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Es ist früh am Morgen. Erste Lichtstrahlen fallen durch das schmale hohe Fenster an den Ort, wo ich meditiere. Schon kann ich draußen die einzelnen Umrisse der Pflanzen im Garten erkennen: die Bäume, das Gras, den Teich. Der Kampf hat begonnen. Höchste Konzentration ist gefordert, um die Geister zu unterscheiden. Es gibt die Engel des Lichts, die leicht in die Seele eingehen, die ihnen ähnlich ist, Engel des Lichts, die von Gott kommen. Aber es gibt auch die Engel der Finsternis, die bösen, die gefallenen Engel. Sie legen ihre Schlingen, die nicht immer leicht zu erkennen sind. Wenn sie auf eine Seele treffen, gehen sie mit viel Getöse in sie ein, wie ein Wassertropfen, der auf einen Schwamm fällt. Deshalb ist es so wichtig, wach und konzentriert zu sein bei der Meditation.

Ich versuche, ganz still zu werden und zu hören. Das ist das Wichtigste. Die himmlische Welt ist immer vorhanden, aber wir nehmen sie nicht immer wahr. Das Herz muss offen sein für das, was hier geschieht, was Gott in meinem Herzen wirken will. Ich muss ganz still werden. So still, dass ich mein Herz klopfen höre. So still, dass ich spüre, wie der Atem in mir fließt. Still sein, um zu lauschen. Nur im Schweigen höre ich wirklich seine Stimme.

In die Stille hinein bitte ich Gott, dass ich ganz offen bin für sein Wirken und dass ich schauen darf, wie die Engel am Anfang waren, damals, als Er sie geschaffen hatte. Vor dem Fall. Was soll ich verstehen vom Fall, wenn ich nicht weiß, wer sie waren? Ich nehme die Bibel zur Hand und lese das sechste Kapitel im Buch des Propheten Jesaja. Er schreibt, wie er „den Herrn“ sieht. Und doch eigentlich sieht er ihn nicht, denn er sieht nur den Saum seines Gewandes. Und er sieht die Engel, die ihn umgeben, die ohne Ende rufen: „Heilig, heilig, heilig!“ All das wird lebendig vor meinem inneren Auge, all das baut sich in meinem Herzen auf wie eine reale Szene. Ich sehe, wie die Engel um den Thron Gottes versammelt stehen und anbeten, wie die Türschwellen des Tempels beben und wie sich der Tempel mit Rauch füllt. Sie stehen in der Luft und halten sich zugleich bedeckt vor der Heiligkeit Gottes. Der Himmel ist offen. Alles ist ganz real. Ich sehe die Engel. Ich sehe, dass sie schön waren, bevor sie gefallen sind. Unbeschreiblich schön.

Corruptio optimi pessima. Das Schlimmste ist die Verderbnis des Besten, des Schönsten.
Wie hoch waren sie geschaffen und wie tief sind sie gefallen. Ich spüre einen tiefen Schmerz in meinem Herzen darüber. Sollte Gott diese seine Geschöpfe nicht genauso erlösen wollen wie den Menschen? Höher als der Mensch waren sie geschaffen, sollten sie die Erlösung für immer verspielt haben, weil sie umso tiefer gefallen sind? Ich frage: Herr, willst Du sie nicht erlösen? Und ich höre ins Schweigen hinein.

Viele Schriftstellen gehen mir durch den Kopf und durchs Herz. „Der Teufel sündigt von Anfang an“, heißt es etwa im ersten Johannesbrief. Von Anfang an. Gefallen von Anfang an? Und doch, es muss etwas gegeben haben vor diesem Anfang, als sie neu in diese Welt traten, unbefleckt, makellos und schön. Es gab einen Anfang vor dem Anfang, denn das Böse stammt niemals von Gott.

Was mag sie bewogen haben, diese wunderbaren Geschöpfe, sich von Gott loszusagen? Was konnte größer sein als seine Gegenwart? War ihnen wirklich bewusst, was sie taten, als sie dem Urheber ihres Lebens ins Gesicht widerstanden um „wie Gott zu sein“? Vielleicht sah es schön aus, was sie anstrebten. Sie sahen sich selbst in ihrer Schönheit und vergaßen, dass diese doch nur ein Abglanz des göttlichen Lichtes waren. Sie sahen nicht das Nichts. Sie sahen nicht die Verneinung. Sie sahen nicht die Finsternis, in die sie fielen. Sie sahen nicht den Abgrund, nicht den Feuersee. Der Stolz sah schön aus. Er sah erhaben aus. Er sah nicht hässlich aus. Er war aber hässlich.

Vielleicht haben sie einander angesehen und sich gedacht: Lass uns nur ein ganz klein wenig freier sein. Gott lässt uns ja nicht frei sein. Wir sind schön, wir sollten auch frei sein. Da kam die Lüge in ihr Herz. Denn Gott, der in seiner unendlichen Liebe alles geschaffen hatte, wollte sie frei und ließ sie frei. Die Rebellion war unnötig. Sie schüttelten Fesseln ab, die sie gar nicht trugen. Sie wollten mehr als sie zu haben meinten, obwohl sie es doch hatten. Wie später jener ältere Sohn, der zu seinem Vater sagte: „Mir hast Du nie nur einen Ziegenbock gegeben, damit ich mit meinen Freunden feiern kann.“ Er war zu sehr in seinem Schmerz gefangen um die Antwort zu hören: „Alles was mein ist, ist auch Dein.“ Die Engel waren also frei und wollten die Freiheit, wie der ältere Sohn den Besitz wollte, den er doch in der Fülle des Vaters besaß.

Ich sehe, wie das Böse in ihr Herz kam, und werde traurig.

Herr, willst Du sie nicht erlösen?

Ich denke an eine andere Schriftstelle im Judasbrief: „Als der Erzengel Michael mit dem Teufel rechtete und über den Leichnam des Mose stritt, wagte er nicht, den Teufel zu lästern und zu verurteilen, sondern sagte: Der Herr weise dich in die Schranken.“ Ich wage nicht, sie zu verurteilen. Ich wage auch nicht, sie zu entschuldigen. Gott hat sie geschaffen, alle Gnade liegt bei ihm. Aber wenn ich Ihre Schönheit und ihre Güte sehe, dann mag ich nicht glauben, dass sie nicht auch Reue kennen, dann kann ich ihre immateriellen Herzen nicht anders denken als zerknirscht in Asche, weil sie die Herrlichkeit Gottes verloren haben, weil sie alles verloren haben, alles, alles, alles...

Der Teufel sündigt von Anfang an. Aber Gott vergibt von Anfang an.

Herr, gib ihnen den Frieden.

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Tag der Veröffentlichung: 30.08.2010

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