17. Dezember 1998
Ich wusste, es war eine schlechte Idee, eine sehr schlechte sogar.
18. Dezember 1998
Ich sollte mich wirklich nicht darauf einlassen. Nachdenklich betrachte ich das kleine Stück Papier, das hier neben mir auf dem Boden liegt. Ich sollte es verbrennen und entsorgen. Aus den Augen, aus dem Sinn. So einfach ist das.
19. Dezember 1998
Ich habe es noch immer nicht getan…
20. Dezember 1998
Die Weihnachtsferien haben begonnen; diese glückliche Zeit im Jahr für alle anderen Menschen außer mir. Mir bedeuten sie nichts, genauso wenig wie das Fest, dem sie ihren Namen verdanken – dieses Fest, das man mit seiner Familie oder seinen Geliebten verbringen soll, das ich jedoch immer allein totschlagen muss. Profan gesagt: eigentlich habe ich doch sowieso nichts Besseres zu tun, wieso also mache ich mir Gedanken um diesen kleinen Zettel? Vielleicht ist die Idee gar nicht so schlecht. Einen Versuch ist es wert.
21. Dezember 1998
Wir brechen morgen auf, aber ob ich dabei sein werde, ist noch ungewiss. Zuerst muss ich unbedingt ein neues Notizbuch besorgen, denn in diesem hier habe ich bereits fast alle Seiten aufgebraucht. Es dürfte nicht leicht sein, um die Feiertage herum, wenn also alle Leute damit beschäftigt sind, sich in den überfüllten Kaufhäusern mit allerlei Geschenken zu beladen, die dann an die Liebsten verteilt werden sollen, einzukaufen. Verdammter Weihnachtskommerz, wie ich ihn hasse…
Trotzdem brauche ich eins. Ich werde heute Nachmittag versuchen, mich durch diese Menge von Vollidioten zu kämpfen, um, ganz im Gegensatz zu ihnen, etwas Nützliches und Wichtiges zu kaufen. Ich denke, dafür sollte das Geld gerade noch reichen.
Mir geht der Platz aus, so ein Mist…
4. Januar 1999
Ich wusste, es war eine schlechte Idee. Ich wusste es, ich wusste es, ich wusste es… Da ich über ein neues Notizbuch verfüge, möchte ich die Gelegenheit nutzen, die wichtigsten vergangenen Ereignisse aus meinem alten Tagebuch noch einmal zu zitieren.
10. November 1998
Ich hasse Frau Kiefer. Was bildet sich die alte Sabberhexe eigentlich ein? Heute war der Abgabetermin für unsere Kunstprojekte. Thema: In einem Akt der Kreativität unsere Gefühle auszudrücken. Frau Kiefer war der Meinung, mir eine Fünf geben zu müssen, da sie, wie sie sagte, meine Skulptur zu düster fand. Zu düster. So ein Schwachsinn. Am liebsten hätte ich ihr das Ding in ihr übergroßes Froschmaul geschoben. Dort ist es düster. Sonst nirgends.
Wie auch immer, das ist nur der Anfang einer ganzen Kette merkwürdiger Geschehnisse, und diese Kette umfasst ganze zwei Ereignisse. Das erste habe ich bereits erwähnt; die ‚überraschende’ ‚Gerechtigkeit’ der lieben Frau Kiefer.
Allerdings übertrifft das zweite Ereignis diese Sache, was die Merkwürdigkeit angeht, bei weitem!
Ich habe mich ja noch nie sonderlich gut mit meinen Klassenkameraden verstanden (das liegt nicht an mir, sondern lediglich an der Unmöglichkeit dieses Unterfangens – wer kann schon etwas anfangen mit einer Horde uniformierter Mädchen, deren Lebensinhalt aus dem Erwerb von Schuhen besteht?). Trotzdem gab es unter diesen ganzen naiven Weibern immer eine, die trotz allem versucht hat, so etwas wie Freundschaft mit mir zu schließen (weiß der Teufel, warum): ihr Name ist Sina und, um es in aller Kürze und Feinfühligkeit auszudrücken, sie ist die nervigste Person, der ich in meinem kurzen Leben je begegnen musste. Vor allem ist sie nicht in der Lage, eine Sache, die sie sich in den Kopf gesetzt hat, aufzugeben, und so reichte ihre farbenfrohe Versuchspalette von Kinobesuchen über Wochenendausflüge bis hin zu Geburtstagseinladungen (die ich alle abgelehnt hatte, versteht sich).
Diesmal jedoch trieb sie es auf die Spitze…
Sinas Vater stürzt sich ziemlich eifrig in seinen Beruf; ich weiß nicht genau, was seine Position ist, jedenfalls hat’s irgendetwas mit Reisen zu tun, wodurch er selbstverständlich weit herum kommt und eigentlich fast überall schon einmal war. In den kommenden Weihnachtsferien möchte er eine ‚kleine’ Schiffsreise ins Unbekannte unternehmen. Und Sina hat mich und Thea dazu eingeladen (ganz schlechte Idee; ich schätze, Thea ist das einzige Mädchen, das ich noch weniger ausstehen kann, als Sina selbst…).
Die Fahrkarte hat Sina mir, meine Widerworte ganz bewusst überhörend, einfach in die Hand gedrückt, und jetzt liegt sie auf meinem kleinen Schreibtisch und wartet darauf, entweder in die Hände eines Kontrolleurs oder in den Mülleimer zu gelangen. Wer weiß…?
5. Januar 1999
Warum kann ich nicht einmal auf meine Gefühle hören, wenn sie mir schon sagen, dass ich besser nicht mit zwei ängstlichen Weibern auf Reisen gehen sollte? Ich könnte jetzt daheim sein, in meinem mehr oder minder warmen Zimmer sitzen, mit Wolldecke, einem dicken Buch und vielleicht sogar Keksen. Stattdessen befinde ich mich noch immer auf hoher See. Nicht, dass jetzt ein falscher Eindruck entsteht; ich habe nichts gegen Schiffreisen, im Gegenteil, ich mag sie unglaublich gerne. Aber weil es in letzter Zeit eigentlich permanent gestürmt hat, sind wir dazu gezwungen, die meiste Zeit unter Deck zu verbringen und zu warten, und das macht mich krank (zumal ich mich ja in Gesellschaft der zwei schrecklichsten Geschöpfe befinde, die diese Menschheit aufzubringen vermag).
6. Januar 1999
Sina ist seekrank. Schade – so kam es, dass sie ihr Stück von der traditionellen Galette zu Épiphanie gleich wieder loswurde (die Einzelheiten dieser Umstände möchte ich lieber nicht beschreiben; ich bin froh, dass ich nicht putzen musste). Und das, obwohl darin die Figur steckte. Zu tragisch. Kein weiterer Kommentar meinerseits.
8. Januar 1999
Es war eine schlechte Idee. Eine verdammt schlechte Idee. Ach, ich könnte jetzt zu Hause sein, allein und glücklich…
Stattdessen befinden wir uns jetzt tatsächlich in einer ziemlich verzwickten Lage. Der Sturm hat noch immer nicht nachgelassen und tobt erbarmungslos weiter.
Um unsere Lage kurz zu beschreiben: der Mast ist gebrochen, das Schiff brennt, wir müssen über Bord. Keine Zeit zum Führen meines Tagebuches. Bloß aufpassen, dass es nicht nass wird.
9. Januar 1999
Wir haben keine Ahnung, wie viel Prozent der Besatzung des Schiffes und der Passagiere noch am Leben ist. Sina, Thea und ich gehören jedenfalls dazu. Nachdem wir eine Weile im eiskalten Wasser geschwommen waren, erreichten wir schließlich eine kleine Insel, auf der wir uns auch jetzt noch befinden.
Kurze Beschreibung unserer Lage: unser Schiff ist gesunken; wir befinden uns auf einer Insel abseits der Welt, und niemand von uns vermag zu sagen, wo genau sie liegt; das Wetter hat sich gebessert, der Himmel ist mehr oder weniger klar, aber soweit das Auge reicht, sehe ich genau gar nichts; keine weiteren Inseln, nichts.
Wir haben uns mithilfe von trockenem Holz und Steinen ein kleines Lagerfeuer entfacht (nun ja, oder besser gesagt: ich habe das getan. Von Sina und Thea brauche ich keine Hilfe zu erwarten, wenn ich hier jemals wieder fort will. Die beiden sind verzweifelt und haben panische Angst. Zu nichts zu gebrauchen).
Ich hoffe, es gibt hier keine Eingeborenen und wilden Tiere. Wir sind zu dritt, haben keine Waffen, gar nichts. Was, wenn niemand kommt, um uns zu suchen? Wenn wir nicht bald etwas Essbares finden, hat sich die Sache ohnehin ganz schnell erledigt.
Erneute Zusammenfassung meiner Lage: Ich muss etwas zu essen und einen Weg nach Hause finden; einzige Hilfsmittel: zwei völlig verängstigte, nutzlose Idiotinnen.
Ich bin verloren…
10. Januar 1999
Ich könnte jetzt daheim sein, meinen Geburtstag alleine feiern, aber dafür mit Kuchen. Und abends könnte ich mir ein riesiges Steak in die Pfanne hauen, Medium, vielleicht sogar noch etwas weniger gebraten, mit einer großen Portion Reis dazu. Allein der Gedanke daran treibt mir das Wasser in Mund und Augen.
Was habe ich hier zu essen? Ich möchte es nicht verschweigen: gar nichts.
Weil Sina und Thea noch immer damit beschäftigt sind, zu jammern und zu verzweifeln, bleibt die Nahrungssuche, wie nicht anders zu erwarten gewesen war, an mir hängen. Allerdings habe ich, obschon ich den ganzen Tag umher gewandert bin, nichts gefunden. Jedenfalls nichts Essbares. Andererseits aber auch keine Strohhütten und keine wilden Eingeborenen, wie man das aus Filmen kennt. Ich bin auch keinen Tieren begegnet (mein Steak kann ich wohl vergessen).
Was ich gefunden habe: große Klippen am anderen Ende der Insel, außerdem einen kleinen Wald, einen Strand mit dem weißesten Sand, den ich je gesehen habe, und zu guter Letzt einen schmalen Fluss (vielmehr ein Rinnsal), der fast die gesamte Insel mit Süßwasser versorgt (darin gibt’s allerdings, sofern ich mich nicht irre, keine Fische).
Ich hatte keine Probleme damit, meinen Ausgangsort wieder zu finden.
Hunger…
11. Januar 1999
Die Taktik, ungewöhnlich viel zu trinken, um uns einzubilden, wir hätten keinen Hunger, funktioniert schlecht. Um genau zu sein: gar nicht. Tolle Idee seitens Sina.
Gibt’s hier denn nicht wenigstens ein paar von diesen dämlichen Kokosnusspalmen?
Es ist halt nicht wie im Film. Fast nicht; Thea hat sich einen Fingernagel abgebrochen…
12. Januar 1999
Beim Graben im Sand (womit ich mich aus reiner Verzweiflung und unendlicher Langeweile beschäftigte) entdeckte ich eine Art Speer, mag sein auch eine Harpune, ich gebe ehrlich zu, dass ich mich nicht sonderlich damit auskenne. Nun ja… eigentlich will ich nicht wissen, wie diese Waffe dorthin kam. Hauptsache, ich hatte sie gefunden.
Obschon mir jegliche Erfahrung fehlte, schaffte ich es immerhin, am Strand ein paar kleinere und sogar einen ziemlich großen Fisch damit zu fangen, was uns ein Abendessen garantierte, das vielleicht nicht unbedingt köstlich, aber immerhin existent war.
Thea war, glaube ich, nicht sonderlich begeistert von meinem Fang. Ich denke, sie ekelte sich ein bisschen, als ich die Fische vor ihren Augen ausnahm (trotzdem finde ich es übertrieben, bei solch einem Anblick gleich in Ohnmacht zu fallen, aber ich sage ja immer: suum cuique).
Mir persönlich schmeckten die Fische exzellent, vor allem wohl, weil ich so lange nichts mehr zwischen die Zähne bekommen hatte. Mein Steak mit Reis vergaß ich erst einmal.
Abends suchte ich den Horizont ab. Kein Schiff in Sicht. Nichts.
14. Januar 1999
Unser erster gemeinsamer Erkundungszug quer über die Insel endete in einer Katastrophe… ich mache mir Vorwürfe (obschon ich vorher nicht gedacht hätte, dass mir ein solches Ereignis so zusetzen würde); es war meine Schuld, was passiert ist. Natürlich war es auch naiv von Thea gewesen, so nah am Rand der Klippen entlang zu spazieren, und, anstatt auf den Weg zu achten, zu jammern und von der Heimat zu schwärmen – doch wenn ich sie nicht dazu überredet hätte, sich mit mir die Insel genauer anzusehen, dann hätte sie auch niemals in die Tiefe stürzen können. Sina und ich eilten natürlich sofort die Klippen auf der anderen Seite der Insel hinab und zogen Thea mit einiger Mühe an den Strand. Doch sie erlag ihren Verletzungen, die der Aufprall auf einigen großen, gezackten Felsen verursacht hatte.
Wer hätte gedacht, dass der Tod eines verhassten Menschen einen so sehr trifft? Verdammt…
17. Januar 1999
Ich schätze, Sina steht immer noch ziemlich unter Schock wegen Theas Tod. Zwar kenne (beziehungsweise kannte) ich die beiden nicht sonderlich gut, doch ich meine, mich erinnern zu können, die beiden seien beste Freundinnen gewesen.
Auch mich plagt noch immer das Entsetzen über Theas plötzlichen und grauenvollen Tod, doch für mich ist das, vor allem in einer solchen Situation, kein Grund, einfach hier zu sitzen und sich der Lethargie hinzugeben.
Diese Verzweiflung führt allerdings zwangsläufig dazu, dass Sina nun erst recht nicht mehr zu gebrauchen ist. Ich habe seit zwei Tagen nichts mehr gefangen. Kein Schiff in Sicht, keine Hoffnung, kein Ziel. Wir sind verloren…
19. Januar 1999
Heute hatte ich wahrlich ein seltsames Erlebnis (als ob die Tatsache, dass ich mit einer Klassenkameradin, die ich nicht leiden kann, auf einer einsamen Insel mitten im Ozean gefangen bin, nicht schon lächerlich genug wäre); nach einem langen, ermüdenden Tag, an dem ich trotz stundenlanger Jagd keine Fische fangen konnte, saßen Sina und ich am Lagerfeuer. Sie schien mir eher abwesend, und ich, die ich ohnehin nie viel sprach, ließ sie in Ruhe. Doch plötzlich stellte sie mir, ohne mich dabei anzusehen, folgende Frage: „Sag mal, Kumiko… wenn es so weiter gehen würde, wie bisher, und wir tagelang nichts mehr zu essen bekämen… könntest Du Dir vorstellen, jemals zum Kannibalen zu werden?“
Ich glaubte, mich verhört zu haben. „Wie bitte?“, fragte ich nach und schüttelte den Kopf. Gerade wollte ich schon nein sagen, als ich innehielt und überlegte. „Hmm…“, sagte ich dann. „Ja, ich denke schon.“
„Was?“ Sina riss die Augen auf. „Aber Kumiko…“
„Der Selbsterhaltungstrieb des Menschen ist ziemlich stark.“, unterbrach ich sie ruhig. „Noch können wir es ohne Nahrung eine Weile aushalten; noch können wir unser Verhalten in einer Notsituation nicht beurteilen oder abschätzen. Wer weiß, was wir dann tun würden? Ich glaube schon, dass jeder in der Lage wäre, einen anderen Menschen zu essen. Warum auch nicht? Ist ja auch nur ein Stück Fleisch.“
„Ein Stück Fleisch mit Gefühlen!“, widersprach Sina heftig. „Aber du, Kumiko, du hast scheinbar keine.“
Ich lachte. „Vielleicht hast du Recht.“
20. Januar 1999
Kein Schiff. Keine Fische. Nichts. Nur Hunger.
22. Januar 1999
Ich werde wahnsinnig… ich halte es nicht mehr aus… ungewaschen, hungrig, verzweifelt…
24. Januar 1999
In den frühen Abendstunden habe ich es getan. Ich konnte nicht mehr. Mir war schwindlig vor Hunger. Es war unerträglich. Ich konnte nicht anders. Mir blieb keine Wahl.
Nun bin ich ganz allein und habe keine Reisegefährtinnen mehr.
Menschenfleisch schmeckt ein wenig wie Hühnchen, finde ich.
25. Januar 1999
Ein Schiff! Und es kommt direkt auf die Insel zu. Schon von weitem erkenne ich, wie ein großer, bärtiger Mann mir hektisch zuwinkt. Es ist Sinas Vater, kein Zweifel.
Was habe ich bloß getan? Was habe ich getan?
Ich sinke auf die Knie.
Tag der Veröffentlichung: 01.05.2013
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