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Es war – ich weiß es noch ganz genau, fast so, als ob es gestern gewesen wäre – der Abend des 2. September, als ich Elianne zum ersten Mal sah. Dass ich ihr vorher nie begegnet bin, das lag, wie ich später erfuhr, daran, dass ich im Gegensatz zu ihr eher dazu geneigt war, tagsüber umher zu wandern – sie dagegen verließ nur abends das Haus (ich habe übrigens, und daran hat sich bis zum Schluss nichts geändert, nicht gewusst, wo sie wohnt).

Elianne war siebzehn Jahre jung, und ich kann nicht sagen, wie ich darauf komme, doch wenn ich nun im Nachhinein darüber nachdenke, stelle ich fest, dass sie, zumindest äußerlich, das typische Klischee einer Urlaubsliebe darstellte. Obschon ich damals, so muss ich gestehen, natürlich nicht ahnen konnte, was sich hinter ihrer schön anzusehenden Maske verbarg, empfand ich damals schon etwas für sie. Damals, als sie, wie jeden Abend auf den Klippen saß und, in vollkommenem Einklang mit Wind und Meer, sang. Lieder, die sie selbst erfunden hatte, das erzählte sie mir später.

Es war etwas Besonderes an ihr; etwas, das mich faszinierte, mit dem sie es schaffte, mich in ihren Bann zu ziehen. An jenem kühlen Septemberabend war außer uns beiden niemand am Strand. Ihr langes, dunkles Haar wehte im Wind, als sie sich plötzlich zu mir umdrehte und mich zum ersten Mal ansah – ob sie damals schon geahnt hat, dass es nicht das letzte Mal bleiben sollte?

Ich weiß gar nicht, wie lange wir dort nebeneinander auf den Klippen saßen; es kam mir wie eine Ewigkeit vor und dann doch wieder nur wie ein kleiner Moment. Ein Moment, wie man ihn nur einmal erlebt.

Das Kleid, das Elianne trug, hatte dünne Träger, die, egal, wie oft man wie zurecht rückte, immer wieder von ihren schmalen Schultern rutschten. Ihr Vater, so erzählte sie mir, hatte es für sie genäht, und sie war schnell beleidigt, wenn man ihr das Gefühl gab, seine Arbeit nicht anzuerkennen. Ich erkannte die Arbeit an, doch es war September und im September ist es auch am Meer nicht warm genug für solche Kleider. Also legte ich ihr meinen Mantel um die Schultern, in der Erwartung, sie würde ihn sowieso gleich wieder abstreifen, wie eine Schlange, die sich häutet. Sie tat es nicht.

Manchmal, wenn in kalten Septembernächten der Wind weht, vermisse ich diesen Mantel; ich habe noch immer keinen neuen…

In den folgenden Nächten kehrte ich immer wieder zu den Klippen zurück, wobei ich sorgfältig darauf achtete, erst dann hinzugehen, wenn ich sicher sein konnte, dass niemand mehr dort war. Niemand außer ihr.

Sie saß dort jede Nacht und insgeheim erfüllt es mich noch heute mit Stolz, dass ich der Einzige war, für den sie sang, obschon ich zugeben muss, dass sie, sobald sie meine Anwesenheit wahrnahm, verstummte. Mein Mantel lag auch in den folgenden Nächten über ihren Schultern.

Wir haben damals viel geredet, Elianne und ich. Sehr viel. So viel, da bin ich sicher, habe ich weder vorher noch nachher jemals gesprochen. Natürlich gab es Nächte, in denen wir uns ohne viele Worte verstanden, doch meistens hatten wir uns viel zu erzählen, erstaunlich viel. Ich war, zumindest ihren Worten zufolge, der Einzige, der ihr je zugehört hatte, was ihr viel bedeutete, das beteuerte sie wieder und wieder – danach verfielen wir meistens beide in Schweigen. Es erschrecke sie fast selbst, sagte sie, dass sie mir so viel anvertraute.

Mit der Zeit konnte ich sie dazu überreden, auch die Tage mit mir zu verbringen, obschon sie sich nur an abgelegene Orte führen ließ, und selbst dies nur widerwillig. Doch sie hat es zugelassen. Stück für Stück, ohne es zu wollen oder zu wissen, löste ich ihre wunderschöne Maske, die ich ihr irgendwann ganz entreißen würde.

Elianne war wahrlich die seltsamste Begegnung meines Lebens, nie zuvor kannte ich ein solch paradoxes Mädchen. Ja, ich hatte oft das Gefühl, dass sie überhaupt nicht wusste, was sie eigentlich wollte, doch heute denke ich, dass sie das sehr genau wusste; sie konnte es bloß nicht sonderlich gut zeigen. Und so kam es, dass sie an manchen Tagen sehr höflich zu mir war, dass sie mich jedoch an anderen Tagen scheinbar totzuschweigen versuchte. So lief sie dann stumm einige Meter vor mir her, mich ignorierend, und wenn ich meine Schritte beschleunigte, um sie einzuholen, rannte sie weiter davon, und mein Mantel wehte im Wind… Wenn ich sie rief, tat sie entweder so, als könne sie mich gar nicht hören, oder sie gab spöttische, verletzende Antworten. Dann schien es jedes Mal, als sei sie vollkommen verschlossen oder gar kaltherzig. Als hasste sie mich regelrecht. Abends jedoch, wenn wir wieder auf den Klippen saßen und ich sie darauf ansprach, bat sie mich schulterzuckend um Verzeihung und ich war erstaunt, Tränen in ihren Augen zu sehen.

So wie in der Nacht des 10. September. Ich wagte nicht, auch nur ein Wort zu sagen, aus lauter Angst, die Atmosphäre zu zerstören; am liebsten wollte ich, dieser Moment ginge niemals vorüber, doch dieser Wunsch war unerfüllbar. Es kam, wie es kommen musste, wir brachen das Schweigen und ich erfuhr in dieser Nacht mehr über Elianne als ich je geahnt hätte.

Sie habe vor nichts Angst, außer, das vertraute sie mir an, vor dem Tod. Ich wusste nicht, was ich darauf hätte antworten können, und so schwieg ich. Und sie tat es ebenso. Von da an verbrachte ich oft die ganze Nacht mit Elianne auf den Klippen. Ich wusste nicht, was sie wollte. Oder warum sie hier war, und ihre Zeit mit mir verbrachte. Ich habe sie geliebt, das war mir mittlerweile klar.

Es passierte am Abend des 15. September. Dies nämlich war der letzte Abend, den ich in dem kleinen Örtchen am Meer verbringen würde. Niemals werde ich Eliannes Gesicht vergessen, als ich ihr sagte, dass ich am nächsten Tag aufbrechen würde. Dieser Gesichtsausdruck, der doch nur für den Bruchteil einer Sekunde bei ihr zu sehen war, war unbeschreiblich, und ich habe einen solchen überhaupt noch nie gesehen. Doch zu spät begriff ich, was sie mir damit sagen wollte – falls das überhaupt geplant war. Kurz darauf grinste sie mich an, und ich ließ mich leider davon täuschen. „Aha, na und?“, das war ihr einziger Kommentar.

Wenn ich nun darüber nachdenke… wollte sie Vergeltung? Wollte sie mich verletzen? Genau das ist ihr jedenfalls gelungen, denn ihre Worte trafen mich hart. In derselben Nacht stellte sie außerdem sehr merkwürdige, persönliche Fragen. Sie fragte mich Dinge, die sie vorher nie interessiert hatten.

Jetzt, im Nachhinein, kann ich natürlich nur noch Vermutungen anstellen; womöglich war all das, was folgte, nachdem sie mir das Hemd vom Leib gerissen hatte, nichts als ein verzweifelter Versuch, mich festzuhalten, mir zu gefallen; womöglich wollte sie mir einfach etwas ganz Besonderes geben. Doch es kam nie dazu; ich drückte sie fest an mich, um sie davon abzuhalten, sich selbst ins Unglück zu stürzen – das dachte ich zumindest. Es war unsere erste Umarmung, und es sollte gleichermaßen unsere letzte sein.

Irgendwann stand sie auf, ohne ein Wort zu sprechen. Von ihr bekam ich meinen ersten und letzten Kuss.

Und als sie am Rande der Klippen stand, begriff ich viel zu spät, was sie vorhatte. Sie sprang in dem Moment, da ich mich erhob, um sie zurück zu holen. Nichts war mir geblieben. Ich konnte nichts tun, außer zu beobachten, wie sie immer tiefer fiel. Sie, die sie ihr Leben lang Angst gehabt hatte vor Schmerzen und vor dem Tod. Minutenlang, so kam es mir, obschon es nur wenige Sekunden gedauert hatte, vor, fiel sie, bis sie schließlich auf den gezackten Felsen unten aufschlug, um dann in der Flut davon zu treiben. Der Nachtwind heulte, das Meer rauschte. Was fehlte, das waren Eliannes melancholische, herzzerreißend schöne Lieder. Ich konnte es damals einfach nicht begreifen – das kann ich auch heute noch nicht. Die plötzliche Leere in mir drohte mich von innen heraus zu zerfressen. Ich sank auf die Knie…

Auch heute denke ich noch oft über sie nach. In meinen Erinnerungen sitzt sie am Meer, singend, sie lacht mich aus, oder, und diese Erinnerung mag ich am liebsten, sie liegt in meinen Armen.

Im Prinzip kann ich das alles noch immer nicht recht glauben. Ich stelle mir oft vor, wie es wäre, wenn Elianne noch am Leben wäre. Manchmal, vor allem nachts, glaube ich sogar fast daran, dass sie in dem kleinen Fischerort noch immer singend auf den Klippen sitzt und auf mich wartet, obschon diese Hoffnung, und dessen bin ich mir sehr wohl bewusst, naiv und schwachsinnig ist. Verdammt…

Ich habe seither nie wieder jemanden geliebt. Das werde ich auch nie mehr können. Mein Herz verschwand, zusammen mit der in meinen Mantel gewickelten Elianne, ohne dass ich je wissen werde, wohin.

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Tag der Veröffentlichung: 28.04.2013

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