selber bezahlen, mir fehlen noch 45'000 Lire", antwortete er.
Obwohl ich verblüfft war, sagte ich ihm energisch: "Ich gebe ihnen kein Geld."
Offensichtlich enttäuscht drehte sich der kleine Mann um und ging mit gesenktem Kopf davon. In diesem Moment kam mir in den Sinn, dass ich als Kind in der Sonntagschule eine Geschichte gehört hatte, die in mir damals einen besonders tiefen Eindruck hinterliess.
Sie handelte von einer alten Frau, die ihre letzten zwanzig Rappen in den Opferstock der Kirche gegeben hatte.
Der Pfarrer erklärte uns Kindern, dass dies vor Gott viel mehr wert sein würde als eine grosse Summe von jemandem, der keine Geldsorgen hat.
"Seltsam", dachte ich mir, "dieser Mann bettelte exakt um die Restsumme, die ich noch besitze." Aus der Ruhe gekommen, stand ich auf, nahm meine Tasche und zwängte mich durch die dichte Menschenmenge, die den Mailänder Bahnhof bevölkerte.
"Wohin will ich eigentlich?", fragte ich mich selber, "und warum bin ich nicht sitzen geblieben und habe in Ruhe meine Zeitung zu Ende gelesen?"
Nun musste ich mir selber zugeben, dass ich den Mann suchte, der mein letztes Geld haben wollte. Und da erblickte ich ihn, diese kleine, unscheinbare Gestalt. Den Rücken zu mir gewandt, versuchte er sich durch die Menschenflut zu drängen. Als ich ihn eingeholt hatte, legte ich meine Hand auf seine Schulter. Dann drehte er sich zu mir um, und ohne ein weiteres Wort zu sagen drückte ich ihm die Banknoten in die Hand. Er bedankte sich höflich, blickte mich einen Moment offen an und reichte mir seine Hand zum Abschied. Anschliessend setzte ich mich wieder auf meine Bank und versuchte die zweifelnden Gedanken, ob ich das Richtige getan habe, zu verdrängen.
Die folgenden Monate waren eine grosse, finanzielle Durststrecke. Wenn Silvia am Morgen aufstand, wusste sie oft nicht, woher sie das Geld nehmen sollte, um das Nötigste einzukaufen. Irgendwie ist es ihr aber immer gelungen, einige Franken aufzutreiben.
Einmal fand sie einen Hundertfrankenschein zwischen den Büchern. Mehrmals wurde uns, unverhofft, von der Krankenkasse eine Rückzahlung erstattet. Freunde und Verwandte, die von unserer Not erfuhren, unterstützten uns immer wieder mit kleinen Geldbeträgen.
So konnte Silvia immer ihre Einkäufe tätigen; die Mittel dazu erhielt sie oft in den letzten Stunden oder gar Minuten.
Im darauf folgenden Sommer gelang es uns dann doch noch, die Troll zu verkaufen.
Wir hatten gewünscht, dass unser Schiff in christliche Hände kommt.
So war es dann auch: Die Käufer, eine deutsche Familie, waren in unserem Sinne gläubig.
Nach dem Kaufabschluss überführten sie das Schiff in den Mittleren Osten, um da Charter zu fahren.
Unsere finanziellen Probleme waren somit für den Moment gelöst.
Kapitel 8
Das Wort
Im Herbst besuchten Silvia und ich ein vier Tage dauerndes, christliches Seminar in Bern.
Die ersten beiden Tage waren sehr festlich und verliefen zwischen den verschiedenen Vorträgen fröhlich und ausgelassen.
Etwa eintausend Menschen sangen und tanzten oder hörten gespannt den interessanten Vorträgen zu. Eines der Themen war: "Wie finde ich meine Berufung, und was für Pläne hat Gott für mein zukünftiges Leben".
Viele der Teilnehmer bekamen Aufgaben für ihr Leben zugesprochen. Manche von ihnen erzählten, dass sie direkt durch den Heiligen Geist berührt wurden.
Am dritten Tag geschah mit mir Folgendes:
Es war drei Uhr Nachmittag, die Sonne schien durch die Dachfenster und zeichnete silberfarbene Strahlen in die grosse Halle. Einer der Seminarleiter trat hinter eines der Mikrofone und sagte:
"Alle Teilnehmer, die den Eindruck haben, dass sie ihre Berufung noch nicht gefunden haben, sollen nach vorne vor die Bühne treten."
Ich dachte mir: "Nein das ist nichts für mich. Ich will mich nicht vor so viele Menschen stellen und eigentlich traue ich denen da vorne auch nicht ganz." Rund um mich herum erhoben sich die Menschen von ihren Stühlen und strömten nach vorne.
In der Zwischenzeit, während der sich etwa einhundert Teilnehmer nach vorne drängten, wurde von der Bühnenband ein Lied angestimmt. Es war eines der vielen Gospelsongs, die ich inzwischen gut kannte und so gerne höre. Ich stand auf und sang, so laut und so schön ich konnte, mit.
Vorne an der Bühne bildeten sich kleine Gruppen zum Gebet.
Die Musik verstummte und es wurde ganz leise. Von der Bühne war nur noch das sanfte Gemurmel der vielen Betenden zu hören. Ich war, wie viele andere in den hinteren Reihen, stehen geblieben, um das Geschehen aus einer sicheren Distanz beobachten zu können.
Plötzlich spürte ich etwas sehr intensiv und am ganzen Körper.
Es waren Worte, und sie kamen von oben.
Es waren keine akustischen Laute, sondern eine andere, für mich bisher völlig unbekannte Form der Kommunikation.
Diese Worte waren deutlicher als alles andere, was ich bisher vernommen hatte.
Sie fühlten sich an, als würde feiner Sand über mich ausgegossen.
Zuerst über meine linke Gesichtshälfte und dann über meine linke Schulter, so dass ich unter der Last links leicht einknickte.
Es war nur ein Satz, nur einige wenige Worte, und sie sollten mein Leben verändern. Sie lauteten:
"ICH WILL DIR EINE FLOTTE GEBEN."
Diese Worte berührten mich sehr stark. Noch Wochen später drangen mir Tränen in die Augen, wenn ich nur daran dachte oder mit Silvia darüber sprach.
Doch was meinte Gott damit, eine Flotte? Das konnten nur Schiffe sein, drei oder noch mehr.
"Eigentlich ist das eine verrückte Idee", sagte ich zu Silvia. Niemals zuvor habe ich mir gewünscht, mehrere Schiffe zu besitzen oder sie zu befehligen.
Was wollte Gott genau sagen und was für Pläne hatte er? Ich konnte es mir nicht recht vorstellen. Ausserdem hatte ich mich erst vor kurzer Zeit von der Schiffsarbeit getrennt.
Vorerst sprach ich nur mit meiner Frau Silvia darüber.
Sie nahm mein Erlebnis eher gelassen und meinte, dass es ihr mit mir als Lebenspartner wohl nie langweilig würde.
Im Gebet sagte ich zu Gott:
"Herr, ich danke Dir für Dein Interesse an mir. Wenn es wirklich soweit kommt, dass Du mir eine neue Aufgabe geben willst, dann möchte ich mich nicht um Geld bemühen müssen; egal, wie teuer so eine Flotte ist. Ausserdem wünsche ich mir eine zweite Familie, die dieselbe Vision von Dir bekommen hat, sodass wir zusammen mit ihnen Deine Pläne verwirklichen können."
Der Grund, weshalb ich mir das wünschte, war, dass ich nicht alleine mit meiner Frau und meinen Kindern eine neue Arbeit auf See beginnen wollte. Ich befürchtete, dass meine Kinder mit zu wenig sozialen Kontakten verwahrlosen könnten.
Die Geschäftsleitung der Firma, bei der ich angestellt war, plante, mich weiter auszubilden. Schon nach kurzer Zeit wurde ich zum Betriebsleiter befördert.
Angestellte, die früher meine Vorgesetzten waren, mussten sich nun plötzlich daran gewöhnen, dass ich sie überholt hatte. Ein weiterer Aufstieg war geplant, und mein Einkommen war bereits den neuen Umständen angepasst. Und nun sagte der Herr, er wolle mir eine Flotte geben, das passte einfach nicht zusammen.
Kapitel 9
Camp Josua
In den darauf folgenden Monaten erkannte ich immer mehr, dass ich an diesem Arbeitsplatz zu gefangen war. Ich fühlte mich zunehmend unfrei und eingeschränkt.
Für den nahenden Sommer nahmen wir uns vor, zwei Wochen an den Bodensee in die Campingferien zu fahren. In der ersten Woche wollten wir das Camp Josua, eine christliche Seminarwoche besuchen.
Mein erhöhtes Einkommen erlaubte uns, ein neues Auto, einen schönen, weissen Kombiwagen, zu erwerben. Unsere Kinder Dominic und Patric sollten hinten im Wagen, den wir mit Schlafmatratzen ausgelegt hatten, übernachten. Silvia und ich wollten im Zweierzelt nächtigen.
Am ersten Ferientag, es war ein sonniger Samstag, fuhren wir also mit unseren beiden Buben und dem neuen Auto, vollbepackt mit Camping Material los. Das Camp Josua würde ein riesiges Fest werden.
Die Veranstalter erwarteten fünftausend Campinggäste.
Sie planten, im Laufe dieser Woche Gottesdienste, Andachten und Workshops durchzuführen. Wir freuten uns sehr auf diese Ferien und waren gespannt, was wir erleben würden.
Im Camp angekommen, wies uns jemand einen Platz zu. Dann machten wir uns daran, das Zelt aufzustellen; das Auto parkten wir direkt daneben. Einige Zeltnachbarn waren aus unserer Kirchgemeinde. Mit ihnen unterhielten wir uns, bis es Abend wurde. Sie erzählten uns, die Seminarleiter hätten die Themen der kommenden Woche nicht oder nur wenig geplant.
Sie beabsichtigten, auf Gott zu hören und sich von ihm zeigen zu lassen, welche Themen behandelt werden sollten. Im grossen Verpflegungszelt genossen wir anschliessend mit unseren beiden Buben das Abendessen.
Wir stellten fest, dass das Camp gut organisiert war. Ausser dem Verpflegungszelt waren auch noch andere Festzelte aufgestellt.
Eines war ein Jugendzelt mit einer runden, erhöhten Bühne in der Mitte. Diese war vollbepackt mit Elektronik und verschiedenen Musikinstrumenten.
Ein weiteres Zelt würde den Kinderhort beherbergen und andere grosse Zelte sollten den verschiedenen Seminaren dienen.
Das Hauptzelt - es hatte Platz für fünftausend Personen - stand mitten im Camp, und dies war auch das eigentliche Zentrum. Darin war für diesen Abend ein Gottesdienst angesagt.
Kurz vor acht Uhr traten wir durch den Eingang. Das Zelt war bereits mit Hunderten von Menschen gefüllt. Auf der Breitseite befand sich eine grosse Bühne, auf der die Musiker ihre letzten Vorbereitungen trafen.
Das Donnern eines nahenden Gewitters war von aussen zu hören. Es übertönte den Lärm der vielen Menschen kaum. Die Musiker waren dabei, ihre Instrumente einzuspielen und aufeinander abzustimmen.
Aus dem Hintergrund erschien eine schlanke Frau, sie war ein Mitglied des Leiterteams. Sie schritt zum Mikrofon, das am vorderen Rand, in der Mitte der Bühne aufgestellt war. Auf ein Handzeichen von ihr verstummten die Musikinstrumente.
Das längliche Zelt, gross wie ein Fussballfeld, war inzwischen ganz mit Menschen gefüllt. Offensichtlich wollte niemand die Ansprache und den ersten Gottesdienst verpassen. In die Gesichter um uns herum waren Freude und Neugier gezeichnet; alle Blicke richteten sich nach vorne.
Das Fest konnte also beginnen.
Inspiriert durch den Regen, der inzwischen auf das riesige,
weisse Zelt prasselte, wollte die Frau am Mikrofon die Campwoche mit folgenden Worten eröffnen:
"Dies ist der Segen", dabei hielt sie ihre beiden Arme ausgestreckt nach oben.
Doch weiter kam die verblüffte Frau nicht.
Dies sollten die ersten und letzten Worte gewesen sein, die von dieser Bühne an die Gläubigen Campbesucher gerichtet wurden. Denn in diesem Moment brach eine kräftige, weisse Windböe neben der Bühne durch die Zeltwand. Sie fegte durch die erschrockene Menschenmenge und zerriss auch noch die gegenüber liegende Wand. Zur gleichen Zeit erhellte ein Blitz die nach oben starrenden Gesichter, und ein ohren- betäubendes Donnern unterstrich das Entsetzen der Menschenmenge.
Der Gewitterregen wechselte in Hagelschlag und der Wind fegte nun noch kräftiger durch das angeschlagene Zelt. Dieses wurde mit schweren Aluminiumträgern gespannt, welche mit langen Schrauben im Belagsboden verankert waren.
Die Böen wehten inzwischen so kräftig, dass diese Verankerung aus dem Boden gerissen wurde und sich das Zelt auf einer Seite langsam anhob.
Durch die enormen Kräfte knickte nun die Dachverstrebung ein.
Die linke Zelthälfte löste sich nun ganz vom Boden und schwebte wie schwerelos in der Luft. Jeden Augenblick konnte die Aluminiumkonstruktion in sich zusammenbrechen und die schreiende Menschenmenge unter sich begraben.
Einige Menschen um uns herum begannen im Einklang nach Jesus zu rufen. Sekunden später stimmten alle übrigen Gläubigen mit ein und riefen: "Jesus, Jesus, Jesus."
Kurz darauf senkte sich das Zelt wieder auf den Boden zurück und blieb mit verbogenen Streben stehen. Vor Freude jubelnd und mit erhobenen Händen dankten wir Gott für seine schnelle Hilfe.
Das Gewitter zog nun ab, und die Menschen standen etwas ratlos herum. Der Strom war unterbrochen, daher konnten von der Bühne her keine Informationen vermittelt werden. Vom Zeltausgang her konnte ich eine Stimme hören, die sagte:
"Im Moment geht noch niemand ins Freie; wir wollen zuerst feststellen, wie gross die entstandenen Schäden sind."
Die Menschen verhielten sich sehr ruhig, die vielen Stimmen waren gedämpft.
Eltern trösteten ihre erschrockenen Kinder, und andere sprachen beruhigende Worte. Dann bildeten sich kleine Gruppen, die ein Dankgebet sprachen.
Inzwischen waren etwa zwanzig Minuten vergangen; am Ausgang bemühte sich ein Mann um Aufmerksamkeit. Mit aufgeregter Stimme sagte er:
"Draussen ist viel Schaden entstanden, geht nun zu euren Habseligkeiten, zieht euch warm an und packt das Wichtigste ein, wir müssen euch für diese Nacht evakuieren." Dann folgten einige weitere Informationen, und schliesslich schritten wir langsam ins Freie.
Es war inzwischen beinah dunkel geworden; die Stimmung war gespenstisch. Der Boden war weiss bedeckt mit grossen Hagelkörnern, und an den Bäumen fehlten die Blätter.
Die ganze Infrastruktur, die während der vergangenen Woche von Dutzenden freiwilliger Helfer aufgebaut wurde, war nun völlig zerstört.
Alle anderen grossen Zelte waren weggefegt worden., sie lagen bizarr und zerfetzt im Gelände verstreut.
Das Jugendzelt hing auf dem Dach einer nahen Fabrik, die Bühne stand nun im Freien, und die Elektronik war durch die Nässe zerstört.
Ein Wohnwagen war vom Wind auf sein Dach gedreht worden. Nun stand er kopfüber etwa zwanzig Zentimeter tief im Wasser. Die Eingangstür war aufgerissen, und daraus ergoss sich ein grosser Teil der Wohnwagenausrüstung.
Kleinere Zelte waren meist zerrissen, weggeweht oder standen im Wasser der nun schmelzenden Hagelkörner. Inzwischen war es ganz finster geworden, sodass wir Mühe hatten, uns im Durcheinander zu orientieren.
In der Dunkelheit erkannten wir die weissen Umrisse unseres neuen Wagens. Vorsichtig schritten wir, umherliegendem Material ausweichend, näher. Verwundert stellten wir fest, dass unser Wohnzelt noch stand; etwas schief zwar, doch waren keinerlei Schäden zu erkennen. Einen halben Meter neben dem Wagen hatte sich eine schwere Zeltverstrebung in den Boden gebohrt.
"Hier sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld", sagte Silvia, erstaunt darüber, dass bei uns nichts zu Bruch gegangen war. Ein Nachbarzelt war in der Mitte von einer fünf Meter langen Zeltverstrebung getroffen worden; sie teilte dieses Familienzelt in zwei Hälften.
Es war eines der wenigen Zelte, die während des Sturmes bewohnt waren: Darin befand sich eine Mutter mit ihren Kindern, die einen in der rechten Hälfte und die anderen in der linken Hälfte. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt.
Nun begannen die Leitung und ihre Helfer damit, die Campinggäste zu evakuieren.
Inzwischen brachten wir unsere beiden Kinder im Auto zu Bett. Dann überprüften wir unser Zelt und stellten fest, dass im Vorzelt und ums Zelt herum eine Menge Wasser stand. Als Silvia das Innenzelt öffnete, sagte sie: "Hei, hier ist es ja noch einigermassen trocken. Was sollen wir uns evakuieren lassen, wenn unser Zelt noch bewohnbar ist."
Also beschlossen wir, hier zu übernachten, und richteten uns ein.
Die meisten der fünftausend Gäste brachte man für diese Nacht in Schulhäusern und Turnhallen unter, die mit Notbetten versehen wurden. Die umliegenden Gemeinden waren sehr hilfsbereit und spontan, sodass viele in Privathäusern der Umgebung Unterkunft fanden. Die Menschen, denen wir in dieser Nacht begegneten, verhielten sich ruhig und gelassen.
Eine Frage beschäftigte uns alle sehr. Warum war dies geschehen? Genau auf den Zeitpunkt des ersten Anlasses und genau dann, als beinahe alle Teilnehmer im grossen Zelt waren. Viele Vermutungen kursierten umher.
Die Menschen suchten eine Erklärung dafür, warum Gott so stark eingegriffen hatte. Schliesslich wollte man die Auswahl der Themen unserem Herrn überlassen.
Doch was wollte er uns mit einem solch heftigen Eingreifen mitteilen?
Später erfuhren wir, dass es doch noch einige Verletzte gegeben hatte.
Bis in die Morgenstunden diskutierten wir über die möglichen Gründe, warum Gott so eingegriffen haben könnte. Irgendwann sind wir dann doch noch eingeschlafen.
Das ganze Ausmass der Verwüstung kam erst bei Tageslicht zum Vorschein. Das gesamte Gelände war mit Gegenständen übersät. Die Wiese vom Vortag war nun verschlammt und unbegehbar. Verwüstungen waren nur auf dem Campinggelände sichtbar. In den umliegenden Dörfern und in der umliegenden Vegetation waren keinerlei Sturmschäden zu erkennen.
Nun wurde uns bekannt gegeben, dass das Camp abgebrochen werde. Man suchte noch Helfer, um aufzuräumen. Wir packten unsere Ausrüstung in den Wagen und fuhren nach Hause.
Diese Woche nutzten wir dann, um mit unseren beiden Jungs und unserer Nichte erst ins Wallis und dann nach Italien zu reisen.
Kaum waren wir wieder zuhause, bekamen wir einen Scheck über eintausend Franken. Eine Frau aus unserer Gemeinde hatte ihn uns geschickt. Sie schrieb, dass sie uns die Camp-Auslagen ersetzen wolle; dies zu tun habe sie im Gebet vernommen.
Dieser Betrag deckte interessanterweise genau unsere Ausgaben. Nach und nach wurden wir auch gewahr, weshalb uns Gott eine so heftige Lektion erteilt hatte.
Sie war für uns persönlich eine Mahnung, Ihn den Herrn zu fürchten und vor ihm Respekt zu haben. Nicht Angst im üblichen Sinne, sondern Respekt zu haben vor den Reaktionen Gottes, wenn wir uns in Unrecht befinden.
Heute glaube ich, dass mir ein einwöchiges Seminar voller frommer Themen nie eine so klare und anhaltende Lektion hätte vermitteln können. So besehen verstehe ich, warum dies auf eine solche Weise geschehen musste.
An meinen Arbeitsplatz zurückgekehrt, erledigte ich weiterhin die Aufgaben als Leiter.
Ich erwog, zu meinem Scheff dem Geschäftsleiter zu gehen und ihm zu sagen, dass Gott zu mir gesprochen hätte. Dass er mir gesagt habe, Er wolle mir eine Flotte geben, und ich deshalb kündigen und die geplante Karriere an den Nagel hängen wolle. Dies klang sogar in meinen Ohren völlig verrückt, aber irgendwie musste ich ihm beibringen, dass ich aus der Firma ausscheiden wollte.
Der Geschäftsleiter glaubte vor allem an sich und nicht an Jesus. Dies gestaltete mein Vorhaben besonders heikel. Ihm den wahren Grund zu verschweigen, kam für mich jedoch nicht in Frage. So fasste ich den Entschluss, ihn in dieser Sache anzusprechen. Mit ernster Stimme sagte ich zu ihm:
"Boss, ich muss mit ihnen sprechen, es geht um meine Zukunft in ihrer Firma."
Die Ernsthaftigkeit meines Anliegens erahnend schlug er mir einen Gesprächstermin vor, verbunden mit einem Mittagessen.
Mit einem unguten Gefühl im Magen erwartete ich also dieses Gespräch. Ein Gespräch mit dem Inhaber der Firma, in der wir in den letzten Monaten intensiv unsere gemeinsame Zukunft geplant hatten.
Zweifel an der Richtigkeit meines Vorhabens kamen in mir hoch: "Ich habe Verantwortung", dachte ich mir, "eine Familie, ein Eigenheim, belastet mit einer hohen Hypothek und vieles mehr."
Auf der anderen Seite hatte ich nur einige wenige Worte des Herrn und die Zuversicht, richtig gehört zu haben.
Meine Bedrücktheit löste ausserdem einen heftigen Streit mit meiner Ehefrau aus. Besonders intensiv stritten wir am Vorabend des Gesprächtermins.
Am nächsten Morgen erzählte ich meinem verblüfften Boss, dass Gott mich wieder in der Seefahrt haben wolle. Ich schlug ihm vor, mir die geplante Gehaltserhöhung nicht zu entrichten und diese Summe für die Suche nach einem anderen Betriebsleiter zu verwenden.
Erstaunt lauschte er meinen Worten und bedauerte meinen Entschluss, schon bald kündigen zu wollen.
In seiner Stimme klang aber auch eine gewisse Anerkennung gegenüber meinem Glauben, der seiner Ansicht nach sehr tief sein musste. In Wirklichkeit aber war mein Glaube kleiner als ein Senfkorn; doch gross genug, um alle Sicherheiten aufzugeben.
Mein Glaube wurde jedoch zunehmend durch die Sorge um meine Frau Silvia belastet. Silvias psychischer Zustand verschlechterte sich beängstigend schnell.
Mit unseren Nachbarn, mit denen wir auch verwandt sind, hatten wir über viele Jahre eine freundschaftliche Beziehung.
Diese hatte schleichend in eine starke, ungesunde Bindung geführt.
Seit einiger Zeit wurde diese Beziehung immer schwieriger. Schliesslich fand ein Ablösungsprozess statt, unter dem Silvia und auch unsere Nachbarn sehr zu leiden hatten. Silvias Gedanken drehten sich zu oft um diese eine Sache und belasteten sie immer stärker.
Kapitel 10
Projekt Ruach
Ich hatte also meinen Job an den Nagel gehängt.
Die letzten Arbeitstage als Angestellter in der Firma Polyblock lagen nun hinter mir.
Jetzt war sie endgültig, meine Entscheidung. Ich war frei, alles hatte ich abgeschüttelt. Alles, was mich hinderte das zu tun, wovon ich glaubte, dass es meine Bestimmung sei. Nun wollte ich mich führen lassen und war gespannt, was kommen würde.
Am ersten Tag ohne Arbeit meldete ich mich auf dem Arbeitsamt als arbeitslos. Bisher hatte ich angenommen, dass ich nur dann Arbeitslosengeld beziehen könnte, wenn mir gekündigt wird. In meinem Fall war dies nicht so. Der freundliche Herr hinter dem Schreibtisch sicherte mir ein Taggeld zu, womit wir für die nächsten Monate einigermassen gut über die Runden kommen würden.
Silvias Gesundheitszustand war nun so schlecht geworden, dass ihr Hausarzt entschied, sie in eine Klinik für psychisch Kranke einzuweisen. Hier wurde sie während zweier Monaten therapeutisch betreut.
Heute wissen wir beide, warum sie diesen Leidensweg gehen musste. Der Grund war, dass sie sich sonst nur sehr schwer von unserem Heim und unseren Freunden hätte lösen können. Dabei wäre sie vielleicht gar nie bereit gewesen, alles aufzugeben und auf ein Schiff zu ziehen.
Silvia sagt heute dazu: "Ich hätte mich ohne diese totale Ablösung nicht mit ganzem Herzen für das Schiff einsetzen können."
Ihrem Therapeuten erzählte sie von unserem Vorhaben. Er befürwortete diesen Schritt und versicherte ihr, dass diese Veränderung ihr gut tun würde.
Ansonsten bekamen wir von Freunden nur wenig Unter-stützung, denn kaum jemand wollte glauben, dass wir mit unserem in ihren Augen verrückten Vorhaben Erfolg verzeichnen könnten.
Zuerst ging es darum, ein Konzept zu entwickeln. Silvia und ich beschlossen, die versprochene Flotte als Jugendschiffe einzusetzen. Wir dachten dabei an das deutsche Jugendschiffprojekt, das wir vor vielen Jahren kennen gelernt hatten.
Dieselbe Zielgruppe wollten wir erreichen: Verwahrloste Kinder, Teenager im Alter zwischen 12 und 18 Jahren, die sich der Aufsicht der Eltern durch Flucht entzogen.
Im sonntäglichen Gottesdienst sangen wir immer wieder ein Lied mit dem Titel 'Ruach'; es gefiel mir damals besonders gut. So kam es, dass wir unserem Projekt den Namen 'Ruach' gaben. Ruach ist Hebräisch und bedeutet Geist Gottes, Wind, Atem. Wir beschlossen, dass dieser Wind unser Schiff auch antreiben soll.
Als nächstes musste ein geeignetes Schiff gefunden werden. Silvia sagte zu diesem Thema: "Mich bringst du nicht auf einen alten Schrottkahn, ich wünsche mir für mich und unsere Kinder ein komfortables Schiff!"
Von verschiedenen Jachtbrokern hatte ich Schiffsunterlagen bestellt, jetzt gingen wir daran, diese auszuwerten. Auf dem Schiffsmarkt gab es einige Angebote, die sich als Jugendschiffe eigneten. Die wenigsten jedoch entsprachen Silvias Vorstellungen. Neuere Schiffe in geeigneter Grösse waren zu teuer. Wir konnten uns nicht vorstellen, wie wir mehrere Millionen beschaffen sollten.
Schiffe, die unter einer Million Schweizerfranken kosteten, waren alle sehr alt und entsprachen daher weder Silvias noch meinen Vorstellungen. Ausserdem sind alte Schiffe im Unterhalt zu teuer und deshalb unrentabel. Unsere finanziellen Mittel hingegen waren sehr begrenzt. Damals erachteten wir den Verkauf unseres Einfamilienhaus als einzige Möglichkeit, an eine grössere Geldsumme heranzukommen. Mit dem Erlös, so stellten wir uns vor, könnten wir wenigstens eine Anzahlung tätigen. Wir wagten jedoch nicht, diese Überlegungen mit unseren beiden Kindern zu teilen. Wir wollten sie möglichst wenig mit unseren verrückten Ideen belasten.
Ganz unten im Papierstoss der zu prüfenden Schiffsunterlagen befand sich seit Monaten die Beschreibung der Satansbraut. Ein Inserat in einer Fachzeitschrift hatte mich neugierig gemacht. Da sie in der Grösse etwa meinen Vorstellungen entsprach, bestellte ich ihre Unterlagen beim zuständigen Broker. Als ich dann die Papiere in meinen Händen hielt und darin erst den Schiffsnamen vernahm, legte ich sie angewidert gleich wieder weg. Ich dachte mir: "Dieses Schiff kann es ja wohl nicht sein."
Zur selben Zeit liess ich in einer christlichen Fachzeitschrift ein Inserat mit folgendem Text veröffentlichen: "Suche eine Familie, die mit uns, Ehepaar mit zwei Kindern, ein Jugendschiff-Projekt aufbauen will." Zwei Wochen später meldete sich Markus Reiffer aus Basel. Er erzählte mir mit freudiger Stimme: "Wir sind ein Ehepaar mit einem Sohn und zwei Töchtern. Ich bin ausgebildeter Sozialtherapeut und meine Frau ist Lehrerin. Ich habe nautische Erfahrungen und seit einiger Zeit den Eindruck, dass ich mich im Bereich Jugendarbeit auf einem Schiff betätigen soll.
Wir glauben, dass Jesus unser Erlöser ist."
Die Freude bei Silvia und mir war gross. So vereinbarten wir auf das kommende Wochenende ein erstes Treffen mit der ganzen Familie.
Bei uns zuhause fand der erste Kontakt statt.
Markus ist der Vater einer lebhaften Familie. Ihn lernten wir als einen intelligenten Mann kennen, mit Ideen, die für das Projekt sehr nützlich sein würden.
Regula, die Mutter, hatte ernsthafte Bedenken, mit den drei Kindern auf einem engen Schiff zu leben. Sie bestand darauf, dass sie nur mitmachen würde, wenn sie die Gewissheit habe, dass dies der richtige Schritt sei. Dies wollte sie sich vom Herrn selbst bestätigen lassen. Wir erwarteten gespannt, was geschehen würde.
Josua, Maria und Hanna waren ihre Kinder; sie sorgten dafür, dass es nie langweilig werden sollte.
Beim Durchforsten der vielen Schiffsunterlagen stiess ich erneut auf die Satansbraut und beschloss, genauere Unterlagen zu bestellen. Als ich diese erhalten hatte, entschieden wir, uns das Schiff anzusehen. Silvia und Markus bestanden darauf, mitzureisen. Also vereinbarte ich mit dem Jachtbroker einen Besichtigungstermin in Greifswald an der Ostsee.
Es war ein kalter Wintertag, als wir zum ersten Mal an Deck der Satansbraut standen. Ein eisiger Nordwind wehte uns um die geröteten Ohren. Der Broker, aus Hamburg angereist, erwartete uns zitternd und fast steifgefroren.
Mit den Händen in den Taschen und dem Kopf tief zwischen seinen Schultern sagte Markus zu mir: "Von aussen macht das Schiff einen sehr verwahrlosten Eindruck, dies sieht nach sehr viel Arbeit aus."
Ich stimmte ihm kopfnickend zu. Wir machten uns daran, das Schiff von oben bis unten zu inspizieren. Zwei 30 Meter hohe
Masten standen nackt und schmucklos da. Leinen, Bäume und Spieren waren abmontiert und lagen an Deck. Die meisten beweglichen Teile waren rostig und liessen sich nicht mehr bewegen. Der schwarze Rumpf wirkte düster und ungepflegt. An Deck löste sich die Farbe vom Zink-untergrund und verschmutzte das Deck zusätzlich. In den Ecken sammelte sich das Wasser aufgrund der verstopften Abflussrohre. An diesen Stellen fanden Moosschichten ihren geeigneten Nährboden.
Silvia, inzwischen neugierig, war unter Deck verschwunden. Etwas später hörte ich sie aufgeregt rufen: "Peter, komm zu mir!" Als ich unten ankam, zeigte sie mir begeistert die gemütlich wirkenden und neu ausgebauten Räumlichkeiten. Silvia sagte: "Dieses Schiff gefällt mir gut, auf ihm zu leben könnte ich mir gut vorstellen." Bereitwillig erzählte uns der Broker Einzelheiten der Geschichte der Satansbraut. Er sprach von einem Brand im Achterschiff und dass dies der Grund für den neuen Innenausbau sei. Er erzählte uns auch von Wüppert, der über Bord gefallen und ertrunken war.
Der Maschinenraum machte auf den ersten Blick einen guten Eindruck. Er war so eingerichtet, wie es sich Jachtleute wünschen. Alle Aggregate, Pumpen und Motoren waren übersichtlich und gut zugänglich angeordnet. Der Broker versicherte mir, dass die Maschinen regelmässig gestartet würden, um Standschäden zu vermeiden. Einzig die Seeventile waren festgerostet und liessen sich nicht mehr bewegen.
Als es langsam zu dämmern begann, verliessen wir das etwas unheimliche Schiff und gingen zu unseren Autos zurück.
Sie standen einige Meter daneben.
Als der Broker seinen alten, grauen Wagen aufschliessen wollte, stellte er schimpfend fest, dass dieser aufgebrochen war. Die Seitenscheibe war eingeschlagen und eine teure Fotokamera fehlte.
Unser Auto stand neu und weiss glänzend gleich daneben. In diesem Moment stellte ich fest, dass ich vergessen hatte, es abzuschliessen. Besorgt darüber, was mir alles gestohlen sein könnte, öffnete ich hastig die Wagentür. Aber alles war noch da, sogar der vergessene Geldbeutel. Als der Broker dies bemerkte, verstand er die Welt nicht mehr. Er bekundete dies mit einem wütenden Blick, den er zuerst auf meinen Wagen und dann auf mich richtete. Von diesem Moment an vermutete ich, dass etwas zwischen uns stehen würde.
Eine unbeschwerte Unterhaltung war nun nicht mehr möglich; auch nicht beim Abendessen, das wir zusammen in einem nahen Restaurant einnahmen.
Müde geworden verabschiedeten wir uns vom Broker. Er schien frustriert zu sein, mit uns keinen Vertragsabschluss erreicht zu haben. Um den erfolglosen Tag hinter sich zu bringen, wandte er sich schnell von uns ab. Er setzte sich in sein Auto und fuhr, aufgrund der eingeschlagenen Scheibe frierend, zurück Richtung Hamburg, seiner Heimatstadt.
Am nächsten Tag bewältigten wir die eintausend Kilometer zurück in die Schweiz. Bei dieser langen Fahrt hatten wir ausreichend Zeit, über das sonderbare Schiff nachzudenken. In seiner Vergangenheit waren alle, die mit ihm zu tun hatten, auf irgendeine Weise zu Schaden gekommen. Sogar der Schiffsbroker, der das erste Mal und nur für einige Stunden an Bord war, musste erkennen, dass die Satansbraut etwas Finsteres an sich hatte.
"Nein, dieses Schiff will ich nicht, auf keinen Fall", sagte ich trotzig zu meinen beiden Mitreisenden. Silvia und Markus versuchten vergeblich, mich vom Gegenteil zu überzeugen.
In diesem Moment - wir überholten gerade einen Lastwagen mit Anhänger - platzte diesem schwer beladenen Fahrzeug einer der Vorderreifen. Sogleich kam die Zugmaschine mit ihrem
Anhänger ins Schleudern und drohte, uns an die mittlere Leitplanke abzudrängen. Ich trat aufs Gaspedal und steuerte den Wagen dicht am immer stärker schlingernden LKW vorbei. Silvia schrie erschrocken auf und klammerte sich an die Wagentüre. Im Rückspiegel sah ich, wie das grosse Fahrzeug nach weiteren Schleuderbewegungen, für die es nun die ganze Autobahnbreite benötigte, doch noch auf dem Pannenstreifen zu stehen kam.
"Das war sehr knapp", sagte Silvia erleichtert und atmete tief durch.
Wieder zuhause angekommen, studierte ich erneut die vielen Schiffsunterlagen. Sie hatten sich in den letzten Monaten zu einem schweren Stapel Papier aufgetürmt.
Keines der vielen Schiffe überzeugte mich wirklich und keines verleitete mich dazu, eine weitere Besichtigungsreise zu planen. Wir fragten uns immer wieder, ob es Gottes Wille sein kann, eine Satansbraut zu erwerben und unser schönes Haus dafür herzugeben.
Mehrmals besuchte uns die Familie Reiffer, damit wir uns besser kennen lernten. Bei den vielen Gesprächen, die wir zusammen führten, beschlossen wir, einen weiteren Partner zu suchen. Wir stellten uns eine Trägerschaft vor, die uns mit ihren Erfahrungen Starthilfe geben könnte.
Inzwischen beschäftigte uns die Satansbraut zunehmend indem wir deren Vor- und Nachteile abzuwägen versuchten.
Zweifelsohne handelte es sich hier um ein sehr gutes Segelschiff. Um jedoch weitere Aspekte in Erfahrung zu bringen, nahm ich Kontakt mit der Werft auf, die das Schiff ausgebaut hatte. Hier erfuhren wir von den Spannungen zwischen Erben und Gläubigern und erhielten auch die Adresse des Nachlassverwalters, der das Schiff verkaufen sollte.
Sogleich nahm ich mit ihm Kontakt auf. Dieser berichtete mir von seinen Schwierigkeiten mit diesem Objekt, das er mittlerweile zu hassen schien, weil es ihm seit Jahren viel Ärger bereitete. Ausserdem sagte er, dieses Schiff würde auf keinen Fall über einen Broker verkauft und siebzehn weitere Kaufinteressenten würden sich darum bemühen. Trotz der zunehmenden Schwierigkeiten - oder vielleicht gerade deswegen - interessierte mich dieses finstere Schiff zunehmend. So hielt ich meinen Wissenstand auf dem Laufenden und mein Interesse aufrecht.
In der Schweiz stellten wir unser Vorhaben verschiedenen Unternehmen vor, die wir als Trägerschaft in Erwägung zogen. Markus befand sich im letzten Semester der Ausbildung als Sozialtherapeut. Hier hatte er die Frau eines leitenden Mitarbeiters vom Verein 'Teen Challenge' kennen- gelernt, einem christlichen Unternehmen, das in den Sechzigerjahren in New York gegründet wurde. Bereits seit Jahrzehnten waren sie weltweit in der Jugendarbeit tätig und hatten inzwischen ein professionelles Fachwissen erworben, auch im Bereich Projektaufbau.
Beim ersten Versuch, den Geschäftsleiter telefonisch zu erreichen, störte ich ihn in einer wichtigen Konferenz. So befürchtete ich, ihn schon etwas verärgert zu haben.
Bei einem weiteren Versuch, der mich viel Überwindung kostete, hatte ich mehr Glück.
Zumindest störte ich ihn diesmal nicht bei einer wichtigen Tätigkeit. Bevor ich die ersten Erklärungen zusammenkratzen konnte, durchfuhren mich Gedanken der Unsicherheit: Wie erkläre ich einem Fremden meine verrückten Ideen, die ja eigentlich gar nicht meine waren. Ohne finanzielle Mittel, ohne Jugendarbeiterfahrungen, ohne Konzept, ohne Schiff, nur mit
einer Vision und sonst nichts. Der Geschäftsleiter hiess Werner; er lauschte aufmerksam meinen Schilderungen. Nach einer kurzen Pause stellte er mit seiner ruhigen Stimme einige Fragen, die ich ihm bereitwillig beantwortete. Dann versprach er, mein Anliegen dem Vereinsvorstand vorzulegen.
Inzwischen war ich schon seit vielen Monaten arbeitslos. Einerseits genoss ich es, genügend Zeit zu haben, andererseits machte ich mir Sorgen um unsere Zukunft.
Regula teilte uns eines Tages freudig mit, dass sie die Bestätigung vom Herrn bekommen hätte, auf die sie so lange wartete. Von diesem Moment an stand sie ganz hinter unseren Plänen.
Von Teen Challenge bekamen Markus und ich eine Vorladung; wir sollten dem Vereinsvorstand unsere Vision vortragen. Viel später erfuhren wir, dass der Vorstand für diesen Sitzungstag nebst vielen anderen Traktanden noch ein neues Anliegen thematisieren wollte: "Neue Herausforderungen." Dabei dachten sie jedoch an den Aufbau eines neuen Drogentherapiezentrums in der Westschweiz und nicht an ein Schiff.
Trotzdem lauschten die Männer aufmerksam unseren Schilderungen, die wir möglichst selbstbewusst vorzutragen versuchten. Dann beteten wir gemeinsam um Gottes Führung. Herbert, der Präsident des Vereins, machte als Musiker Karriere und studierte später Theologie.
Als echter Pioniertyp gründete er verschiedene Gemeinden und übernahm schliesslich die Präsidentschaft dieses Vereins. Teen Challenge prüfte auf verschiedenen Wegen unsere Glaubwürdigkeit.
Einige Tage später erfuhren wir zu unserer grossen Freude, dass Teen Challenge uns unterstützen wolle.
Sie versprachen, uns für zwei Jahre in der Aufbauarbeit zu unterstützen und das Projekt solange finanziell zu tragen.
Wir waren dankbar, dass sich wieder eine weitere Türe geöffnet hatte. Als Arbeitsloser gab mir diese Zusage wieder etwas Sicherheit, zumal Teen Challenge uns beiden Männern sogar ein kleines Gehalt zusicherte. So fassten wir neuen Mut. Markus machte sich daran, ein Rahmenkonzept zu entwerfen, und ich brachte meine Vision zu Papier.
Gesamtvision Projekt RUACH
Jugendarbeit:
Wir wollen Jugendlichen, die aus irgendeinem Grund in Schwierigkeiten gekommen sind, einen geschützten Lebensraum anbieten. Aufgrund unserer Erfahrungen, die wir auf verschiedenen Schiffen als Familie gemacht haben, glauben wir, dass sich ein Segelschiff, besetzt mit einer Grossfamilie, gut dazu eignet, Menschen für den Glauben an den Herrn Jesus Christus zu gewinnen.
Evangelisation:
In vielen Häfen dieser Welt haben wir gestrandete Jachtleute getroffen, die durch persönliche Probleme oder aufgrund ihrer defekten Schiffe in Abhängigkeit geraten sind.
Ihnen möchten wir zeigen, wie sinnvoll ein Leben auf See sein kann
Expansion:
Weil wir den Auftrag haben, eine ganze Flotte von Schiffen für den Herrn einzusetzen, streben wir danach, eine grosse Anzahl von Jugendlichen und Seeleuten zu erreichen und ihnen unsere Hilfe anzubieten.
Offenheit:
Da wir die Pläne unseres Herrn nicht genau kennen, möchten wir für weitere Möglichkeiten offen bleiben. Unser Hauptanliegen wird jedoch die Jugendarbeit sein.
Kapitel 11
Schiffskauf
Die Satansbraut war immer noch das beste Angebot auf dem Schiffsmarkt. So machte ich mich daran, einen möglichen Schiffskauf vorzubereiten. Unser Ziel war ein Vertragsabschluss auf den kommenden Sommer.
Die Verhandlungen mit dem Nachlassverwalter gingen nur sehr schleppend voran. Mit der Zeit wurden sie dann so schwierig, dass Herbert beschloss, für die Abwicklung des Kaufes einen Anwalt mit einzubeziehen.
Wir brauchten noch weitere Informationen, was den Zustand des Schiffes betraf.
Markus und ich fuhren deshalb erneut die etwa eintausend Kilometer nach Greifswald. Wir hatten vor, die Satansbraut auf eine Werft in Stralsund zu überführen. Dort wollten wir sie aus dem Wasser heben lassen, um den Unterwasserschiff- bereich unter die Lupe zu nehmen.
In Greifswald angekommen machten wir uns sogleich daran, die Überführung vorzubereiten. Greifswald liegt am Fluss Ryckgraben. Um in die Ostsee zu gelangen, mussten wir zuerst dieses Gewässer durchfahren.
Ich überprüfte alle Aggregate und die Hauptmaschine. Unsicher über ihren wirklichen Zustand sagte ich zu Markus:
"Um uns bei einem möglichen Ausfall der Maschine oder eines anderen wichtigen Gerätes abzusichern, möchte ich für die ganze Überführung eine Schlepphilfe anfordern."
Im Museumshafen lag ein kleiner Schlepper, dessen Eigner und Kapitän gleich nebenan in einem Hausboot wohnte.
Es war etwa elf Uhr vormittags, als wir an Deck stiegen und gegen die Niedergangstür klopften.
Nichts rührte sich. So klopften wir noch einmal, diesmal etwas stärker. Als wir wieder an Land steigen wollten, hörten wir von unten ein klapperndes Geräusch. Endlich ging die Türe auf und ein hagerer Mann, den Kopf mit einer Schiffermütze bedeckt, blinzelte uns mit verschlafenen Augen und einem fragenden Gesicht an. Ich erklärte ihm unser Anliegen. Als er erfuhr, dass wir die Satansbraut kaufen wollten, war er gleich wach und begann von diesem Schiff zu schwärmen.
"Kommt doch herein, ich heisse Mike", sagte er und hielt uns die Türe auf, hinter der es steil in den Schiffsbauch hinunter- ging. Beim Eintreten bemerkten wir, dass sein Hausboot in den Abendstunden auch als Hafenkneipe diente.
Zu unserer Überraschung zeigte er uns ein Bild der Satans- braut, das eingerahmt hinter der Bar an der Wand hing. Er erklärte sich dazu bereit, die Satansbraut nach Stralsund zu schleppen. Wir planten, diese Überführung auf zwei Tage zu verteilen. Nachdem wir den Preis ausgehandelt hatten, verabschiedeten wir uns wieder.
Anschliessend fuhren wir mit dem Auto an die Flussmündung.
Hier befand sich eine Zugbrücke; sie mussten wir mit der Satansbraut passieren. Die hölzerne Brücke war kurze Zeit zuvor frisch restauriert worden und war jetzt ein echtes Schmuckstück und gleichzeitig das Wahrzeichen von Wieck.
Wieck ist eine kleine Ortschaft mit stilvollen weiss getünchten Häusern. Die meisten sind einstöckig und mit grossen, weit überhängenden Schilfdächern gedeckt.
Die Strassenbrücke wird bei jeder Schiffspassage geöffnet. Den Brückenwart fanden wir Zeitung lesend im Wärterhaus, welches zugleich seine Wohnung war.
Als er von uns vernahm, dass wir seine Brücke mit der Satansbraut passieren wollten, winkte er mit einer Handbewegung ab und sagte: "Dies wird nicht gut gehen, auf diesem Schiff liegt ein Fluch. Es ist besser für Sie, wenn Sie ihre Hände von diesem Schiff lassen, denn es wird Ihnen nur Unglück bringen."
Ich glaube, dass viele Leute in Greifswald so über dieses Segelschiff dachten, das nun schon seit vier Jahren in ihrem städtischen Hafen lag.
Der Brückenwart war dabei, den Verkehr zu stoppen. Dann öffnete er seine Brücke, damit die wartenden Schiffe durchfahren konnten. Als ich nun zum ersten Mal die geöffnete Brücke sah, hatte ich ebenfalls Bedenken. Die beiden Strassenteile liessen sich nicht senkrecht nach oben klappen. Einhellig konstatierten wir, dass diese Durchfahrt für die Grösse der Satansbraut sehr eng sein würde.
Am nächsten Morgen um zehn Uhr sollte dieses Manöver starten. Die Greifswalder Behörden hatten gewisse Bedenken, weil sie uns nicht ganz trauten und befürchteten, dass wir das Schiff entwenden könnten.
Deshalb beschlossen sie, eine Gerichtsvollzieherin mit auf die Reise zu schicken, die nun mit verschränkten Armen auf der Pier stand.
Der Nachlassverwalter vertrat die Besitzer, er war aus Berlin extra angereist; dazu musste er sehr früh aufgestanden sein, dementsprechend mürrisch blickte er unter seinem breitrandigen Hut hervor.
Er hoffte sehr, sein ungeliebtes Schiff endlich abstossen zu können.
Die Gerichtsvollzieherin öffnete ungeschickt das Kettenschloss, das um das Steuerrad im Ruderhaus gelegt war.
Die schriftliche Bewilligung hatte sie vom örtlichen Gericht und vom Hafenmeister erhalten, deren Vertreter ebenfalls kurz zuvor eingetroffen waren. Der klapprige alte Schlepper kam zu unserer Erleichterung ebenfalls pünktlich angedampft.
Froh darüber, dass alle Personen, die in dieser Angelegenheit ihre Zustimmung geben mussten, tatsächlich eingetroffen waren, übernahmen wir von Mike die Schleppleinen. Sie befestigten wir anschliessend an den vorderen Pollern. Die junge Gerichtsvollzieherin kletterte noch schnell an Bord. Dann lösten wir unter der Aufsicht vieler Augen die Landleinen und manövrierten das Schiff durch den Hafen. Endlich, nach vier Jahren, bewegte sich die Satansbraut wieder durch ihr Element! Durch die Schlepphilfe gesichert glitten wir langsam das Flussbett hinunter. Dabei hatte ich zum ersten Mal die Möglichkeit, die Fahreigenschaften des Schiffes kennen zu lernen. Vor der Brücke angekommen steuerten wir die Mole an, befestigten das Segelschiff, um da zu übernachten.
Auf der Mole stand eine Frau; sie hielt eine Kamera in der Hand und schoss mit ihr mehrere Bilder von unserem Boot. Diese Bilder sollten wir noch auf eine ungeahnte Weise zu Gesicht bekommen.
Mike, der Schlepperkapitän, versprach, am nächsten Morgen pünktlich um neun Uhr wieder hier zu sein. Dann dampfte er mit seinem Vehikel zurück nach Greifswald. Die Vollzieherin fuhr ebenfalls zurück, um zuhause zu übernachten.
Am nächsten Morgen stand sie pünktlich um neun Uhr wieder an Deck.
Markus und ich waren dabei, die Leinen vorzubereiten. Die Brücke konnte jeden Moment aufgehen.
Der Schlepper war noch nicht angekommen, sodass wir langsam ungeduldig wurden.
Kurz nach neun Uhr ging die Brücke auf und die ersten Schiffe passierten die enge Durchfahrt. Ich bemerkte, dass alle diese Schiffe bedeutend kleiner waren als die Satansbraut. Endlich kam Mike mit vollem Schub angefahren. Ich hatte mir vorgenommen, das kritische Manöver mit Mike genau zu besprechen, doch dazu fehlte uns nun die Zeit.
Schnell übergaben wir die Schleppleine, die Mike an seinem Poller befestigte. Dann rief er hinüber: "Ich werde euch mit einer eher hohen Geschwindigkeit hinüber ziehen!" Ich wusste warum: das Schiff würde dadurch leichter zu manövrieren sein. Und so geschah es dann auch. Schnaubend und prustend zog uns der alte Schleppkahn Richtung Brückendurchfahrt. Die Satansbraut reagierte mit ihren 150 Tonnen Gewicht sehr träge. Die Steuereinschläge wurden kaum spürbar übertragen, sodass ich alle Mühe hatte, das Schiff auf Kurs zu halten. Der kleine Schlepper passierte die Durchfahrt reibungslos.
Die Distanz zur Brücke wurde schnell kleiner und meine Bedenken, ob dies wohl gut gehen würde, ebenso schnell grösser. Bedrohlich zeigten die Strassenteile in den Himmel. Stoppen konnte ich nicht, weil der Schlepper nun mit voller Kraft zog und ich ihm komplett ausgeliefert war, so kam es mir wenigstens vor. Der Satansbraut fehlten auf Steuerbord einige Zentimeter. Dies kündigte sich durch einen lauten Knall und die durch die Luft wirbelnden Holzsplitter an. Unser Schiff hatte mit ihrem dicken Steuerborddrahtseil an der Brücke eingehängt! Die 24 Millimeter dicke Want zerriss und ein zweites wurde stark gedehnt.
Schliesslich blieb unser Schiff, plötzlich abgebremst, schief zwischen den beiden Brückenteilen stehen.
Mit Maschinenkraft gelang es mir, die Satansbraut wieder zu befreien und die Durchfahrt doch noch zu passieren. Auf der anderen Seite der Brücke hatten wir keine Möglichkeit anzulegen. So waren wir gezwungen, weiterzufahren. Über Funk meldete sich Mike.
Er fluchte, dass sich die Balken bogen. Kurz darauf meldete sich der Brückenwart auf demselben Kanal und übertönte mit seinem Gebrüll Mikes Stimme.
Wir legten den Hörer auf und stellten das Gerät leise. In einem Punkt waren wir uns sicher: die Verantwortung lag beim Schleppverband-Kapitän und nicht bei mir. Die Vollzieherin stand mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen stumm in einer Ecke des Kartenhauses. Dann schien die junge Frau neuen Mut zu fassen und war bereit, hinzunehmen, was auch immer wir noch anstellen würden. Nach einer Weile meldete sich Mike erneut über Funk.
Mit aufgeregter und lauter Stimme sagte er:
"Die kriegen sie nicht mehr zu! Over."
"Was kriegen sie nicht mehr zu? Over", antwortete ich.
"Na, die Brücke - wir haben sie verschoben! Over", war seine ungeduldige Antwort.
"Scheisse! Over and out", und dann legte ich den Hörer wieder zurück in die Gabel.
"Dies bedeutet, dass die Hauptverkehrsachse von Wieck unterbrochen ist", sagte Markus mit besorgter Stimme und nachdenklichem Gesichtsausdruck.
Inzwischen hatten wir die Flussmündung passiert und fuhren ins offene Gewässer der Ostsee.
Vom Erlebten immer noch aufgewühlt wollte die Vollzieherin von uns wissen, wo denn die Toilette sei. Hilfsbereit, wie Markus nun einmal ist, führte er sie unter Deck und zeigte ihr den Weg. Kurz darauf stand er wieder im Kartenhaus und half mir, das Schiff durch das eng betonnte Fahrwasser mit seinen vielen Untiefen zu manövrieren.
Es waren etwa zwanzig Minuten vergangen, als mich Markus mit verwunderter Stimme fragte:
"Wo ist eigentlich unsere Vollzieherin?"
"Auf der Toilette", war meine Antwort.
"Was, immer noch?", sagte Markus verwundert.
Wir schauten uns gegenseitig an und lachten lauthals, wohl wissend, was geschehen war.
Die Toilettentür hatte hin und wieder die tückische Eigenschaft, zu klemmen, sodass sie sich von innen nicht mehr öffnen liess. Mit leichter Schadenfreude versuchten wir uns vorzustellen, was die Eingeschlossene in ihrer Situation wohl annehmen würde. Bestimmt glaubte sie, wir hätten sie eingesperrt und würden nun sie und die Satansbraut doch noch entführen. Einen kurzen Moment genossen wir den Gedanken. Doch dann erweichte uns ein langsam aufkommendes Mitleid.
"Also, befreien wir sie wieder", sagte Markus nachgebend und stieg den Niedergang hinunter, um die in Bedrängnis Geratene zu befreien.
Erleichtert darüber, nicht entführt worden zu sein, lachte die Vollzieherin nun mit uns über das eben Erlebte.
Das Eis war gebrochen, so dass wir die restliche Überfahrt gewissermassen als Vergnügungsausflug erlebten.
Am späten Nachmittag erreichten wir dann die Schiffswerft in Stralsund.
Die Gerichtsvollzieherin, die sich inzwischen als sehr nette junge Frau entpuppt hatte, verabschiedete sich von uns, noch bevor wir das Schiff richtig belegt hatten.
Mike berichtete uns, dass er während der ganzen Überfahrt Funkkontakt mit der Versicherung, der Polizei und dem Hafenamt hatte. Er befürchtete, dass es für ihn noch viel Ärger geben werde. Etwas in seinen Bart knurrend wendete er sich von uns ab, stieg hinüber auf seinen Schlepper, startete die Maschine und band seine Leinen los. Ohne sich zu verabschieden, legte er mit seinem rauchenden Vehikel ab, wendete es und machte sich auf den Rückweg nach Greifswald.
Früh am nächsten Morgen verholten wir in das für uns vorbereitete und geflutete Trockendock. Dann wurde die Satansbraut befestigt, indem die Werftarbeiter dicke Stahlseile um beide Masten banden und diese mit der Hilfe starker Winden fest anzogen. Danach wurde das Schiff durch das Leerpumpen der gefluteten Tanks im Dock langsam aus dem Wasser gehoben.
Zum ersten Mal zeigte uns die Satansbraut die harmonischen runden Linien ihres tiefen Unterwasserschiffes. Die Werftarbeiter erhielten von uns den Auftrag, das Unterwasserschiff, welches stark verschmutzt war, zu reinigen. Dazu hatten sie ein Hochdruckgerät, das mittels starkem Wasserstrahl Muscheln und anderen Bewuchs von der Bordwand löst und wegschwemmt.
Mein Wagen befand sich noch in Greifswald. So marschierten wir am nächsten Morgen zum Hauptbahnhof und stiegen in den Städtezug, um mein Auto abzuholen.
Im selben Bahnabteil sass ein älterer Herr Zeitung lesend neben uns.
Ich erschrak heftig, als ich sah, dass auf der Titelseite die Satansbraut abgebildet war.
Darüber stand mit fetten Lettern geschrieben:
"Satansbraut rammt Brücke von Wieck!" Auf dem Bild war der Bug mit Namenschild abgebildet. Im Hintergrund konnte man die geschlossene Brücke von Wieck erkennen.
Ich stiess Markus in die Seite, er hatte das Bild noch nicht bemerkt. "Hey Markus, schau mal", flüsterte ich ihm zu und deutete auf die Zeitung. Markus sah auf und hielt einen kurzen Moment beide Hände vor sein Gesicht. Dann blickte er von der Seite zu mir und sagte flüsternd: "Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich mich über den unverhofft erhaltenen Bekanntheitsgrad freue."
"Bestimmt sind wir das Tagesgespräch dieser Gegend", fügte ich sauer hinzu.
Später erfuhren wir, dass auch noch in anderen Zeitungen Berichte erschienen waren, die unser Missgeschick beschrieben.
Um die Mittagszeit fuhren wir mit dem Auto wieder zurück nach Stralsund. Als wir auf das Werftgelände einbogen, sahen wir schon von weitem ein blinkendes Blaulicht und mehrere Fahrzeuge. Ein beunruhigendes und ekliges Gefühl stieg langsam in mir hoch, denn die Fahrzeuge standen in der Nähe der Satansbraut. Als wir näher rollten, bemerkten wir ein rotes Feuerwehrauto; aufgeregt eilten Feuerwehrleute umher. Daneben stand ein Polizeiwagen, und die Wasserschutzpolizei kreuzte mit einem Boot vor dem Trockendock. So, als ob dies nicht genug wäre, stand da auch noch ein Ambulanzwagen mit umhereilenden, weiss gekleideten Notfallhelfern.
Mit einer deutlich beunruhigten Stimme sagte Markus: "Hey, die stehen vor der Satansbraut, was ist da wohl geschehen?"
"Mich trifft gleich der Schlag", war meine Antwort.
Dies sind genau jene Augenblicke, die man nie vergisst.
Dann, wenn sich eine bedrohliche Katastrophe anbahnt, unaufhaltsam und real, wünsche ich mir manchmal eine Zeitmaschine, mit der ich per Knopfdruck einige Stunden oder Tage überspringen könnte.
Der erbarmungslosen Realität ins Auge blickend, stoppte ich den Wagen, schaltete den Motor aus und stieg mit schlotternden Knien aus.
Sogleich wurden wir von einer Horde aufgebrachter Beamten und Werftarbeiter bedrohlich umringt. "Ist das euer Schiff?", wollte einer der Polizisten wissen.
Markus sagte mit unschuldiger Miene: "Wir haben vor, das Schiff zu kaufen."
"Wer hat im Moment die Verantwortung für dieses Schiff?", fragte der Polizist mit einem bedrohlichen Unterton und fand es absolut absurd, die Satansbraut kaufen zu wollen.
"Die Werft ist verantwortlich", sagte Markus nüchtern.
Ohne uns weiter zu Wort kommen zu lassen, wurden wir von der Polizei über das Geschehene aufgeklärt.
Ein Arbeiter war dabei, den Rumpf mit Wasserhochdruck zu reinigen. Plötzlich durchschlug der Wasserstrahl die Bordwand - und dies ausgerechnet auf der Höhe des Dieseltanks.
Es war ein daumengrosses Loch entstanden, aus dem mit hohem Druck Dieselkraftstoff spritzte, welcher das Dock verschmutzte.
Der unglückliche Werftarbeiter stand an der denkbar ungünstigen Stelle:
Der ausströmende, hochgiftige Kraftstoff spritzte ihm direkt in den vor Schreck geöffneten Mund.
Als wäre dies nicht genug des Unglücks, schluckte er die Sauce auch noch herunter, anstatt sie auszuspucken.
Ich wusste, dass sich im beschädigten Seitentank noch mehrere Tonnen Dieselkraftstoff befanden.
Um das weitere Auslaufen zu verhindern, hätte einer der Arbeiter seinen Daumen in das Loch reinstecken oder die Handfläche draufdrücken sollen. Stattdessen suchten sie erst nach einem Holzpfropfen, den sie in das Loch schlagen wollten. Da dies aber einige Zeit beanspruchte, lief das Dieselöl via Trockendock ins Meerwasser.
Im Wasser breitete sich schnell ein Ölteppich aus, der das gegenüberliegende Naturschutzgebiet zu verschmutzen drohte.
Die Feuerwehr und die Wasserschutzpolizei waren eben damit beschäftigt, eine Ölsperre zu errichten, während der Ambulanzwagen Richtung Spital fuhr, um dem Dieselschlucker den Magen auszupumpen.
Ich überlegte, wie ein Wasserstrahl eine 8 Millimeter dicke Stahlplatte durchschlagen kann. Auf diese Frage habe ich bis heute keine befriedigende Antwort gefunden.
Im Moment war dies für mich eine Geschichte, die nur auf einer Satansbraut geschehen konnte. So beschloss ich, dem ein Ende zu setzen:
Ich stieg die Leiter hinauf an Deck. Hier holte ich das passende Werkzeug und löste, angetrieben von meinem Zorn, die drei Namensschilder von Bug und Heck. Dann verstaute ich sie tief unten im Achterpik.
Ich glaube, ein grosser Teil der Beamten und der Arbeiter dachte, dass solche Vorkommnisse für ein Schiff mit diesem Namen normal sind.
Nach etwa einer Stunde war das Loch abgedichtet und die Ölsperre aufgestellt.
Polizei und Feuerwehr waren inzwischen auch wieder abgezogen. Am meisten erstaunte mich, dass wir nie eine Busse für das verschmutzte Wasser bekommen hatten. Weder eine Reparaturrechnung für die beschädigte Brücke noch eine Schadensersatzrechnung oder Schmerzensgeldforderung.
Von dem, was in den letzten beiden Tagen geschehen war, bekamen wir nur zu hören, dass es dem Werftarbeiter, der den Dieselstrahl abbekommen hatte, wieder gut gehen würde. Sonst gab es keinerlei Reaktionen, die bis zu uns durchgedrungen sind.
Bis zur Entscheidung über den Kauf des Schiffes liessen wir es im Trockendock stehen.
Am nächsten Morgen machten wir uns auf, Richtung Schweiz zu fahren. Vom vielen Stress der letzten Tage waren wir sehr erschöpft.
Wir fuhren auf der Autobahn Richtung Rostock, als plötzlich ein Lastwagen mit Anhänger die Fahrspur wechselte. Dabei streifte dieser unser Auto und beschädigte es stark. Diesmal war ich einfach zu müde, um rechtzeitig zu reagieren. Mein Fehler war, eines der schwer zu erkennenden Verkehrsschilder zu übersehen, die als Überbleibsel der Ex-DDR immer noch zahlreich herumstanden. Der Blechschaden war gross und die Schuldfrage nicht eindeutig. In einer Werkstatt liessen wir das Blech soweit zurechtbiegen, dass ein Weiterfahren wieder möglich war.
Auf der restlichen Heimfahrt sprachen wir über alles Erlebte. Ich mochte dieses Schiff nicht, weil es mir schon damals so viel Ärger einbrachte. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass es sich als Jugendschiff sehr gut eignen würde.
In der Schweiz angekommen informierten wir den Teen Challenge Vorstand über den Zustand der Satansbraut.
Aufgrund dieses Berichtes wurden die Preisverhandlungen vorangetrieben, und schliesslich wurde der Kaufvertrag zur Erleichterung und Freude des Nachlassverwalters unterzeichnet.
Der grösste Teil des Geldes wurde zur Rückzahlung der Hypothek verwendet.
Um die Restsumme wurde noch lange heftig gestritten; einen kleinen Betrag davon erhielt der Nachlassverwalter.
Diese Summe reichte jedoch bei weitem nicht aus, um die entstandenen Unkosten zu decken. Auch andere Gläubiger mussten Verluste verbuchen, und die Erbengemeinschaft ging leer aus.
Kapitel 12
Instandstellung
Wir planten, unser Schiff in den kommenden drei Sommer- monaten wieder in einen seetüchtigen Zustand zu bringen. Markus würde in dieser Zeit mit seiner Familie in der Schweiz bleiben. Er hatte den Auftrag, das Projekt bei den Jugendämtern bekannt zu machen. Im September wollten wir dann unser Schiff, besetzt mit beiden Familien, nach Portugal überführen.
Anfang Mai war es dann soweit. Mit unseren beiden Jungs, Patric und Dominic, mit viel Gepäck und einem mulmigen Gefühl im Bauch, reisten wir nach Stralsund, der Ungewissheit entgegen.
Auf dem Schiff richteten wir uns zuerst häuslich ein, was vor allem Silvias Aufgabe war. Dann nahmen wir die Renovationsarbeiten in Angriff.
Zuerst wurde der bisher schwarze Rumpf weiss gestrichen. Danach schraubte ich drei neue Namensschilder auf die Bordwand. Von nun an hiess unser Schiff RUACH. Dieser Name war komplett gegensätzlich zum alten Namen und würde den veränderten, neuen Besitzanspruch zusätzlich unterstreichen.
Nachdem das Unterwasserschiff repariert und ein neuer Anstrich aufgetragen worden war, liessen wir die Ruach zurück in ihr Element gleiten. Anschliessend verholten wir auf eine andere Werft, um einen Teil der Takelage auszutauschen.
Von Teen Challenge erhielten wir zur Unterstützung eine Delegation Therapieteilnehmer mit deren Leitern.
Sie halfen uns eine Woche lang, beim Entrosten und Neustreichen des Deckes.
In Stralsund hatten wir inzwischen guten Kontakt zur örtlichen Elim-Gemeinde, deren Mitglieder sich sehr für unser Projekt interessierten. Einige von ihnen kamen immer wieder an Bord und unterstützten uns mit Rat und Tat. Die Elim-Gemeinde ist eine der christlichen Einrichtungen, die die Unterdrückung der DDR-Zeiten überlebt haben.
Im Juli kamen Markus und Regula Reiffer mit ihren drei Kindern und dem ersten Jugendlichen an Bord. Sie hatten einen grossen Teil ihres Haushaltes mitgebracht, ihn galt es nun irgendwie und irgendwo zu verstauen.
Als dann schliesslich alles seinen Platz gefunden hatte, stellten wir fest, dass die Ruach wegen der umfangreichen Zuladung etwas tiefer im Wasser lag, jedoch immer noch schwamm.
Der Jugendliche hiess Beat. Er war bisher in einem Therapiehaus von Teen Challenge platziert und sollte bei uns für die Zeit der ersten Überfahrt ein Time-Out-Programm absolvieren.
An einem sonnigen Morgen stand ein deutscher Journalist auf der Mole. Er interessierte sich für unsere Arbeit, worüber wir ihm bereitwillig Auskunft gaben. Nach ein paar Wochen erschien ein Bericht, den er in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht hatte; die dunkle Zeit und die anschliessende positive Veränderung unseres inzwischen berühmten Schiffes wurde also bekannt, und ich bin überzeugt, dass dadurch viele Menschen die Botschaft erhalten und richtig verstanden haben: Wenn sich jemand mit dunklen Mächten einlässt, so wie es Wüppert getan hatte, hat dies negative Folgen für sein zukünftiges Leben.
Die Schiffstaufe fand im Juli statt. Alle Vorstandsmitglieder von Teen Challenge reisten nach Stralsund, um zum ersten Mal ihr jüngstes Kind, die Ruach, zu besichtigen und um mitzufeiern.
Einige Tage später - unsere Gäste waren eben wieder abgereist - erschien ein älterer Mann auf der Mole und betrachtete nachdenklich unser Schiff.
Ich war mit Takelarbeiten beschäftigt, als er mich mit einem undefinierbaren Akzent ansprach.
"Wissen sie, was Ruach bedeutet?", wollte der Herr mit Hut von mir wissen.
Ich erklärte ihm mit wenigen Worten: "Der Name bedeutet Wind oder Atem und ist Hebräisch."
Bevor ich mich wieder meiner Arbeit zuwenden konnte, sagte er: "Nein, Ruach bedeutet Sturm."
Mit diesen Worten liess er mich verdutzt stehen und entfernte sich. Heute erkenne ich, was er damit meinte. Aber damals hoffte ich, dass nicht allzu viele Stürme auf uns zukommen würden.
In den folgenden Wochen gewöhnten sich unsere Kinder an das Bordleben. Eine ihrer grossen Leidenschaften war das Angeln. Mit der Zeit waren sie sehr erfolgreich damit. So erfolgreich, dass sie manchmal die einzelnen Arbeitsabläufe aufteilen mussten.
Dies gestaltete sich dann etwa so: Eines unserer Kinder warf die Angel aus und zog nach verblüffend kurzer Zeit einen zappelnden Fisch aus dem Wasser.
Ein anderes Kind stand bereit, um den Fisch vom Haken zu operieren. Während das Erste bereits einen neuen Köder auf den Haken stach und sogleich die Angel wieder auswarf, machte sich ein drittes Kind daran, den gefangenen Fisch zu erdrosseln oder zu erschlagen.
Das Entschuppen und Ausweiden übernahm dann wieder ein weiteres Kind. Dieses Gemetzel dauerte vielfach stundenlang und füllte im Laufe des Tages den Eimer mit bedauernswerten, aber leckeren Fischen.
Viel später, in Spanien, beobachtete ich einmal meinen Sohn Patric, wie er Fische aus einem Hafenbecken fing. Das Besondere daran war, dass er dies lediglich mit einem Ast, versehen mit Schnur und Haken tat.
Nur wenige Meter hinter ihm stand ein Mann mit einer offensichtlich teuren und sehr umfangreichen Fischerausrüstung. Der neidische Blick, den er ab und zu meinem Sohn zuwarf, verriet, dass er selbst bisher keine Fangerfolge verbuchen konnte. Um ehrlich zu sein, muss ich zugeben, dass mein schlauer Sohn auf der anderen Seite der Mole angelte. Auf dieser Seite nämlich, wo sich die Fische aufgrund des bestehenden Angelverbots sicher fühlten und deshalb viel zahlreicher und beissfreudiger waren.
Patric war damals sechs Jahre alt und machte soeben die Erfahrung, dass man auch mit sehr einfachen Mitteln erfolgreich sein kann. Wer hätte denn dem kleinen Jungen, der mit einem krummen Ast bewaffnet auf der Mole sass, das Angeln verbieten und dieses idyllische Bild zerstören wollen. Niemand - und Patric wusste dies genau!
Kapitel 13
Die Überführung
Wir hatten uns sehr darum bemüht, unser Schiff in der Schweiz registrieren zu lassen. Leider ist uns dies nicht gelungen. Das schweizerische Seeschifffahrtsamt wollte die Verantwortung der Aufsicht eines Jugendschiffes nicht übernehmen. So trafen wir einen Kompromiss und liessen die Ruach für die ersten Monate weiterhin im deutschen Register stehen. Dies bedeutete, dass wir die Reise nach Portugal unter Deutscher Flagge fahren würden.
Endlich war es dann soweit! Es war Ende August im Jahr 1995. Die Arbeiten am Schiff waren weitgehend abgeschlossen, und wir hatten einen herrlichen, norddeutschen Sommer hinter uns, mit langen, sonnigen Tagen.
Nun mussten wir Abschied nehmen von all den Freunden, die wir in Stralsund und Greifswald kennen gelernt hatten; ausser von den beiden jungen Männern, die uns bei der Überführung behilflich sein wollten.
Die übrigen standen an diesem Morgen auf der Mole und blickten uns wehmütig mit Tränen in den Augen nach. Sie winkten uns nach, bis wir aus ihrem Blickfeld verschwunden waren. Da wurde mir bewusst, dass diese Arbeit in Zukunft immer wieder vom Abschiednehmen geprägt sein würde; Abschiednehmen von Freunden, denen wir für kurze Zeit nahe kommen sollten und von denen wir uns dann wieder trennen mussten.
Wir steuerten die Ruach hinaus ins Bottengewässer, wo die Wassertiefe so gering ist, dass mich dieses Seegebiet eher an eine überflutete Wiese erinnert.
Hier konnten wir die Ruach aufgrund ihres Tiefgangs nur in betonntem Fahrwasser bewegen.
An diesem ersten Tag beschränkten wir die Fahrt auf ein paar wenige Meilen und gingen abends vor der Ostküste Rügens vor Anker.
Dieser Tag war für die Ruach der Anfang einer Reise, die viele Jahre dauern würde; rastlos und ohne Heimathafen. Eine Reise, die mindestens bis heute andauert, während ich diese Zeilen in der Kapitänskajüte der Ruach schreibe.
An diesem ersten Abend vor der malerischen Küste Rügens bekamen wir einen Anruf.
Ein Jugendarbeiter aus Greifswald hatte von unserer Arbeit gehört. Er fragte uns, ob wir einen Jugendlichen aus seiner Gemeinde aufnehmen könnten. Dieser hätte Drogenprobleme und müsse so schnell wie möglich Distanz zu seinem gewohnten Umfeld bekommen, erklärte er uns. Dann musste der Jugendarbeiter noch gestehen, dass die Finanzierung nicht geregelt, oder anders gesagt, sehr unsicher sei. Eine schnelle Entscheidung musste getroffen werden.
Am nächsten Morgen telefonierten wir mit Teen Challenge in der Schweiz und berieten anschliessend im Team, was zu tun sei; zusammen entschieden wir, den Jungen aufzunehmen. Anschliessend holten wir den Anker auf und steuerten, anstatt wie geplant in die Ostsee, ein weiteres mal das Festland an. Als wir in den Hafen einliefen, sahen wir schon von weitem einen struppigen, blonden Jungen in zerrissener Kleidung auf der Mole stehen. Neben ihm lag ein unordentlicher Haufen mit Klamotten.
Dieser Jugendliche hiess Robert; er stammte aus der Greifswalder Punkszene und machte auf uns einen sehr verwahrlosten Eindruck.
Seine Kleider waren schmutzig und zerlumpt. Eine Ausnahme bildeten lediglich seine schwarzen Lederstiefel: sie waren sauber und mit roten Schnürsenkeln bestückt. Ich liess mir erklären, dass sich der Besitzer roter Schnürsenkel zur linken Punkszene bekennt.
Die rechten Punks trugen weisse Schnürsenkel, und natürlich waren beide Gruppen bis auf das Äusserste zerstritten. So stark zerstritten, dass sich einzelne nicht mehr ausser Haus zu gehen trauten. Nach meinen bescheidenen Kenntnissen ist niemals ein Punk auf die Idee gekommen, bunte Schnürsenkel zu tragen. Dadurch hätte dieser eine gewisse neutrale Gesinnung vortäuschen und ohne Furcht die Strasse betreten können.
Für Robert waren die Schnürsenkelprobleme von dem Moment an gelöst, als er die Ruach betrat. Ihn quartierten wir in eine der vorderen Kabinen ein. Dann schoben wir ihn mit sanfter Gewalt unter die Dusche.
Was aus der Dusche hervorkam, war ein ruhiger, junger Mann, zwar immer noch struppig, aber dennoch irgendwie sympathisch.
Noch am gleichen Tag stachen wir in See und setzten zum ersten Mal die Segel. Die Ruach kann insgesamt über 500 Quadratmeter Segel tragen. Um sie zu setzen, mussten wir uns ganz schön anstrengen. Unser Schiff entpuppte sich als ein sehr lebendiger Segler. Die enormen Kräfte zu bändigen, war nicht einfach. Irgendwie erinnerte mich unser Schiff an ein wildes Pferd, das es noch zu zähmen gilt.
Faszinierend war die Leichtigkeit, mit der die Ruach über das Wasser glitt. Ein richtiger Schoner mit seinen typischen Eigenschaften: eher schwierig zu segeln, dafür aber mit umso hervorragenderen Segeleigenschaften.
Als es eindunkelte, legte sich der Ostseewind, und wir mussten die Segel wieder bergen. Die folgende Nacht reisten wir unter Maschine, sodass wir am nächsten Mittag vor der Insel Fehmarn vor Anker gehen konnten. Teen Challenge Deutschland hatte hier ein Therapiehaus, dessen Mitarbeiter uns besuchen kamen. Am nächsten Tag segelten wir Richtung Kieler Förde und gingen vor der Mündung des Nord-/Ostseekanals erneut vor Anker.
Der Kanal selbst war eine echte Knacknuss, da wir allzu spärliche Informationen besassen, die uns Aufschluss bezüglich der Revierregeln gegeben hätten.
Irgendwie kamen wir dann doch noch nach Brunsbüttel, der Ortschaft am anderen Ende des Kanals. Hier wollten wir die Nacht auf Sonntag verbringen, um tags darauf die Elbeschleuse zu passieren. Unsere beiden Helfer aus Stralsund, Thorsten und Ronald, machten sich landfein. Sie hatten vor, die Ortschaft auszukundschaften. Als sie dann am späten Abend wieder zurück waren, erzählten sie begeistert, dass wir am nächsten Morgen zum Gottesdienst eingeladen seien. Sie hätten in der Stadt Leute von der Zeltmission kennen gelernt und ihnen von unserer Arbeit erzählt. Darauf fanden diese, dass wir vor der Gemeinde ein Zeugnis geben sollten.
Unsere lieben Freunde glaubten, dass dies eine glänzende Idee sei. Sie waren überzeugt, dass Markus und ich die geeigneten Personen seien, um am Sonntagmorgen vor der Gemeinde einen Unterhaltungsbeitrag zu leisten. Sie trauten uns zu, dass wir dieses Angebot begeistert annehmen würden. Anstatt einen ruhigen Sonntagmorgen zu geniessen, standen wir dann auf dieser hölzernen Bühne vor der Gemeinde in Brunsbüttel.
Wir versuchten, unseren Zuhörern etwas Unterhaltung zu bieten und natürlich auch ein Zeugnis zu geben.
Für die Zukunft nahm ich mir vor, die Landgänger darüber zu informieren, dass ich keine Karriere als Prediger plane.
Die Schleusendurchfahrt verschoben wir daher auf den Montag, denn in der Regel genügt mir eine Herausforderung pro Tag.
Die Elbe und Nordsee durchquerten wir sodann mit gutem Wetter.
Die ersten Herbststürme kamen uns vom Westen her entgegen. Die Ruach hatte nun die Gelegenheit, ihre Seetüchtigkeit und ihr gutes Seeverhalten unter Beweis zu stellen. In Ostende planten wir, einen Zwischenhalt zu machen, um eine neue Mitarbeiterin anzuheuern.
Mit viel Wind segelten wir Richtung Hafeneinfahrt, wo wir dann die Segel bargen. Auf der hölzernen Hafenmole stand eine grosse Anzahl Menschen, die uns beobachteten. Aus ihrer Sicht muss die Ruach prächtig ausgesehen haben.
Als wir durch die Hafeneinfahrt fuhren, entdeckte ich zwischen den vielen Leuten eine Gestalt, die wild, mit beiden Armen über dem Kopf, winkte.
Als die Ruach dann im Hafen lag, kam unsere neue Mitarbeiterin an Bord. Sie erzählte aufgeregt: "Ich habe euch schon von weitem gesehen, wie ihr unter vollen Segeln näher kamt. Als ihr dann die Hafeneinfahrt passiert habt, hat es mir beide Arme hochgerissen. Ich konnte sie solange nicht mehr herunternehmen, bis die Ruach durch die Einfahrt gefahren war. Ich kann mir dies nicht erklären; die anderen Molengänger, die in meiner Nähe standen, haben sich bestimmt sehr gewundert."
Drei heftige Sturmtage liessen wir geschützt im sicheren Hafen verstreichen und nutzten die Zeit, um die Vorräte aufzufüllen, Frischwasser zu bunkern und den Kompass zu justieren. Dann verliessen wir den Hafen in die immer noch stürmische Nordsee, wo uns ein starker Nordwind erwartete. Nach wenigen Stunden segelten wir in die Seegangs Abdeckung von England. In ruhigerem Gewässer und mit steifem Wind passierten wir den englischen Kanal, überquerten die Biskaya und ereichten dann nach fünf Tagen La Coruña in Spanien.
Kaum waren wir angekommen, frischte der Wind erneut bis Sturmstärke auf und machte uns das Hafenleben schwer. Es war schwierig, einen Liegeplatz zu finden, an dem wir unser Schiff sicher festmachen konnten. Dieser Hafen war so unruhig, dass die Festmacherleinen der Ruach zu zerreissen drohten.
Auf einer Segeljacht, die in unserer Nähe ankerte, lebte ein englisches Ehepaar, das die Welt umsegeln wollte. Sie hatten im starken Wind Probleme mit dem Ankergeschirr. Es hatte sich mit dem Hafenmüll, der auf dem Grund des Hafenbeckens lagerte, verhakt. Der Mann kauerte im Beiboot, um den Anker zu befreien, was bei dieser Windstärke sehr schwierig war.
Irgendwie hatte er sich dann in dem Durcheinander von schwerem Unrat und Ankerkette verfangen. Das Ankergeschirr rutschte zurück ins Wasser, als eine steile Welle das Beiboot fast zum Kentern brachte. Den Skipper zog es mit auf den Hafengrund.
Seine Frau, die bisher am Steuerruder gestanden hatte, um das Schiff in den Wind zu lenken, geriet in Panik und schrie um Hilfe. Doch diese kam zu spät; der Mann konnte sich nicht mehr befreien und ertrank.
Die beiden wollten sich einen Lebenstraum erfüllen. Jahrelanges Arbeiten und verbissenes Sparen waren nötig, um schliesslich eine kleine Segeljacht kaufen zu können. Und jetzt, gleich zu Beginn der geplanten Reise, war alles aus, von einer Minute auf die andere.
Unfälle geschehen oft am Anfang einer Reise, weil die Jachtis noch wenig Erfahrung haben.
Die See ist nicht zu unterschätzen, sie fordert stetige Aufmerksamkeit und viel Erfahrung. In der darauf folgenden Nacht forderte sie meine Aufmerksamkeit.
Wir lagen an einer Steinmole. Starker Schwell bewegte die Ruach vor und zurück. Die Festmacherleinen drohten wie gesagt zu zerreissen. Ausserdem machte die Ruach starke Stampfbewegungen. Der Wind drückte den Bug gegen die Mole, sodass der Klüverbaum jeden Moment auf die Mole aufschlagen konnte. Dies hätte unweigerlich bedeutet, dass er abbricht, und grosser Schaden wäre entstanden. Langsam kam Wut in mir hoch, weil ich dringend Schlaf gebraucht hätte. Immer wieder konnte ich nur knapp verhindern, dass die Ruach mit ihren mehr als einhundertfünfzig Tonnen Gewicht den Klüverbaum auf die Mole schlug.
Schliesslich betete ich zum Herrn und sagte ihm:
"Herr, ich brauche meinen Schlaf, die Ruach ist dein Schiff, und es ist deine Verantwortung. Du hast dieses Schiff gewollt, und ich gehe jetzt schlafen." Was ich dann auch gleich gemacht habe.
Am nächsten Morgen war die Ruach immer noch intakt. Nach drei Tagen schwächte der Nordweststurm wieder ab, sodass wir unsere Reise fortsetzen konnten.
Der portugiesische Nordwind schob uns Richtung Süden, und so wurde es von Tag zu Tag wärmer.
Dies war Segeln, wie man es sich nur erträumen konnte. Nachts unter dem Sternenhimmel, begleitet von dutzenden von Tümmlern und tagsüber unter klarem, tiefblauem Himmel und einer stetigen Brise, die die braunen Segel füllte.
Einen gültigen Flaggenschein hatten wir immer noch nicht. Trotzdem mussten wir in jedem Hafen, den wir ansteuerten, einklarieren und uns wieder abmelden. Zoll- und Hafenamt suchten wir immer zu zweit auf, ausgerüstet mit Schiffskaufvertrag und Gutachten. Markus und ich handhabten dies dann so:
Während einer von uns versuchte, die Beamten mit freundlichem Lächeln von unseren fragwürdigen Unterlagen abzulenken, betete der andere, dass der Beamte hinter dem Schreibtisch für eine Minute eine Sehbehinderung bekommen oder einfach übersehen solle, dass unsere Papiere nichts taugten. Dieses Vorgehen bewährte sich, sodass die Beamten uns keine grösseren Schwierigkeiten machten. Trotzdem war dies jedes Mal sehr nervenaufreibend. Aus diesem Grund beschloss ich, mich an den Computer zu setzen und einen überzeugend aussehenden Flaggenschein zu kreieren. Unter welcher Flagge wir von da an fuhren, will ich hier nicht erläutern.
Ich habe nie verstanden, warum wir während zweier Jahre ohne gültige Papiere fahren mussten. Ich glaube, dass es für Gott ein Leichtes gewesen wäre, gültige Papiere zu beschaffen, doch er hat es - aus welchem Grund auch immer - nicht getan.
Von Vilamoura reisten unsere deutschen Freunde aus Stralsund nach Hause zurück.
Wir, die beide Familien, flogen zurück in die Schweiz.
Im Berner Oberland logierten wir in einer Wohngemeinschaft. Von hier aus wollten wir weitere Jugendliche für die Ruach anwerben. Robert der bisher mit uns gereist war zog es für diese Zeit nach Hause, wo er Familie und Freunde besuchen wollte.
Kapitel 14
Sara
Die erste Anfrage bekamen wir von einem städtischen Jugendamt, sie wollten bei uns ein vierzehnjähriges Mädchen, das fluchtgefährdet war, platzieren. Sara wohnte zurzeit in einer psychiatrischen Klinik, in der sie therapeutisch begleitet wurde. Hier holten Silvia und ich sie an einem grauen Herbstmorgen ab.
Vor uns stand ein spindeldürres, gross gewachsenes Mädchen mit schwarzen, schulterlangen Haaren und einem auf den Boden gesenkten Blick. Ich dachte, dass ich dieses Gesicht schon irgendwo gesehen hatte, konnte aber im Moment nicht sagen, wo.
Vom Kliniktherapeuten erhielten wir nur wenige Angaben über Saras Vergangenheit. So fuhren wir mit unserer ersten Teilnehmerin ins Berner Oberland zurück.
Saras Mutter, eine Ärztin, besuchte uns am folgenden Sonntag, um sich von ihrer Tochter zu verabschieden. Sie bat uns, darauf zu achten, dass Sara nicht zu viel Sonne abbekommen würde, weil sie eine empfindliche Haut habe. Dies waren die einzigen Worte von ihr, die Saras Zustand beschrieben.
Bald stellten wir fest, dass Sara an Magersucht litt. Ausserdem hatte sie Drogenprobleme und war medikamentensüchtig. Ihr physischer Zustand war ebenfalls sehr angeschlagen. Sie machte einen verwirrten Eindruck und hatte, gemäss ihren eigenen Angaben, schon mehrere Suizidversuche hinter sich. Wir machten uns darüber Gedanken, ob sie bei uns wirklich richtig platziert sein würde.
Ein Bestandteil des wöchentlichen Schiff-Vorbereitungsprogramms war das Rettungsschwimmen im Hallenbad.
Sara weigerte sich, daran teilzunehmen. Sie sagte, dass sie zu dick sei, und ihr Anblick wäre für die anderen Badegäste unzumutbar. Sara wog zu diesem Zeitpunkt etwa fünfundvierzig Kilo.
Bei den Mahlzeiten weigerte sie sich oft, etwas zu essen. Bald bemerkten wir jedoch, dass uns eine Menge Lebensmittel fehlten. Die dazu gehörenden Verpackungen fanden wir in Saras Zimmer unter ihrem Bett und im Kleiderschrank. Als sie merkte, dass wir ihre Krankheit erkannt hatten, glaubte sie, dass wir sie nicht mehr bei uns haben wollten. Als Folge davon riss Sara bei uns aus, um in ihrer Heimatstadt unterzutauchen. Um eine Vermisstenanzeige aufgeben zu können, durchstöberte ich ihre Unterlagen.
Ein Personalausweis, den ich fand, trug eine Fotografie, auf der Sara zwölf Jahre alt war. Nun wusste ich auch, wo ich ihr Bild schon einmal gesehen hatte. Damals mit zwölf ist sie zum ersten Mal ausgerissen. Ihre Eltern gaben eine Vermisstenanzeige auf, die im Fernsehen wiederholt ausgestrahlt wurde.
Vom Berner Jugendamt bekamen wir einen fünfzehnjährigen Jungen zugewiesen. Eric galt als verwahrlost und stark hyperaktiv; ausserdem hatte er schon einige Drogenerfahrungen.
In dieser Zeit gesellte sich auch Robert wieder zu uns. In seiner Heimatstadt hatte er schwere Rückfälle durchlebt, die seinen psychischen Zustand deutlich verschlechtert hatten.
Äusserlich machte er einen heruntergekommenen und verwahrlosten Eindruck. Robert rauchte Cannabis und musste feststellen, dass ihm dies gar nicht gut tat.
Sara war bisher nicht wieder aufgetaucht. Ich wollte nicht akzeptieren, dass uns unsere erste Teilnehmerin auf diese Weise und schon nach ein paar Tagen wegkam. So beschloss ich, Sara zu suchen. Zuerst erkundigte ich mich bei ihrer Mutter und bei Bekannten, wo sie sein könnte und wo sie in früheren Fluchtaktionen wieder gefunden wurde. Ein Jugendlicher, der fluchtgefährdet ist, braucht besonders viel Aufmerksamkeit und Liebe. Dazu gehören klare Grenzen, die generell jeder Jugendliche braucht.
Wenn der Entflohene wieder da ist, ist es wichtig, ihn liebevoll aufzunehmen. Man muss ihm zeigen, dass man sich grosse Sorgen gemacht hat. Wie in der Geschichte des verlorenen Sohnes würde ich sogar empfehlen, das Zurückkommen des verlorenen Sohnes oder der Tochter zu feiern.
Dadurch wird er oder sie sich als ein wertvolles Familienmitglied fühlen und anfangen, Wurzeln zu schlagen. Die Pubertät ist primär ein Entwicklungs- und Selbstfindungsprozess. Sie ist nicht oder nur teilweise ein Ablösungsprozess.
Eine intensive Ablösung kann später, im Alter von achtzehn Jahren beginnen, sie sollte in etwa bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr abgeschlossen sein.
Sara habe ich drei Tage lang gesucht und dabei ihre Heimatstadt gut kennen gelernt.
Im Bahnhof-Untergeschoss entdeckte ich sie in der Menschenmasse vor mir her gehend.
Mit schnellen Schritten holte ich sie ein und legte ihr von hinten meine Hand auf die Schulter. Überrascht drehte sie sich zu mir um, sodass ich sie in meine Arme schliessen konnte. Ihr Widerstand schmolz schnell dahin; als Zeichen dafür lehnte sie ihren Kopf an meine Schulter.
Mädchen werden, wenn sie auf der Flucht sind, oft schon nach kurzer Zeit ausgebeutet.
Nach Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch folgt dann sehr oft die sexuelle Ausbeutung.
Schnell entwickeln die Mädchen dann Überlebensstrategien, die den Gesetzen des Strassenlebens angepasst sind. Sie verwahrlosen in dieser Situation meist schnell und verlieren die Orientierung, sodass sie dazu auch noch leicht beeinflussbar sind. Um auf der Strasse überleben zu können, trug Sara schwere Stahlkappenschuhe, mit denen sie schmerzhafte Fusstritte austeilen konnte. Diese Schuhe konnten jedoch nicht verhindern, dass sie auf ihren zahlreichen Fluchtversuchen Schmerzhaftes erleben musste.
Viel später warf Silvia diese Schuhe über Bord, um einen Schlussstrich unter das Vergangene zu machen.
Auch Eric ging nach kurzer Zeit auf die Flucht, und auch ihn fanden wir wieder. Doch bei ihm mussten wir schliesslich einsehen, dass wir überfordert waren. Die substanzinduzierten Schäden waren bei ihm schon zu gross, sodass wir ihn in eine Klinik einweisen mussten. (Schäden verursacht durch Drogenkonsum, bei Eric war es vor allem Cannabis.)
Silvia und ich reisten mit unseren beiden Kindern, einem Mitarbeiter und den drei Teilnehmern zurück nach Portugal. Markus und Regula blieben noch für einige Wochen in der Schweiz, um weiterhin unsere Arbeit bei den verschiedenen Ämtern bekannt zu machen.
Auch auf der Ruach war es nicht ganz unmöglich, Drogen zu konsumieren. Diese Erfahrung mussten wir zum ersten Mal bei einem Mitarbeiter machen.
Er hatte Kokain und Heroin in der Schweiz eingekauft und an Bord geschmuggelt. In einer der ersten Nächte an Bord mischte er sich daraus einen Cocktail und setzte sich damit eine Überdosis, die ihn sogleich in die Bewusstlosigkeit versetzte. Wir entdeckten ihn, weil Silvia sein lautes Röcheln durch die geschlossene Kabinentüre hörte und daher besorgt nachschaute. Er lag so unglücklich mit dem Kopf an der Wand, dass er ohne Hilfe möglicherweise erstickt wäre.
Zu diesem Zeitpunkt waren die Schweizer dabei, ihre Drogenpolitik zu ändern. Der Konsum von sogenannten weichen Drogen sollte straffrei und Cannabis sogar ganz legalisiert werden. Ausserdem begann man mit der staatlichen Abgabe von Heroin an Schwerstsüchtige. Die Schweizer Presse unterstützte dieses Vorgehen mit fetten, befürwortenden Schlagzeilen. Dies war eines der Hauptgründe, warum diese sogenannte "Therapie" in der Bevölkerung schon nach kurzer Zeit auf eine grosse Akzeptanz stiess.
Die kurzfristigen Auswirkungen mögen in gewissen Bereichen positiv gewesen sein: Zum Beispiel, dass wir in den ersten zwei Jahren weniger Drogentote zu beklagen hatten. Heute stehen wir vor dem Problem, dass wir eine ganze Generation von heranwachsenden Jugendlichen haben, die Cannabis konsumiert.
Entgegen der allgemeinen Meinung der Schweizer, ist Cannabis für das psychische Gleichgewicht sehr schädlich. Starke Auswirkungen hat diese Droge besonders bei Jugendlichen:
Sie verlieren zuerst den Willen und die Motivation, die von den Erwachsenen erwarteten Leistungen zu erfüllen. Dadurch entstehen schon bald Schwierigkeiten im Elternhaus. Ausserdem fliegen Cannabis-Konsumenten oft schon nach kurzer Zeit aus der Schule. Eltern und Lehrer sind diesem neuen Problem meist nicht gewachsen und fühlen sich hilflos. Die Lehrer haben gegenüber den Eltern wenigstens den Vorteil, dass sie sich einen anderen Beruf suchen können. Eltern können dies nicht.
Leider haben es unsere Politiker versäumt, genau zu recherchieren; stattdessen haben sie sich an Erfolgsstatistiken orientiert. Diese sind jedoch auf die momentane Situation ausgelegt. Man hätte gut daran getan, sich an der Front zu erkundigen. Zum Beispiel in Drogentherapiezentren, Entzugsstationen und in Jugendheimen. Hier wären sie auf aufschlussreiche Informationen gestossen.
Durch die staatlich verordnete Drogenabgabe sank die Therapiewilligkeit der Abhängigen rapide.
Für die Drogentherapie-Häuser begann nun eine harte Zeit. Viele kämpften lange ums Überleben und mussten dann doch geschlossen werden.
Auch die Häuser von Teen Challenge spürten die Auswirkungen der neuen Drogenpolitik. Trotzdem hielten sie an der Entscheidung fest, das Schiffsprojekt für zwei Jahre durchzutragen. Finanziell war das Projekt zu diesem Zeitpunkt eine Niete.
Markus und Regula kamen kurz vor Weihnachten mit ihren drei Kindern wieder an Bord.
Nach ein paar Tagen liefen wir den Hafen von Tarifa an; hier wollten wir die Festtage verbringen.
Silvia und Regula hatten vor, in der Ortschaft Weihnachtsgeschenke einzukaufen. Um Sara eine Freude zu machen, hatten die beiden sie mitgenommen. Die Frauen waren damit beschäftigt, Geschenke auszusuchen, als sie auf einmal bemerkten, dass sich Sara nicht mehr im Einkaufsladen befand. Nach kurzem Suchen mussten sie feststellen, dass das Mädchen sich wieder einmal davon gemacht hatte. Auf dem schnellsten Weg kamen die beiden an Bord zurück, um uns Bescheid zu sagen. Markus und ich beschlossen sogleich, zur Polizei zu gehen, um unsere Ausreisserin als vermisst zu melden. Wir wollten verhindern, dass Sie in dieser Stadt untertauchen konnte. Für eine Fünfzehnjährige ist Tarifa eine nicht ganz ungefährliche Stadt. Die marokkanische Küste liegt hier in Sichtweite, und es ist bekannt, dass hier nicht nur Drogen, sondern auch Menschen geschmuggelt werden.
Wir wollten sie deshalb unter allen Umständen noch am selben Tag wieder finden, noch bevor es eindunkeln würde.
Im Moment war es noch Vormittag, sodass wir noch etwa acht Stunden Zeit hatten.
Zuerst eilten wir zur Ortspolizei. Den freundlichen, nur spanisch sprechenden Beamten erklärten wir, so gut es ging, unsere Situation, sodass sie ein Protokoll aufnehmen konnten. Sie teilten die Meinung mit uns, dass das Mädchen so schnell wie möglich wieder gefunden werden müsse, und dass diese Ortschaft für Sara zu viele Gefahren berge. Bevor wir die Polizeistation verliessen, sendeten die Beamten über Funk eine Vermisstenmeldung an die patrouillierenden Streifenwagen in der Stadt. Dann gaben sie uns zu verstehen, dass wir in einer Stunde noch einmal auf die Polizeistation kommen sollten.
Die nächste Etappe war die Guardia Civil. Bis zu ihr mussten wir uns suchend durchfragen. Erneut gaben wir, inzwischen etwas ungeduldig geworden, unsere und Saras Personalien an. Auch diese Beamten stellten viele Fragen und wollten alles sehr genau wissen. Pünktlich nach einer Stunde waren wir dann wieder auf der ersten Polizeistation. Die Polizisten machten uns mit einem ernst dreinblickenden Detektiv bekannt, der sich um unsere Sache kümmern würde. Zuerst wollte er wissen, wo sie genau entflohen war. So führten wir ihn in das Einkaufsgeschäft und beschrieben erneut, wie Sara verschwunden war. Der spanische Privatdetektiv, der gar nicht wie ein Detektiv aussah, ging nun daran, in den umliegenden Kneipen und Marktgeschäften Erkundigungen einzuholen. Währenddessen marschierten wir hastig zurück auf die Ruach, um nachzuschauen, ob Sara inzwischen nicht schon von selber zurückgekommen sei. An Bord angekommen, stellten wir fest, dass dem nicht so war.
Inzwischen war es später Nachmittag geworden, und die Suche lief auf Hochtouren.
Silvia und ich streiften durch den üppig grünen Stadtpark, der mit verschiedenen Palmen und anderen tropischen Pflanzen bewachsen war.
Zwischen den dichten Büschen bemerkten wir eine kleine Bar. Als wir darauf zuschritten, erschien in der Eingangstür eine schlanke, unverkennbare Gestalt. Sara kam langsam auf uns zu und senkte ihren Blick auf den Boden. Zu unserem Erstaunen war sie stark geschminkt. Ihre Apathie verriet, dass sie Cannabis geraucht hatte und ziemlich berauscht war. Silvia schloss Sara sogleich in die Arme und vermied es für den Moment, ihr Vorwürfe zu machen.
Mich wunderte, dass das Mädchen geschminkt war. Nie zuvor hatte ich sie geschminkt gesehen. Nichts hatte sie für diesen Fluchtversuch mitgenommen, kein Geld, keine warmen Kleider, keine Ausweise, nichts, ausser dem, was sie gerade auf ihrem Leib trug und die Schminksachen.
Ohne Widerstand liess sie sich in unsere Mitte nehmen und aus dem Stadtpark Richtung Polizeiposten führen. Kaum waren wir auf dem Gehsteig, als schon ein Streifenwagen mit quietschenden Reifen neben uns anhielt. Einer der Beamten hatte uns erkannt und zeigte mit seiner Hand auf die dünne, beschämte Gestalt zwischen uns. Er wollte von uns wissen, ob dies nun die Verlorengegangene sei. Verschmitzt lachend bejahte meine Frau diese Frage. Die Beamten freuten sich mit uns und machten einige lautstarke Bemerkungen, die an Sara gerichtet waren. Sara verstand jedoch nicht, was die beiden Polizisten sagten; trotzdem fühlte sie sich betroffen und schien sich zwischen uns verstecken zu wollen.
Später, auf der Polizeistation meldeten wir am Eingangsschalter das Wiederauffinden von Sara. Hier standen einige spanische Teenager herum, die in der Umgebung wohnten und sich hier vor dem Polizeiposten regelmässig trafen. Im Laufe des Tages hatte sich auch bei ihnen herumgesprochen, dass in der Stadt ein Schweizer Mädchen gesucht wurde. Als sie merkten, dass es sich hier um dieses Mädchen handelte, strömten sie neugierig herbei. Sara war dies sehr peinlich, sie wirkte noch dünner und noch mitleiderregender. Ein Beamter wies uns in einen grossen Raum, gefüllt mit Akten und verschiedenen abgewetzten Schreibtischen, hinter denen etwa ein halbes Dutzend Polizisten locker in ihren Stühlen sassen und sich gegenseitig unterhielten.
Als wir eintraten, wandten sie ihre Blicke auf Sara. Dann wurde es für einen Moment still und kurz darauf verriet das wieder entfachte Gesprächsdurcheinander, dass sie begriffen, wer wir waren. Sara schien immer mehr zu leiden.
Als dann auch noch unser Detektiv eintrat, der sich sogleich mit vielen, für sie unverständlichen Worten an sie wandte, hatte ich einen kurzen Moment die Befürchtung, Sara könnte sich vor lauter Scham unter dem nächsten Tisch verkriechen. Auf dem Rückweg zum Hafen meldeten wir ihr Wiederauftauchen auch noch bei der örtlichen Polizei. Sara hatte dieses Erlebnis so sehr erschüttert, dass sie uns versprach, nie wieder auszureissen.
Sie lebte noch viele Monate bei uns, und ihr Versprechen hat sie, solange sie bei uns war, gehalten.
Der Ruach-Aufenthalt von Sara war für uns ein Schlüsselerlebnis, welches nach vielen Jahren dazu führte, dass Silvia und ich eine Therapiearbeit speziell für Mädchen aufbauten.
Ich bin überzeugt davon, dass Gott hin und wieder solche Wege wählt, um uns auf etwas aufmerksam zu machen. Sara glaubte an Gott, trotz ihrer vielen persönlichen Probleme.
Sie war von Gott erwählt, um Silvia und mir die Not dieser Zielgruppe aufzuzeigen und unser Herz zu berühren, ohne dass sie dies wusste.
Heute wissen wir, dass es Mädchen in unserer Gesellschaft oft besonders schwer haben.
Saras Leidensweg war damals noch lange nicht zu Ende; nicht auf der Ruach und auch später nicht, als sie wieder in der Schweiz lebte. Mehrmals wurde sie in verschiedene psychiatrische Einrichtungen eingewiesen, dann, wenn es mit der Freiheit, den Tagesablauf selbst bestimmen zu können, einfach nicht mehr funktionierte.
Ich weiss auch, wie sehr sie diese Anstalten verabscheute.
Den Kontakt zu ihr habe ich heute verloren. Ich hoffe und bete darum, dass sie ihren Weg inzwischen gefunden hat.
Kapitel 15
Der kleine Hund
An der Mittelmeerküste von Südspanien lagen wir in einem kleinen, romantischen Hafen mit dem Namen "Marina del Este". Nur wenige Kilometer entfernt gibt es da eine Stadt namens Almunjecar.
In ihr lebte eine kleine christliche Gemeinde, die erst vor kurzem gegründet worden war. Es war Markus, der mit seiner Sprachbegabung den Kontakt zu ihr herstellte.
Der Gemeindeleiter hiess Seledonio. Er hat den Auftrag, Gemeinden zu gründen und diese aufzubauen. Wenn er dann sicher war, dass diese selbstständig weiter bestehen und wachsen würden, zog er in eine neue Stadt, um wieder von vorne anzufangen.
Seine Gemeinde in Almunjecar bestand interessanterweise vor allem aus Zigeunerfamilien. Ihre Gottesdienste, die wir mehrmals besuchten, waren sehr beeindruckend. Diese fanden in einem kleinen Raum an einer belebten Strasse statt. Die Tür zu diesem Raum war stets sperrangelweit offen, und der laute Gesang drang weit durch die engen Gassen. Der Gemeinderaum war mit verschiedenen Stühlen und Bänken gefüllt, sonst war er kahl und schmucklos. Der Gesang war stets so laut, dass mir danach die Ohren schmerzten. Und wie konnte es auch anders sein, als dass sie von uns auch einen Gesangsbeitrag forderten.
So geschah es, dass wir uns wieder einmal auf einer Bühne befanden und unser Bestes geben sollten. Zumindest beim Lautstärkenvergleich schnitten wir wohl sehr schlecht ab, sodass uns die vielen, bunten Zigeuner mitleidige Blicke zuwarfen.
Temperamentvoll versuchten sie, uns zu unterstützen, indem sie rhythmisch klatschten, um wenigstens, was die Lautstärke betraf, etwas Leben in unseren, für sie lau klingenden Gesang zu bringen. Ich war froh, als wir unser Gesangsmalheur hinter uns gebracht hatten und uns wieder auf die Bänke setzen durften.
Robert wünschte sich, einen Hund auf unser Schiff nehmen zu dürfen. Als gäbe es für einen Hund keinen besseren Aufenthaltsort als so ein Segelschiff, kam er, unterstützt von einem Teil der restlichen Mannschaft, mit diesem Anliegen zu mir. Meine Reaktion war ein klares, ernst gemeintes und sehr deutliches "Nein", das - wie ich irrtümlicherweise glaubte - für immer gelten würde.
Schon am nächsten Tag bedrängte mich Robert wieder mit demselben Anliegen. Diesmal hatte er allerdings seine Taktik geändert und schlug mir vor, doch wenigstens mit ihm darüber zu beten. Konnte ich da nein sagen? Also sagte ich, wenn auch nur halbherzig, "Ja," und nach einer kurzen Pause, "ich werde mit dir darüber beten". Dabei wusste ich, dass er kein Geld hatte, um einen Hund zu kaufen, und irgendeinen verwahrlosten, herumstreunenden Hund, von denen es hier viele gab, wollte er ohnehin nicht haben.
In der nächstfolgenden Andacht, betete ich, darauf achtend, ja nicht überzeugend zu wirken, um einen Hund für Robert. Damit glaubte ich, dass dieses Thema nun endgültig vom Tisch sei und ich wieder meine Ruhe hätte.
Die Gemeinde betrieb nebenbei eine Drogentherapiestation. Diese befand sich in einem alten Steingebäude, dessen Wände und Dach bald einzustürzen drohten.
Die Frontseite war offen, sodass der Innenraum ständig dem Wind, der Kälte oder der Tageshitze ausgesetzt war. Die einzelnen Schlafräume, sofern man sie überhaupt als solche bezeichnen konnte, waren mit alten, zerschlissenen Tüchern unterteilt.
Die Klienten, die diese Gebäude bewohnten, waren ebenfalls aus der Sippe der Zigeuner. Im Gegensatz zu unseren Jungs und Mädchen waren sie aber froh darüber, dass ihnen geholfen wurde. Am folgenden Sonntag waren wir dann in diesem Gebäude zu Besuch.
Die Zigeuner hatten extra für uns einige Tuchwände heruntergenommen, um Platz zu schaffen, damit wir gemeinsam die Paella essen konnten, zu der sie uns eingeladen hatten. Die Stimmung war ausgelassen, so wie es sich für ein echtes Zigeunerfest gehört, und die Paella, die in einer riesigen, von Russ schwarzen Pfanne über einem offenen Feuer gebraten wurde, schmeckte recht gut.
Nach dem Essen lehnte ich mich zurück, um mich etwas zu entspannen und dachte an nichts Ungutes.
Ich sah, wie sich Seledonio aus der Menge schälte und mit strahlendem Gesicht vor mich trat. Als ich meinen Blick senkte, erkannte ich den Grund seiner Freude. In seinen Händen hielt er einen jungen Hund. Sofort hatte ich die schlimmsten Vorahnungen. Seledonio, der davon nichts merkte, übergab mir seinen Vierbeiner, mit einem gut gemeinten Lächeln im Gesicht. Dann sagte er: "Der gehört jetzt dir, ich schenke in dir, du wirst an ihm bestimmt deine Freude haben."
Ich überlegte, kann ich da nein sagen? Also sagte ich, wenn auch nur halbherzig: "Ja, danke."
Natürlich hat Robert dies mitbekommen und sich sehr gefreut. So habe ich kapituliert und ihm seinen Hund überreicht. Nun waren wir also doch noch auf den Hund gekommen.
"In Zukunft werde ich beim Beten vorsichtiger sein", dachte ich mir. Der kleine Hund war wirklich süss. In diesem Punkt waren sich alle einig. Mir gefiel besonders sein Ringelschwänzchen und der nackte, rosarote Hängebauch; es sah so aus, als hätte sich die Hundemutter zuvor mit einem Schweinchen eingelassen. Nicht, dass ich etwas gegen Schweine hätte, aber gemischt mit Hund sieht dies schon etwas seltsam aus.
Hunde brauchen Erziehung, darüber war ich mir im Klaren. Also machte ich mich am nächsten Tag daran, Regeln aufzustellen. Ich hatte nicht die Absicht zu dulden, dass das ganze Schiff mit Hundekot verdreckt wird. Vor allem unter Deck sollte es sauber bleiben.
Meine Regel Nummer eins: Es gibt keinen Hund unter Deck, auch nicht in der Nacht. Grosszügig wie ich bin, erlaubte ich Robert und den anderen Kindern, ihm an Deck einen kleinen Unterschlupf zu bauen. Hier konnte er sich in der Nacht verkriechen und am besten auch am Tage. Widerstrebend gehorchte Robert dem bösen Kapitänsbefehl und ging am Abend ohne Hund unter Deck. Zuvor hatte er noch stundenlang mit ihm geschmust und gespielt.
Kaum war Robert aus dem Gesichtsfeld des Hundes entschwunden, fing dieser an, erbärmlich zu heulen. Eine gewisse Hundeschläue musste ich dem Vierbeiner doch zugestehen; machte dieser mit seinem ausgiebigen Geheul und Gekläffe doch voll auf Mitleid.
Und er war sich meiner Ablehnung bewusst. Irgendwie erreichte er sein Ziel dann doch noch und fand sich irgendwann in der Nacht in Roberts Kabine. Sauber war der Hund nicht, vermutlich bis heute nicht. Robert störte dies kaum, mich hingegen schon, denn es roch in seiner Kabine nach Schweinestall. Mein einziger Trost war, dass Robert mit seinem Hund in wenigen Wochen nach Hause gehen würde.
Robert hatte sich auf der Ruach gut entwickelt und war fleissig und anständig. Unsere spontane Entscheidung, ihn damals mitzunehmen, hatte sich gelohnt, trotz Hund.
Robert hat es bis heute geschafft, er macht zur Zeit eine Ausbildung als Bootsbauer im Norden Deutschlands.
Es ist nicht so, dass ich Tiere nicht mag. Im Gegenteil, ich liebe die Natur und auch die Tiere. Nur mag ich halt Katzen besser als Hunde; warum, kann ich nicht genau sagen. Vielleicht liegt es daran, dass Katzen sich noch etwas von ihrer Wildheit bewahren konnten und Raubtiere geblieben sind. Während Hunde, angepasst und unterwürfig, ihrem Herrchen treu sind. Wenn mir das besser gefallen würde, hätte ich den falschen Beruf gewählt.
Ein Haustier, das sich als Schiffstier bewähren könnte, gibt es nicht. Auch die Katze fühlt sich auf einem Schiff nicht wohl.
Früher haben die Segelschiffe oft lebenden Proviant mitgenommen, weil er, so gehalten, frisch blieb. Die Breitengrade, zwischen denen die Schwachwindgebiete liegen und die Segelschiffe über Wochen kaum vorwärts kommen, nennt man deshalb die Rossbreiten.
Das ideale Schiffstier wäre aber nicht das Pferd, sondern ein Eier legendes Vollmilchschwein, das statt Beine, Flossen hat.
Nennen würde ich es Eimisau.
Die Eimisau müsste einen dünnen Hals haben, damit man ihr eine Leine umbinden könnte. So würde sie nicht wegschwimmen und wäre bei Flaute eine Unterstützung, um voranzukommen.
Die Ruach setzte ihre endlose Reise fort und durchkreuzte in den kommenden Monaten das Mittelmeer.
Unsere Anstrengungen, einen gültigen Flaggenschein zu erhalten, waren bis dahin erfolglos geblieben.
Das Seeschifffahrtsamt hatte von uns verlangt, dass wir zuerst die deutsche Eintragung streichen müssten, bevor wir den schweizerischen Schein beantragen könnten. So gehorsam wie wir waren, haben wir das dann auch getan. Wir gingen davon aus, dass, wenn das Amt dies von uns verlangte, sie auch bereits geprüft hätten, ob wir dann auch aufgenommen werden könnten.
Offenbar ist es aber so, dass in Basel, dem Heimathafen der Schweizer Seefahrer, der Amtsschimmel die Sinne der zuständigen Personen bereits etwas getrübt hatte.
So blieb uns nichts anderes übrig, als uns weiterhin durchzumogeln.
Patric, unser jüngerer Sohn, erlernte das Lesen im Maschinenraum. Während ich Reparaturarbeiten erledigte, musste er mir aus einem Buch solange vorlesen, bis er fliessend lesen konnte. Solche und ähnliche Kompromisse gehörten zu unserem Bordalltag.
Dominic, unser älterer Sohn, war gerade vierzehn Jahre alt geworden und begann sich immer mehr mit dem Schiff zu verwurzeln, stärker als Patric und jeder Jugendliche, der nach ihm auf dem Ruach war. Für ihn war das Leben an Bord nicht eine Übergangszeit, auch kein Provisorium.
Das Leben auf dem Segelschiff erstreckte sich über einen grossen Teil seiner Kindheit. Auf See fühlt er sich nach wie vor zu Hause. In der Folge hatte er dann Mühe, sich an Land zu integrieren. Das Leben dort war für ihn viel komplizierter und weniger überschaubar als die kleine Welt eines dreissig Meter langen Schoners. Freundschaften zu schliessen war für ihn an Bord in einer Gemeinschaft von zehn bis zwanzig Personen viel einfacher.
Heute macht Dominic eine Schreinerausbildung in der Schweiz. Seinen Urlaub verbringt er am liebsten auf der Ruach. Manchmal, wenn wir einen geregelten Tagesablauf mit Schulunterricht und Unterhaltsarbeiten aufrechterhalten konnten, war es auch auf der Ruach vergleichsweise ruhig.
In einer solchen Phase fragte ich meinen Sohn: "Ist es dir nicht langweilig?"
Dominic antwortete darauf: "Es genügt mir, wieder einmal auf dem Schiff zu sein."
Kapitel 16
Andi
Andi war ein junger Mann, der seine Kindheit in vielen verschiedenen Heimen verbrachte. Mit seinen kurzen, dunklen Haaren und seinen regelmässigen Gesichtszügen konnte man ihn als sehr gut aussehend bezeichnen. Er wurde auf der Ruach platziert, weil er mit seinen siebzehn Jahren in die Kriminalität und in die Drogensucht abgeglitten war; weitere Informationen hatten wir keine.
Nach einigen Wochen auf der Ruach erwähnte er in einem therapeutischen Gespräch mit Silvia, dass er schlecht schlafen würde. Die Ursache seiner schlaflosen Nächte wären seine Alpträume und die dadurch aufkommenden Ängste. In weiteren Gesprächen gestand er uns seinen früheren Kontakt mit dem Okkultismus und dann erzählte er uns seine Lebensgeschichte:
In seinen ersten Lebensjahren machte sich sein Vater davon, sodass die Mutter mit den beiden Kindern alleine zurechtkommen musste.
Dadurch war sie gezwungen, eine Arbeit zu suchen.
Bei ihren zahlreichen Bekanntschaften lernte sie einen Mann kennen, mit dem sie sich schon bald befreundete.
Schon nach kurzer Zeit zog dieser in die kleine Wohnung der bisher vaterlosen Familie ein. Als Andis Mutter bei der Arbeit war, beaufsichtigte oft der Freund die beiden Geschwister.
In dieser Zeit wurde Andi von ihm immer wieder sexuell missbraucht. Irgendwann bemerkte die Mutter, dass etwas nicht in Ordnung war, und erkannte bald, dass es so nicht weitergehen konnte.
Ihren Freund wollte sie jedoch auf keinen Fall verlieren. So beschloss sie, Andi wegzugeben. Ein Bekannter erklärte sich dazu bereit, den sieben Jahre alten Jungen bei sich aufzunehmen. Andi erzählte uns, dass er überzeugt sei, seine Mutter habe ihn an diesen Bekannten verkauft. Das Leben bei seinem Onkel, wie er ihn nannte, war für ihn die Hölle. Er wurde von ihm oft geschlagen und ebenfalls sexuell missbraucht.
Andi reagierte mit Rebellion und begann in seinem achten Lebensjahr regelmässig zu rauchen. Als sein Onkel dies bemerkte, prügelte er den Jungen. Dann zwang er Andi, eine dicke Zigarre zu rauchen, die er Zug um Zug inhalieren musste, bis ihm übel wurde. Der Onkel nahm an, dass dem Jungen das Rauchen ein für alle Mal vergehen würde.
Andi hörte aber nicht auf, denn er war bereits nikotinsüchtig. Die Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Freund wurde zunehmend schwieriger. Sie glaubte, dass ihre Tochter, die etwas älter als Andi war, der Grund dafür sei. Wieder wandte sie sich an ihren Bekannten und vereinbarte mit ihm, das Mädchen ebenfalls aufzunehmen.
Anfangs freute sich Andi darüber, wieder mit seiner Schwester zusammen zu sein. Aus Angst vor den nächtlichen Besuchen des sogenannten Onkels schlief Andi bei seiner Schwester. Er kuschelte sich an sie und fand dadurch etwas Geborgenheit. Der Onkel liess sich jedoch nicht von seinen Schandtaten abhalten. Ohne Mitleid und Skrupel missbrauchte er abwechselnd die beiden Kinder, währenddessen er das andere zum Zuschauen zwang.
Andi verkraftete dies nicht und begann, immer wieder auszureissen und die Schule zu schwänzen.
Bald darauf wurde das Jugendamt auf ihn aufmerksam. Sie beschlossen, ihn in ein Jugendheim zu geben, wo er eine bessere Aufsicht erhalten würde. Sein neues Zuhause war ein christlich geführtes Jugendheim. Andi wurde mit strenger Hand aufgenommen, denn man hatte schon zuvor von seinem rebellischen Wesen vernommen und sich gleich darauf eingestellt.
Andi sehnte sich nach Liebe, die er in seinem neuen Zuhause jedoch auch nicht erhielt. Weil dieses Heim christlich geführt wurde, entschied sich Andi in seinem zehnten Lebensjahr, sich auf die Gegenseite zu schlagen: Er begann, sich zunehmend für Okkultismus und deren Praktiken zu interessieren. Er nutzte jede Gelegenheit, etwas über die dunklen Mächte zu erfahren und sie auszuprobieren. Dies war seine Art zu rebellieren und sich gegen seine Erzieher zu wenden, von denen er immer wieder geschlagen wurde und sich betrogen fühlte.
Mit zwölf Jahren gründete er zusammen mit anderen Heim- jugendlichen eine satanistische Gemeinschaft. In einem Ritual besiegelten sie ihre Gemeinschaft mit der Blutsbruderschaft.
Er selbst gab sich den Namen Luzifer und erklärte sich zum Oberhaupt der kleinen Gruppe. Sie begannen regelmässig schwarze Messen abzuhalten, bei denen andere Heimjugendliche zum Mitmachen gezwungen wurden. Dadurch wuchs diese Gemeinschaft, bis ein grosser Teil der Jugendlichen dazu gehörte. Knaben, die sich weigerten mitzumachen, mussten damit rechnen, zusammengeschlagen zu werden; ausserdem erpresste die Gruppe von ihnen regelmässig Schutzgeld.
Mädchen aus demselben Heim hatten es besonders schwer. Sie wurden ebenfalls gezwungen bei den Messritualen mitzumachen. Sie waren die Schwächsten im Bunde und mussten das schwerste Leid über sich ergehen lassen.
Der Kern der Gruppe übergab mit einem speziell ausgewählten Ritual ihr Leben dem Teufel. Dies bedeutete, dass der Teufel das Recht bekam, über ihre Zukunft und die Lebensdauer der Buben zu bestimmen.
An Wochenenden und während der Ferien durften die Kinder nach Hause zu ihren Eltern oder ihren Bezugspersonen. Andi musste seine Ferien bei diesem Onkel verbringen; sein Hass ihm gegenüber wuchs ins Unermessliche. Andi hatte grosse Angst vor ihm.
So beschloss er, immer kurz vor den Ferien etwas anzustellen und sich sogleich erwischen zu lassen. Er wusste, dass seine Heimerzieher zur Bestrafung seines Fehlverhaltens die Ferien streichen würden. Die eigentliche Strafe bestand dann darin, bei einem seiner Erzieher, den Garten zu pflegen oder Haushaltsarbeiten zu verrichten. Für Andi war dies jedoch das kleinere Übel.
Mit vierzehn Jahren knüpfte Andi Kontakte zu anderen okkulten Gemeinschaften und besuchte deren Messen in Deutschland. In einer dieser Messen wünschte er sich den Tod seines Onkels.
Die Vergehen seiner finsteren Gemeinschaft wurden zunehmend schwerer. Bei einem Versuch, ein Mädchen zu vergewaltigen, wurden sie schliesslich erwischt.
Andi wurde sogleich aus dem Heim gewiesen und vom Jugendamt umplatziert. Dies war auch das Ende seiner selbst gegründeten Gemeinschaft.
Im neuen Jugendheim ging es nicht lange, bis er wieder ausgewiesen wurde. Sein schlechter Ruf eilte ihm stets voraus, sodass er in neuen Einrichtungen immer mit grossem Misstrauen empfangen wurde. Andi war seit Jahren ein starker Raucher. Ausserdem hatte er angefangen, verschiedene Drogen auszuprobieren. Diese konsumierte er, ohne darüber nachzudenken, welche Auswirkungen sie haben könnten. So rauchte oder schluckte er, was ihm gerade angeboten wurde. Nach kurzer Zeit befand er sich in einer schweren Abhängigkeit.
Seinen Kameraden aus der okkulten Gemeinschaft erging es ähnlich. Bereits nach einem Jahr starb einer der Buben an einer Überdosis Heroin. Der Tod seines Onkels – er starb an einer Lungenentzündung – fiel in denselben Zeitraum.
Andis Schwester wurde nach der Beerdigung wieder von der Mutter aufgenommen, die inzwischen wieder alleine lebte. Sie war damals sechzehn Jahre alt und litt an schweren Depressionen.
Ein weiteres Jahr später starb der zweite Junge aus der Gemeinschaft und wieder ein Jahr später der dritte. Die Todesursache, von den zuständigen Ärzten festgestellt, war Drogenmissbrauch.
Andi lernte in seinem letzten Heim, bevor er auf die Ruach kam, einen Betreuer kennen, der sich Zeit für ihn nahm und dem es gelang, sein Vertrauen zu erlangen.
Ihm erzählte er seine Geschichte und übergab Jesus in seiner fast aussichtlosen Not sein Leben.
Diesem Betreuer gelang es, Andi davon zu überzeugen, sich für einen Drogenentzug zu entscheiden. Andi lernte in dieser Zeit eine junge Frau kennen, mit der er sich anfreundete.
Sie ist zwei Jahre älter als er und war entschlossen, ihn ebenfalls zu unterstützen. Diese Frau hatte von einem christlich geführten Schiff, der Ruach, gehört und wollte, dass Andi eine Therapie durchstehen solle. Ihr zuliebe willigte er ein; sie verlobten sich noch kurzfristig, und dann reiste er auf die Ruach.
Bei uns an Bord durchlebte er eine Zeit vieler Krisen. Wir beteten um Befreiung von seiner belastenden Vergangenheit, bis er seine Alpträume los war.
Am meisten Mühe machte ihm das Rauchen: Für eine Zigarette hätte er fast alles getan. Nach vielen Monaten Aufenthaltszeit bei uns wurde er wieder einmal heftig durchgeschüttelt. Wir ankerten in einer Bucht bei Elba. Aus der nahen Stadt drang der Samstagabend-Lärm bis zu uns hinaus. Erneut ertappte ich Andi, wie er heimlich rauchte, obwohl dies an Bord strengstens verboten ist. Sogleich stellte ich ihn zur Rede. Seine Reaktion war unerwartet heftig, und er machte keine Anstalten, mir zu gehorchen. Auch die Versuche des restlichen Teams blieben erfolglos. Andi schrie mich an: "Es hat keinen Sinn, ich werde jetzt an Land gehen, weil ich es ohnehin nie schaffen werde, von den Drogen frei zu kommen!"
Unser Zureden und der Versuch ihn zur Vernunft zu bringen, blieben weiterhin erfolglos.
Also setzte ich alles auf eine Karte und sagte zu ihm:
"Du hast genau dreissig Minuten Zeit, dann stehst du mit deinem gesamten Gepäck an Deck und ich werde dich mit dem Beiboot an Land bringen."
Andi raffte alle seine Sachen zusammen und stand pünktlich mit seinem Gepäck bereit, um an Land gebracht zu werden.
Es schien mir, als wäre er für einen Moment unsicher, ob es wohl richtig sei, alles hinzuschmeissen und aufzugeben. Dies beinhaltete nämlich auch, die wenigen Menschen zu verlassen, die bisher zu ihm gehalten hatten.
Doch auf der anderen Seite der Ankerbucht lockte eine Stadt, deren Geräusche sämtliche Bedenken wegwischen konnten. Sie bot sich an mit ihren Versuchungen: In ihr würde er alles bekommen, wonach er sich momentan derart sehnte. Ich tat so, als würde ich dies nicht bemerken; so leicht sollte er mir diesmal nicht davonkommen.
"Steig ein", sagte ich mit einem strengen Ton. Dann startete ich den Aussenborder und fuhr Richtung Land. Mein Ziel befand sich jedoch nicht in Stadtnähe, sondern auf der anderen Seite der Bucht. Als Andi dies bemerkte, schimpfte er wütend. Als wir am Ufer angekommen waren, war es bereits Mitternacht. Die Stadt war in weite Ferne gerückt und zeigte nur noch einen schwachen Lichtschein.
"Hier ist ja gar nichts, was soll ich hier auf dieser Seite?", fauchte er mich an.
"Du willst doch sicher in die Stadt da drüben, also mache dich auf den Weg."
Er stand schon an Land, als er, immer noch wütend, zu mir sagte: "Was ist mit meinem Ausweis und womit soll ich die Fähre zum Festland bezahlen?"
Ich antwortete ruhig: "Du wirst jetzt um diese Bucht gehen und morgen um zehn Uhr treffen wir uns wieder, dann werde ich dir deinen Ausweis und das Geld für die Fähre bringen."
Ich beschrieb noch kurz, wo ich ihn treffen wollte, und liess ihn mit seinen schweren Taschen stehen. Andi war für die restliche Nacht beschäftigt, denn der Fussmarsch mit seinen Taschen würde lang und beschwerlich werden.
Ich fuhr zurück aufs Schiff und legte mich zur Ruhe.
Am folgenden Morgen befand ich mich pünktlich an der vereinbarten Stelle. Andi war ebenfalls da. Er machte einen sichtlich betretenen Eindruck. Auf dem langen Weg um die Bucht herum, der die restliche Nacht in Anspruch nahm, hatte er sich sein Verhalten noch einmal überlegt.
Er sah seinen Fehler ein und kam mit mir zurück an Bord.
Wir legen viel Wert darauf, dass unsere Jugendlichen nicht rauchen. Wir mussten feststellen, dass ein Rückfall in die Drogensucht oft mit dem Rauchen von Zigaretten anfängt.
Als Andi wieder an Land war, heiratete er seine Verlobte. Sie wurde bald darauf schwanger und brachte eine Tochter zur Welt. Die drei besuchten uns einige Male und berichteten von ihren Schwierigkeiten.
Eine Drogensucht lässt einen Menschen nie mehr ganz los. Der Betroffene muss immer vorsichtig und wachsam sein, damit er nicht wieder zurückfällt. Die gefährlichsten Momente ergeben sich dann, wenn ein ehemaliger Drogenabhängiger glaubt, er hätte es nun geschafft. Dann lässt seine Aufmerksamkeit nach, sodass er den Versuchungen nicht mehr bewusst ausweicht.
Viele der Jugendlichen, die in den folgenden Jahren auf der Ruach leben sollten, würden eine ebenso traurige Vergangenheit mitbringen. Okkultismus würde ein Dauerthema sein.
Gott hat die Satansbraut Satan entrissen, um sie als Werkzeug für sich zu gebrauchen. Damit will er Jugendliche befreien, die
in die Abhängigkeit Satans geraten sind. In der Bibel steht, dass die Braut Jesu die Menschen sind, die ihn lieben. Und uns, seine Braut, setzt er ebenfalls als Werkzeug ein, wenn wir dies wirklich wollen.
Kapitel 17
Erster Urlaub
Die Anzahl der Jugendlichen, die wir bisher auf unserem Schiff betreut hatten, reichte bei weitem nicht aus, die entstandenen Unkosten zu decken. Die Leiter von Teen Challenge hatten uns bisher in allen Bereichen kräftig unterstützt. Nun aber erwarteten sie von uns, dass wir das Schiff selbstständig weiterführen oder eine andere Trägerschaft finden sollten.
So begaben wir uns erneut auf die Suche nach jemandem, der unser Projekt unterstützen würde.
Nach mehreren vergeblichen Anfragen bei verschiedensten Einrichtungen war es wieder Markus, der die entscheidende Verbindung fand. Er kannte eine junge, dynamische Einrichtung, die mit verhaltensauffälligen Jugendlichen arbeitete: Das Jugendheim Sternen. Der Gesamtleiter zeigte von Anfang an grosses Interesse an unserer Arbeit. Kurz entschlossen setzte er sich mit Werner, dem Koordinator von Teen Challenge, in Verbindung und besuchte uns anschliessend in Spanien. Hier wollte er unsere Arbeit kennen lernen.
Werner bemühte sich immer noch, den schweizerischen Flaggenschein zu bekommen. Ein Anwalt wurde mit dem Mandat beauftragt, einen Weg zu finden, die Ruach im schweizerischen Schiffsregister eintragen zu lassen. Es gelang ihm, unser Anliegen bis vor den Bundesrat zu ziehen, doch dieser stellte sich gegen uns. Die Begründung lautete, dass es sich nicht um ein Sportschiff handle und dieses deshalb auch nicht in das Jachtregister passen würde. Im Handelsschiffregister könnten wir ebenfalls keinen Eintrag erlangen, weil dessen Auflagen ebenso wenig erfüllt wären.
Tatsache ist, dass keine endgültige Entscheidung gefällt wurde und das Verfahren bis heute immer noch hängig ist.
Unsere Arbeit bestand in dieser Zeit hauptsächlich darin, die aufgenommenen Jugendlichen im Schiffshaushalt zu beschäftigen und sie zu betreuen. Ausserdem mussten wir die anfallenden Unterhaltsarbeiten am Schiff erledigen. Dazu kamen die Reparaturen am Maschinenpark. Diese drängten sich mit einer erbarmungslosen Regelmässigkeit auf. Fünf Jugendliche hatten wir an Bord, vier davon waren schulpflichtig. Diese unterrichteten wir am Anfang selbst. Die pädagogische Leitung lag damals, nebst der Schiffsführung, in meinen Händen.
Unser Einkommen war damals sehr bescheiden.
Wir hatten einen sechzehn Monate dauernden Einsatz hinter uns und brauchten dringend eine Pause. Im Spätsommer auf Elba gingen Silvia und ich mit unseren Kindern erschöpft von Bord in unsern Urlaub.
Die nächsten drei Monate wollten wir uns an Land aufhalten.
Markus war so weit eingearbeitet, dass er die Ruach in unserer Abwesenheit leiten konnte. In dieser Zeit überführte er das Schiff auf die Kanarischen Inseln.
Seine seglerischen Fähigkeiten waren immer wieder beindruckend. Er hatte ein besonderes Feingefühl für den Wind, sodass er jede Veränderung spürte und die Segelstellungen zentimetergenau anpassen konnte. Die Ruach reagierte, indem sie sich scheinbar aufbäumte und noch schneller durch die weiss schäumenden Wellen schoss, die sie zerteilte und auf beide Seiten warf.
Das Gleitschirmfliegen war eine weitere Leidenschaft von Markus, und auch hier hatte er eine besondere Beziehung zum Wind.
An einem warmen Sommertag bestiegen wir einen Berg, um Flugübungen zu machen. Markus hatte sich vorgenommen, mir das Fliegen beizubringen.
Als wir oben angelangt waren, wehte der Wind aus der falschen Richtung, sodass wir unmöglich starten konnten. Markus reagierte, indem er, wie selbstverständlich, ein kurzes Gebet sprach und um den passenden Wind bat.
Ich dachte bei mir: "So was Verrücktes, Gott hat doch bestimmt keine Zeit für solche Kleinigkeiten. Ausserdem ist es für die Welt doch völlig unwichtig, ob wir die Flüge machen können oder nicht." Doch der Wind änderte sich innerhalb von wenigen Minuten, sodass er geradezu ideal war zum Starten und Fliegen. Vor Freude jubelnd haben wir uns vom Wind über das Gelände tragen lassen und hatten viel Spass an diesen etlichen kurzen Übungsflügen.
Kapitel 18
Trägerschaftswechsel
Während unserer Ferien, die wir in der Schweiz verbrachten, beschloss Teen Challenge und das Jugendheim Sternen eine Zusammenarbeit in Form eines Verbundsystems, das im Konzept festgehalten wurde. Das Jugendheim Sternen hatte zu diesem Zeitpunkt drei Schulheime, die etwa 45 verhaltensauffällige Jugendliche beherbergten. Unter ihnen gab es viele, die immer wieder ausrissen und sich so der Aufsicht entzogen. Die Idee bestand darin, gerade diese Jugendlichen auf der Ruach zu platzieren. Hier würde das Fliehen viel schwieriger sein. Noch in unserer Urlaubszeit wurden fünf Jugendliche, drei Jungs und zwei Mädchen, auf die Ruach gebracht.
Dies war also unsere neue Zielgruppe. Kinder, im Alter zwischen zwölf und sechzehn Jahren; rebellisch, frech, unehrlich, ausgebeutet, missbraucht, liebes- und zuneigungs- bedürftig, aber auch liebenswert und durchaus in der Lage, Beziehungen zu leben und dazu bereit sich zu verändern.
Markus musste dies gleich zu Beginn erfahren, als die neue Gruppe an Bord kam.
Eines der beiden Mädchen, sie war dreizehn Jahre alt und hiess Anna, begann schon nach kurzer Zeit in der Gruppe eine Führungsposition einzunehmen. Vor dem Ruach- aufenthalt war Anna in einer geschlossenen Anstalt, die den Ruf hatte, besonders ausbruchsicher zu sein. Für Anna war dies kein Hindernis, sondern eine Herausforderung, der sie nicht widerstehen konnte. In einem Moment, in dem sie unbeaufsichtigt war, zog sie die Matratze von ihrem Bett. Dann hob sie das eiserne Bettgestell hoch und klemmte dieses zwischen die Eisenstäbe an ihrem Fenster. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen das Bettgestell und benutzte es so als Hebelarm. Ächzend gaben die Eisenstäbe nach und verbogen sich, bis die Öffnung gross genug war, dass Anna hindurch schlüpfen konnte und als erste aus diesem Haus entflohen ist .
Auf der Ruach, die sich gerade auf den Kanarischen Inseln befand, beschloss sie, die anderen Jugendlichen zum Meutern zu verleiten. Sie war sehr klug und nicht weniger gerissen, sodass keiner der Jungs ihrem Willen widerstehen konnte. Zuerst verleitete sie die Gruppe, sich nicht an die Bordregeln zu halten. Dann entwendete sie das Beiboot und fuhr zusammen mit den Jungs und dem einen Mädchen an Land. In der nahe gelegenen Ortschaft überlegten sie sich, wie sie zu Geld kommen könnten. Bald merkten sie jedoch, dass dies gar nicht so einfach ist. Anna war zwar schlau, zu ihrem Glück aber nicht besonders mutig. Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war und sich die Nacht ausbreitete, suchte sich die Gruppe einen Unterschlupf. Den fanden sie in einem Kanalisationsschacht, aus dem ein kleiner Bach floss. Hier würden sie für die kommende Nacht vor möglichem Regen geschützt sein.
Doch dieser Ort hatte auch etwas Unheimliches an sich. Die Jungen und Mädchen wollten sich dies nicht eingestehen. Mit viel Lärm und lockeren Sprüchen versuchten sie sich Mut zu machen. Anna fühlte sich alleine und hatte Angst. Dies steigerte sich so sehr, dass sie glaubte, in der für sie bedrohlich scheinenden Dunkelheit Raubkatzen und anderes Getier zu sehen. Sie erlebte eine schlimme, schlaflose Nacht, in der sich die Jugendlichen auch noch stritten. In ihrer Not beschloss Anna, die Geborgenheit der Ruach einem Räuberleben auf der Strasse vorzuziehen.
Als es dann nach endlosen Stunden wieder hell wurde und mit der steigenden Sonne ihre Angst wich, übernahm sie wieder die Führung und sorgte dafür, dass die Gruppe wieder an Bord zurückkam.
Silvia und ich waren, als dies geschah, immer noch im Urlaub. In einer Blitzaktion wurde ein neues Team zusammengestellt, das die müde gewordene Besatzung ablösen sollte. Mit dem frischen Team reisten wir kurz entschlossen auf unser Schiff, um wieder Ordnung herzustellen und die üblichen Tagesstrukturen wieder durchzusetzen.
Anna kommentierte unsere Aktion damit, dass sie froh sei, eine strengere Führung zu erhalten.
Markus und Regula beendeten zu diesem Zeitpunkt ihren Einsatz auf der Ruach.
In der Schweiz bauten sie sich wieder eine Existenz auf, die ihnen ein ruhigeres Leben ermöglichte und ihren drei Kindern bessere Voraussetzungen bot.
Gott hatte damals auf mich gehört, als ich ihn bat, uns für unser Projekt eine zweite Familie zur Seite zu stellen.
Markus und Regula gaben entscheidende Impulse, ohne die unsere Arbeit nicht überlebt hätte.
Kapitel 19
Flugübungen
Im Jugendheim Sternen wird geflogen. Das bedeutet, man wendet das Gleitschirmfliegen als pädagogisches Mittel an.
Dabei sollen die Sternen-Jungs herausgefordert werden, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken. So planten wir, auf der Ruach ebenfalls eine Gleitschirm-Woche durchzuführen.
Auf Gran Canaria veranstalteten wir diese erste Flugwoche.
Wir, die Jugendlichen und das Team, sollten nun das Fliegen erlernen. Der Fluglehrer kam speziell für diesen Anlass aus der Schweiz angereist. Tag für Tag übten wir Theorie und Praxis. Die ersten Flugversuche, in denen wir etwa zehn bis zwanzig Meter weit flogen, vermittelten bereits ein schönes Fluggefühl. Leider gelang es uns nicht, auch Höhenflüge durchzuführen, weil die Winde meist zu stark wehten. Am Ende der Woche reiste dann unser Fluglehrer wieder nach Hause in die Schweiz.
Wie könnte es anders sein: Das Wetter beruhigte sich exakt am folgenden Tag. Was tun? Wir wollten doch das Erlernte in einem Höhenflug ausprobieren. Rahel, Thorsten und ich beschlossen, diesen nachzuholen.
Wir mieteten einen Wagen und fuhren in das Gebirge im Innern der Insel. Bald hatten wir einen geeigneten Berg entdeckt. Den Wagen parkierten wir sodann am Fusse desselben. Silvia, die ebenfalls dabei war, wartete unten auf uns, während wir drei den Aufstieg in Angriff nahmen, der über eine Stunde dauerte. Oben angelangt mussten wir feststellen, dass Gleitschirmfliegen eben doch ein Leistungsport ist.
Unsere Nasen in die Luft haltend mussten wir feststellten, dass die Windrichtung nicht stimmte. Er wehte uns genau in den Rücken, sodass wir am Startplatz Abwinde hatten, die ausserdem turbulent sein würden. So hatten wir dies zuvor im Theorieunterricht gelernt.
Den Landeplatz konnte ich von oben erkennen; er war sehr, sehr weit unten und von hier oben sehr klein.
Nun kamen Gedanken wie zum Beispiel dieser:
"Was ist, wenn ich mich in der Höhe verschätze und den Landeplatz zu tief anfliege?" oder: "Was ist, wenn ich in starke Turbulenzen komme?" und so weiter. Damals glaubte ich noch, dass dies mit der Angst - oder wie ein Mann es ausdrücken würde: dass dies mit dem Respekt – nur bei den ersten Flügen so ist. Heute weiss ich, dass es gerade dies ist, was das Fliegen so interessant macht. Mann oder Frau steht da oben und muss sich überwinden. Dann wägt man nüchtern ab: "Ist die Wetterlage nun flugtauglich? Sind meine Bedenken, die ich ohnehin immer habe, berechtigt oder übertrieben?"
Heute waren sie berechtigt, weil man auf der Leeseite eines Berges nicht fliegen sollte. Dagegen sprach eigentlich nur, dass wir uns den Berg mit so viel Mühe erklettert hatten. So warteten wir darauf, dass sich die Windrichtung vielleicht ändern würde. Doch dies geschah nicht. Was also tun, wieder hinunterklettern?
Weiter unten konnten wir einen kleinen Felsvorsprung, der mit Gras bewachsen war, ausfindig machen. "Möglicherweise reichen die Abwinde nicht bis dahin", dachte ich mir. Um herauszufinden, ob dem so ist, kletterten wir hinunter.
Tatsächlich, der Wind wehte hier nicht, stellten wir fest.
Die kleine Grasfläche würde gerade reichen, um den Schirm aufzuziehen. Dies hatten wir in der vorangehenden Woche ausgiebig geübt, und es sollte daher kein Problem darstellen. Allerdings war die Fläche wirklich sehr klein, und unterhalb des Vorsprungs war die Felswand nahezu senkrecht. Der Start müsste also auf Anhieb gelingen, sonst würde es gefährlich. Ich breitete meinen Schirm als erster aus, Rahel sollte dann nachkommen und Thorsten als letzter starten. Ich bat die beiden noch darum, beim Aufziehen meine Leinen zu kontrollieren. Es sind mehr als einhundert; wenn eine verknotet wäre, könnten sie mir dies noch zurufen. Nun musste ich einen riesigen Berg Angst überwinden; ich zog den Schirm hoch, kontrollierte diesen und rannte los, was das Zeug hält. Und schon war ich in der Luft, und die Angst war verschwunden. Ich schwebte also in diesen weiten Raum hinein, zuerst an Felswänden entlang, die seitlich vorbeiglitten, und schliesslich befand ich mich etwa vierhundert Meter über Grund, und um mich herum war nichts, ausser der endlosen Luftmasse, in der ich mich wie ein Vogel fühlte. Nach einigen Minuten konnte ich eine dürre Wiese unter mir ausmachen. Ich fing an, Kreise zu fliegen, um Höhe abzubauen. Schliesslich landete ich im hohen Gras. Ich blickte nach oben und sah Rahel, die auch schon in der Luft war und bergab schwebte. Thorsten hatte etwas länger, bis er starten konnte. Doch dann schaffte auch er es, seine Angst zu überwinden und zu fliegen. Beide landeten in meiner Nähe, nicht gerade sanft, aber doch ohne sich wehzutun.
Heute fliege ich mit dem offiziellen Pilotenschein und weiss, dass dieser Erstflug auf Gran Canaria ziemlich gefährlich war.
Aber die Begeisterung für das Fliegen war von da an geweckt.
Silvia reiste Ende April mit unseren beiden Jungs in die Schweiz zurück. Ihre Energiereserven waren erschöpft, sodass sie eine beruhigende Veränderung brauchte.
Sie hat immer wieder Verständnis für meine Ideen. Zusammen haben wir vieles versucht, und einiges ist uns auch gelungen. Manchmal hatte ich so viele Ideen, dass sie kaum nachkam, sich wieder auf etwas Neues einzustellen; dafür benötigt sie meistens etwas mehr Zeit als ich.
Wir sind jetzt ein Vierteljahrhundert zusammen und sie hat in dieser Zeit mit mir schon einiges durchgestanden. Alle Achtung für das Durchhaltevermögen, denn ich bin nicht immer leicht zu ertragen! Ich denke, vor allem ein Grundsatz lässt uns zusammen diese Unternehmungen durchleben: Hauptsache, es ist nie langweilig! Diesen Grundsatz haben wir übrigens auch, wenn wir in die Welt hinausgehen und etwas mit dem Herrn unternehmen. Sich auf Gott zu verlassen, kann recht abenteuerlich sein. Es braucht deshalb etwas Mut, Vertrauen und Geduld; Vertrauen und Geduld, weil Gott uns oft erst im letzten Augenblick hilft. Dies macht er deshalb so, damit wir selbst erkennen, wo wir im Glauben stehen. Wenn du, lieber Leser, jetzt denkst: "Bei mir ist das nie so", dann kann ich dich vielleicht damit trösten: Ich gestehe, dass dies bei mir auch nicht immer so abläuft; und manchmal könnte ich beinah verzweifeln, wenn ich auf Gotteses Reaktion warten muss. Dann erkenne ich wieder deutlich, wie klein mein Glaube, mein Vertrauen und meine Geduld sind. In Wirklichkeit ist es so, dass Gott immer dann hilft, wenn wir ihn brauchen; er lässt uns nie hängen. Es kommt aber immer wieder vor, dass ich erst im Nachhinein erkennen kann, was und wofür etwas gut war.
Am besten ist, wenn du deine Bedenken weglegst und einfach mal hinausfliegst, trotz steilem Abhang, der so bedrohlich erscheint und der umso bedrohlicher wirkt, je länger du hinunter schaust. So kannst du in diese Freiheit kommen und in diesen weiten Raum, der so viele Möglichkeiten bietet, auch die Möglichkeit, sich vollzeitlich einsetzen zu lassen für Gott, für andere Menschen und schliesslich auch für dich selbst, wo du dich auch verändern lassen kannst und selbst einiges verändern wirst in dieser Welt, die an vielerlei Stellen derart krank ist.
Das grösste Hindernis hinauszufliegen ist unsere Bequemlichkeit. Wir Europäer haben uns so eingerichtet, dass alles bis an unser Lebensende abgesichert ist. Hinauszufliegen bedeutet aber, Sicherheiten aufzugeben und die warme Stube zu verlassen, um etwas zu verändern und zu erleben.
Männer und Frauen habt Mut, in die Weite zu fliegen, steht zu euren PartnerInnen und haltet zu ihnen, wenn sie hinaus wollen, und fliegt mit!
Wenn ihr nicht wisst, welches euer Aufgabenbereich ist, dann schaut euch doch einfach mal um. Kauft christliche Zeitschriften und lest die Stellenanzeigen; ihr werdet sehen, wie viele Angebote es gibt. Dann prüft, wo eure Stärken und Fähigkeiten liegen, was habt ihr für Ausbildungen gemacht, und das Wichtigste, welche Aufgabe würde euch Freude machen. Es braucht dringend Arbeiter in christlichen Einrichtungen. Es braucht aber auch noch viel mehr christliche Unternehmen, die innovativ und geschäftstüchtig sind und dadurch überleben und wachsen können. In der Bibel steht: Seid klug!
Für uns Schweizer ist es besonders wichtig, dass wir christliche Unternehmen in der ganzen Welt finanziell unterstützen. Es ist eine Tatsache, dass es nicht nur gute Ideen braucht, sondern auch Geld, um diese umzusetzen.
Kapitel 20
Krisenzeit
Im Mai segelten wir über Madeira ins Mittelmeer zurück. Die Bemühungen, einen zweiten Kapitän zu finden, der mich ablösen könnte, blieben bisher erfolglos.
Ohne die Aussicht auf Entlastung geriet ich an meine Grenzen. Noch immer fuhren wir ohne gültige Papiere und Bewilligungen. Ohne Schiffspapiere unterwegs zu sein, ist etwa dasselbe, wie wenn ich ohne Fahrzeugzulassung und ohne Nummernschild ein Auto fahren würde. Ohne gültige Papiere waren wir nicht in der Lage, ein Rufzeichen anzumelden, das wir für den Funk und die Notsender benötigt hätten. Dies hatte Auswirkungen für die Sicherheit von Schiff und Besatzung.
Ich überlegte mir, welche Reisetätigkeiten ich unter diesen Umständen noch unternehmen wollte. Das Risiko einer Seereise stieg mit der Anzahl der Jugendlichen, deren Schwierigkeitsgrad und mit meiner Erschöpfung. Das Arbeitsteam funktionierte harmonisch, und wir verstanden uns sehr gut. Dies war für uns wichtig, weil wir sehr schwierige Jugendliche zu betreuen hatten, die uns viel Energie kosteten.
Rahel war unsere Lehrerin. Sie hatte einen besonders schweren Stand, weil sie die schulmüden Jugendlichen täglich unterrichten musste.
Diese wehrten sich dagegen und machten ihr das Leben schwer.
Meine eigenen Jungs, Dominic und Patric, liebten sie sehr, weil sie sich für die beiden so viel Zeit nahm.
Adrian war ein Mitarbeiter, der mit seiner fröhlichen Natur frischen Wind ins Team brachte. Seine charmante Frau wollte im kommenden Herbst Rahel als Lehrerin ablösen.
Pascal war unser Pädagoge. Ihn erklärte ich kurzerhand zum pädagogischen Leiter, um mich zu entlasten und von dieser Aufgabe zu befreien.
Stefan war ein ruhiger, hilfsbereiter junger Mann. Er war von jenem Schlag, mit dem man gut auskam und den man schnell ins Herz schloss. Als ehemaligem Drogenabhängigen konnten ihm die Jugendlichen aufgrund seiner Vergangenheit nichts vormachen. Seine Aussagen zu diesen Themen waren stets glaubwürdig und konnten die Jugendlichen überzeugen.
Während seines Urlaubs in der Schweiz, der nur vierzehn Tage dauern sollte, spritzte er sich eine Überdosis Heroin. Er hatte lange Zeit keine Drogen mehr genommen, umso überraschender traf uns die Nachricht seines unnötigen Todes. Wir sollten nie erfahren, warum er in dieser kurzen Zeit in eine so tiefe Krise gefallen war, sodass er wieder Drogen nehmen musste.
Unsere Trauer war gross und meine Energie aufgebraucht. Anlässlich eines Telefongesprächs beschrieb ich dem Leiter in der Schweiz unsere Situation.
Gemeinsam beschlossen wir, unser Projekt aufzugeben. Die Jugendlichen sollten schrittweise in die Landheime zurückgebracht werden.
Zwei Gründe haben mich dann doch wieder dazu bewogen, mich noch einmal für die Ruach einzusetzen und mit dem Projekt weiterzumachen.
Der eine Grund war die Nachricht von der Koordination Teen Challenge über den Erhalt einer provisorischen Bewilligung.
Diese bestätigte, dass der Flaggenschein beantragt und in Kürze ausgestellt sein wird. Da ich diese Nachricht per Telefon bekommen hatte, wusste ich nicht, dass dieses Papier im Grunde wertlos war. Dies realisierte ich erst viel später, als ich es in Händen hielt und feststellte, dass sich keine Behörde und kein Hafenamt davon beeindrucken liess.
Der andere Grund war, dass das Team hinter mir stand und für meine Entscheidungen Verständnis zeigte. Zu jener Zeit teilte ich meinen Dienst mit Rahel. Sie trotzte der Belastung, indem sie sich bewusst fröhlich und ausgelassen gab. Dies half mir, meine Resignation momentan zu überwinden und mich wieder zu motivieren. Ohne sie hätte ich damals aufgegeben. Wir hatten keinen anderen Kapitän für die Ruach, weshalb das Projekt zu diesem Zeitpunkt gestorben wäre. Ich glaube, dass sich Rahel dessen bewusst war.
Vom Gesamtleiter des Jugendheims bekam ich dann weiters die Nachricht, dass es sehr schwierig und kompliziert sei, alles aufzulösen. Aber ich hatte die Entscheidung weiterzumachen, ja schon zuvor getroffen.
Kapitel 21
Neuer Kapitän
Etwa einen Monat später reiste ein deutscher Skipper zu uns, der sich zuvor als erfahrener Segellehrer in der Gesamtleitung des Jugendheims Sternen beworben hatte. Er kam auf die Ruach mit der Absicht, sich von mir einarbeiten zu lassen und anschliessend als Kapitän die Ruach zu übernehmen.
Nautische Erfahrungen hatte er schon viele gesammelt; das erkannte ich schon zu Beginn. Wir hatten vor, auf die Balearen zu segeln. Um seine Fähigkeiten zu testen, überliess ich ihm das Kommando an Deck. Um auf der Ruach die Segel zu setzen, braucht es alle Jugendlichen, die zur Verfügung stehen; ideal sind zehn Jungs.
Das Kommando an Deck zu führen, bedeutete also, diese Zehn so anzuleiten, dass die Segel so schnell wie möglich gesetzt werden. Gut ist, wenn alle Segel innert zwanzig Minuten stehen. Meist geht dies jedoch länger.
Der neue Skipper stellte sich nun, ausgerüstet mit dem Selbstbewusstsein eines Sauriers, breitbeinig auf das erhöhte Achterdeck. Aus der früheren Anstellung in einer Segelschule war er es gewohnt, klare und kurze Kommandos zu geben. Der Inhalt entsprach Wort für Wort dem seemännischen Traditionsslang. Mit seiner eindrucksvollen Tenorstimme brüllte er die ersten Kommandos den Jugendlichen entgegen. Dies klang etwa so:
"Fiiiiert auf die Fockschoooot, macht klar das Klüüüüverfall und belegt das Gaitau und Topsegelschooooot!"
Ich fand seine Kommandos wirklich beeindruckend und war neugierig, was nun geschehen würde.
Offensichtlich waren unsere Jungs weniger beeindruckt als ich, denn sie standen ratlos und etwas verloren an Deck herum und warfen mir fragende Blicke zu und machten Schulter zuckende Gesten. Ich hatte den starken Eindruck, dass sie nun von mir eine Erklärung erwarteten, was der schreiende Mann auf dem Achterdeck überhaupt von ihnen wollte, denn sie hatten kaum ein Wort verstanden.
Der Skipper schaute zuerst verdutzt zu den Jungs, die nicht so reagierten, wie er das gewohnt war.
Dann wandte er seinen Kopf zu mir und änderte gleichzeitig seine überraschten Gesichtszüge in einen vorwurfsvollen, ernsten Blick.
"Eine gute Ausrede ist Gold wert", dachte ich mir und suchte vergebens danach. Dann erklärte ich ihm, dass ich eben mehr Wert darauf lege, dass die Jugendlichen mich auch wirklich verstehen, und ich deshalb nicht soviel auf die seemännische Sprachtradition achten würde.
In den Ohren eines deutschen Seglers klang dies bestimmt sehr dilettantisch und war absolut unverzeihlich. Bestimmt dachte er: "Typisch Kuhschweizer!"
Einige Tage später erreichten wir Ibiza, wo wir an der Südküste vor Anker gingen. Für heute war die Kommandoübergabe geplant.
Sie sollte mit einem rituellen Strammstehen der Jungs, in Einerkolonne, der Grösse nach, stattfinden. Danach erwartete man von mir eine eindrucksvolle Ansprache.
Der neue Kapitän sollte dann noch einige Worte über sein Glück, die Ruach zu übernehmen, finden.
Das Ganze war auf Ende Mittagspause geplant; doch dazu sollte es nicht mehr kommen.
Während der Pause klopfte es an meine Tür. Als ich sie öffnete, stand der zukünftige Kapitän mit einem resignierten Gesicht vor mir. Sichtlich erschüttert sagte er:
"Ich ertrage eure Jungs nicht, nicht einmal Mittagspause kann ich in Ruhe machen.
Dauernd trampeln die Jungs auf meinem Kabinendach herum. Jetzt habe ich gemerkt, dass dies nicht mein zukünftiger Arbeitsplatz ist. Nie würde ich die nötige Geduld aufbringen können."
Überrascht davon zog ich alle Register, die mir zur Verfügung standen, und machte ihm Angebote und Versprechungen. Nichts half, seine Entscheidung stand fest und war unerschütterlich.
So musste ich nochmals weitere zwei Monate Dienst tun, bis wir einen anderen Kapitän fanden. Ich war so erschöpft, dass ich keinen Tag länger hätte Dienst tun können. Diese Arbeit hatte mich ausgelaugt, nun musste sie auch ohne mich weitergehen.
Bis zum letzten Tag führte ich das Schiff ohne Betriebsbewilligung.
An diesem, meinem letzten Tag auf der Ruach bekam der neue Kapitän die gültigen Schiffspapiere. Endlich war die Zeit der unerlaubten Flaggenführung und dieser dadurch schwierigen Situation zu Ende.
Als ich in Mallorca von Bord ging, wehte am Heck zum ersten Mal die englische Flagge und unten am Spiegel glänzte der Schriftzug des neuen Heimathafens: Gibraltar.
Ich empfand keine Reue, als ich die Ruach verliess, nur Erleichterung darüber, dass ich die Last der Verantwortung nun endlich los war.
Meine vielen persönlichen Sachen, die sich in den vergangenen zwei Jahren in meiner Kabine angesammelt hatten, wollte ich in Elba mit meinem Wagen abholen. Die Schiffscrew plante, als eines der nächsten Ziele Elba anzusteuern, und wollte in etwa zehn Tagen da sein.
Der neue Kapitän der Ruach war fünfundfünfzig Jahre alt. Er hatte seinen Aussagen nach schon viel Erfahrung mit Jugendschiffen, die er geführt hätte.
Dies nachzuprüfen war jedoch nicht meine Aufgabe.
Ich benötigte ein volles Jahr, um mich zu erholen.
Unterdessen hatte die Leitung des Jugendheims Sternen entschieden, keine Mädchen mehr aufzunehmen. Die Versorger hielten das gleichzeitige Betreuen beider Geschlechter in einem Heim mit einer derart schwierigen Zielgruppe für zu riskant.
So kam es, dass auf der Ruach ebenfalls keine Mädchen mehr platziert wurden.
Kapitel 22
Sturmfahrt
Nach vier Tagen bei meiner Familie in der Schweiz rief ich auf der Ruach an, um nachzufragen, wie es denn so gehe. Ein Mitarbeiter berichtete mir, dass sie gerade aus Mahon auslaufen würden, mit dem Ziel, die Strasse von Bonifazio innert drei Tagen zu erreichen. Ich habe bereits beschrieben, wie gefährlich diese Überfahrt sein kann, wenn man nicht genügend aufmerksam ist. Deshalb fragte ich auch gleich nach der Windrichtung und der Stärke. Mein Gesprächspartner fing an zu schwärmen. Er berichtete von einem strahlend blauen Himmel. Die Windstärke wäre schwach, sie würde aber gerade noch zum Segeln reichen. "Wir haben alle Segel gesetzt", berichtete er mir stolz. "Aus welcher Richtung weht der Wind?", fragte ich ihn ungeduldig. Jetzt zögerte er, weil er mir dies nicht auf Anhieb sagen konnte. Dann, nach einer kurzen Pause, antwortete er: "Aus Nord West." Sein Tonfall verriet, dass er nicht verstand, warum ich dies so genau wissen wollte. Klare Sicht und Nordwestwind können in diesem Gebiet Anzeichen für einen Mistralsturm sein. Ich überlegte mir, ob ich ihm dies sagen sollte oder mit dem neuen Kapitän sprechen müsste. Dann verwarf ich diesen Gedanken wieder, weil ich von diesem Gebiet keinen Wetterbericht hatte und weil ich auch die Erfahrung des Kapitäns nicht anzweifeln wollte. Ich sagte ihm noch, er solle Grüsse von mir ausrichten, und beendete den Anruf.
Fünf Tage später fuhr ich mit dem Auto nach Elba. Ich hatte gehört, das Schiff sei beschädigt.
Als ich mit der Autofähre in Portoferraio ankam, erkannte ich die Ruach schon von weitem; sie lag an der Hauptmole vertäut. Als die Fähre angelegt hatte, fuhr ich gleich zur Ruach und parkierte den Wagen daneben. Ich staunte nicht schlecht! Die Segelschiff befand sich in einem erbärmlichen Zustand. Auf Deck zeigte sich ein beispielloses Durcheinander. Verknotete Leinen und zerrissene Segel prägten das Bild. Der Steuerstand mit der Kompasssäule war teilweise ausgerissen und zersplittert. Das Steuerrad war zerbrochen. Am Vorstag hing der Rest des Aussenklüversegels; es war in feine Streifen zerrissen und flatterte im Wind. Eine der Rettungsinseln und das motorisierte Schlauchboot fehlten, und die Bordwand war zerkratzt und hatte viele Farbschäden. Als ich das Schiff vor zehn Tagen übergeben hatte, befand es sich in sehr gutem Zustand. Nun war die Crew mit Aufräumen beschäftigt. Als sie mich erblickten, unterbrachen sie ihre Arbeit und begannen, mir alles zu berichten: Sie waren in einen Mistralsturm geraten. Als es auffrischte, fanden sie dies zu Anfang noch interessant und freuten sich an der schnellen Fahrt, die das Schiff machte.
Aber der Kapitän hatte den richtigen Moment, um die Segel zu bergen, verpasst. Auf der Ruach darf man sich dies nicht leisten; die Segel sind sehr grossflächig und bei zu starkem Wind nicht mehr herunterzubringen. Als das Kommando zum Segelbergen dann doch noch kam, war es bereits gefährlich, an Deck zu arbeiten. Die Mannschaft kämpfte stundenlang, während immer wieder Brecher über das Schiff hinwegdonnerten und Gegenstände mit sich rissen. Leinen wurden durch die Speigatten gespült, verknoteten sich aussenbords und schlugen gegen die Bordwand.
Dadurch entstanden grossflächige Farbschäden. Ausserdem drohten die Leinen sich in der Schiffsschraube zu verwickeln. Die Gaffelbäume lösten sich unter der Gewalt der Schiffsbewegungen von den Masten und verkeilten sich, während die Vorsegel zerrissen. Im ganzen Chaos wurde das Schlauchboot abgerissen und weggespült. Der Kapitän wendete kurz entschlossen das Schiff und versuchte, das Schlauchboot wieder aufzufischen. Die Wende verschlimmerte das Durcheinander. Das motorisierte Beiboot im Sturm wieder an Deck zu hieven, war von Anfang an ein aussichtloses Unterfangen. Ein weiterer Brecher, der über das Achterdeck stürzte, riss eine der Rettungsinseln mit sich. Sogleich blähte sich diese auf und saugte sich mit den Kentersäcken an der Wasseroberfläche fest. Der Kapitän befürchtete, die Insel könnte eine Suchaktion auslösen, die sehr teuer sein würde. Darum beschloss er, die Insel wieder an Bord zu ziehen. Verzweifelt versuchte er zuerst, die Rettungsinsel mit Maschinenunterstützung anzusteuern. Nach mehreren Manövern gelang ihm dies auch. Pascal wollte auf die Insel klettern, um eine Leine zu befestigen. In diesem Augenblick traf ihn ein harter Gegenstand der sich irgendwo gelöst hatte, am Kopf. Nun passierte das Schlimmste, was bei schwerer See überhaupt passieren kann. Er verlor das Bewusstsein und fiel gleichzeitig über Bord.
Für die übrige Mannschaft war dies der schlimmste Moment. Doch als sie nach ihm Ausschau hielten, erkannten sie, dass er in die Rettungsinsel gefallen war. Benommen kam er langsam wieder zu sich und schüttelte seinen Kopf. Dann befestigte er eine Leine an der Insel, um diese wieder an Deck zu hieven. Schliesslich zogen sie auch Pascal wieder an Deck.
Die Rettungsinsel war durch das Gewicht der Kentersäcke viel zu schwer und das Leinendurcheinander zu gross, so dass ihre Aktion niemals gelingen konnte.
Mit einem Messer schlitzte jemand die Rettungsinsel auf, mit der Absicht, sie zum Sinken zu bringen. Die Mannschaft kämpfte Stunde um Stunde gegen den Sturm, um den Segler wieder in den Griff zu bekommen. Sie arbeiteten unter Verhältnissen, bei denen ein guter Kapitän dafür zu sorgen hat, dass keiner mehr an Deck ist. Unter Deck kippten die Lebensmittel aus den Kühltruhen und den Schränken. Sie durchmischten sich, sodass sich eine kompakte, breiige, klebrige Masse bildete, die sich auf dem Boden hin und her wälzte und einen üblen Gestank verbreitete.
Bei Windstärke elf und mehr gehören alle in ihre Kojen; dort sollten sie sich verkeilen, damit sie nicht herausgeschleudert werden können. Dann muss man abwarten, bis sich der Sturm wieder gelegt hat. Alle Luken sind dann, egal was geschieht, geschlossen, sodass kein Wasser eindringen kann. Damit dies möglich ist, muss der Schiffsführer zuvor immer wachsam sein und das Richtige im richtigen Moment unternehmen. Der richtige Moment wird meist durch den Wind bestimmt. So würde die Ruach auch schwere Stürme ohne grosse Beschädigungen überstehen.
Irgendwie erreichten sie die Strasse von Bonifazio doch noch. Unsere Crew kam mit Prellungen und ein paar Beulen davon, der Rest war Materialschaden.
"Das fängt ja gut an!", dachte ich mir, packte meine Sachen in mein Auto, verabschiedete mich und fuhr zurück in die Schweiz.
Nun hatte ich endlich genügend Zeit, um über alles Vergangene und unsere Zukunft nachzudenken.
Immer wieder mal muss ich gedanklich zum Anfang zurückkehren, um herauszufinden, ob ich noch auf dem richtigen Weg bin.
Der Anfang der Ruach war Gottes Versprechen, mir eine Flotte zu geben. Dies war meine Motivation, das Projekt überhaupt zu gründen und aufzubauen, ohne pädagogische Ausbildung und mit wenig Geld. Zu meiner Vision gehörte auch, dass Menschen durch diese Arbeit zu Gott geführt werden.
Dieser Teil war bisher sicher erfüllt: Immer wieder interessierten sich Jugendliche ernsthaft für den Glauben, ohne dass wir sie bedrängt haben. Was mich aber besonders gefreut hat, war die Tatsache, dass auch einige aus dem Arbeitsteam zu Gott fanden. In den vielen Häfen trafen wir etliche Jachtleute, die sich für unsere Arbeit interessierten und denen die Ruach ein Zeugnis war.
Es gab Zeiten, in denen niemand die Ruach haben wollte, weil die Arbeit zu anstrengend war, zuviel Ärger brachte, uns Freiheiten nahm, uns ausbrennen liess oder es einfach zu teuer war. Trotzdem weiss ich, dass es sich für diejenigen, die durch die Ruach in ihrem Leben weitergekommen sind, gelohnt hat. Eine Flotte hatte ich keine, und mein Projekt gehörte auch nicht mehr mir. Zu Ehren sind wir, meine Frau und ich, durch die Schiffsarbeit nie gekommen. Was uns blieb, war unsere Erschöpfung. Die Lorbeeren für diese Arbeit, die wir gegründet und aufgebaut hatten und die uns viel Mühe und auch unsere Ersparnisse gekostet hatte, sollten andere tragen dürfen. Ich weiss, dass es anderen Pionieren manchmal ähnlich geht; warum dies so ist, weiss ich nicht.
Dominic und Patric, unsere Söhne, hatten grosse Mühe, sich wieder zu integrieren.
Sie waren durch den Aufenthalt auf der Ruach gegenüber den Gleichaltrigen in der Schule, und Dominic später auch in der Berufsausbildung, benachteiligt.
Für Silvia und mich bedeutete es, wieder einmal neu anzufangen. Angestellt zu sein und für einen Arbeitgeber zu arbeiten, liegt mir nicht. So blieb uns nichts anderes übrig, als wieder ein eigenes Unternehmen zu gründen.
In verschiedenen Bereichen probierten wir dies aus. Auch im Bereich der Seefahrt und Jugendarbeit. Ich merkte aber bald, dass mir die nötige Energie fehlte, um schon wieder so etwas Schwieriges anzufangen.
Auf der Ruach passierten während der folgenden Überfahrten zusätzliche nautische Fehler, sodass sich die Mannschaft mit ihrem Kapitän nicht mehr sicher fühlen konnte.
Ein missglücktes Ankermanöver führte zu weiteren Schäden am Schiff. Und im Archipel der Azoren, die sie zur falschen Jahreszeit angesteuert hatten, führte der Kapitän die Ruach fast in einen Orkan. Nur die Umsicht der Hafenbehörde in Santa Maria verhinderte dies, indem sie den Schoner zurück in den Hafen beorderten. Für einen Schiffsführer muss dies sehr peinlich sein. Dieser Kapitän war eindeutig überfordert. Er hat dies selbst auch gemerkt und entschied sich, die Ruach in Santa Maria zu verlassen. Ich bin mir sicher, dass - wenn er noch länger geblieben wäre - er die Ruach zum Wrack gemacht hätte. Schliesslich fanden wir in Urs Rüttimann einen zuverlässigen Schiffsführer.
Gemeinsam mit Marianne Dubach als Heimleiterin führten sie diese Arbeit erfolgreich durch die folgenden Jahre weiter.
Ich hatte mich wieder soweit erholt, dass ich mich entschied, die Ferienablösung des neuen Kapitäns zu machen.
Dies bedeutete für mich, während drei bis vier Monaten pro Jahr zur See zu fahren.
In diesen drei Jahren bereiste die Ruach vor allem den Atlantik. Sie kreuzte zwischen den Kapverdischen Inseln, der Karibik und Grönland hoch im Norden.
Kapitel 23
Pascal
Im Herbst erhielten wir die Nachricht, dass Pascal Soudan, der pädagogische Leiter der Ruach, auf Teneriffa ums Leben gekommen ist.
Bei einer Bergbesteigung im Süden von Teneriffa ist er ausgerutscht und hat sich beim Sturz das Genick gebrochen. Er hinterliess seine Verlobte, seine trauernden Eltern und einen grossen Freundeskreis. Er war der zweite Mitarbeiter, der in diesem Jahr ums Leben kam.
Ein Erlebnis, das mich besonders an Pascal erinnert, möchte ich mit euch an dieser Stelle teilen:
Die Ruach lag in einer Ankerbucht, irgendwo im Mittelmeer. Lautes Geschrei störte mich in meiner Arbeit unter Deck. Der Lärm kam vom Vordeck, und als er nicht enden wollte, ging ich nach oben, um die Ursache herauszufinden.
An Deck sah ich, wie Pascal einen der Jungs über Bord ins kühle Wasser warf. Dies tat er nicht auf der Seite, wo die Badeleiter montiert war, sondern auf der gegenüberliegenden Seite.
"Ein besonders schweres Vergehen muss vorgefallen sein, wenn Pascal so reagiert", dachte ich mir. Während Tom um das Schiff herum schwamm, um an die Leiter zu gelangen, erzählte mir Pascal kurz, was dieser angestellt hatte.
Tom verweigerte die Erledigung seines Arbeitsbereichs. Dies hatte zu einer Auseinandersetzung mit Pascal geführt. Worauf Tom nicht etwa nachgab, sondern an Deck ging und mit einem Messer, das er aus der Kombüse entwendet hatte, Leinen durchzuschneiden begann. Pascal versuchte wiederum den Jungen zur Vernunft zu bringen.
Er hatte aber nicht viel Zeit, länger zuzuschauen, denn das Durchschneiden von Leinen kommt erstens teuer zu stehen und kann zweitens gefährlich sein. Also packte er ihn, hob in hoch und schmiss ihn ins kühle Nass, hoffend, Tom würde sich beruhigen. Dem war aber nicht so. Als Tom nämlich die Leiter hoch kam; beschimpfte er Pascal aufs Übelste und drohte, mit dem Leinen Durchschneiden fortzufahren. Also: wie reagiert ein guter Pädagoge wie Pascal? Er packte den Jungen erneut am Hosenbund, trug ihn quer über das Deck und warf ihn noch einmal ins Wasser. Im dem Moment, als Tom wieder die Badeleiter hochkletterte und erneut Pascal beschimpfte, stand ich dann an Deck. Eines wussten Pascal und ich genau: Mit diesem Jungen müssen wir jetzt da durch. Tom, der vor dem Ruach-Aufenthalt bei seiner Grossmutter gelebt hatte, war es nicht gewohnt, dass etwas nicht nach seinem Willen geschah. Dazu war seine Grossmutter viel zu nachgiebig.
Also packte ich ihn diesmal und warf ihn an derselben Stelle hinein. Wir mussten Tom sieben Mal ins Wasser werfen, bis er endlich aufhörte, uns zu beschimpfen und mit Vandalismus zu drohen.
Erschöpft hängte sich Tom an die Badeleiter. Pascal nahm diese Gelegenheit wahr, stieg ins Beiboot und fuhr zur Leiter. Dann sagte er mit ruhiger, aber entschiedener Stimme: "Einsteigen Tom, wir müssen miteinander sprechen." Tom stieg ohne Widerstand ein. Sein Gesichtsausdruck verriet seine Verzweiflung darüber, dass er seinen Kopf nicht durchsetzen konnte. Pascal fuhr mit ihm kurz entschlossen in die offene See hinaus, bis ich das Boot kaum noch erkennen konnte. Da draussen blieben die beiden dann über eine Stunde.
Pascal nutzte den Umstand, dass Tom in einem vier Meter langen Boot nicht ausweichen konnte, und stellte ihn zur Rede. Pascal gab nicht nach, bis sich Tom öffnete und ein wenig von sich zu erzählen begann, was er zuvor aus Stolz und Trotzverhalten nie getan hatte. Als sie wieder zurückkamen, war Tom friedlich. Sofort machte er sich an seine, ihm zugeteilte Arbeit.
Solche Momente muss man geschickt nutzen. Es sind jene Situationen, die Jugendliche weiterbringen. Zum Glück sind diese nicht immer so turbulent. Pascal hatte dies erkannt und Tom aufgezeigt, dass es so nicht gehen kann. Es gelang ihm aufzuzeigen, dass er ihn als Mensch gern hat, indem er sich Zeit für ihn nahm, er aber sein Verhalten nicht akzeptieren kann. Dies ist eine der pädagogischen Vorgehensweisen, die sinnvoll sind.
Kapitel 24
Kap Verde
Besonders reizvoll ist für mich der Kapverden Archipel.
Er liegt etwa auf dem achtzehnten Breitengrad, auf der Höhe von Gambia, weit draussen im Atlantischen Ozean. Die Inselgruppe umfasst zehn Inseln, wovon sieben bewohnt sind.
Die Bewohner sind vorwiegend Schwarze, die ursprünglich vom afrikanischen Kontinent verschleppt worden sind. Während der düsteren Zeit des Sklavenhandels wurden sie auf den Kapverdischen Inseln gefangen gehalten.
Die europäischen Sklavenhändler sammelten hier ihre menschliche Handelswahre, um sie später weiter- zutransportieren und in der neuen Welt zu verkaufen. Einigen gelang es, zu fliehen und sich in den Bergen zu verstecken. Sie waren die ersten, wirklichen Bewohner der kleinen Inselgruppe.
Nachdem der Sklavenhandel verboten wurde, kolonialisierten die Portugiesen den ganzen Archipel. Die Portugiesen waren schlimme Kolonialherren, was sie aber nicht davon abhielt, sich teilweise mit der schwarzen Bevölkerung zu vermischen. So sind die Einheimischen auf manchen Inseln eher braun.
Nachdem die Portugiesen die Inseln freigaben und sie als unabhängig erklärten, unterstand die Bevölkerung bis Ende der Achtziger Jahre einer kommunistischen Regierung und dem Einfluss der Sowjetunion.
Wir entdeckten die Inseln, indem wir sie eine um die andere ansteuerten, ohne dass wir viele Informationen zur Verfügung hatten.
Die ersten Eindrücke einer Insel, die ich neu entdecke, kann ich mir besonders gut einprägen.
Zum Beispiel die Insel Brava: Der Name bedeutet 'die Wilde' oder 'die Unwirkliche'.
Wir steuerten sie aus südwestlicher Richtung an und staunten über die steilen, hohen und zerklüfteten Berge. Beim Näherkommen konnten wir eine kleine Bucht ausmachen. Mit dem Echolot (Tiefenmesser) tastete ich mich heran. Unter Wasser fiel der Grund steil ab, sodass ich zum Ankern sehr dicht ans Ufer heran fahren musste. Ausser einigen Ruderbooten, die auf dem Kiesstrand lagen, hatte es keine anderen Schiffe in der Bucht. Auf der Uferböschung standen einige Steinhütten und davor viele Menschen, vor allem Kinder, die zu uns hinausschauten. Als der Anker dann endlich zu halten schien und ich die Maschine ausschaltete, hörten wir die typischen Geräusche der Kapverden:
Die Geräuschkulisse besteht aus einem Gemisch aus Hühnergackern, Kindergeschrei und der Funnana-Musik, die sehr rhythmisch klingt und zu der sich gut tanzen lässt.
Der Kapitän ist immer der erste, der an Land gehen darf – nein – eher gehen muss, wegen der Formalitäten und so.
Etwas abseits des Dorfes fand ich eine Stelle, wo ich zwischen grossen Steinen, geschützt vor den Atlantikwellen an Land klettern konnte. Keiner der vielen Menschen, die wir zuvor vom Schiff aus gesehen hatten, war hier.
So stieg ich Richtung Dorf hinauf, um Weiteres in Erfahrung zu bringen. Als ich mich den ersten Hütten näherte, kamen zuerst die Hunde kläffend auf mich zugerannt. Sie hatten die für sie unbekannte Witterung eines Weissen aufgenommen. Empört über mein Eindringen waren sie offensichtlich die mutigsten Inselbewohner.
Als nächstes konnte ich Kinderaugen ausmachen, die hinter Mauern und Fensterrahmen neugierig und scheu hervorlugten. Als ich weiterschritt, zeigten sich dunkle Kindergesichter, dann ganze Gestalten, die mir schliesslich scheu zuwinkten. Als ich dann zurückwinkte, bewegten sie sich langsam und von Neugier getrieben auf mich zu, um herauszufinden, wer ich denn sei und was ich hier wolle.
Eine korpulente Frau mittleren Alters schritt zielstrebig auf mich zu. "Ola", begrüsste sie mich nach Landessitte und sagte mir dann in einfachstem Englisch Folgendes: "Du wirst heute Abend in meinem Haus essen."
Ich reagierte überrascht: "Äää, ja", und dann noch: "Gut zu wissen."
Dann stellte sich die Frau breitbeinig vor mich, stützte ihre dicken Arme in die Hüften und sagte: "Es gibt Fisch oder Huhn, was möchtest du?"
An diesem Abend haben wir dann zu dritt bei dieser Frau gegessen. Es gab Huhn, welches über offenem Feuer gebraten wurde und das wir am Wegrand sitzend, beobachtet von unzähligen Kinderaugen geniessen durften. Nach dem Essen wurde die ohnehin schon laute Musik noch etwas lauter gedreht. Dann erhob sich die dicke Frau und schob ihre etwa fünfzehnjährige Tochter Andi, unserem jüngsten Mitarbeiter, zu und deutete an, sie sollten zusammen ein Tänzchen machen.
Dann forderte sie die ältere Tochter auf, mit Hannes zu tanzen, der noch einige Jahre jünger ist als ich.
Anschliessend forderte sie mich dazu auf, mit ihr selbst zu tanzen. Schockiert über die Ungerechtigkeit dieser Welt, durchschoss mich eine mittelschwere Panikattacke, die ich nur schwer unterdrücken konnte.
Beide Handflächen abwehrend vor mich haltend und so höflich, wie ich unter diesen Umständen noch sein konnte, lehnte ich dankend und mit einem verkrampften Lächeln ab.
Fogo ist eine Vulkaninsel mit einem grossen, schwarzen Krater in der Mitte, aus dessen Schlund sich alle paar Jahre Lava ergiesst, die dann über die Landschaft fliesst und diese mit schwarzem Gestein und Asche bedeckt. Als wir Fogo, zum ersten Mal ansteuerten, war es Nacht.
An der Südwestseite der fast runden Insel würden wir am ruhigsten liegen, überlegte ich mir und steuerte dieses Gebiet vorsichtig an. An Land war kein Licht zu erkennen, und der Mond würde erst später aufgehen. So war es also ganz finster. Auf der Seekarte war ein Sandstrand eingezeichnet. Auf dem Radarschirm, das muss ein jeder Segler wissen, sind Sandstrände sehr schlecht, wenn überhaupt zu erkennen.
Die Seekarten der Kapverden sind ungenau, sodass sich einzelne Inseln nicht exakt an dem Ort befinden, wo sie eingezeichnet sind. Leuchttürme, die den Weg weisen, gibt es; sie sind jedoch meist ausser Betrieb.
Langsam steuerte ich das Schiff Richtung Küste und kontrollierte laufend die Tiefe. Plötzlich verringerte sich diese schnell, und ich konnte nunmehr die Brandung auf dem Sandstrand brechen hören.
Bei zwanzig Meter Wassertiefe gab ich den Befehl, den Anker fallen zu lassen. Dann kontrollierte ich, ob der Anker halten würde, schaltete alle Geräte aus, das Ankerlicht an und ging schlafen.
Am nächsten Morgen stand ich früh an Deck und betrachtete den Küstenabschnitt. Ein riesiger schwarzer Sandstrand lag vor uns, an dem sich donnernd die hohen Wellen brachen.
Weiter rechts, oberhalb vom Strand, standen zwei Gebäude; vor ihnen im Sand lagen kleine, bunt gestrichene Fischerboote.
Die Landschaft erhob sich sanft aus dem Meer und wurde weiter hinten immer steiler, bis nahezu senkrecht. Wie für Vulkane typisch war Fogo oben wie abgeschnitten.
Ein Mann schlurfte durch den Sand direkt auf uns zu und schwenkte seine Arme über dem Kopf. Als er am Strand angekommen war, rief er uns etwas zu, das ich wegen der Brandung nicht verstehen konnte. Die Einheimischen haben manchmal eine recht imposante Stimme, so auch diese kleine dunkel gekleidete Gestallt.
Er rief uns zu, dass wir am falschen Ort ankern würden. Der Hafen befände sich weiter oben; da, wo die Fischerboote auf dem Strand liegen.
Bisher hatte ich immer geglaubt, Häfen hätten eine Mole oder zumindest irgendetwas, das an einen Hafen erinnert. Aber hier war nichts ausser Sand und Wasser. Ich liess also den Anker hochziehen, fuhr die etwa zweihundert Meter bis zum Hafen und ankerte von neuem. Der schwarze Mann deutete mir nun, dass ich an Land kommen solle. Also stieg ich in das Schlauchboot, startete den kräftigen Motor und fuhr Richtung Ufer, wo mich eine meterhohe Brandung erwartete. Inzwischen standen am Strand etwa zwanzig Personen; es waren Fischer. Einige deuteten mir, ich solle noch warten, bis sich ein geeigneter Moment ergeben würde, durch die Brandung zu fahren, und sie zeigten mir auch, wo genau ich stranden sollte.
Dann kam das O.K.-Zeichen, und ich beschleunigte mein Boot, um auf einer Welle reitend ans Ufer zu gleiten.
Sogleich packten die Männer an und zogen das Schlauchboot aus dem Brandungsgürtel den Strand hinauf. Wie üblich waren die Menschen auch hier freundlich, etwas neugierig, aber nicht aufdringlich. Von der Uferböschung wirbelte eine in staubige Lumpen gekleidete Kinderschar heran. Sie wollten ebenfalls wissen, wer denn da gelandet sei.
Der Mann, der mir zugerufen hatte, stellte sich als Hafenmeister vor. Er war ebenfalls sehr freundlich, trug eine fadenscheinige, dunkle Uniform und schwarz glänzende Lederschuhe. Dann deutete er an, dass er an Bord kommen wolle, um die Formalitäten zu erledigen.
Dabei hatte er anscheinend den Anspruch, mit trockenen Schuhen an Bord zu kommen, was ich für absolut unmöglich hielt. Weit oben am Strand stellte er sich aufrecht ins Boot und forderte die Fischer dazu auf, im richtigen Moment zu schieben. Mit der Erfahrung der Fischerleute und meinem Einsatz, der die Fischer und mich ziemlich durchnässte, gelang es uns, die glänzenden Lackschuhe des Hafenmeisters trocken durch die Brandung zu bringen, ohne dass er diese ausziehen musste. Denn dadurch hätte seine Würde Schaden genommen. Mein Verständnis hatte dieser Mann, denn, wenn man Hafenmeister eines Hafens ist, der nur aus einem Sandstrand besteht, ist die Würde etwas, auf das man besonders achten muss und das gepflegt sein will. Es gelang mir auch, seine glänzenden Schuhe trocken an Bord zu bringen. Ich selber trug nur Shorts, die inzwischen völlig durchnässt waren. So bat ich ihn, ins Kartenhaus zu kommen, wo er die Papiere und die Pässe kontrollieren konnte. Seine Aufmerksamkeit und sein Interesse galten aber nicht wirklich den Papieren, sondern der Wäscheleine, die einer der Jungs vergessen hatte wegzuräumen.
So erklärte er mir, dass er im nächsten Ort, der etwa eine Meile entfernt sei, ein Hafenbüro habe. Normalerweise würde da an einem Fahnenmast die Nationalflagge wehen. Diese könne er aber nicht mehr hochziehen, weil er keine Leine mehr habe.
"Eine Insel ohne Hafen ist ja noch vorstellbar, aber eine Insel ohne Nationalflagge, das geht nicht!", dachte ich mir.
So schenkte ich ihm kurz entschlossen das begehrte Leinenbündel. Er bedankte sich und wollte nun wieder an Land gebracht werden, was auch irgendwie gelang.
Beim Verabschieden teilte er mir noch mit, dass ich am Nachmittag in sein Büro kommen solle, und erklärte, wie ich es finden würde.
An die umständlichen Einklarierungsprozeduren gewöhnt, marschierte ich also am Nachmittag in die kleine Ortschaft.
Das Bürohäuschen war mit Hilfe der mich begleitenden, schwarzen Kinder einfach zu finden. Eine Nationalflagge konnte ich keine erkennen; das Einzige, was im Wind wehte, war eine grosse Anzahl Wäschestücke, die hinter dem Haus zum Trocknen an einer Leine aufgehängt waren, die mir irgendwie bekannt vorkam.
Auch mein erster Landgang auf der Insel São Nicolau ist mir in Erinnerung geblieben.
Die Ortschaft, vor der wir ankern wollten, ist auf der Seekarte nicht eingezeichnet. Darauf ist lediglich eine Bucht als Ankerplatz vermerkt.
Ich schloss daraus, dass dies wohl der Handelshafen sein muss. Als wir uns näherten, musste ich feststellen, dass am Strand nur ein paar Hütten standen. Einen vernünftigen Ankergrund fand ich nicht.
Wir hatten geplant, hier unseren Proviant aufzufüllen; dies würde nicht möglich sein, das sah man schon von weitem.
Weil es aber schon Abend war, entschlossen wir uns, trotz den schlechten Bedingungen zu ankern und zu übernachten. Ohne an Land gewesen zu sein, segelten wir am nächsten Morgen der Küste entlang weiter. Wir konnten nicht glauben, dass dies die einzige Ortschaft ist. Und tatsächlich, am Nachmittag - wir hatten schon die halbe Insel umrundet - tauchte eine Ortschaft auf.
Beim Näherkommen sahen wir sogar eine Hafenmole, die gross genug war, dass kleine Handelsschiffe anlegen konnten. Offensichtlich war dies der Handelshauptort. Die Ortschaft machte einen eher schäbigen Eindruck.
Daraus kann man schliessen, dass die Bevölkerung sehr arm ist. Auch hier fuhr ich wieder als erster mit dem Beiboot an Land, um uns anzumelden. Über São Nicolau hatte ich keine Informationen, so war ich besonders gespannt, was mich hier erwarten würde und welches die ersten Eindrücke sein könnten. Die Gezeit war niedrig, sodass es schwierig sein würde, auf die hohe Mauer der Mole zu klettern.
Zwischen den zahlreichen Fischerbooten, die hier grösser waren als auf den anderen Inseln, fand ich eine Stelle, an der ich hinaufklettern konnte.
Etwas verärgert darüber, dass es hier keine Treppe gab, bemühte ich mich, aus meinem Boot zu steigen und mich auf die glitschige Mole zu ziehen. Zuvor konnte ich die Bootsleine einem kleinen schwarzen Jungen reichen. Er stand, nur mit einem kurzen Hemdchen bekleidet, lächelnd am Molenrand. Diese Kleidersitte ist in diesen Breitengraden sehr verbreitet und ausserordentlich praktisch.
Ich zog mich also langsam hoch, und mein Ärger steigerte sich. Ich dachte mir: "Mein erster Eindruck von São Nicolau wird eine schmutzige, stinkende, glitschige und hohe Hafenmauer sein."
Mit viel Mühe hatte ich mich nun ein Stück über die Mauer gezogen, sodass sich meine Nase schliesslich genau auf Hüfthöhe des Jungen befand. Dieser konzentrierte sich auf meine Beibootleine und machte keine Anstalten, einen Schritt zurückzutreten. "Dies ist also São Nicolau", dachte ich, und es sollte, ob ich nun wollte oder nicht, tatsächlich mein erster Eindruck dieser Insel bleiben.
Die Seekarte ergänzte ich dann noch um einen selbst gezeichneten Hafenplan.
Kapitel 25
Tauchen
Unser Tauchlehrer hatte sich vorgenommen, den Jugendlichen und dem Arbeitsteam, das Tauchen beizubringen.
Die Kapverden würden sich dazu sehr gut eignen. Wie vor dem Fliegen mussten wir auch hier wieder zuerst Theorie büffeln. Unser Lehrer nahm es da sehr genau.
Er ist ein sehr erfahrener Tauchlehrer, und er würde in den kommenden Wochen beinah mehr Zeit unter Wasser verbringen als oberhalb.
Die Insel, bei der wir den ersten Tauchgang machen würden, war unbewohnt und abgelegen, sodass man hier den Eindruck bekommt, am Ende der Welt zu sein. Diese Gegend hat den Ruf, Haigebiet zu sein. Dies würde das Tauchen noch zusätzlich interessant und abenteuerlich gestalten.
Nach viel Theorie und praktischen Übungen deckten wir uns mit Tauchmaterial ein, unter dessen Gewicht man beinah zusammenbrechen kann.
Mit dem Schlauchboot fuhren wir zu einem Felsen, der einsam aus der dunklen See ragt.
Wie erlernt liessen wir uns ins Wasser plumpsen. Um den Auftrieb einzustellen, befanden sich an einem der vielen Schläuche, die den Taucher umgeben, zwei verschiedene Knöpfe.
Wenn man den einen drückt; geht es aufwärts, und wenn man den anderen betätigt, geht es abwärts. Die Taucher nennen dies Austarieren. "Gibt es etwas einfacheres?", dachte ich. "Nein, also Knopf drücken und abwärts geht's!"
Ehrlich gesagt; war es dann doch nicht so einfach.
Immer wieder hatte ich entweder zuviel Auftrieb oder sank zu schnell ab, sodass ich mit dem Druckausgleich Probleme bekam. Dies belastete meine Ohren, die zu schmerzen begannen. Das Austarieren beschäftigte mich derart, dass ich von der schönen Umgebung nicht viel gesehen habe. Doch an eines erinnere ich mich noch gut:
Direkt unter mir bewegte sich eine frei schwimmende Muräne. Später liess ich mir sagen, dass dies eher selten vorkommt, weil sie normalerweise in Höhlen lebt und vorbeischwimmendes Getier jagt und frisst.
Ich war gerade dabei zu sinken. Diesmal mit meinem Hinterteil voraus. Unter mir das lauernde Tier, das mich anzufauchen schien und mir seine spitzen Zähne zeigte.
"Okay", dachte ich, "Ruhe bewahren und Knopf drücken."
Doch welcher Knopf ist es denn jetzt? Drücke ich den falschen, werde ich mich innerhalb von Sekunden auf die Muräne setzen. Was dann geschehen würde, wollte ich mir lieber nicht ausdenken, so unbeweglich wie ich mit den komplizierten Geräten am Leib in diesem Moment war.
Ich trug zwar einen Taucheranzug, trotzdem fühlte ich, dass mein Hintern ziemlich ungeschützt war. Das kleine Ungeheuer wurde sichtbar nervöser, und ich auch. Also, Augen zu und Knopf drücken. Welch eine Erleichterung, es war der Richtige! Die Muräne hatte noch einmal Glück gehabt.
Als ich nach einigen Tauchgängen etwas sicherer war, traute ich mir auch Nachttauchgänge zu.
Bei der Insel Fogo hatten wir einen schönen Tauchplatz entdeckt. In dieser Gegend wurde kaum gefischt, und deshalb war der Fischreichtum besonders gross.
Gespannt wie sich dieser Unterwassergarten bei Nacht präsentieren würde, stiegen wir zu dritt in die schwarzen Fluten.
Jeder hatte seinen eigenen Tauchscheinwerfer dabei.
In etwa fünfzehn Meter Tiefe erreichten wir das Riff, dem entlang wir zu tauchen planten. Mit einem Handzeichen fragte uns der Tauchlehrer, ob alles okay sei, und dann schwammen wir dem finsteren Grund entlang.
Die See war unruhig und verursachte hier unten eine Bewegung des Wassers, die uns hin und her schob. Nach wenigen Metern leuchtete der Tauchpartner in eine Höhle, in der sich eine grosse, dunkle Muräne befand. Diese Art gibt es nur hier an der westafrikanischen Küste, und sie gehört zu den grössten Exemplaren.
Dies habe ich mir nach diesem Tauchgang sagen lassen. Faszinierend war es schon, doch wollte ich mich nicht zu nahe aufhalten. Nur hatte ich Mühe, mich von dieser Höhle fernzuhalten; die Wasserbewegung drohte mich immer wieder in die Höhle zu stossen.
So drehte ich mich um, damit ich wegschwimmen und mehr Distanz zu diesem etwas unheimlichen Tier bekommen würde.
Hoppla, nun war ich aber zu tief! Zwei Langusten lugten mit ihren Stielaugen durch die Gläser meiner Taucherbrille und ruderten bedrohlich mit ihren langen Fühlern.
Meine Begleiter schwammen inzwischen weiter dem Riff entlang. Ich achtete nun darauf; von allem genügend Abstand zu halten. Ich richtete meinen Scheinwerferkegel noch kurz in eine weitere Höhle, sah aber nichts Besonderes.
Eben wollte ich weiterschwimmen, als sich von rechts ein Hai aus der Schwärze in mein Gesichtsfeld schob, der etwa doppelt so lang war wie ich.
Es war ein Ammenhai, der bei Tag viel harmloser wirkt. Ich hatte aber den Eindruck, dass er ebenso erschrocken war wie ich. Wir waren uns einig. Wenn du mir nichts tust, so lasse ich dich auch in Ruh.
So viel 'Action' hatte ich nun doch nicht erwartet. "Das ist ja wie in einer Geisterbahn", dachte ich. Der Hai zog elegant an mir vorbei und verschwand wieder im Dunkeln.
Ich schob mich Flossen schlagend und etwas weniger elegant weiter dem Riff entlang durch dichte Fischschwärme, die mich neugierig beäugten und umkreisten.
Mit Haien hatten wir uns schon bei den Tagtauchgängen vertraut gemacht, sodass wir in Wirklichkeit kein Risiko eingegangen sind.
Meine Begleiter sind erfahren und nehmen ihre Aufgabe ernst. In dieser Zeit war unser Tauchlehrer so stark mit Tauchen beschäftigt, dass ich den Eindruck hatte, ihm würden nächstens Schwimmhäute zwischen den Fingern wachsen. Unter Wasser betrachteten ihn die Fische inzwischen als einen der ihresgleichen.
Auf der Ruach lebten in dieser Zeit Jugendliche, die schon bei ihrem ersten Tauchgang Haie gesehen haben. Sie hatten sich schon so an sie gewöhnt, dass, wenn wir vom Boot aus einen Hai sahen, es nur Sekunden dauerte, bis mindestens die Hälfte der anwesenden Jugendlichen ins Wasser gesprungen ist, um sich diesen genauer zu betrachten und sich ihm langsam zu nähern.
Das Schwimmen mit Taucherbrille in der Umgebung von Walen war dann wieder mein Verantwortungsbereich.
Ich kenne ein Seegebiet, in dem es viele Pilotwale gibt, die sehr zutraulich sind.
So reservierten wir uns einen Tag, an dem wir die Zahnwale aufspüren wollten. Sollten wir sie finden, wollten wir mit ihnen Schnorcheln.
Und tatsächlich, am späten Nachmittag hatten wir sie gefunden. Auf der Ruach glaubten einige bereits nicht mehr daran, dass es hier Wale geben soll.
Ich wusste von früheren Reisen, dass hier sogar sehr viele, in grossen Schulen von jeweils etwa zehn Tieren leben.
Es gelang uns, jeden der Jugendlichen, der genügend Mut hatte, einmal in die Nähe der Tiere schwimmen zu lassen. Annäherungen bis Armlänge sind möglich, und die Begeisterung war dementsprechend gross. Für mich ist das Schwimmen mit Walen eines der eindruckvollsten Naturerlebnisse, das ich kenne.
Florian war klein und schlau, wir nannten ihn einfach Flo. Irgendwie passte dieser Name sehr gut zu ihm. Auch er entschied sich, mit den Tieren zu schwimmen.
Vorerst beschäftigte ihn noch seine Angst und Nervosität, die es zu überwinden galt.
Teilweise musste ihm dies auch gelungen sein, sonst wäre er nicht ins Wasser gesprungen.
Als er sich dann vorsichtig und langsam einem der Wale näherte, reagierte dieser, indem er sich Florian zuwandte und ebenfalls direkt auf ihn zuschwamm.
Florian sah sich bereits im Magen des grossen Tieres enden, änderte erschrocken seinen Kurs um 180 Grad und schwamm so schnell er konnte, spritzend und zappelnd davon.
Dicht hinter ihm ragte eine grosse, schwarze Rückenflosse aus dem Wasser, die sich hinter ihm her bewegte. Im letzten Moment erreichte er das Schlauchboot und zog sich hastig hinein.
Florians plötzliche Flucht hatte offensichtlich die Neugier des Wales geweckt und diesen dazu bewogen, ihm nachzuschwimmen. Ich fühlte mich in einen Hollywood-Film versetzt und amüsierte mich prächtig.
Es war einfach köstlich mit anzusehen, wie die verschiedenen Jungs auf diese Erlebnisse reagierten. Und diese kurze Szene mit Florian, auf der Flucht wie ein Flo(h) vor diesem grossen Tier, werde ich nie vergessen.
Kapitel 26
Einiges in Sachen Pädagogik
Ich weiss, dass nun viele von euch Lesern denken, dass wir den Jungs zuviel bieten. Ich möchte aber noch einmal betonen, dass diese Erlebnisse, so wie ich sie oben beschrieben habe, bewusst von uns eingesetzt werden, um den Jugendlichen zu helfen.
Dabei darf man nicht übersehen, dass der Alltag für die Jungs auch aus Arbeiten, Schulbank Drücken, auf Wache Gehen, Konflikte Bewältigen, Heimweh und Seekrankheit Ertragen besteht.
Ausserdem haben die meisten von ihnen schlechte Voraussetzungen für einen Start ins Leben, das ja noch vor ihnen liegt.
Dadurch ist der Erziehungsaufwand bedeutend grösser als bei anderen Jugendlichen. Erlebnispädagogik ist ein Mittel, um die Jugendlichen zu fördern.
Das Erlebnis als solches übernimmt einen Teil des Erziehens, währenddessen der Erzieher organisiert, anleitet und die Verantwortung trägt.
Bei traditionellen Erziehungsmethoden übernimmt der Erzieher eine fordernde, zuwendende Rolle ein. Die Erziehung ist vorwiegend von der Dominanz seiner Person und der Aufgabenstellung bestimmt, das Erlebnis bleibt zweitrangig.
Eure Kinder wollen vor allem ernst genommen werden. Sie wünschen sich, dass die Erwachsenen sich Zeit nehmen, um ihre Probleme anzuhören und dadurch diese mit ihnen zu teilen.
Eltern, nehmt euch die nötige Zeit für eure Kinder und hört ihnen zu, ohne gleich die passende Lösung bieten zu wollen. Ein Jugendlicher wünscht sich, ähnlich wie eure Ehepartner, dass man ihm zuhört, und dies braucht Zeit.
Das Aussprechen von Problemen und dabei auf Verständnis zu stossen, ist ein gutes Mittel, um diese zu verarbeiten und zu bewältigen. Ausserdem schafft es Vertrauen und fördert das Selbstbewusstsein.
Wenn dies nicht geschieht, reagieren eure Kinder, indem sie sich mit anderen Jugendlichen solidarisieren, denen es ähnlich ergeht und die sich von den Erwachsenen ebenfalls nicht verstanden fühlen. Diese für eure Kinder vermeintlich guten Kollegen sind dann oft gar nicht so gut und bewirken einen meist negativen Einfluss auf sie.
Daraus kann eine gefährliche Gruppendynamik erwachsen, durch die eure Kinder in bedrohliche Situationen geraten können.
In der Erziehung spielen die Väter eine besondere Rolle.
An ihnen wollen sich die Kinder orientieren.
Erziehung ist nicht eine Angelegenheit, die von den Müttern getragen werden muss. Im Idealfall ist diese Aufgabe zu gleichen Hälften aufgeteilt.
Jungs, die ins Teenageralter kommen, wünschen sich, mit den Vätern Dinge zu tun, die sonst nur erwachsene Männer gemeinsam unternehmen.
Zum Beispiel an einem Sonntag in der Früh aufstehen und angeln gehen, nur zu zweit. Kollegen des Vaters haben hier nichts zu suchen. Oder am Feierabend in einer Bar an den Tresen sitzen und eine Cola trinken. Oder zu zweit ins Fussballstadion gehen und sich ein Spiel anschauen.
Mädchen in diesem Alter hören gern Komplimente, am liebsten empfangen sie diese vom Vater. Sie sind dabei sehr feinfühlig und merken schnell, ob diese ehrlich gemeint sind.
Deshalb, Vater einer Tochter, überlege dir gut, was dir an ihr besonders gefällt!
Gute Komplimente sind beziehungsorientiert und beschreiben
das Äussere wie die Kleidung, die Frisur, die Gesamterscheinung, das Auftreten, die Sprache und so weiter.
Leistungsorientierte Komplimente wie zum Beispiel: "Du hast heute deine Hausaufgaben gut gemacht", braucht es ebenfalls. Wenn die leistungsorientierten Komplimente aber zu viel Gewicht bekommen, schliesst die oder der Jugendliche daraus, dass nur ihre oder seine Leistung geschätzt wird.
Mädchen, die von ihren Vätern keine oder zu wenig Komplimente bekommen, neigen dazu, sich früh in Beziehungen mit Jungs zu verstricken, in der Meinung, diesen Mangel an Aufmerksamkeit des Vaters vom Freund ersetzt zu bekommen. Dieser jedoch ist in der Regel überfordert, sodass solche Beziehungen nicht lange halten.
Selbstverständlich darf man in der Erziehung auch Fehler machen wie in allen anderen Bereichen unseres Lebens auch. Beim ersten Kind machen wir noch viel mehr Fehler als beim zweiten und dritten.
Der Grund liegt auf der Hand: Wir sammeln Erfahrungen und lernen dazu.
Aus dieser Sicht ist das erste Kind immer eine Art Prototyp und muss in gewisser Weise als Versuchskaninchen herhalten.
Ich weiss dies sehr genau, weil ich selbst zwei Kinder gross gezogen und dabei viele Fehler gemacht habe. Daran werden meine Kinder in Zukunft noch zu nagen haben.
Von Gott habe ich jedoch die Zusage, dass er auch daraus etwas Gutes machen will. Er macht dies, indem er die durch mich entstandenen Mängel nutzt, um meine eigenen Kinder mit seiner Güte zu erreichen. Dabei will er ihnen aufzeigen, wo es lang geht. Diese Zusage wiederum zeigt mir, wie gross Gott ist, und befreit mich davor, ein zu grosses schlechtes Gewissen zu haben.
Ich weiss, wenn ihr Gott darum bittet, dass dies auch für euch und eure Kinder gilt.
Ein schlechtes Gewissen nützt niemandem. Im Gegenteil, es verzerrt die Erinnerung an das Geschehene und lässt die gemachten Fehler noch grösser erscheinen.
Viele Eltern reagieren, indem sie, aus dem Gefühl heraus, etwas ausgleichen zu müssen, ihre Kinder materiell verwöhnen. Unsere Heime sind voll von Jugendlichen, die verwöhnt wurden und deren Eltern sich zu wenig Zeit für sie nahmen.
Die Jugendheimmitarbeiter sind dann wiederum von Gott eingesetzt, diese Jugendlichen mit dem Glauben an ihn zu erreichen. Also, auch hier reagiert Gott und macht aus unseren Fehlern etwas Gutes.
Ich kann mir für einen Jungen oder ein Mädchen kaum ein einschneidenderes und tief greifenderes positives Erlebnis vorstellen als so einen Aufenthalt auf einem unserer Schiffe.
Ich denke dabei vor allem an die Anfangseindrücke:
• Eine völlig fremde Umgebung, in die er/sie von einem Tag auf den anderen gestellt wird, in der nichts so ist, wie es sich der oder die Jugendliche gewöhnt war.
. Dann die Vorstellung, für die kommenden Monate an Bord
leben und sich integrieren zu müssen.
• Sich zurechtfinden in der Tagesstruktur, den Regeln und den neuen Anforderungen.
• Den richtigen Platz und die Stellung in der engen Gemeinschaft finden, ohne ausweichen zu können.
• Anfängliches Heimweh und allfällige Seekrankheit.
• Sich öffnen müssen gegenüber der Gemeinschaft, die sich der Jugendliche nicht selbst aussuchte, das aber – gegeben durch die Enge des Schiffes - unausweichlich ist.
• Die vielen Eindrücke der faszinierenden Erlebnisse, die nur ein Schiff bieten kann.
• Vorankommen in der Gemeinschaft, erarbeitet durch verschiedene Ausbildungsstufen
• Sich einer erwachsenen Bezugsperson zu öffnen, obwohl der oder die Jugendliche früher mit den Erwachsenen eher Mühe hatte.
• Das schrittweise Übernehmen von Verantwortung, die auf einem Schiff sehr klar und überschaubar ist.
• Das Übernehmen einer Vorbildfunktion gegenüber den anderen Jugendlichen, die noch nicht soweit sind.
• Den Umgang mit den sich erarbeiteten Freiheiten und Privilegien erlernen.
• Diesen neuen Freiheiten Sorge tragen, damit diese nicht wieder verloren gehen.
•
Nach einem Ruach-Aufenthalt, der neun Monate und länger gedauert hat, reagieren die Jugendlichen, wenn sie wieder in der Schweiz sind, oft ähnlich:
Zu Beginn haben sie Mühe, mit dem nach so langer Zeit ungewohnt offenen Rahmen umzugehen.
Hinzu kommt die Realität, dass sie ein Umfeld vorfinden, das unverändert geblieben ist.
Dies führt immer wieder dazu, dass Jugendliche in der Anfangsphase zuhause in Schwierigkeiten kommen.
Erstaunlich dabei ist aber, dass sie sich nach einer gewissen Zeit selbst wieder auffangen, besinnen und ihren Weg dann doch noch finden.
Auf dem Schiff wird deshalb in der Endphase vermehrt Landgang bewilligt. Dadurch sind die Jungs auf das Leben zuhause besser vorbereitet.
Kapitel 27
Der Abschied
Seit einem Jahr lebten und arbeiteten meine Frau und unser Sohn Patric wieder mit mir auf dem Schiff.
Seit neun Jahren schon beschäftigt mich die Ruach. Nun spürten wir, dass es endgültig Zeit war, uns von ihr zu verabschieden.
Die Schiffsarbeit ist ohne Zweifel unser Kind, von uns gegründet und aufgebaut. Das Jugendheim Sternen ist heute die Einrichtung, die von unserem Einsatz profitiert und heute die massgebenden Entscheidungen trifft, sodass dieses Werk definitiv nicht mehr uns gehört.
Ich fühle mich wohl, wenn ich mein eigener Herr sein kann, so wie ich mich das seit Jahren gewöhnt bin. Diese Gründe bestärkten unseren Entschluss, unsere lieben Freunde und unser Schiff, das Gott und uns so lange gedient hat, endgültig zu verlassen.
Die letzten Wochen auf der Ruach waren für mich wie eine Belohnung für all die Mühe und Anstrengungen der letzten Jahre.
Wir kreuzten in diesen Wochen zwischen den Kapverden und ankerten schliesslich in einer Bucht bei der Insel Santiago.
Alte Beziehungen halfen uns dabei, ein Hilfsprojekt durchzuführen. Dabei ging es darum, eine Kindertagesstätte zu unterstützen. So kam es dazu, dass einige von unseren Jungs mit kleinen schwarzen Kindern auf den Armen anzutreffen waren. Neben dem Kinderhüten erledigten wir vor allem Mal- und Aufräumarbeiten.
In einem Dorf auf derselben Insel lebt eine Familie, die ich schon seit Jahren kenne.
Sie ist sehr arm und lebt in einem Haus, das lediglich einen kleinen, kahlen Raum hat, den die ganze Familie bewohnt. Jedesmal, wenn ich in diese Gegend komme, besuche ich sie und schenke ihnen etwas Bargeld.
Divo, so heisst der Vater der Familie, ist achtundsiebzig Jahre alt. In seinem langen Leben hatte er sieben Frauen und achtzehn Kinder. Als er noch jung war, arbeitete er als Taucher auf dem Schiff Calypso von Jacques Cousteau. Er erzählte mir eines Tages, dass ich in seinen Augen ein Prophet sei, einer der vom Himmel gesandt ist.
Innerlich musste ich über diese Bemerkung lächeln, weil ich mich ganz und gar nicht für einen Heiligen halte und dies bestimmt auch nie sein werde. Weil ich ihn aber nicht verletzen wollte, zeigte ich ihm nicht, was ich davon hielt.
In derselben Ortschaft gibt es eine kleine Bar. Sie heisst 'Bar 2000'. Sie besteht nur aus einem kleinen, baufälligen, dunklen Raum. In einer Ecke steht eine Kühltruhe und davor befindet sich ein klappriges Holzgestell, das als Theke dient. Einige Plastikstühle stehen im schmucklosen Raum umher, der ausser abblätterndem Putz keinerlei Besonderheiten aufzuweisen hat. Ich liebe es, nach einem heissen, anstrengenden Tag auf dem Schiff an Land zu gehen, um mich mit einem kühlen Getränk zu erfrischen, vorzugsweise mit einem Bier oder zwei.
Als ich das erste Mal in diese Bar eintrat, wurde ich von mehreren, leuchtenden Kinderaugen misstrauisch gemustert. Die Älteste der Kinder rümpfte ihre hübsche Stupsnase und wandte ihren Blick demonstrativ von mir weg in die entgegengesetzte Richtung. Ihre Mimik sollte mir Folgendes vermitteln: "Was willst du hier in unserer Bar, weisser Fremder?
Du sieht aber komisch aus mit deinem Bart, so wie du aussiehst traue ich dir nicht."
Das Schöne an den kapverdischen Menschen ist, dass man sehr gut erkennen kann, wie sie sich fühlen und was sie denken, auch ohne dass man ihre Sprache versteht. Trotz ihrer ablehnenden Haltung ergriff ich einen Stuhl, trat damit ins Freie und setzte mich vor die Bar an den Strassenrand.
Hier draussen liess ich mich vom bunten, afrikanischen Treiben unterhalten. Das Mädchen trat von ihrer Neugier und Geschäftstüchtigkeit getrieben ebenfalls ins Freie und warf mir einen fragenden Blick zu, mit dem sie andeutete: "Was willst du zu trinken, Weisser?". "Uun Sagresch", war meine Antwort.
Die kleine Bar wurde von einer Frau geführt, deren fünf Kinder, vier Mädchen und ein Junge, tatkräftig mithelfen mussten. Vor dem Eingang auf der Strasse stand ein klappriges, rostiges Eisengestell, worauf eine verbeulte Hälfte einer zersägten Gasflasche geschweisst war. In diesem Behälter lag rot glühende Holzkohle, die einen leeren Grillrost erhitzte.
Eines der Mädchen, offensichtlich die zweitjüngste, war damit beschäftigt, eine in Stücke geschnittene Muräne zu würzen, um sie dann auf dem Grill zu verteilen.
Angelockt durch den Geruch, den der bratende Fisch verbreitete, kamen immer wieder einzelne Frauen, Kinder oder Männer, die für wenig Geld Muränenstücke kauften. Dadurch erlangten sie für einen Moment die Aufmerksamkeit des Mädchens, das sich ansonsten auf das Zubereiten des Fischs konzentrierte.
Während sich die Mutter schwatzend bei der Nachbarsfrau aufhielt, die ein kleines Kleidergeschäft hatte,
waren die grösseren drei Kinder damit beschäftigt, Getränke auszuschenken, zu grillen, einzukassieren, Tische ab zu¬ räumen sowie aufdringliche Hunde und betrunkene Männer zu vertreiben. Obwohl es längst dunkel geworden war, sprangen die beiden Kleineren vergnügt auf der staubigen Strasse herum. Ab und zu warf mir das etwa zehnjährige Kind einen schüchternen Blick zu. Ihre schwarzen Haare waren in viele kleine Zöpfchen geflochten, und aus dem samtbraunen, hübschen Gesicht blinkten zwei grosse, lustige Augen. "Wie heisst du?", wollte ich von ihr wissen.
"Claudia", antwortete sie mit erhobener Nase, als wäre ihr Name das Wichtigste im ganzen Dorf. Dann holte sie einen zweiten Stuhl aus der Bar, setzte sich neben mich und delegierte das Fischbraten an eine der Schwestern.
Schweigend sass sie an diesem Abend neben mir, bis ich mein Getränk bezahlte und zurück auf die Ruach ging.
Zwei Tage später begab ich mich am frühen Abend wieder in die kleine Bar und setzte mich davor. Die dunklen Kinder zeigten sich diesmal schon etwas zutraulicher und fingen an, mich auf kreolisch anzusprechen. Sie wollten von mir wissen, woher ich komme, was ich hier mache und wie ich denn heisse. Mit für die Kinder verständlichen Gebärden versuchte ich, ihre Neugier zu stillen.
An einem der folgenden Abende, es war schon dunkel geworden, als ich in die kleine Bar kam, bemerkte ich, dass die sonst ausgelassenen und fröhlichen Kinder auffällig ruhig waren. Als ich sie nach dem Grund ihrer Traurigkeit fragte, erzählten sie mir, dass ihre Mutter Bauchschmerzen habe und deshalb in das nächste Hospital gereist sei, um sich da behandeln zu lassen. Sie würde, so erzählten sie, erst in ein paar Tagen wieder zurückkommen.
Die fünf bedauernswerten Kinder waren daher auf sich gestellt. Die Arbeit musste trotzdem gemacht werden. Tagsüber besuchten die grösseren die Schule, und abends führten sie ihre 'Bar 2000'. Sie schenkten Zuckerrohrschnaps oder Bier aus, schmorten Huhn oder Thun, vertrieben Bettler oder Betrunkene und verscheuchten aufdringliche Hunde bis spät in die Nacht.
An diesem Abend blieb ich so lange bei den Kindern, bis sie die Bar schlossen und müde nach Hause schlenderten.
Die folgenden Abende verbrachte ich kinderhütend in der kleinen Bar. Diese waren froh, jemanden bei sich zu haben und bezogen mich in ihre afrikanischen Spiele ein, sangen mir etwas vor oder zeigten mir stolz ihre Hausaufgaben.
Claudia wich an diesen Abenden kaum von meiner Seite, sie nutzte jede Gelegenheit, sich neben mich zu setzen, und wartete darauf, mir ein Sagresch oder etwas Gebratenes servieren zu dürfen. Für die fünf Kinder war es etwas ausserordentlich Besonderes, dass der Kapitän des Schiffes, das in ihrer Dorfbucht vor Anker lag, Abend für Abend an Land kam, um sie zu hüten. Für mich war es eines der schönsten Erlebnisse während dieser Zeit.
Eine Woche später kam die Mutter zur grossen Freude ihrer Kinder wieder nach Hause. Leider hatte sie immer noch Bauchschmerzen und musste deshalb mehrmals für ein paar Tage in die ferne Stadt ins Krankenhaus.
Den Kindern gelang es, unsere Herzen zu berühren, sodass bald die ganze Schiffscrew in dieser Bar ein- und ausging. Als meine Frau Silvia zum ersten Mal Claudia begegnete, war sie von der Anmut und Herzlichkeit dieses Mädchens so angetan, dass sie, wie sie selber sagte, weiche Knie bekam.
Ein grosser Wunsch der Familie war es, unser Schiff besichtigen zu dürfen. So kam es, dass sich unter unsere bleichen Jungs schokoladenbraune Kinder mischten und untereinander Freundschaft schlossen. Divo, der ebenfalls hin und wieder die kleine Bar besuchte, erzählte mir, dass diese vaterlose Familie nie in die Kirche gehe. Dies widerspreche jedoch der Dorftradition, und dadurch werde die Familie in eine Aussenseiterstellung versetzt.
Der Tag, an dem wir wieder die Segel setzen und weiterreisen wollten, rückte unaufhaltsam näher. Unsere kleinen afrikanischen Freunde stimmte diese Tatsache sehr traurig. Wir waren zum Mittelpunkt ihres jungen Lebens geworden. Claudia reagierte, indem sie sich von uns abwandte und sich gar nicht mehr zutraulich gab. Nun war ihr bewusst geworden, was sie bisher erfolgreich verdrängt hatte: Die Ruach würde abreisen und vielleicht gar nicht mehr wieder kommen. Sie zeigte uns keine Tränen, aber dass sie auf mich böse ist und ich, der Kapitän, daran schuld sei, dass wir wieder abreisen und sie verlassen würden.
Am Tag vor unserer Abreise war ich ebenfalls bedrückt. Dazu kam, dass ich den Eindruck hatte, noch nicht alles erledigt zu haben, ohne zu wissen, was es sein könnte.
Einer unserer Jungs hatte einen starken Hautausschlag im Gesicht bekommen, der am geplanten Abreisetag so stark war, dass wir mit ihm unmöglich in See stechen konnten. Wir befürchteten, er könnte eine ansteckende Krankheit haben. So entschieden wir, ihn an Land in ein Krankenhaus zu bringen.
Im Dorf freuten sich unsere Freunde, dass wir noch länger bleiben würden. Sie boten uns an, bei der Versorgung unseres Patienten behilflich zu sein, sodass er gut aufgehoben war und jeden Tag viele Besuche erhielt.
Die Abreise sollte sich um eine Woche verzögern, solange dauerte es, bis unser von Ausschlägen entstellter Patient wieder gesund war.
In dieser Woche fand eine Ablösung zwischen uns und der Familie statt. "Dadurch wird uns das Abschiednehmen etwas leichter fallen", dachte ich mir.
Von den Geschwistern erfuhr ich, dass Claudia das einzige Kind der Familie ist, das noch nicht getauft war. Augenblicklich wusste ich, was es noch zu erledigen gab, und fragte Claudia, ob sie von mir getauft werden will. Ein aufgeregtes Kopfnicken und ein bezauberndes Lächeln war ihre Reaktion auf meine Frage.
So trafen wir uns am letzten Tag vor unserer Abreise am Strand, vor dem die Ruach ankerte. Silvia und ich tauften das afrikanische Mädchen mit dem klaren, salzigen Wasser des atlantischen Ozeans im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes,
Für mich war es eine grosse Ehre und das Schönste, was ich bis dahin für Gott tun durfte.
Ich glaube, dass Gott mir diese wunderschönen Wochen und diese Taufe als Belohnung für die Anstrengungen auf der Ruach geschenkt hat. Damit hat er mir auch bestätigt, dass unsere zukünftige Arbeit den weiblichen Bedürftigen dienen soll. Zudem hat er meiner Frau und mir die Herzen für diese Zielgruppe und für Afrika geöffnet.
Am nächsten Morgen hoben wir den Anker und richteten unseren Bug gegen die weite See. Keines der Kinder stand auf der Mole, auf der wir uns in den letzten Wochen so oft begegnet waren. Es stimmte mich traurig, obwohl ich wusste, dass es so besser war.
Der Abschied hatte bereits im Verlauf der vergangenen Woche stattgefunden.
Die Tränen flossen diesmal nur im Verborgenen.
Der endgültige Abschied von der Ruach und ihrer Crew folgte ein paar Tage später, im Mai 2002, auf der Insel São Nicolau.
Zwei Tage dauerte unsere Flugreise nach Hause in die kühle Schweiz, wo wir spät abends ankamen.
Nach einer kurzen Nacht, früh am folgenden Morgen, klingelte das Telefon. Überrascht darüber, dass bereits jemand wusste, dass wir wieder daheim sind, nahm ich den Hörer ab.
Eine schüchterne Mädchenstimme meldete sich mit ihrem Namen.
Sie fragte mich, ob wir sie bei uns in der Familie aufnehmen könnten, anschliessend erzählte sie mir ihre sehr traurige Lebensgeschichte.
Kapitel 28
Die Zukunft
Silvia absolvierte eine Ausbildung als Sozialtherapeutin. Ausserdem gründeten wir das Unternehmen 'Girlhouse'.
Dies ist eine Einrichtung für Mädchen, die ähnlich wie die Jungs im Jugendheim Sternen betreut und behütet werden müssen.
Die Arbeit mit Mädchen gefällt uns beiden sehr gut, dies möchten wir auch in naher Zukunft weiterführen und ausbauen.
Geplant ist ein Heim für verhaltensauffällige Mädchen, eine Wohngemeinschaft ebenfalls für Mädchen.
Dann wird es zur Krisenintervention bestimmt auch wieder Schiffe brauchen.
Das Wort, so wie ich es damals vom Herrn bekommen habe, ist jetzt etwa dreizehn Jahre her. Es ist für mich noch nicht in Erfüllung gegangen. Gott hat mir ja auch nicht gesagt, wie lange es dauern würde und wie viele Umwege dazwischen liegen.
Ich bin jedoch sicher, dass es sich irgendwann einmal erfüllen wird.
Ich bin zurzeit siebenundvierzig Jahre alt und brauche, um zufrieden zu sein, nicht unbedingt eine Flotte, aber wenn der Herr es so will, dann wird es auch so kommen.
Dies alles wird aber eine Menge Arbeit und Geld kosten.
Wenn ihr uns unterstützen wollt, so schickt uns doch einfach eine E- Mail an folgende Adresse:
girlhouse.iberg@bluewin.ch.ch
oder
www.girlhouse.reisen.ch
Kleines Seemanns - ABC
die See............das Meer oder eine hohe Welle.
Bullaugen..........runde Fenster
killen.............flattern der Segel
rollen.............die hin und her Bewegung eines Schiffes in der Längsachse.
fieren.............Hand über Hand Leine nachgeben.
ausrauschen........Leine fädelt sich aus einer Rolle.
Mayday.............Funk-not-ruf
Achterschiff.......der hintere Bereich eines Schiffes.
auf Reede..........das Schiff ankert
Löwengolf..........das Gebiet zwischen Korsika, den Balearen und der franz. Küste.
Maestrale..........Kräftiger wind vor Korsika, Maestro = Meister
Flunken............Schaufelteil eines Ankers
Verholen...........ein Schiff von einem Platz zum anderen bewegen.
im Haven oder in einer Bucht.
Reffen.............Segelfläche verkleinern, der Windstärke anpassen.
Mole...............Hafenmauer
Poller.............Pilzförmiges Eisenstück zum befestigen der Schiffe im Hafen.
Achterpik..........Stauraum im hinteren Teil des Schiffes.
Bottengewässer.....Seegebiet um die Insel Rügen mit vielen untiefen.
Betontes Fahrwasser.....Eine Fahrrinne die mit Seezeichen abgegrenzt ist.
Unter Maschine.....das Fahren mit dem Schiffsmotor ohne Wind und Segel.
Jachtis............Leute die auf einer Jacht leben.
Schwell............langezogene Wellen in einer Bucht oder einem Hafen.
Bug................Der vordere Teil des Schiffes
Klüverbaum.........Ein Rundholz am Bug eines Segelschiffes. Es dient der
Befestigung der vorderen Segel.
Spieren............Eisen oder Holzstangen die an den Masten befestigt sind.
Vorstag............Drahtseil von der vorderen Mastspitze bis zum Bug.
Unterwasserschiff..der Teil des Schiffes der unterhalb der Wasserlinie liegt.
Wanten.............Drahtseile die, die Masten seitlich abstützen.
einklarieren.......Anmelden eines Schiffes und deren Crew bei Zoll und Hafenamt
Aussenborder.......Antriebsmotor am Beiboot.
Aussenklüversegel..Vorderstes Segel bei der Ruach.
Speigatten.........Wasserabläufe an Deck.
Gaffelbaum.........Zehn Meter lange Rundhölzer an denen die grossen Segel
befestigt sind.
Kentersäcke........Stoffsäcke die unterhalb der Rettungsinsel befestigt sind.
Sie füllen sich mit Wasser und verhindern das kippen des Rettungsvloses.
Echolot............Tiefenmesser
Tag der Veröffentlichung: 20.12.2011
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