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Schwaches Spiel - heißes Nachspiel

 „Irgendwie fand ich das auch übertrieben, dass die Stadt Fürth Clubfans nicht durch die Innenstadt lassen will“, kommentierte Kommissarin Peters, als im Radio gemeldet wurde, dass die entsprechende Verordnung der Nachbarstadt Nürnbergs gerichtlich aufgehoben worden war.

 „Wissen Sie, was mir das ist? Wurst!“, antwortete ihr Chef. „Oder können Sie mir einen vernünftigen Grund sagen, warum ein Clubfan oder überhaupt ein normaler Mensch da hingehen soll?“

 „Um einmal einen vernünftigen Fußballverein in Franken zu sehen“, mischte sich Kommissar Klein ein. „Deshalb müssen sie ja auch so viel Rabatz machen, weil sie neidisch sind, die Cluberer.“

 „Neidisch, ha, ha! Auf was wohl? Dass ihr absteigt? – Du bist außerdem  kein normaler Mensch, sonst wärst kein Greuther-Fan“, ätzte Oberkommissar Kröber. „Bin schon gespannt, was du am Montag erzählen wirst, wenn ihr die Prügel kassiert habt, die ihr verdient.“

 „Schau mer mal!“ Michael Kleins Miene verfinsterte sich. Im Frühjahr hatte er seinen Chef noch ärgern können, indem er drei Wochen lang im Fantrikot zum Dienst gekommen war, nachdem seine „Greuther“ nach unzähligen Versuchen endlich in die 1. Bundesliga aufgestiegen waren. Nun sah es dagegen so aus, als würden sich dessen hämische Prophezeiungen erfüllen, dass die SpVgg Greuther Fürth sang- und klanglos wieder absteigen würde. Dass der große 1. FC Nürnberg kaum besser dastand, war nur ein schwacher Trost. So hörte er bei den Lästereien Kröbers meist weg, was er auch tat, als dieser ihm zum Dienstschluss „Schöne Niederlage!“, wünschte.

 

 Viel Hoffnung auf einen Sieg im Derby hatte er nicht, als er am Samstagmittag seiner Frau Sarah und seiner kleinen Tochter Lina den Abschiedskuss gab und, das grün-weiße Fantrikot unter dem Anorak, in den Bus Richtung Ronhof stieg. Am Fürther Rathaus musste er umsteigen. Vor dem Neorenaissancegebäude warteten Hunderte von Fußballfans, die meisten davon in rot-schwarz und viele mit „Anti-FÜ“ – Plakaten.  Die SpVgg würde im eigenen Stadion quasi auswärts spielen.

 In jeden Bus, der nach Norden fuhr, stiegen auch Schutzpolizisten, teils in Uniform, teils in Zivil, ein – Michael Klein kannte einige vom Sehen. So blieb es bis zum Stadion ruhig.

 Noch im Bus bekam der Kommissar eine SMS von seinem Freund aus Polizeischulzeiten Markus Gruber, der in der Diebstahlskommission arbeitete und nun ebenfalls in Richtung Stadion unterwegs war – allerdings vermutlich in rotem Fantrikot. Er schlug vor, sich nach dem Spiel auf ein Bier zu treffen „egal, wer feiern kann“. Klein antwortete sofort und schlug vor, sich am Nordende des Friedhofs, wohin man vom Stadion aus leicht zu Fuß gehen konnte, zu treffen und dann weiterzusehen.

 

 Das Spiel hielt bei weitem nicht, was sich die Fans, egal ob in rot-schwarz oder in grün-weiß gekleidet, versprochen hatten: Aus Fürther Sicht war der größte Aufreger schon in der 3. Minute, als Nilsson Prib im Strafraum zu Fall brachte, der Schiedsrichter allerdings keinen Elfmeter pfiff. Ansonsten gab es wenige gute Spielzüge, dafür umso mehr Fouls zu sehen. In der ersten Halbzeit flog Nürnbergs Feulner mit rot, in der zweiten Fürths Sararer mit gelb-rot vom Platz. Zu zehnt spielten vor allem die Gastgeber auf Ergebnissicherung, nachdem Asamoah die beste Chance allein vor Nürnbergs Torhüter Schäfer vergeben hatte.

 Während es auf dem Rasen Fußball zum Abgewöhnen gab, heizten sich die Ultras auf den Rängen gegenseitig ein:  „Alle Blumen blühen, alle Blumen blühen, nur das Fürther Kleeblatt nicht!“, erklang es aus dem Gästeblock, worauf die Anhänger des „Kleeblatts“ mit „Tod und Hass dem FCN!“ konterten. Michael Klein fürchtete, dass gewalttätige Fans beider Mannschaften ihren Frust über das miserable Spiel anschließend aneinander auslassen würden. Er war froh, sich seinerzeit für die Kripo entschieden zu haben: Die Kollegen von der Schutzpolizei waren nicht zu beneiden, zumal es anders als in Nürnberg nicht möglich war, die Anhänger getrennt voneinander zu den öffentlichen Verkehrsmitteln zu leiten.

 

 Er hatte sich nicht getäuscht: Während er vom Stadion, das er unmittelbar nach dem leistungs-(oder nichtleistungs-) gerechtem 0:0 verlassen hatte, zum vereinbarten Treffpunkt ging, pöbelten sich Fangruppen pausenlos gegenseitig an und in Straßennähe war bereits eine wüste Schlägerei im Gange. Der Polizist überlegte noch, ob er sich zurückhalten oder ob er versuchen sollte, zumindest weitere Rauflustige abzudrängen, als andere Anhänger der Greuther sich an ihm vorbei und gerade auf die Traube zuschoben. Er breitete seine Arme aus: „Lasst doch den Scheiß! Bringt doch nix!“

 „Maulhalten oder du kriegst eins rüber!“, bellte ihn ein Halbwüchsiger an. Michael Klein baute sich vor ihm auf: „Das würde ich an deiner Stelle lassen!“

Der Junge war deutlich kleiner und schmächtiger als er, doch wollte er offenbar vor seinen Kumpels angeben. Er versuchte, dem Polizisten in die Weichteile zu treten, doch dieser wich zur Seite und drehte dem Gegner den Arm auf den Rücken.

 Das beeindruckte diesen und einige andere, die daraufhin brav von der Schlägerei weggingen. Auch einige Clubfans konnte er zurückhalten.

 

 Bis Ordner und Schutzpolizei die Streithähne getrennt hatten, vergingen knapp zehn Minuten. Zwei junge Männer, ein schwarzhaariger im Fürther und ein dunkelblonder im Nürnberger Fantrikot blieben auf der Straße liegen. Schutzpolizisten leisteten erste Hilfe, während ein Kollege die Sanitäter anrief.

 Einer der Ordnungshüter schüttelte den Kopf: „Jetzt greifen die sich schon mit Messern an. Hast du das schon erlebt, Herbert?“

 „Eigentlich nicht, aber mich wundert nichts mehr. Da sind ein paar Volltrottel in den Fanclubs und die reißen die anderen mit.“

 Michael Klein stellte sich daneben: „Kann ich helfen?“

 „Nö. Gehen Sie bitte! Glotzen ist nicht!“

 Er zog seinen Dienstausweis aus der Tasche: „Könnte sein, dass wir noch miteinander zu tun kriegen, deshalb. Klein, Morddezernat.“

 „Oh, Entschuldigung, natürlich. – Die beiden sind mit Messern aufeinander losgegangen. Die anderen scheint es nicht so schlimm erwischt zu haben. Die Kollegen sind grade dabei, sich alle anzuhören.“

Das Gespräch wurde durch die Sirene des Sanitätsautos unterbrochen, das sich den Weg durch die Menge bahnte. Klein ließ die Sanitäter ihre Arbeit machen und ging auf die Schutzpolizisten zu, die Personalien anderer Beteiligter feststellten. Auch ihnen stellte er sich vor.

 „Da werdet ihr noch eure Freude damit haben, falls es nicht glimpflich ausgeht mit den beiden“, brummte der Kommandant. „Vier verschiedene Versionen haben wir bis jetzt, wie es losgegangen sein soll.“

 „Hauptsache, die Ausweise sind echt. Den Rest klären wir mit den Jungs ab.“

 

 Markus Gruber wartete an der Nordostecke des Friedhofs. „Sag bloß, Michl, du bist auch in die Schlägerei reingeraten?!“

 „So was in der Art. Hab ein paar Typen versucht zurückzuhalten und mich auch gleich bei den Kollegen erkundigt. Zwei Schwerverletzte, also demnächst krieg ich was damit zu tun, schätz ich.“

 „Was mich bloß wundert: Die Fanclubs, die sonst immer dabei sind, wenn’s wo Randale gibt, waren diesmal ruhig – zumindest die unseren. Wie schaut’s bei euren aus?“

 Michael Klein überlegte: „Bei uns hat eigentlich kein Fanclub so einen schlechten Ruf wie bei euch meinetwegen die Seedrachen oder so. Aber stimmt, ich hab keins von den bekannten Gesichtern gesehen – aber die Kollegen von der Schupo wissen so was besser.“

 „Die Seedrachen und die AntiFÜtistischen Zellen waren jedenfalls ruhig, beziehungsweise, die haben schon von vornherein ihre Begleitung gekriegt.“

 „Schauen wir mal. Vielleicht war es ja halb so schlimm. Auf jeden Fall brauch ich jetzt ein Bier. Ich kenn in Poppenreuth ne ganz gute Kneipe, gar nicht so weit von hier.“

 

 Sie gingen gemeinsam dorthin, tranken und waren sich im Grunde einig, dass das Spiel sein Geld nicht wert gewesen war. Gegen sieben Uhr verließen sie die Kneipe und fuhren per Bus nach Hause.

 Sarah Klein atmete sichtlich auf, als sie ihren Mann wohlbehalten heimkommen sah. „Hab schon befürchtet, dass dir was passiert ist, wie sie im Radio von der Massenschlägerei erzählt haben. Dass du auch nie dein Handy mitnimmst bei sowas! Gott sei Dank ist alles in Ordnung!“

 „Weißt doch, Schatz, die Chaoten suchen sich gegenseitig“, sagte er, während er seine Frau küsste. „Ich hab schon was mitgekriegt, aber passiert ist mir nichts.“

 „Aber du musst die Leute finden, die den Mann totgemacht haben, oder, Papa?“, mischte Lina sich ein.

 „Was sagst du da?“ Er nahm seine Tochter in die Arme und küsste sie. „Das kann doch nicht sein.“

 „Das haben sie im Radio gesagt, Papa.“

 „Stimmt“, bestätigte die Mutter.

 „Die sagen viel Unsinn im Radio, Schneckerle!“, versuchte er sie zu trösten, war aber selbst nicht überzeugt.

 Später meldeten die Lokalsender nochmals,  einer der Hooligans sei an seinen Verletzungen gestorben und ein weiterer schwer verletzt.

 

 Folgerichtig klingelte am Sonntagvormittag das Telefon im Hause Klein. Der Anrufer war Michael Kleins Vorgesetzter Hans Kröber, seit Kurzem Hauptkommissar.

 „Sag, Michl, du warst doch gestern auch beim Spiel in der Westvorstadt, oder? Hast du gesehen, wie es zu der Schlägerei gekommen ist?“

 Klein berichtete seinem Chef, was er gesehen und von der Schutzpolizei gehört hatte. Kröber fasste den Bericht, den er von der Schutzpolizei erhalten hatte, kurz zusammen: „Ein Toter, Clubfan, ein Schwerverletzter, Fan vom anderen Verein. Beide haben offenbar Messerstiche abgekriegt, Genaueres gibt’s heute Abend. Die Kollegen haben auch ein Messer dort gefunden. Wem es gehört hat, wissen wir nicht. Einer von den Zeugen sagt, der Fürther hat angegriffen; keine Ahnung ob’s stimmt. Die Familien rufen wir an und du kriegst heute Nachmittag die Mail.“

 Klein schnaubte. Eigentlich hatte er keine Lust, sich am Sonntagnachmittag mit dienstlichen Angelegenheiten zu befassen, aber er wusste, dass der Chef über solche Dinge nicht mit sich reden ließ.

 

 Zunächst allerdings ging er mit seiner Tochter Lina und deren bester Freundin Vanessa zum Spielplatz. Sarah wollte sich mit Bekannten treffen, sodass Lina an diesem Nachmittag vom Vater beaufsichtigt wurde.

 Inzwischen kannten ihn die meisten Kinder, mit denen Lina spielte, sodass Fragen wie ‚Warum hast du keine Polizeimütze auf?‘ oder ‚Wie viele Räuber hast du schon erwischt?‘ ausblieben. Er beaufsichtigte die Kleinen am Klettergerüst, schob die Schaukel an und spielte das Pferd für Lina.

 

 

 Hauptkommissar Kröber war froh, dass bereits die Schutzpolizei die Eltern und Geschwister der beiden jungen Männer informiert hatte. So konnte er sich die Rolle des Unheilverkünders sparen und sich stattdessen um die Akten kümmern. Der Tote hieß Sebastian Lämmermann, 19 Jahre alt, Straßenbauarbeiter und lebte in Nürnberg – St. Peter. Der Verletzte hieß Cenk Bayraktar, Heizungsmonteur, 20 Jahre alt und lebte in Fürth – Süd. Beide jungen Männer wohnten noch bei den Eltern beziehungsweise Sebastian Lämmermann bei der Mutter. Laut Computer war keiner von beiden vorbestraft gewesen. Auch die Fanclubs, denen die beiden angehörten, der „Peterlesclub“ und die „Greuderbum“ waren bisher nicht auffällig gewesen.

 

 Gegen 17 Uhr rief Polizeiarzt Dr. Stiegler an: „Also: Der Lämmermann ist an Messerstichen gestorben und auch der Bayraktar oder wie er heißt hat Messerstiche abgekriegt – und zwar beide mit dem gleichen Messer, wie es aussieht. Sie haben beide auch Schlag- und Trittspuren am Körper, also es hat ein längerer Kampf stattgefunden.“

 „Ist der Bayradingsbums ansprechbar?“

 „Im Krankenhaus sagen sie: Frühestens Ende der Woche.“

 

 Im Bericht der Schutzpolizei hieß es, am beschlagnahmten Messer Fingerabdrücke von beiden Männern und auch noch verschiedene andere gefunden worden seien. Die befragten Mitglieder der jeweiligen Fanclubs sagten aus, keiner der beiden Männer sei je mit Messer gesehen worden.

 

 Noch am Sonntag kam eine Frau aufs Präsidium, die sich als Mutter Sebastian Lämmermanns auswies. Sie war verständlicherweise verheult und konnte wenig Genaues über die Fanclubaktivitäten ihres Sohnes sagen. „A Boor vo seine Kumbel vom Fanclub kenn ich, aber ned viel. Der Jonas Presser war dabei, den had der Basdi vo der Berufsschul her kennd. Und a anderer hassd Lutz, an Noochnooma wass i ned.“

 

 Cenk Bayraktars Eltern, die Kröber anschließend anrief, sprachen nur schlecht Deutsch, sodass dessen Schwester Ayla das Telefon übernahm und mit der Kripo vereinbarte, dass ihr Vater mit ihr gemeinsam am nächsten Tag nach der Schule aufs Präsidium kommen wollte.

 Am Sonntag selbst konnte der Hauptkommissar nur noch feststellen, dass beide Männer seit Jahren Kampfsport betrieben und die Schupo eine lange Zeugenliste zusammengestellt hatte. Jonas Presser hatte ausgesagt hatte, Cenk Bayraktar habe Sebastian gezielt angegriffen (wörtlich: ‚Der Kanake ist auf den Basti zugerannt mit seinem Messer‘).

 

 Als Jonas Presser am Montag aufs Präsidium kam, sprach Kröber ihn auf seine Aussage gegenüber der Schutzpolizei an.

 „Sorry für den Kanaken, ist mir rausgerutscht; ich hab nix gegen Türken, ehrlich. In unserem Fanclub sind auch welche und ein echt guter Kumpel von meiner Arbeit her ist Türke, gegen den kann ich nix sagen, aber der hat echt angegriffen, mit dem Messer direkt auf den Basti zu. So was hab ich noch ned erlebt, also echt.“

 „Sie bleiben also dabei, dass er Herrn Lämmermann direkt angegriffen hat?!“

 „Ja, Herr Kommissar. Ich lüg doch ned die Polizei an.“

 „Und Sie haben den Mann nie vorher gesehen?“

 „Nö, wieso?“

 „Oder können Sie sich vorstellen, was er gegen Ihren Freund gehabt haben könnte?“

 „Nö. Der Basti hat auch ned laut Anti-Fürther-Lieder gesungen oder so. – Also, wenn Sie meinen, ned, der Basti hat den vielleicht gekannt: Keinen Tau, kann sein. Der Basti ist, also war, mein bester Freund aber das heißt ned, dass mer 24 Stunden am Tag beinander sind.“

 

 Abgesehen von Jonas Presser konnte kein Zeuge aussagen, wie die Schlägerei begonnen hatte, Lutz Zeidler und dessen Freundin Jessica Winkler aus Sebastians Fanclub ebenso wenig wie Cenks Fanclubkamerad Oliver Bergmeier. Der wies den Verdacht gegen Cenk empört von sich: „Ich kenn echt viele Typen, denen wo ich des zutrauen däd, aber dem Cenk ned. Klar, wir wissen alle, der macht seit ewig Taekwondo, also wenn der einen z`sammschlagen will, dann schafft der des locker, aber er hat noch nie es Schlägern angefangen – ned amol wenn ihn andere blöd angredet hab’n.“

 „Aber was los war, wissen Sie auch nicht?“

 „Ich hab mich mit dem Tim, auch aus unserem Fanclub, unterhalten, dann hat ein Mädle gefragt ob ich Feuer hab, ich such also mein Feuerzeug, geb ihr welches und wie ich wieder zurückschau, sind mindestens fünf Cluberer am Schlägern mit dem Cenk und dem Sven und dem Frank. Klar, dass ich da meinen Kumpels helf.“

 

 Am Nachmittag erschienen Cenks Vater und Schwester auf dem Präsidium, die den Sohn und Bruder gegen die Vorwürfe in Schutz nahmen, über seine Freunde allerdings wenig Näheres wussten. Die Schwester berichtete, dass ein Freund von Cenk einige Tage vorher von Skinheads zusammengeschlagen worden sei und Cenk einen davon erkannt und geschworen habe, er werde sich rächen.

Ihr Vater unterbrach sie auf Türkisch; sie antwortete ihm und wollte anschließend nichts mehr über den Fall sagen.

Während Hauptkommissar Kröber mit ihnen sprach, telefonierte Kommissarin Peters mit Sebastian Lämmermanns Arbeitsstelle sowie mit dem Kampfsportverein, in dem er Mitglied gewesen war. Dort erhielt sie die Information, dass ein gewisser Hüseyin Karaaslan mit dem Toten enger befreundet gewesen und dass seit Kurzem auch Sebastians Freundin, über die der Präsident aber außer dem Namen wenig wusste, mit Kickboxen angefangen habe.

Hüseyin Karaaslan war noch am gleichen Tag zu erreichen. Auch er gehörte dem Peterlesclub an, stritt aber ab, mit dem Opfer enger befreundet gewesen zu sein: „Ja, früher haben wir öfter was miteinander gemacht, also der Basti und ich, aber in letzter Zeit haben wir irgendwie nicht mehr so gut miteinander gekonnt wie früher, vor allem, seit er seine komische Freundin gehabt hat.“

 „Warum komisch?“, wollte Kommissarin Peters wissen.

 „Na ja, hat halt mit keinem von uns geredet. Ich mein, klar ist der Basti ihr Freund und nicht sonst wer, aber sie hat gar nicht den Mund aufgekriegt; der Basti hat auch wenig über sie gesagt. Michi hat sie geheißen, das ist alles, was ich weiß – ach ja, ich müsste ein Foto von den beiden haben.“ Er suchte auf seinem Smartphone und fand tatsächlich eines.

 Frau Lämmermann wusste ebenfalls nur, dass ihr Sohn eine feste Freundin gehabt hatte, allerdings nicht, wie sie hieß. Sie bat außerdem um die Freigabe der Leiche.

 „Was meinst du, Chef?“, fragte Michael Klein, nachdem er das Telefongespräch beendet hatte.

 „Der Stiegler scheint sich sicher zu sein. Ich tät sagen, wir warten noch den offiziellen Bericht ab, aber wenn da nichts Neues drinsteht, gibt’s keinen Grund, warum nicht: Dass er an den Messerstichen gestorben ist, steht ja fest, und wie es dazu gekommen ist, sehen wir nicht an der Leiche.“

 Im Bericht des Gerichtsmediziners stand nichts anderes als er mündlich mitgeteilt hatte, sodass schon am Dienstag die Leiche freigegeben wurde. Am folgenden Freitag fand die Beerdigung auf dem Petersfriedhof statt. Kommissar Michael Klein hatte den Auftrag, nach der Polizei unbekannten Gesichtern, vor allem aber nach einer Frau, die der Michaela auf Gökhan Karaaslans Foto ähnlich sah, zu schauen. Es waren einige Verwandte, einige Kollegen und fast der gesamte Fanclub erschienen; ein junger Mann stand abseits und ging als erster nach der offiziellen Zeremonie, doch eine Frau im Alter des Toten, die auch nur entfernt wie die auf dem Foto aussah, war nicht zugegen.

 

 Am Tag danach rief allerdings der Besitzer einer Gärtnerei in der Nähe bei der Polizei an und meldete, er habe etwas Auffälliges gesehen.

 
 
 
 

 

 

Michaela

„Brunner, von der Gärtnerei Brunner in St. Peter. Sie haben doch auf der Beerdigung vom Lämmer-manns Basti nach einer Freundin von ihm gefragt. Bei mir hat eine junge Frau einen Kranz gekauft – und selber abgeholt, des hat mich g’wundert. Normal zahlen die Leut und ich leg die Kränz‘ aufs Grab.“

„Könnten Sie die Frau beschreiben?“, fragte Kommissar Klein.

„Blond war’s, mit Haare bis auf die Schulter und ziemlich schick anzong. Vielleicht zwanzig Jahr alt.“

Würden Sie sie auf einem Foto wiederkennen?“

„Ich schätz scho.“

„Hat die Frau, als sie den Kranz bestellt hat, ihren Namen gesagt?“

„Hat sie. Sieber oder so ähnlich. Schriftlich hab ich nix, weil sie hat bar zahlt. Ihr Vornam ist Michi, also Michaela, weil des hat sie auf die Bänder schreib’n lassen: ‚Ich hab dich ewig lieb, deine Michi.‘“

„Und Sie sind sicher, dass sie den Kranz an Sebastian Lämmermanns Grab gebracht hat?“

„Freilich. Ich kenn doch den Basti seit er laufen kann, und sei Mudda aa.“ Er erzählte, dass sein Vater und Sebastians Großvater, der Bäcker Josef Lämmermann, sich häufig zum Kartenspielen getroffen hatten, Sebastians Mutter Doris im Viertel einen schlechten Ruf als leichtes Mädchen („Senfdöpfla – da hat jeder sei Wärschdla neisteckn könna“) gehabt hatte und ihr Bruder Robert die Bäckerei hatte verkaufen müssen.

„Sie sagen also, Sie kennen die Familie gut, aber Sebastians Freundin kannten sie nicht?!“

„Na ja, wie gsagt, mei  Vadda und der Lämmermanns Sepp waren Freunde, der Robert und ich weniger und mit der Doris hab ich aa amol kurz was ghabt, wie ich jung war, so wie es halbe Viertel. Mit `m Basti hab ich weniger zum Dun g‘habt, er hat freundlich grüßt, wenn ich nen troffen hab, aber ned mehr. Mei Frau und die Doris treffen sich ab und zu amol.“

Klein bat den Gärtner, aufs Kommissariat zu kommen und wollte auch mit dessen Frau reden. Brunner war bereit dazu, erklärte, seine Frau sei nicht zu Hause, er werde ihr aber so bald wie möglich Bescheid sagen, und identifizierte die junge Frau auf Hüseyin Karaaslans Foto mit der Käuferin des Kranzes.

Frau Brunner rief später an, erklärte aber, sie wisse nichts über Sebastian Lämmermann, was mit dem Mordfall zu tun haben könnte. „Die Doris hat die üblichen Sachen g’sagt wie jede Mutter – und es hat sie g’stört, dass der Basti nie sei Freundin mitbracht oder ihr vorg’stellt hat.“

 

Am Abend rief sie allerdings nochmals an: Sie hatten beim Essen darüber gesprochen, dass ihr Mann bei der Polizei gewesen war und ihrem zwölfjährigen Sohn Klaus war aufgefallen, dass die junge Frau, nachdem sie vom Friedhof gekommen war, in einen nagelneuen BMW eingestiegen sei. Kommissarin Peters, die Spätdienst hatte, bat sie, Klaus ans Telefon zu holen.

Der Junge berichtete, er habe sich vor allem das Auto genauer anschauen wollen: „So was sieht ma hier ned jeden Dooch, des is ned Erlenstegen.“ Dass die Frau sich mit dem Kranz abgeschleppt hatte, sei ihm auch aufgefallen.

„Interessierst du dich für Autos?“

„Ja, klar, deshalb wollt ich mir’s ja genauer anschauen.“

„Du sagst, ein neuer BMW. Hast du mehr gesehen?“

„Ein Coupé, 325i, fährt 250 Sachen und kostet neu über 40 000 – und der war ziemlich neu, hellblau lackiert, kein einziger Kratzer. Die Frau muss voll die fette Kohle haben.“

„Hast du das Kennzeichen gesehen?“

„Gesehen schon, aber mir ned gemerkt – ich glaub, MS, also N davor nadürlich.“´

„Danke dir, du hast uns schon sehr geholfen.“

 

Sie berichtete am nächsten Tag davon.

„Hm – Das schränkt die Sache schon mal ein“, meinte ihr Chef. „Dann tät ich sagen, wir erkundigen uns mal bei der Zulassungsstelle nach BMW 325is mit dem Kennzeichen N-MS. Wird aber immer noch ein paar geben.“

„Und ich geb das Foto nochmal in die Bildersuche im Internet ein“, schlug Michael Klein vor. „Vielleicht kennt Tante Google den richtigen Nachnamen von dieser Michaela.“

„Mach das ruhig – wenn wir sie finden, heißt das aber noch lang nicht, dass sie was weiß. Und, wenn du schon dabei bist: Gibt’s ein Foto von dem einzelnen jungen Mann bei Lämmermanns Beerdi-gung?“

„Kann sein. Wenn, dann hat der Kollege Wiesinger Fotos gemacht.“

„Dann frag den und such auch nach dem Foto im Internet und frag am besten noch die Kumpels vom Lämmermann – vielleicht kennen sie wenigstens den.“

„Okay, Chef.“

„Ach ja, und – Birgit!“

„Was?“

„Du kannst doch so gut mit Teenagern. Versuch mal, an diese Ayla Bayraktar oder wie sie heißt ranzukommen – die scheint irgendwas über die Abenteuer von ihrem Bruder zu wissen, aber der Vater hatte was dagegen, dass sie es uns sagt.“

„Wo finde ich die?“

„Es gibt da ein schlaues Heft, das heißt Vernehmungsprotokoll. Da steht drin, wo sie wohnt und auf welche Schule sie geht.“

 

Birgit Peters fuhr am nächsten Tag nach Fürth und wartete vor Aylas Schule auf das Mädchen. Kurz nach dem Schlussgong kam Ayla mit einigen Freundinnen aus dem Gebäude. Die Mädchen unterhielten sich, die üblichen Teenagergespräche über Lehrer, Schlagerstars, Jungen. Ayla erkannte die Polizistin nicht und diese entschied sich, ihr zunächst unauffällig zu folgen.  Ayla und eine Freundin gingen in ein Geschäft, während die beiden anderen Mädchen draußen warteten und Musik hörten. Nach einiger Zeit kamen die beiden wieder heraus. Die Mädchen teilten zuerst Naschzeug, danach Zigaretten. Mit Sicherheit war keine der vier volljährig, doch das war im Moment nicht Birgit Peters‘ Problem.

Sie folgte ihnen, bis sich die Wege der Mädchen trennten.  Ayla und eine ihrer Freundinnen blieben zusammen, bis sie vor einem Haus stehen blieben, in dem offenbar die andere wohnte. Sie rauchten ihre Zigaretten zu Ende, umarmten und küssten sich und Ayla steckte ihre Ohrstöpsel in die Ohren, während die andere die Haustür aufschloss.

„Entschuldigung, sind Sie die Schwester von Cenk Bayraktar?“, wagte die Kommissarin nun einen Vorstoß.

„Bin ich schon. Und?“

„Wie geht es Ihrem Bruder?“

„Wer will das wissen?“

„Kriminalpolizei.“

„Schon wieder! Wir haben doch alles gesagt, ich und mein Vater. Und der Cenk liegt immer noch im Krankenhaus und kann kaum reden.“

„Das weiß ich. – Sie sagten etwas von Skinheads, die einen Freund Ihres Bruders angegriffen hätten, aber Ihr Vater unterbrach Sie dabei…“

„Sie brauchen fei ned ‚Sie‘ zu mir sagen, ich bin erst fünfzehn. Ja, mein Vater hat gemeint, das hat damit nichts zu tun und das glaub ich inzwischen auch. In dem Fanclub, mit dem wo sich der Cenk und die anderen geprügelt haben, waren keine Skinheads.“

„Woher wissen – weißt du das so sicher?“

„Ich kenn noch a paar von die Greuderbum ganz gut – und die haben mir das gesagt. Die haben auch gesagt, der, den wo der Cenk angeblich umgebracht hat, ist erst auf den Hannes zu, dann hat der Cenk dem Hannes helfen wollen und dann sind die aufeinander los.“

„Das hörte sich vor ein paar Tagen noch anders an.“

 Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich? War ich dabei?“

„Du sagst, du kennst einige aus Cenks Fanclub gut. Hast du… ähm…“

„Okay, bevor’s Ihnen wer anderer sagt: Ja, der Ollie, ein guter Freund und Kollege vom Cenk, auch aus dem Fanclub, ist mein Ex. Von April bis Anfang September waren wir zusammen. Zufrieden?“

„Wussten deine Eltern und dein Bruder davon?“

„Der Cenk hat’s ziemlich bald gewusst, hat am Anfang ein Problem damit gehabt, dass ich gerade mit seinem besten Freund zusammen war, aber dann hat er’s akzeptiert; wir sind im Sommer auch öfter mit dem Cenk und seiner Freundin gemeinsam weggewesen.“

„Dein Bruder hat eine Freundin? Darf ich wissen, wie sie heißt?“

„Jenny Beer. Ob sie noch zusammen sind, weiß ich nicht sicher. In den letzten Wochen hab ich die Jenny nicht mehr bei uns gesehen.“

„Gesprochen habt ihr darüber nicht?“

„Wieso hätt ma sollen? Der Cenk ist mein Bruder und erwachsen und ich bin auch kein kleines Kind mehr und unsere Eltern zum Glück auch ned so drauf, dass sie gleich ausflippen, wenn ich mal mit Jungen ratsch oder der Cenk mit Mädchen. – Sorry, ich muss jetzt heim.“

„Eine Frage noch: Außer der Sache mit den Skinheads weißt du nichts, dass dein Bruder Feinde oder Probleme hatte?“

„Klar hat er mal über seinen Chef geschimpft oder über einen Kollegen, der ein ziemliches Arschloch sein muss, aber Feinde? Nö, weiß ich nix, aber klar, ich weiß auch ned alles.“

„Okay, danke und schönen Tag noch!“

„Ihnen auch, tschüss!“

Ayla öffnete ihren Anorak ein Stück und holte ihr Smartphone aus der Innentasche, doch offenbar nur, um die Musik zu wechseln. Dabei fiel der Kommissarin ein rotes Medaillon mit sechs Pfeilen auf, das das Mädchen um den Hals trug. Cenks Schwester steckte das Gerät wieder ein und die Stöpsel in die Ohren und ging langsam die Straße weiter entlang. Die Kommissarin ging ihr einige Schritte nach, worauf das Mädchen schneller lief. Birgit Peters überlegte, ihr nachzurennen, unterließ es aber: Sie hatte die Adresse; sollte Ayla mehr wissen als sie zugab, konnte sie deren Eltern jederzeit kontak-tieren und die kleinen Geheimnisse einer Fünfzehnjährigen gingen sie nichts an.

 

Zurück im Präsidium bekam sie mit, wie ein Kollege lautstark mit zwei jungen Männern diskutierte.

„Wir haben doch gar nix gemacht – oder sagen die da oben, Sie müssen verhindern, dass gegen die demonstriert wird?“, schimpfte einer der beiden.

„Keine Anmeldung – keine Demonstration. Ganz einfache Sache. Und wenn Sie jetzt schön brav da reingehen und der netten Kollegin ihre Personalien geben, ist das Ganze schon wieder vorbei. Ich bin nicht wild drauf, mich mit Ihnen rumzustreiten, aber ich hab halt meine Vorschriften.“

Sie war durchaus neugierig, worum es ging, doch genau, als sie vorbeiging, entschieden sich die beiden Männer, der Aufforderung, ihre Personalien anzugeben, doch lieber Folge zu leisten.

 

„Hi Birgit“, begrüßte Michael Klein sie. „Und? Erfolgreich gewesen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Die Schwester weiß entweder nichts oder will nichts sagen. Und bei euch?“

„Nichts Neues, wenn man davon absieht, dass es im Internet offenbar eine Art Shitstorm gegen die Polizei gegeben hat von wegen, dass wir Türken immer in Schutz nehmen – und offenbar gab’s eine unangemeldete Demo gegen Gewalt von Islamisten, bei der sie von St. Peter in die Innenstadt marschieren wollten – die Kollegen sind noch am Abchecken , ob das damit zu tun hat. Und der Hans ist grade zum Beck zitiert worden, wahrscheinlich auch deshalb.“

„Au weia!“ Kröber war meistens wütend, wenn er zum Polizeipräsidenten gehen musste, zumal er diesen für den unfähigsten Beamten des Freistaats Bayern hielt, und wenn er danach in sein Büro zurückkam, war er meist nur mit großer Vorsicht zu genießen.

„Übrigens, von wegen Islamisten: Die Familie wohl nicht.“

„Wie kommst du darauf?“

„Die Schwester raucht, schminkt sich, trägt enge Jeans und war mit einem guten Freund ihres Bruders liiert und sagt das auch offen – nicht gerade das Verhalten einer typischen frommen Muslima oder eines Mädchens, das schon irgendjemandem zur Ehefrau versprochen worden ist.“ Ihr fiel noch etwas anderes ein: „Sag mal, Michel, hast du ne Ahnung, was sechs weiße Pfeile auf rotem Grund bedeuten?“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Aber irgendwo hab ich das Zeichen in den letzten Tagen schon einmal gesehen.“

Er lud mehrere Fotos auf seinen Computer.

 

Kurz darauf kam auch Hauptkommissar Kröber ins Zimmer. „Halb so schlimm, diesmal“, berichtete er. „Der Beck hat von der Demo erzählt, die die Kollegen aufgelöst haben, weil sie unangemeldet war. Hat außerdem wissen wollen, ob wir was an die Presse gegeben haben.“

„Die Presse – und vor allem die Autoren von irgendwelchen Internetseiten – können die Info von jedem X-Beliebigen haben – und Zeugen gab es wohl genug“, antwortete Kommissarin Peters.

„Sehr schlau! Das Gleiche hab ich dem Kerl im dritten Stock auch gesagt. – Michl, bist du weiter mit den Kennzeichen?“

„Die Birgit hat mich gerade gebeten, dass…“

„Ist die Birgit deine Chefin oder ich dein Chef, verflixt?! Mach gefälligst erst das fertig, was ich dir gesagt hab!“

„Okay.“

Er brauchte nicht lange, bis er die Daten abgeglichen hatte: „Also: Es gibt in Nürnberg 18 BMWs mit N-MS. Vier davon sind Dreier und einer davon ist tatsächlich auf eine Michaela Sieder zugelassen, die vom Alter her auch in Frage käm.“

„Du meinst echt, das ist ihr eigenes Auto und nicht das von ihren Eltern – dann müsste sie entweder schon viel verdienen oder Papas Liebling sein.“

„Hm… - sag, Hans, weißt du, ob der Sieder eine Tochter hat?“

„Der Bernd Sieder? Keine Ahnung. Ich weiß bloß, dass er mit der Planungsreferentin liiert ist; ob er vorher verheiratet war, hab ich nicht gehört. Ich les die Klatschpresse normalerweise nicht. – Klar, der kann seiner Tochter natürlich locker so ein Auto zum 18. Geburtstag schenken.“

„Welcher Bernd Sieder?“, fragte Birgit Peters ahnungslos.

„Frau Kollegin, gehen Sie mit offenen Augen durch Nürnberg und schauen Sie sich zwei, drei Großbaustellen an – oder erkundigen Sie sich, wer der Bauherr des neuesten Einkaufszentrums oder der neuesten Luxuswohnanlage in Ihrer Wohngegend war! Ich wett mit Ihnen, beim zweiten oder spätestens dritten Projekt, das Sie sich zufällig anschauen, stoßen Sie auf den Namen Bernd Sieder.“

„Seine Freundin ist da natürlich eine ganz gute Infoquelle, wann irgendwas baureif wird“, ergänzte Michael Klein. „Klar muss das nicht die Michaela sein, die wir suchen, aber der Name passt, das Alter passt…“

„… und wenn es nur vier Dreier-BMWs mit diesem Kennzeichen gibt und nur bei einem der Name passt, können wir uns ja einmal unverbindlich erkundigen“, vollendete Birgit Peters.

„Aber Vorsicht mit deiner preußischen Schnauze! Wenn das wirklich der Sieder ist, haben wir in Nullkommanix eine Dienstaufsichtsbeschwerde, wenn sein Fräulein Tochter sich irgendwie belästigt fühlt“, verfiel Kröber nun wieder ins Du.

 

Kommissar Klein fand auch heraus, woher er die sechs Pfeile kannte: Cenk Bayraktar hatte beim Derby einen Sticker an seiner Fanjacke getragen, der, wie Kommissarin Peters bestätigte, dasselbe Motiv zeigte wie das Medaillon seiner Schwester.

„Mit der Spielvereinigung hat das definitiv nichts zu tun“, stellte er nach kurzem Überlegen fest. „Aber was sonst?“

„Das mit dem Verein glaub ich dir“, kommentierte sein Chef sarkastisch. „Für Vorstadtvereine bist du schließlich der Experte hier.“

„Kann es ein türkisches Symbol sein?“, vermutete Birgit Peters.

„Was frägst das mich? Für was haben wir türkischstämmige Kollegen?“

Wofür haben wir türkischstämmige Kollegen.“

„Von mir aus! Auf jeden Fall haben wir welche. Da!“ Er schnippte die Interne Telefonliste zu ihr hinüber. Nach kurzem Suchen fand sie einen Ümit Denizli aus der Rauschgiftabteilung. Sie erreichte ihn auch sofort.

„Hier Peters, Mordkommission, guten Tag. Ich hätte eine Frage: Kennen Sie aus der Türkei ein Symbol mit sechs Pfeilen auf rotem Grund?“

„Ja, freilich. Das steht für die CHP, also die wichtigste Oppositionspartei. Wieso?“

„Haben wir bei einem Tatverdächtigen gefunden – Sagen Sie, hat diese CHP einen militanten Flügel?“

„Nicht, dass ich wüsste – das ist noch die vernünftigste Partei, die es in der Türkei gibt und ich würd sie sicher wählen, wenn ich noch Türke wär, aber ausschließen kann man’s nicht, dass es da auch Spinner gibt. Eins ist aber sicher: Sechs Pfeile stehen für die sechs Prinzipien von Atatürk und wenn ein Türke so was an seiner Kleidung trägt, heißt das, er hat mit dem Islam wenig und mit dem Erdogan nichts im Sinn – dann kann er aber immer noch Demokrat, Kommunist oder Nationalist sein.“

„Danke!“

 

Unter der Adresse, unter der Michaela Sieders Auto zugelassen war, gab es keinen offiziellen Telefonanschluss, doch eine Nachfrage bei der Telekom ergab die Rufnummer. Die Frau war zu erreichen und bestätigte, Besitzerin des fraglichen Autos zu sein, stritt jedoch ab, einen Sebastian Lämmermann gekannt zu haben und zwei Tage vorher am Petersfriedhof gewesen zu sein.

 

Mehrere Freunde Sebastian Lämmermanns aus Fanclub und Kampfsportverein bestätigten jedoch, seine Freundin habe Michaela geheißen. Mehrere wussten auch, dass sie „wohl eine Bonzentochter“ sei, wenn sie auch sonst wenig über sie sagen konnten. Jonas Presser wusste, dass sie ein Facebook-Profil unter Michi-Lhz angelegt hatte, doch stellte sich heraus, dass dies inzwischen gelöscht war.

 

„So, ich tät sagen, wir schauen dort, wo sie wohnt, mal in Zivil vorbei – irgendwann wird sie schon in ihr Auto steigen und wenn sie so aussieht wie auf dem Foto, holen wir sie uns, wenn sie nicht freiwillig kommt“, schlug Kröber vor.

 

Die Beziehung

Die Villa der Sieders lag in einem parkartigen Garten in Laufamholz. Von der Straße aus war das Wohnhaus schlecht einsehbar. Auch die Nachbarn schienen durchwegs keine armen Leute zu sein: Es waren lauter freistehende Einfamilienhäuser und zu den meisten gehörte mehr als eine Garage. Bei den  wenigen Autos, die an der Straße geparkt waren, handelte es sich durchwegs um teure Modelle, sodass der Nissan der Kommissarin auffiel.

Birgit Peters sah sich um: In der Straße gab es kein Geschäft; auch in der Querstraße hatte sie keines gesehen. So war wohl weder damit zu rechnen, dass außer Joggern sehr viele erwachsene Menschen zu Fuß unterwegs sein würden noch damit, dass jemand längere Zeit im Auto wartete – die klassischen Möglichkeiten, eine Straße unauffällig zu überwachen, fielen aus.

Sie parkte ihr Auto, stieg aus und schaute durch den Zaun um das Grundstück der Sieders. Durch die Hecke dahinter konnte sie nicht erkennen, ob jemand in oder vor dem Haus war.

 Ein VW-Golf hielt schräg gegenüber, ein Garagentor öffnete sich, das Auto fuhr hinein und ein junges Mädchen verließ Auto und Garage.

„Suchen Sie wen?“, rief sie über die Straße, während das Garagentor sich schloss.

„Ähm…Ja, wissen Sie, wann Frau Sieder zurückkommt?“

„Meinen Sie die Mutter oder die Michi?“

„Ich schätze, die Mutter. Ich kenne ihren Vornamen nicht.“

„Die kommt selten vor sieben Uhr heim – aber die Michi, also die Tochter, wollte bloß noch was einkaufen; dürfte so in einer halben Stunde kommen. – Kann ich was ausrichten, wer Sie sind?“

„Es ging um eine Beratung für eine Geldanlage.“ Sie hätte sich am liebsten geohrfeigt: Für eine Anlageberaterin, zumal in dieser Gegend, war sie bei weitem nicht angemessen gekleidet, zumal diese meist vorher Termine vereinbarten.

Die andere Frau schien jedoch keinen Verdacht zu schöpfen. „Schade für Sie“, kommentierte sie nur und ging ins Haus.

 

Die Kommissarin stieg wieder in ihr Auto und fuhr die Straße entlang. Hier an der Ecke standen mehrere Autos, da sich dort eine Arztpraxis und ein Schönheitssalon befanden. Sie parkte und stellte fest, dass sie von hier aus die Straße überblicken konnte. Zu lange im Auto sitzen durfte sie freilich auch hier nicht.

Sie ging in den Schönheitssalon und ließ sich bezüglich Haarefärben und Beinenthaarung beraten und einen Termin geben – ob sie ihn wahrnehmen oder absagen würde, könnte sie immer noch entscheiden. Anschließend ging sie zum Auto zurück. Dass ihr Sohn oder ihre Tochter beim Arzt war und sie im Auto wartete, bis das Kind herauskam, wäre wohl glaubhaft.

 

Viel Verkehr war nicht: Ein Mann kam aus der Arztpraxis, stieg in sein Auto und fuhr weg. Weiter vorn verließ ein Sportwagen ein Grundstück, doch fuhr er in die Gegenrichtung, sodass die Kommissarin nicht einmal sehen konnte, ob ein Mann oder eine Frau am Steuer saß. Anschließend kam ein Roller von der Hauptstraße her.

Beinahe hätte die Polizistin übersehen, dass das Zweirad zum Grundstück der Sieders fuhr. Sie startete selbst den Motor und nahm im Vorbeifahren wahr, dass das Außentor noch geöffnet war. Durch dieses konnte sie die ebenfalls offene Garage sehen, in der sich tatsächlich der silberne BMW befand.

Die Rollerfahrerin stieg ab und nahm ihren Helm ab, sodass Birgit Peters ihr Gesicht sah. Die Kommissarin fuhr langsamer und schaute nochmals auf das Display ihres Handys: Das Foto war eindeutig genug, dass ihr der Verdacht egal sein konnte: Die Fahrerin dieses Rollers war zweifellos jene Michaela, die mit Sebastian Lämmermann liiert gewesen war.

Diese ging jedoch nicht ins Haus, sondern legte ihren Helm auf ein Regalbrett, schloss Garagen- und Grundstückstor hinter sich, überquerte die Straße und läutete ausgerechnet an der Türe des Hauses, in das die andere junge Frau gegangen war.

Somit war zu befürchten, dass Michaela Sieder erfahren würde, dass jemand sich nach ihr oder ihrer Mutter erkundigt hatte, zumal sonst kein Fremder in der Zeit hier unterwegs gewesen war.

 

„Danke, Evi, das ist voll lieb von dir. Ich bin einfach nicht dazu gekommen, das selber fertigzumachen.“

„Ist doch klar, Michi, schließlich bin ich deine beste Freundin – trotz allem, was in letzter Zeit gelaufen ist.  – Übrigens: Hat die Tante mit dem Nissan dich noch erwischt?“

„Was für ne Tante? Hab ned aufgepasst, wer hier mit welchem Auto unterwegs war.“

„Hat gesagt, sie wollte mit deiner Mutter was klären wegen Anlageberatung. War dann aber länger hier unterwegs und ist so ungefähr weggefahren, wie du gekommen bist.“

„Nie im Leben! Wenn meine Mutter irgendwelche Leute ins Haus bestellt, dann entweder zu einem Termin, wenn sie da ist, oder sie sagt halt mir Bescheid.“

„Ist mir auch komisch vorgekommen. Hast du ne Ahnung, was die sonst gewollt haben kann?“

„Bin ich Hellseherin?“

Geklaut hat sie wohl nichts. Zumindest hat sie nicht versucht, über euren Zaun zu klettern. Ihr Kennzeichen hab ich mir übrigens aufgeschrieben.“

„Danke dir! Vielleicht kann sich die Mama nen Reim darauf machen.“

Eva kicherte: „Weißt du, was ich mir schon gedacht hab: Dass die von der Polizei ist.“

Michaela erschrak: „Wie kommst `n da drauf?“

„Ich mein, deinem Vater wollen sie doch öfter was anhängen, oder?“

„Aber dann spionieren sie nicht hier rum. Mein Vater wohnt schon seit acht Jahren nicht mehr hier und der Frank arbeitet nicht in seiner Firma, das wissen sie – und wenn sie meinem Vater oder meiner Mutter was anhängen wollten, hätten sie wohl eher jemanden dort eingeschleust.“

„Hört sich logisch an. – Ganz was anderes: Wann hast du morgen Schule?“

„Eigentlich um acht Uhr Spanisch, aber ich geh wahrscheinlich nicht hin.“

„Ich hab ganz offiziell erst um dreiviertel zehn. Wenn du Lust hast, können wir zusammen fahren.“

„Dann aber mit dem Roller, wenn das Wetter halbwegs ist. Nach neun tu ich mir das nicht freiwillig an, dort nen Parkplatz zu suchen. Oder hast du nen Geheimtipp?“

„Am ehesten noch auf der anderen Seite von der Sulzbacher, aber auch nicht wirklich sicher. Hast schon Recht.“

„Okay, dann geh ich mal rüber; irgendwann sollt‘ ich doch mal Hausaufgaben machen. – Hast du heute Abend noch was vor?“

„Wohl nicht. Der Stefan muss heute arbeiten – und ich bin nicht du.“

„Was soll das heißen?“

„Nichts. So halt. – Du bist doch noch mit dem Dani zusammen, oder?“

„Ja, und am Wochenende kommt er sogar und am nächsten fahr ich nach Passau.“

„Schon gut, Michi! Ich will ja gar nichts sagen – bin bloß neugierig.“

„Ja, ich bin noch mit ihm zusammen; das heißt aber nicht, dass ich die Woche über oder gar am Wochenende, wenn er nicht kommen kann, bloß daheim rumhängen muss.“

„Michi, du brauchst dich nicht zu verteidigen. Das ist deine Beziehung und meine mit dem Stefan ist meine. Ich hätt nicht mal was dagegen, wenn du jeden Tag mit jemand anderem rumknutschen würdest – mit einer Ausnahme natürlich.“

„Das ist wohl Ehrensache, dass der Freund der besten Freundin tabu ist, was immer du sonst über mich denkst. – Aber jetzt muss ich wirklich.“

„Okay, mach’s gut! Und viel Spaß mit den Hausaufgaben!“

 

Michaela Sieder war ungehalten, als sie erneut von der Polizei angerufen wurde:  „Ich habe gesagt, dass ich diesen Mann nicht kenne.“

„Frau Sieder, Sie wurden auf einem Bild identifiziert und auch Ihr Auto wurde gesehen“, sagte Kommissarin Peters ruhig. „Sie sind nicht verdächtig, aber Sie sind verpflichtet, nach bestem Wissen auszusagen und nichts zu verschweigen, es sei denn, Sie würden sich selbst, Ihre Eltern, Ihre Geschwister oder Ihren Ehepartner belasten. Sie haben natürlich das Recht, einen Anwalt zu konsultieren, aber wenn Sie die Aussage verweigern, können wir Sie vorführen lassen; wenn andere Zeugen Sie dann erkennen, kann das für Sie bedeutend unangenehmer werden.“

„Okay, das Recht, mit einem Anwalt zu sprechen, nehme ich mir aber.“

 

Sie erschien dennoch zwei Tage später ohne Anwalt auf dem Präsidium. Ihr Gesicht und ihre Haare waren perfekt gestylt, ihre Kleidung ausgesucht: Kaschmirpullover, Designerjeans, teure Stiefel. Mit ihrem Aufzug konnte sie allerdings nicht ihre Unsicherheit überspielen.

Hauptkommissar Kröber und Kommissarin Peters stellten sich vor und boten ihr an, sich zu setzen.

„Woher kannten Sie Herrn Lämmermann?“

„Wir haben uns im August auf dem Volksfest kennengelernt. Ich…ich bin in die Beziehung eigentlich mehr reingeschlittert.“

„Sie brauchen uns keine Details über Ihre Beziehung zu dem Ermordeten zu nennen“, sagte die Kommissarin freundlich. „Hatte Ihr Freund Feinde?“

„Nicht dass ich wüsste. Über diesen Fanclub weiß ich wenig; ich interessier mich absolut nicht für Fußball. Den Jonas kenn‘ ich, weil der Basti ihn mir mal vorgestellt hat, und den Hüseyin, weil er das Anfängertraining macht – ich hab mit Kickboxen angefangen, im gleichen Verein wie der Basti.“

„Seinetwegen?“, fragte die Kommissarin neugierig. „Entschuldigung, Sie müssen…“

Das junge Mädchen schüttelte den Kopf: „Ich wollte schon länger wieder mit einem Kampfsport anfangen und als er mir erzählt hat, dass er Kickboxen macht, hab ich gedacht, ich schau’s mir mal an und wenn das Anfängertraining so stattfindet, dass ich Zeit hab und es mir halbwegs Spaß macht, bleib ich dabei.“

„Gut, das hat wenig mit der Sache zu tun“, mischte sich Hauptkommissar Kröber ein. „Dass der Herr Lämmermann sich mit jemandem heftiger gestritten hat, wissen Sie nicht.“

„Nicht wirklich.“ Sie überlegte. „Klar, er hat über seinen Chef geschimpft und über seine Mutter, weil sie von ihm Kostgeld verlangt hat und die normalen Sachen halt.“

„Und er hat Ihnen nie erzählt, dass er irgendwie mit Randalen zu tun hatte?!“

„Nein. Er hat gesagt, er interessiert sich für Fußball, Schlägereien will er vermeiden – und er hat auch gesagt, wenn man ein bisschen aufpasst, ist das nicht schwer.“

„Sie können sich also nicht erklären, warum er in eine Messerstecherei geraten ist?!“

„Nein, absolut nicht. Ich hab ihn auch nie mit Messer gesehen.“

„Haben Sie seine Mutter oder er Ihre Eltern kennen gelernt?“, übernahm nun wieder Kommissarin Peters das Verhör.

„Nein. Er wollte nie, dass ich mit zu ihm gehe – er hat sich, glaube ich, geschämt wegen seiner Mutter – keine Ahnung, ob sie gesoffen hat oder sonst was. Und meine Eltern wissen gleichfalls nichts – und“ – Sie wurde schärfer im Ton, obwohl ihre Stimme zitterte. „Ich verlange, dass das so bleibt.“

„Wenn Ihre Eltern nichts mit der Sache zu tun haben, wonach es im Moment aussieht, werden sie von uns nichts erfahren“, beruhigte die Kommissarin sie.

„Eine letzte Frage: Freunde Ihres verstorbenen Freundes bezeichnen Sie – Sie großgeschrieben – als verschlossen…“

„Wenn Sie meinen, ich hätte was zu verbergen: Nein. Aber, wie gesagt, ich bin in die Beziehung reingerutscht – der Basti und ich waren an dem Abend beide besoffen, Volksfest halt. Später hab ich gemerkt, dass ich ihm mehr bedeute und er was Dauerhaftes will. Ich wollte das nicht zumal… zumal meine Eltern bestimmt dagegen gewesen wären und ich mit ihnen keinen Ärger haben wollte. Auf der anderen Seite fand ich ihn nett und wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Ich hab nach einer Gelegenheit gesucht, es ihm zu sagen – inzwischen wollte ich vermeiden, dass er mich in seinem ganzen Freundeskreis als seine künftige Frau vorstellt und die gleichen Leute mich dann für eine Billignutte gehalten hätten.“

„Doch noch eine weitere Frage: Seine Beerdigung. Warum waren Sie nicht dort und warum haben Sie den Kranz später selbst ans Grab getragen?“

„Ich wusste zuerst nicht recht, wie ich reagieren sollte. Dann hab ich erst am Tag der Beerdigung bei der Gärtnerei angerufen und die haben den Kranz natürlich nicht mehr fertig gekriegt. Am nächsten Tag bin ich hin, hab gezahlt und gesagt, sie sollen mir den Kranz geben, dass ich ihn aufs Grab legen kann. Der Gärtner hat gesagt, er kann das machen; ich hab darauf gesagt, das ist nicht notwendig. Ich wusste nicht, dass das total unüblich ist und auch nicht, wie schwer so ein Teil ist – ich hab bisher zum Glück noch keine Beerdigung miterlebt.“

„Bleiben wir beim Wichtigen!“, fasste Kröber zusammen: Sie wissen nichts davon, dass Ihr Freund vor seinem Tod in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt war; sie wissen auch nichts davon, dass er Feinde gehabt hatte, die ihm ans Leben gewollt haben könnten. Auch sonst können Sie sich nicht erklären, warum jemand Ihrem Freund nach dem Leben getrachtet haben könnte.“

„Genau, Herr Kommissar!“

Sie war sichtlich erleichtert, als die Befragung zu Ende war.

 

„Was meinst du? Sie scheint wirklich nichts zu wissen“, stellte Kröber fest, als Michaela Sieder gegangen war.

„Das wohl nicht, aber mir ist ein Gedanke gekommen: Das Milieu, aus dem Sebastian Lämmermann stammte und das ihre passen nicht zusammen – deshalb hatte sie wohl auch ein Problem mit der Beziehung, vor allem damit, dass ihre Eltern etwas erfahren könnten. Wenn er nun ihretwegen Schulden gemacht hat oder in kriminelle Geschichten verwickelt war…“

„Komm, lass das! Jemand wie die lässt sich nicht mit Geld rumkriegen.“

„Rumkriegen vielleicht nicht, aber bereits, sie irgendwohin einzuladen oder mit ihr in die Disko zu gehen – ich schätze, sie verkehrt in Läden, wo es Kleiderordnung gibt und Eintritt und Getränke entsprechend kosten; das geht für einen Bauarbeiterlehrling schnell ins Geld, vor allem, wenn er noch Kostgeld zahlen muss.“

„Meinst du womöglich, er ist umgebracht worden, weil er irgendwem nichts mehr hat zahlen können – mitten im Gedränge nach einem Fußballspiel?!“

„Wer weiß?! Eine Prügelei vom Zaun zu brechen ist in einer solchen Atmosphäre leicht und man kann durchaus auch unauffällig das Messer ziehen. Obendrein soll Cenk Bayraktar ihn ja gezielt angegriffen haben.“

„Sagt ein Zeuge, Birgit, einer von zehn oder elf. Die anderen sagen was anderes. So kommen wir nicht weiter.“

„Ich sag ja gar nicht, dass ich Recht haben muss, aber ausschließen würde ich es nicht.“

„Warum nicht gleich klotzen? Wir können auch ned ausschließen, dass der Lämmermann, Gott weiß wie, mitgekriegt hat, dass der Sieder in kriminellen Geschäften drinhängt oder für ihn Drecksarbeiten gemacht hat.“

„Steht überhaupt fest, dass Bernd Sieder ihr Vater ist?“

„Du weißt doch sonst immer alles besser, was Gesetze angeht: Die junge Dame ist volljährig und braucht praktisch niemandem sagen, wer ihre Eltern sind, wenn sie nicht will. Das Haus läuft auf eine Andrea Sieder.“

„Und ist sicher zu groß und zu teuer für eine alleinerziehende Mutter.“

„Weißt du was? Krieg’s raus! Irgendwo gibt’s bestimmt ne Biografie von dem Kerl, in der auch drinsteht, ob er schon mal verheiratet war und ob er Kinder hat. Dann wissen wir’s.“

 

 

An der Brücke über die S-Bahn bei der Haltestelle Fürth-Unterfarrnbach standen ein Mann in einem Jeansanzug mit kurzgeschnittenen, dunkelblonden Haaren und ein Mädchen in einem roten Anorak und schwarzen Jeans, ihrem dunklen Teint nach Ausländerin, doch sprach sie Deutsch mit fränkischem Einschlag. Sie unterhielten sich zunächst ruhig, dann immer heftiger, was jedoch im Nachmittagsverkehr der Würzburger Straße unterging.

„Verpiss dich, hab ich gesagt!“ Das Mädchen funkelte den jungen Mann mit ihren dunklen Augen böse an.

„Mann! Ich will dir doch nichts Böses!“

„Dann hau ab und mach jemand anderen an!“

„Wer sagt, dass ich dich anmachen will? Ich will dir doch nur den Ärger ersparen, den du sonst kriegst.“ Er ging einen Schritt auf sie zu, worauf sie in Richtung seiner Weichteile trat. Instinktiv wich er zurück und erschrak, als er sah, dass sie eine Spraydose in der Hand hielt. Natürlich konnte sie nur bluffen und in der Dose war Haarspray oder Parfüm, doch damit, dass sie Pfefferspray bei sich hatte, musste er ebenso rechnen wie damit, dass sie mit voller Wucht in seine Genitalien treten würde, wenn sich ihre Wut noch steigern sollte. Mädchen von der Hardhöhe oder aus der Südstadt waren normalerweise alles andere als zarte Prinzessinnen.

„Also, was hast du den Bullen gesagt? Denk dran, der nächste, der kommt, fragt nicht so freundlich.“

„Aber er wird die gleiche Antwort kriegen: Das geht dich nen Scheißdreck an.“

„Und was ist, wenn er dein kleines Geheimnis deinen Eltern erzählt?“

Sie holte aus und ließ ihre Faust vorschnellen, zog sie aber noch im letzten Moment zurück: „Was immer der Olli dir erzählt hat: Ich hab nicht mit ihm geschlafen und schon gar nicht bin ich schwanger.“

„Meinst du, deine Eltern sehen das auch so cool?“

„Dass ich mit ihm zusammen war, wissen sie – also was gibt’s da zu diskutieren? Und wenn du meinst, ich muss Angst um meine Jung-fräu-lich-keit haben: Die Männer, die wegen so was Zirkus machen, nehmen mich eh nicht, wenn sie das hier sehen!“ Sie holte ein rotes Medaillon mit sechs weißen Pfeilen unter ihrem Anorak hervor. „Das wär genauso wie wenn du mit Antifa-Stickern unter Naziweibern auf Brautschau gehen würdest, du vastehn?

„Hör zu, Ayla, eigentlich ist es mir scheißegal, mit wem du pennst…“

„Mit dir jedenfalls nicht, falls du dir Hoffnungen machst.“

„Aber hinter der Geschichte stehen noch andere Sachen, verdammt andere. Dein Bruder ist da in was reingeraten…“

„Wenn du mit meinem Bruder was auszumachen hast, dann mach‘s mit ihm aus und lass mich draußen, kapito?!“

„Mensch, Mädle, du hast total keinen Tau! Was ich mit dir oder dem Cenk auszumachen hab, ist im Moment so dermaßen scheißegal – da sind andere Typen im Spiel und vor denen musst du Angst haben, auch wenn du selber mit ihnen nichts zu tun hast – du bist dem Cenk seine Schwester, das langt.“

„Das lass mal mein Problem sein.“ Sie hatte ihre Körperhaltung nur unwesentlich geändert, doch fiel ihm auf, dass sie weit weniger sicher wirkte als vorher. So sprach er weiter: „Hör zu, ich glaub dir, dass du mit fast jedem Asi fertig wirst, der dich vögeln will oder dir Kohle wegnehmen, zumindest so weit, dass du rechtzeitig abhauen kannst. Aber die Leute, mit denen du es zu tun kriegen kannst, wenn dein Bruder oder du noch eine Dummheit macht, sind keine normalen Asis, sondern haben ne ganze Menge mehr drauf.“

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Tag der Veröffentlichung: 04.01.2014

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