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Imperium Alexandrae

„Wann kommst du heute Abend heim?“, rief die Mutter aus der Küche.

„Weiß ich selber nicht genau. Vor dem Training nicht mehr und danach kann es sein, dass wir weggehen.“

„Wieder mit Stefan?“ Sie kam aus der Küche. „Läuft da was Ernsthaftes?“

Alexandra schloss die Schnallen ihrer Stiefel und öffnete die Haustür, ohne die Mutter anzusehen. „Und wenn?! Du fragst mich ja auch nicht, ob du dich mit Markus treffen darfst. Tschüss Mama, bis heute Abend!“

Erst jetzt sah sie ihrer Mutter ins Gesicht, das sagen wollte, es bestehe schließlich ein Unterschied, ob eine Erwachsene mit ihrem Freund ausgehe oder eine Vierzehnjährige, sich aber nicht traute. Sie bemühte sich um eine gleichgültige Miene.

Alexandra hatte durchaus Respekt vor ihrer Mutter, doch umso wichtiger war es, das nicht zu zeigen. Solange die Mutter glaubte, es seien ohnehin alle Erziehungsversuche wirkungslos, sich freute, dass das Mädchen einen Einser nach dem anderen nach Hause brachte und ansonsten damit zufrieden war, wenn Alexandra unter der Woche nicht allzu spät abends nach Hause kam, keine Straftat beging und nicht schwanger wurde, würde sie auch gar nicht versuchen, ihrer Tochter etwas zu befehlen oder zu verbieten oder sie zu beeinflussen.

Sie schloss die Garage auf, in der auch ihr Fahrrad stand, holte es heraus, verschloss das Tor wieder und fuhr los.

Ein größerer Teil ihres Schulwegs führte durch einen Park und wie sie es schon oft gesehen hatte, spielten drei Jungen Radrennen. Sie schätzte sie schnell ab: Maximal ihr Alter. Sie zog den Kopf ein, beschleunigte, näherte sich den Jungen und klingelte. Genau in dem Moment, als sie am ersten vorbeifuhr, hörte sie auf zu treten. Zwischen den beiden anderen zog sie ihr Smartphone aus der Tasche und tippte darauf, als ob sie ihre Musik wechseln wollte.

Die frustrierten Gesichter der Jungen zeigten ihr, dass ihr Auftritt gewirkt hatte. Normalerweise fuhr sie zwar ein zügiges Tempo, gab aber längst nicht alles, doch wo immer Jungen ihre Kräfte maßen, zeigte sie ihnen die ihren. Diese drei kannte sie zwar nicht, doch falls sie irgendwann ihren Lebensweg kreuzen sollten, würde es ein Vorteil sein, wenn sie von vornherein Respekt vor ihr hatten.

 

Sie kam an, stieg ab und schob ihr Rad zum Fahrradkeller hinunter. Simon aus der 9 a kam gerade von dort herauf; als er sie sah, blieb er stehen und hielt ihr die Tür auf. Alexandra bedankte sich mit einem knappen Kopfnicken. Schon viele Räder standen im Keller, doch ihr Platz war noch frei. Sie hatte ihn mit Bedacht gewählt: Nahe genug an der Tür, dass sie nicht weit gehen musste, doch nicht so nah, dass Schlamm und Dreck hingebracht werden oder jemand versehentlich dagegenstoßen könnte. Seit letztem Sommer hatte sie diesen Platz, vor vier Wochen hatte ein Elftklässler ihn ihr zum letzten Mal streitig gemacht: Demonstrativ vor ihr hatte er sein Rad dort abgestellt. Alexandra hatte sich zunächst ihm gegenüber aufgebaut. Der Junge hatte sie zu deutlich angegrinst als dass es Zufall sein könnte.

„Das ist mein Platz“, hatte Alexandra ruhig aber bestimmt gesagt.
„Ach? Hast du ein Abo? Kann ich deine Karte sehen?“

Schon an diesen wenigen Worten und seinem Auftreten hatte sie ihn einschätzen können: Ein Pfau, dessen Stolz leicht zu kränken war – die leichteste Art von Gegner. Ein Kick in den Solarplexus, ein Handkantenschlag und der große Junge lag einige Sekunden bewusstlos auf dem Boden.

Freilich war es streng verboten, Kampfkunsttechniken außerhalb des Trainings und Wettkampfes oder zur Selbstverteidigung anzuwenden, doch es gehörte zu den vielen Schwächen der Pfauen, dass sie niemals zugeben würden, von einem Mädchen, noch dazu einem jüngeren, besiegt worden zu sein, und genau das hätte dieses Exemplar tun müssen, wenn es sie hätte verpetzen wollen.

„Stell dein Fahrrad woanders hin!“, hatte Alexandra ruhig, aber bestimmt, im Ton einer Herrscherin, die sich ihrer absoluten Macht bewusst war, befohlen. Der Junge hatte Folge geleistet; seinem Blick und dem seiner Freunde war zu entnehmen, dass keiner von ihnen über den Vorfall reden wollte. Andere Schüler, meist jüngere, hatten es freilich gesehen und Alexandras Stellplatz war seitdem nicht mehr bestritten worden.

 

Sie ging hinauf. Vor dem Schultor standen einige Mädchen und Jungen  herum und unterhielten sich, Pärchen küssten sich, einige rauchten. Es handelte sich in Alexandras Klassifizierung um Superbi, jedoch aus der Unterklasse der Passiven. Als sie das große Mädchen mit den schulterlangen, blonden Haaren und der Lederjacke sahen, machten sie bereitwillig Platz.

Entsprechend einem Ausspruch des römischen Dichters Vergil parcere subiectis et debellare superbos, die Unterwürfigen schonen und die Hochmütigen niederkämpfen,teilte Alexandra ihre Mitschüler ein. Unterhalb dieser Grundeinteilung gab es freilich Unterklassen: Die Superbi unterteilten sich in die Superbissimi, die Streit mit ihr suchten, obwohl sie wussten, dass dies entweder zu Verletzungen oder zu Bloßstellungen vor anderen führte und die Passiven, die Quasi Subiecti, die ihr nach Möglichkeit aus dem Weg gingen, aber nach wie vor auf ihre Chance hofften. Unter den Subiecti gab es die Subiectissimi, die ihr jeden Wunsch erfüllten und dafür auch unter ihrem Schutz standen und die Generaliter Subiecti, die grundsätzlich gehorchten, aber einen fließenden Übergang zu den Quasi Subiecti bildeten.

Auch wenn Alexandra am Nutzen des Lateinunterrichts zweifelte, war sie der Meinung, dass antike Denker die Welt besser verstanden hatten als moderne es taten: Freundschaft war Interessen-gemeinschaft, dasselbe wollen und nicht wollen und wer Macht ausüben wollte, hatte die Unterwürfigen zu belohnen und gegen Feinde und Aufständische Stärke zu zeigen. Es gab freilich auch andere Herrscher im Imperium des Gymnasiums und der eine oder andere war vielleicht sogar stärker als sie, doch die meisten begingen irgendwann entweder den Fehler, zu tyrannisch zu herrschen oder den umgekehrten, Gefühle für die Beherrschten zu zeigen. Es kam auf das richtige Maß an: Wer jüngere Schüler bestahl oder sie zu oft schikanierte, riskierte, dass sie sich anderen Banden anschlossen, wer sie als gleichwertige Freunde behandelte, konnte nicht erwarten, dass sie Befehlen gehorchten.

 

Alexandra kam in ihr Klassenzimmer und setzte sich an ihren Platz neben Katharina. In der ersten Stunde hatten Sie Deutsch bei Herrn Hofmann. Dieser war ein alter Lehrer, der seine Dienstzeit im Grund ausklingen ließ, in Alexandras Einteilung Subiectissimus: Er freute sich, dass sie, wenn sie wollte, blitzgescheite Beiträge lieferte. Wenn sie nicht wollte, und heute, in einer Grammatikstunde, war ein solcher Tag, saß sie still an ihrem Platz, las in einem Buch oder surfte auf ihrem Smartphone. Der Lehrer übersah solche Fremdbeschäftigungen, auch wenn Alexandra sich keine Mühe gab, sie zu verbergen. Seinen pädagogischen Auftrag sah er als vollkommen erfüllt an, wenn niemand lärmte und diejenigen Schüler aufpassten, die es nötig hatten. Das gelang ihm und wenn eine Alexandra Herr, die tadellose Aufsätze in geschliffener Sprache und mit einwandfreier Grammatik, Rechtschreibung und Interpunktion ablieferte, ihm ihr Desinteresse zeigte, dann mochte sie das tun. Ein Epikureer, wie Alexandra fand.

 

Auf Deutsch folgte Englisch bei Frau Steger, dem Grund, warum Katharina seit Ende September das Privileg besaß, neben Alexandra zu sitzen: Die kleine, energische Mittvierzigerin besaß den Ehrgeiz, die Imperatrix der Schule zu stürzen oder zumindest in ihre Schranken zu verweisen. Da Alexandra mittlerweile eine Stellung innehatte, die sie durch Schutz anderer kaum mehr ausbauen, durch jedes Zeichen von Schwäche aber umso stärker gefährden konnte, kam es keinesfalls in Frage, im Englisch-unterricht aufpassen und mitzumachen. So hatte sie schon nach zwei Wochen den ersten Hinweis kassiert, den sie zwar selbst mit einem perfekten Imitat der Unterschrift ihrer Mutter signiert hatte, doch diese Methode ließ sich nicht unbegrenzt anwenden.

So war es die beste Lösung, sich eine(n) Banknachbar(i)n zu suchen, der oder die sich keine Unaufmerksamkeit erlauben konnte und in der Lage war, Alexandra rechtzeitig zu warnen. Katharina erfüllte diese Bedingungen: Bei längeren Lesetexten legte sie ihr Lineal an, sodass Alexandra, wenn sie aufgerufen wurde, problemlos die richtige Stelle fand. Wenn Frau Steger sich näherte, tippte Katharina sie an und Alexandras Fremdbeschäftigungsgegenstand verschwand in deren Tasche oder Bankfach. Alexandra revanchierte sich mit fehlerfreien Hausaufgaben in Katharinas Schrift und dadurch, dass sie bei Exen und bei der ersten Schulaufgabe extra groß und langsam schrieb, sodass Katharina alles problemlos lesen konnte. Freilich war es klar, dass Frau Steger Katharina bei der nächsten Schulaufgabe versetzen würde, doch auch dafür ließe sich eine Lösung finden.

 Katharina wurde abgefragt und musste dazu heraustreten. Frau Steger hatte Alexandra fest im Blick, sodass diese die richtigen Antworten nicht ohne weiteres übertragen konnte. Sie hatte Katharina schon einmal vorgeschlagen, Gebärdensprache zu lernen, doch das Mädchen war damit ebenso überfordert wie mit dem Lehrstoff des Gymnasiums. Immerhin, Dinge wie ‚Faust gleich would, flache Hand gleich Simple Past, Hand am Körper gleich Simple Present‘ konnte sie sich merken und Frau Steger kannte Alexandra wohl gut genug, um zu wissen, dass es zwecklos war, aus solchen Gesten versuchten Unterschleif zu konstruieren: Schließlich war man nicht mehr im Wilhelminischen Kaiserreich, wo Schüler die Hand nicht von der Bank heben durften, außer, um sich zu melden. Zufrieden sah Alexandra ins Gesicht ihrer Lehrerin, das diese kaum merklich verzogen hatte. Ein Punktsieg im psychologischen Krieg, aber noch lange keine Entscheidung, die aus Frau Steger eine Subiecta oder auch nur eine Quasi Subiecta gemacht hätte.

„Write it on the board, Katharina!“ Frau Steger stellte sich direkt hinter das relativ kleine Mädchen, sodass Katharina Alexandra nicht mehr erkennen konnte. Nun ärgerte diese sich einen Moment lang, doch die Lösung fiel ihr schnell ein: Sie drehte sich zu Jan, der, wie sie wusste, eine Quetschkugel besaß, die laut knallte, wenn man sie zusammendrückte. Bisher hatte er sich in Englisch nicht getraut, es zu versuchen; als Alexandra ihn ansah und die Finger zusammenpresste, gehorchte er aber sofort. Es knallte; Frau Steger drehte sich empört um und ging zur letzten Reihe. Katharina verstand schnell und kehrte sich hilfesuchend zu Alexandra. Diese zeigte ihr mit den Fingern die Lösungen, während Jan und dessen Banknachbar Kevin beide bestritten, die Störung verursacht zu haben.

Frau Steger drehte sich zwar mehrmals zur Tafel, doch erst als sich die Quetschkugel weder in Jans noch in Kevins Jacke noch im Fach unter ihrer Bank fand, lief sie dorthin zurück. Inzwischen hatte Katharina den Großteil ihres Werkes korrigiert. Frau Steger hatte nur noch Kleinigkeiten zu korrigieren.

„Well done, Katharina! “, lobte sie, doch ihr Blick verriet, dass sie die Sache durchschaut hatte. Alexandra sah sie mit unbewegter Miene an. Vor Frau Steger hatte sie einen gewissen Respekt, weil sie sich durchsetzen konnte und auch gegenüber Alexandra nicht aufgab, doch dieser Respekt glich dem der Römer vor Hannibal: Diese Lehrerin war und blieb eine Gegnerin, die in die Schranken verwiesen werden musste, wenn Alexandras Herrschaft nicht in Frage gestellt werden sollte. Sie hatte sich schon überlegt, in den nächsten Englischstunden das Chaos ausbrechen zu lassen, doch es würde zwar niemand wagen, sich einem entsprechenden Befehl offen zu widersetzen, doch die 8c funktionierte zu schlecht als Kollektiv: Eine Lehrerin wie Frau Steger würde schnell genug einzelne Antreiber herausgreifen und bestrafen, sodass die anderen kein Problem mehr für sie wären.

In der Pause ließ Alexandra sich von Julia aus der 8 b eine Cola bringen und schmiedete an ihrem Schlachtplan. Julia verstand ohne expliziten Befehl, dass sie Alexandra nicht stören durfte. Diese betrat nun das Gedankengebäude, das sie aus den zahllosen Büchern, die sie gelesen hatte, erstellt hatte und nun bei jedem neuen Buch, das sie las, auf Richtigkeit prüfte: Der Weise, in ihrer Begrifflichkeit passender der Starke, der keinerlei Schwäche und damit auch keinerlei Gefühle hatte, war sehr selten. Die übrigen Menschen, also fast alle, waren beherrschbar, unter anderem, weil ihr Verhalten festen Mustern folgte. Lehrer und Erzieher gehörten fast zwangsläufig dazu, ebenso wie ihre Mutter und bisher jeder ihrer Stiefväter. Es gab diejenigen, die sich einschmeichelten, da sie geliebt werden wollten, wie Markus, den aktuellen Freund ihrer Mutter. Dann gab es die, die Autorität einforderten und manchen davon gelang das auch bis zu einem gewissen Grad. Albert, ihr Ex-Stiefvater, hatte dazu gehört und ganz sicher zählte Frau Steger zu dieser Gruppe. Gemeinsam war allen Erwachsenen dieser Kategorie eine verwundbare Stelle: Wenn es gelang, sie deutlich sichtbar vor anderen zu blamieren, verloren sie ihre Autorität. Dabei reichte freilich kein harmloser Streich, den sie womöglich übersehen konnten, ohne ihr Gesicht zu verlieren: Sie mussten einen handfesten Grund haben, Alexandra zu bestrafen, mussten es versuchen, doch daran scheitern, und zwar so, dass es möglichst jeder sah. Dieser Grund würde sich bieten, denn eine zweite Schwäche dieser Leute war, ein grobes Fehlverhalten, wie es im Pädagogendeutsch hieß, nie ignorieren zu können.

Kurz vor Pausenende hatte sie ihren Plan. Für die nächste Aktion brauchte sie nur zwei oder drei ihrer Subiectissimi, am besten nicht die Reaktionsschnellsten von ihnen.

 

In der dritten Stunde hatten sie Mathematik. Alexandra kam absichtlich zu spät; heute war wieder ein Tag, an dem sie Herrn Müller ihre Macht beweisen wollte. Kurz vor der Klassenzimmertür zog sie ihre Jacke und ihren Pullover aus: Der Mathematiklehrer gehörte zu der Gruppe Männer, die muskulöse Frauen attraktiv fanden und in dieser Beziehung kam er bei Alexandra auf seine Kosten: Sie hatte Arme wie ein Bodybuilder.

Sie öffnete die Tür ohne anzuklopfen, trat ein und stapfte zu ihrem Platz, wobei sie absichtlich die Absätze ihrer Stiefel laut klappern ließ. Betont langsam holte sie ihre Mathematiksachen aus der Schultasche, legte sie auf den Tisch und spannte die Arme an.

Wie geplant ließ Herr Müller den Blick nicht von ihr. Sein schüchternes „Alexandra, wenn du schon zu spät kommst, dann mach wenigstens leise“ war eher eine Pflichtübung. Während der Stunde sah er mehrmals in ihre Richtung, rief sie aber nie auf, während sie weiter Albert Camus las.

 

Es folgte Geschichte, ein Fach, in dem Alexandra meist sogar freiwillig aufpasste. Wenn sie während des Unterrichts Bücher las, dann solche, in denen das Thema weiter vertieft wurde. Derzeit ging es um den Vormärz. Das Ziel Herrn Güttlers, den Schülern die zeitlose Bedeutung historischer Ereignisse zu vermitteln, hatte Alexandra verinnerlicht. Napoleon war für sie ein Beispiel für einen Herrscher, der zu weit gegangen war und die Lehre daraus die, dass man sich nicht mit mehreren Feinden gleichzeitig anlegen dürfe.  Die Menschen des Biedermeiers und des Vormärz verachtete sie als Träumer, wenn auch ein Metternich oder ein Ludwig I. vor ihrem kritischen Urteil halbwegs bestehen konnte.

„Herr Güttler!“

„Ja, Alexandra.“

„Letzte Woche haben Sie uns gefragt, was wir anstelle des Ministers Montgelas getan hätten, um den Menschen in Bayern die Reformen schmackhaft zu machen. Ich habe gesagt, Montgelas hat den gleichen Fehler begangen wie Ludwig XVI. Erinnern Sie sich?“

„Und ich bin nach wie vor nicht deiner Meinung. Ich habe euch doch davon erzählt, wie Marie-Antoinette reagiert hat, als die Leute geschrien haben, sie hätten kein Brot?! Diesem Königspaar war es völlig egal, dass Menschen hungern mussten. Und Montgelas‘ Reformen haben wir ja letzte Stunde besprochen.“

„Es geht aber nicht darum, ob es den Menschen wirklich besser geht.“ Sie schaute sich um und hätte sich am liebsten auf den Mund geschlagen. War es nicht leichtsinnig, ihre philosophischen Grundsätze vor ihren Subiecti laut preiszugeben? Als sie nichts als verständnislose Mienen um sich sah, atmete sie leise auf. Ihre Mitschüler sanken noch weiter in ihrer Achtung: Pubertierende Halbaffen, die Dinge nachbeteten, aber rein gar nichts verstanden! „Es ist wichtig, den Untertanen das Gefühl zu geben, dass es besser ist, wenn sie dem Herrscher folgen. Dafür muss ein Herrscher die Psyche seiner Untertanen kennen. So hat man die Religion benutzt. Der Gegenpol zu Max Joseph und Montgelas ist also Ludwig I. Der kannte seine Bayern und wusste, dass sie gerne schöne Bauten sehen und dass sie an ihren Traditionen hängen. Deshalb war es gut, die Verwaltungseinteilung so zu machen, dass die Regionen wieder ähnlich heißen wie vor 1800 und deshalb war es gut, sich mit der katholischen Kirche gutzustellen. – Verstehen Sie jetzt: Die Antwort ist, dass man so regieren musste wie Ludwig I.: Nur ein Herrscher, der seine Untertanen versteht, kann sie beherrschen.“

„Hm, das ist eigentlich eher Philosophie oder Psychologie als Geschichte, außerdem weit über Achtklassniveau. Ich muss gestehen, dass ich mir darüber noch nicht viele Gedanken gemacht habe. Ich halte Ludwig I. eher für einen Überzeugungstäter und ein Kind der Romantik.“

„Kann sein. Aber Sie verstehen, was ich meine? Ob er selber Romantiker war oder nicht, ist weniger wichtig; Tatsache ist, dass Romantik damals Mode war und er die entsprechenden Konsequenzen gezogen hat.“

Der Herrscher muss seine Untertanen kennen und ihre Wünsche bei Kleinigkeiten erfüllen, damit sie ihm im Großen gehorchen notierte Alexandra in ihr Heft. Im Grund kann man Menschen dressieren wie Hunde.

 

Herr Lasche, der Kunsterziehungslehrer der 8c, war ein armer Teufel, der heillos damit überfordert war, die Klasse ruhig zu halten. Wer den Ehrgeiz hatte, ein gutes Bild abzuliefern, setzte sich in Alexandras Nähe, denn sie verlangte, dass man sie in Ruhe ließ, egal, ob sie ihr stets perfektes Bild anfertigte, las, surfte oder Musik hörte.

Impressionismus war das Thema und Alexandra malte ein Bild ihres Ex-Stiefvaters Albert im Van-Gogh-Stil. Nebenher hörte sie, wie zu Hause auch, wenn sie, viel zu selten, zum Malen kam, leise Musik.

„Wer ist das?“, fragte Herr Lasche. „Sehr gut dargestellt. Ich würde sagen, gekränkter Stolz.“

„Ich auch“, antwortete Alexandra knapp, ohne aufzusehen. Sie vollendete das Bild, gab es ab und las anschließend weiter.

Auch in Spanisch war die Klasse nicht völlig ruhig, doch in der sechsten Stunde hatte Frau Eberle dafür Verständnis. Alexandra musste einen Dialog mit Jan führen, der mehrmals ins Stottern kam.  Anschließend begann sie mit den Hausaufgaben, was ihr lediglich ein „Nicht ganz so offensichtlich! Zwing mich nicht, dich zur Nacharbeit zu schicken!“, einbrachte. Quasi Subiecta.

 

Als Alexandra zur Mensa schritt, wurden die anderen neben ihr langsamer, damit sie leichter vorbeigehen konnte.  Zwei Jungen und ein Mädchen, die bereits in der Schlange standen, ließen sie vor. Auch am Tisch machte man ihr rasch Platz.

Sie aß, ließ ihr Tablett stehen, worauf Katharina diensteifrig aufsprang und es für sie wegbrachte.  Alexandra ging in die Bibliothek und machte die schriftlichen Hausaufgaben fertig. Als sie den Raum wieder verließ, kam ihr Jan entgegen: „Du, ich check Latein im Moment gar nicht. Kannst du…“

„Heute schaffe ich es nicht mehr. Ansonsten zehn Euro, wie üblich! – Ach ja, und wenn’s echt sein soll, brauch ich einen Zettel oder so mit deiner Schrift.“

„Danke! Ist voll lieb von dir!“

„Aber erst die Kohle!“

„Klar!“

Nicht, dass sie mit ihrem Taschengeld nicht ausgekommen wäre, aber eigenes Geld konnte nie schaden und dadurch, dass sie für Geld für andere Hausaufgaben machte oder Zeichnungen anfertigte, konnte sie die anderen zusätzlich an sich binden. Sie wusste genau, wer sie brauchte und wer nur faul war und Jan war in Latein ebenso hoffnungslos verloren wie Katharina in Englisch.

 

In Biologie gab es einen Film über Bakterien, in der letzten Stunde, Latein, herrschte die Abmachung, dass am Nachmittag nicht mehr viel verlangt wurde, wenn die Klasse halbwegs ruhig war. Alexandra nutzte dies zum Lesen.

Da sie noch über eine Stunde Zeit bis zum Training hatte und mit den Hausaufgaben schon fast fertig war, ging sie zu ihrem Spind, holte die Sportsachen heraus und ging in den Fitnessraum.  An der Kraftstation übte ein Neuntklässler, der sie allerdings sofort freigab, als Alexandra zielstrebig darauf zuging. Die anderen anwesenden Jungen schauten ehrfürchtig zu, als das Mädchen die maximale Zahl von Gewichten auflegte und begann, sie auf- und niederzubewegen, gleichmäßig und ohne Zeichen der Erschöpfung. Sie machte noch Beintraining, duschte anschließend, zog sich wieder an, nahm ihre Sporttasche aus dem Spind und fuhr zum Training.

 

Kickboxen war neu für sie, doch nachdem sie sechseinhalb Jahre Judo und Karate betrieben hatte und in beiden Sportarten den Schwarzen Gürtel hatte, suchte sie zum einen eine neue Herausforderung, zum anderen war man im Ernstfall umso stärker je mehr verschiedene Techniken man beherrschte.

Durch ihre Körpergröße und Kraft, aber auch durch ihre Erfahrung in anderen Kampfsportarten, hatte Alexandra in sehr kurzer Zeit ein weit höheres Niveau erreicht als alle anderen Anfänger. Sie wählte erwachsene Männer als Gegner, da gleichaltrige Mädchen auch durch Schutzpolster ihren harten Schlägen kaum standhielten. Auch war es ihr selbst wichtig, Schläge stärkerer Gegner aushalten zu können.

 

Nach dem Training machte sie sich weit sorgfältiger zurecht als am Morgen. Normalerweise trug sie farblosen Lidschatten, Wimperntusche und Rouge so leicht auf, dass manche ihr genau ins Gesicht sahen, nur um zu sehen, ob sie geschminkt war oder nicht; Stefan stand allerdings auf Dinge wie Schminke, Dekolleté und Ohrringe und er sollte bekommen, was er wollte. Auch eine Imperatrix war mit vierzehn eben noch nicht volljährig, weshalb es sinnvoll war, einen älteren Freund zu haben, oder besser, einen Diener, der sich für ihren Freund hielt, weil sie hin und wieder mit ihm ausging und sich ab und zu von ihm küssen ließ.

In Wahrheit war Liebe ein Zeichen von Schwäche, einer Schwäche allerdings, die viele Männer hatten. Auch wenn Alexandras Mutter sicher nicht hochintelligent im Sinne der klassischen Definition war, hatte sie das verstanden. Obwohl sie weder über das Abitur noch eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügte und ihre beruflichen Fähigkeiten, soweit Alexandra das beurteilen konnte, nur durchschnittlich waren, fand sie immer wieder gut bezahlte Jobs. Auch ihre Partner waren stets gut verdienende Akademiker: Alexandras Vater, an den sie sich kaum mehr erinnerte, Ingenieur, ebenso wie Markus, Klaus Rechtsanwalt und Albert Arzt. Zumindest seit Albert beobachtete Alexandra genau das Verhalten ihrer Mutter und lernte daraus.

So, wie ihre Mutter Albert gegenüber so getan hatte, als interessiere sie sich für Geschichte, Kunst und Literatur und tatsächlich den hochgebildeten Mann hatte täuschen können, so wusste Alexandra umgekehrt, dass sie mit Stefan nicht über hochgeistige Themen zu reden brauchte. Es reichte, regelmäßig die Kicker-Onlineseite und Berichte über neue Autos zu lesen sowie gut zuzuhören, wenn Stefan über seine Arbeit schimpfte, um Namen und Probleme gut genug zu kennen, um mitreden zu können. Dies hatte zudem den Vorteil, dass sie seine Welt kannte, während er von der ihren nicht die mindeste Ahnung hatte. Wissen war Macht.

 

Sie stieg die Treppe hinunter und sah Stefan vor dem Tor stehen.

„Toll siehst du aus, Alexa!“, sagte er und küsste sie auf den Mund. „Wo gehen wir hin?“

„Ich hab Hunger, also vielleicht ins Felitos, und dann noch was trinken, okay?“

„Gern.“

Er sperrte sein Auto auf, sie verstaute ihre Sporttasche auf dem Rücksitz und setzte sich auf den Beifahrersitz, er stieg auf der Fahrerseite ein und fuhr los. Zehn Minuten später waren sie beim Felitos und suchten einen Parkplatz. Wie fast jeden Mittwoch aßen sie Fajitas, tranken Colaweizen, unterhielten sich über belanglose Dinge, bestellten anschließend noch einen Cocktail und gingen zwischendurch einmal hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. Diesmal zahlten sie getrennt. Alexandra ließ sich zwar gern einladen, doch wollte sie auch, dass Stefan sah, dass sie sich selbst etwas leisten konnte.

Er fuhr sie zurück zur Kampfsportschule, wo sie sich mit einem Kuss von ihm verabschiedete, ihre Sporttasche aus seinem Auto holte und auf ihr Fahrrad verfrachtete und anschließend heimfuhr.

 

Am nächsten Tag beichtete Jan, er habe keine zehn Euro.

„Kannst mir morgen geben“, antwortete sie gnädig. Dafür war er einer ihrer Männer! „Oder du zahlst nur fünf, wenn du in der zweiten Pause mitkommst.“

Während der Physikstunde schrieb sie an mehrere andere Schüler SMSen, sie sollten in der zweiten Pause hinter die Baumreihe bei der Sportanlage kommen. Dann hatte, wie sie wusste, Frau Steger Aufsicht.

Alexandra sah ihre Englischlehrerin in der Nähe des Fahrradkellers, weit entfernt vom geplanten Aktionsort. Sie ging in ihre Richtung und sah, dass Frau Steger auf sie aufmerksam wurde. Das Mädchen blieb gerade so weit von ihr entfernt, dass es immerhin möglich schien, dass sie die Lehrerin nicht gesehen hatte. Auffällig unauffällig griff sie sich in die Tasche, holte ihr Feuerzeug heraus und knipste es an. Anschließend ging sie in Richtung des verabredeten Ortes.

Sie drehte sich um. Tatsächlich folgte ihr Frau Steger, in einem Abstand, den eine Lehrerin hält, wenn die zu überwachende Schülerin nicht merken sollte, dass sie überwacht wurde.

Alexandra blieb vor der Weitsprunggrube stehen und drehte sich um. Frau Steger war ihr gefolgt und setzte ihren Weg leicht nach links fort. Als Alexandra in ihrem Rücken war, ging sie zur Baumreihe, wohl wissend, dass ihre Verfolgerin sie weiter beobachten würde.

 Ihre Subiectissimi erwarteten sie bereits. Sie stellte sich zu ihnen, nahm eine Zigarette aus ihrer Schachtel und verteilte die anderen. Alle nahmen, auch Julia und Jan, die, soweit Alexandra wusste, eigentlich nicht rauchten. Was immer die Herrin tat, es würde wohl seine Gründe haben.Genau eine Person, Vanessa, die einzige starke Raucherin, bekam nichts mehr.

 Julia ging mit der leeren Schachtel zum Abfalleimer Alexandra selbst zündete ihre Zigarette an, nahm einen Zug und gab das Feuerzeug weiter. Dann drehte sie sich um. Tatsächlich näherte sich Frau Steger mit einem Grinsen im Gesicht, das Siegesgewissheit verriet. Alexandra beim Rauchen zu erwischen, hätte sie sich wohl nicht träumen lassen, zumal das Mädchen es überhaupt erst zum zweiten Mal in der Schule tat.

„Hier, Nessy, damit du auch was hast!“ Alexandra gab ihre Zigarette weiter.

 

 Im nächsten Moment stand die Lehrerin bei den Bäumen: „ALEXANDRA HERR!“

„Ja, Frau Steger!“

„Im Schulhof ist Rauchverbot!“

„Warum scheißen sie mich zusammen? Ich bin hier die einzige, die wo nicht raucht!“ Alexandra wählte den Ton einer schlechten Schauspielerin.

„Aber du hast.“

„Stimmt überhaupt nicht. Wenn Sie mir einen Verweis geben, beschwer ich mich beim Chef. Alle anderen hier haben es gesehen.“

„Das stimmt. Sie hat nicht geraucht“, bestätigte Jan, der seine Kippe im richtigen Moment fallen lassen hatte.

„Genau. Schauen Sie, hier liegt keine Kippe.“

„Ich hab gesehen, wie du sie weitergegeben hast.“

„So? An wen denn?“, fragte Alexandra triumphierend.

„An das rothaarige Mädchen.“

Vanessa schüttelte den Kopf. „Ich hab geraucht, okay, geb ich zu. Ich hab einen Verweis verdient, die Alexa nicht.“

 

Frau Stegers Blick schwankte zwischen Verständnislosigkeit und Wut. ‚Immer noch Superba‘, dachte Alexandra. Mit einer Racheaktion würde sie rechnen müssen, doch die Lehrerin hatte wohl ihre Lektion gelernt.

 

Die zweite Chance

Die nächsten Schritte ihrer Englischlehrerin sah Alexandra voraus wie ein guter Schachspieler die Spielzüge eines mittelmäßigen: In der nächsten Englischstunde wurde sie abgefragt und musste Informationen aus einem extrem schweren Hörbeispiel erkennen, wobei Frau Steger sie so oft wie möglich unterbrach. Dennoch erkannte Alexandra das meiste; dass sie nur einen Dreier erhielt, fanden sogar die Quasi Subiecti ungerecht und Superbissimi gab es in der 8 c längst nicht mehr. In der Pause übertrafen sich die Schüler ohne Aufforderung gegenseitig mit Vorschlägen, die nächste Englischstunde zu sabotieren und niemand fehlte am Montagmittag, als Alexandra die Choreographie ansetzte.

 

Diejenigen, die für Alexandra Verweise in Kauf genommen hatten, erhielten ihre Belohnung: Vanessa drei Schachteln Zigaretten, davon zwei umsonst, Jan die Lateinübersetzung umsonst sowie einen Gutschein für zwei weitere und die schüchterne Julia, die sich freiwillig in Alexandras Schutz gestellt hatte, um dem Mobbing ihrer Klassenkameradinnen zu entgehen, eine Einladung zum Kaffee und ins Kino für Samstag.

 

In der nächsten Englischstunde wurde mitgebracht, was an Scherzartikeln vorhanden war: Das Pult war mit farblosem Leim verschmiert, sodass Frau Stegers Buch klebenblieb; ständig quietschte und krachte es immer genau hinter dem Rücken der Lehrerin, Handys klingelten dank Rufwiederholung und Wecker gleichzeitig an entgegengesetzten Enden des Klassenzimmers, jeder einfallende Sonnenstrahl wurde kreuz und quer gespiegelt. Nach etwa 30 Minuten fiel auch eine Stinkbombe.

Frau Steger konfiszierte zwei Handys (Man hatte geübt, wie man das Gerät so deponierte, dass nicht auf Anhieb der Besitzer erkennbar war), fünf Quietschmäuse und sieben Kracher, insgesamt zehn Schüler mussten Nachsitzen und als es stank, befahl sie, die Fenster zu schließen, die Hefte zu öffnen und nach Diktat zu schreiben.

Lea wurde schlecht und sie musste erbrechen, womit die Stunde endgültig beendet war. Alexandra schrieb diesmal angestrengter mit denn je: Der nächste Schritt würde zweifellos ein Extemporale sein und Frau Steger würde sich umso mehr ärgern, je besser es ausfallen würde. Nachmittag und Abend verbrachte sie damit, sich mögliche komplizierte Fragen und Sätze zu überlegen, die sie mit Lösungen in ihr Notebook eintippte und vor dem Schlafengehen per Mail an die Klassenkameraden verschickte.

 

 

„Wir wissen natürlich, was passiert ist, aber wir behandeln dich zunächst als unbeschriebenes Blatt. Du erhältst deine neue Chance. Bitte nütze sie!“

Mit diesen Worten hatte Direktor Wilhelm Andreas am Heisenberg-Gymnasium empfangen. Der Junge kannte die Lehrersprache gut genug, um übersetzen zu können: „Du bist ein asoziales Objekt und wirst es bleiben. Pass bloß auf, dass du nicht gleich wieder fliegst!“ Lehrer, die wirklich gerecht waren, hatten es nicht nötig, das zu betonen.

Nun gut, er würde sich Mühe geben, dem Direktor der neuen Schule zunächst aus dem Weg zu gehen. Immerhin würde es wohl andere Lehrer geben, die tatsächlich meinten, was dieser gesagt hatte.

Er war über seinen Schulverweis ohnehin nicht ganz unglücklich: Zu oft war er in den letzten anderthalb Jahren angeeckt, zu viele Feinde hatte er sich geschaffen. Schon im Sommer hatte er die Schule wechseln wollen, doch vor allem seine Mutter hatte es abgelehnt: Am Petrus-Canisius-Gymnasium hätte er immerhin seine Freunde und die meisten Lehrer würden schon sehen, wie die Dinge wirklich standen.

 

Er schob sein Fahrrad in den Fahrradkeller. Vor einem freien Platz standen zwei ältere Jungen und unterhielten sich.

„Sorry, kann ich da mal vorbei?“, fragte Andreas.

„Nö. Der Platz ist besetzt.“

Andreas diskutierte nicht weiter. Eine Lappalie wie ein bestimmter Fahrradstellplatz war es nicht wert, gleich am ersten Tag Ärger zu riskieren.

Er hatte sein Rad gerade abgesperrt, als ein Mädchen das ihre auf den Ständer hinter den beiden Jungen hob. Ihr hatten die beiden bereitwillig Platz gemacht. Sie schien nicht die Freundin eines der beiden zu sein. Entweder wollten sie ihr gefallen oder sie gehörte zu einem der Bandenführer hier.

 

Er hatte den Vorfall schon vergessen, als er am Konrektorat klopfte.

„Ach so, unser Neuer. Komm mit!“, brummte der Bewohner des Raums. Andreas fand ihn halbwegs sympathisch, weil er gar nicht so tat, als sei er ihm willkommen.

Das neue Klassenzimmer lag im zweiten Stock. Andreas zählte 29 andere Schüler. Ein junger Lehrer, laut Stundenplan hieß er Müller, unterrichtete Mathematik und Physik und war außerdem Klassleiter, stand neben dem Pult. Die Schüler erhoben sich, als der Konrektor den Raum betrat.

„Guten Morgen, Herr Müller, guten Morgen, Klasse 8c. Ab heute habt ihr einen neuen Mitschüler, Andreas Lenz“, sagte dieser knapp und schaute sich im Raum um. „Ist der Platz neben dir frei?“

Das Mädchen, das er angesprochen hatte, war das vom Fahrradkeller. Sie war größer als alle anderen Mädchen und auch als die Mehrzahl der Jungen.

„Eigentlich nicht“, antwortete sie.

„Weiß jemand, ob die Katharina…“, fragte der Lehrer.

„Die Katha ist krank. Fieber!“, platzte ein anderes Mädchen heraus. „Ich hab sie angerufen, weil wir sonst immer zusammen fahren.“

„Gut, danke, Sonja. Andreas, dann setzt du dich für heute neben Alexandra. – Willst du der Klasse sonst noch etwas über dich sagen?“

„Also, ich bin der Andi, bin 14 Jahre alt, meine Hobbys sind Programmieren und Taekwondo. Sonst noch Fragen?“

Natürlich kamen einige, doch der Lehrer würgte sie ab: „Das wird sich im Lauf des Schuljahrs klären. Gut, setz dich!“

Alexandra streckte ihm die Hand hin: „Also, ich bin die Alexa, bin auch 14, meine Hobbys sind Lesen, Kampfsport und Radfahren“, flüsterte sie. „Weitere Fragen sind nicht erlaubt.“ Ihr Händedruck war kräftig, wie bei einem Mann.

Ansonsten verhielt sie sich unauffällig. Sie schrieb ab, was Herr Müller an die Tafel schrieb und zog gelegentlich ihr Smartphone heraus, wenn er wegsah. Was genau sie damit tat, konnte Andreas nicht erkennen.

 

Der Mathematik- und Lateinunterricht waren durchschnittlich, die Klasse verhielt sich mehr oder weniger normal. Andreas schrieb mit, was befohlen wurde, beteiligte sich aber weder am Unterricht noch an den Unterhaltungen während des Stundenwechsels. Er war zwar keineswegs schüchtern, doch wusste er, dass eine Schulklasse ein kompliziertes Sozialsystem war und hatte aus schlechter Erfahrung die Lehre gezogen, besser erst zu beobachten, wer das Sagen hatte, welches Verhalten gern gesehen wurde und wie man sich Respekt verschaffte. Danach konnte man allmählich sehen, wer auf der gleichen Wellenlänge lag und vor wem man sich besser in Acht nahm.

Aus diesem Grund beantwortete Andreas in der Pause die Fragen seiner neuen Klassenkameraden auch einsilbig: Ja, er sei geflogen, er habe sich mit einigen Lehrern und Mitschülern angelegt aber er wolle nicht darüber reden.

Nach der Pause folgte Englisch, das mit einem Extemporale begann. Andreas bekam das Blatt ‚zur Übung‘ und fand es ganz schön schwer, zumal die neue Klasse auch im Stoff weiter zu sein schien als die alte.

Nach Ende der Arbeit brach Unruhe aus, die bis zum Stundenschluss andauerte. Aus einem Grund, den er zunächst nicht verstand, kam ihm das ungewöhnlich vor.

„Die war ganz schön heavy, fand ich“, flüsterte er seiner Nachbarin zu. „Die Ex, mein‘ ich.“
„Racheex. Normal gehen der ihre Exen“, flüsterte Alexandra knapp zurück.

Andreas dachte weiter nach und es fiel ihm ein: Bei eigentlich allen Lehrern am „Canisius“, die sich nicht durchsetzen konnten,  gab es einen Grund: Entweder reagierten sie zu langsam, achteten überhaupt nicht auf die Schüler, waren zu gutmütig, ließen sich schnell ärgern oder sie drohten Strafen an, ohne sie tatsächlich zu verhängen. Diese Frau Steger reagierte schneller auf offen sichtbare Handys oder Unterhaltungen als der Latein- und Mathelehrer, ermahnte ruhig und die beiden, die nach einer Verweisankündigung weiter störten, erhielten ihren Verweis, doch es schien nichts zu nützen.

 

Nach der Biologiestunde kam die zweite Pause. Ein Junge ging auf Alexandra zu: „Alexa?“

„Was ist los, Jan?“

„Sollen wir kommen oder nicht? Morgen mein ich.“

„Ist mir eigentlich egal. Ich rat euch bloß, dass ihr euch einigt: Entweder alle, die sich nicht befreien lassen können, gehen hin oder gar keiner. Ob sie zehn Verweise schreibt, wird sie sich vielleicht überlegen. Das würd dem Willi Wichtig auffallen und das kann sie nicht wollen.“

„Okay, ich red mit den anderen.“ Er ging weg

„Jan!“ Sofort drehte sich der Angesprochene um. „Aber wenn ihr hingeht, dann überlegt euch was, damit sie so schnell nochmal zehn von uns nachsitzen lässt!“

Erste Lektion: Alexandra besaß in dieser Klasse offenbar eine große Autorität.

 

In der Pause schaute Andreas in sein Englischbuch. Vor allem der Conditional, Typ 3 war für ihn völlig neu.

„Alexa?“, fragte er, als sie wieder im Klassenzimmer waren. „Hast du irgendwann mal kurz Zeit, mir den Conditional zu erklären. Du hast ja offensichtlich bei der Ex was gekonnt.“

„Heute gleich nach der sechsten – Oder musst du sofort heim?“

„Nö, ich hab Zeit. Meine Eltern arbeiten beide.“

„Kannst auch erst mit in die Mensa gehen – obwohl: Eigentlich ist das schnell erklärt.“

„Braucht man da ne Karte dafür?“

„Braucht nicht unbedingt, aber kostet viel weniger mit Karte.“

 

Sie hockten sich nach Schulschluss auf eine Bank in der Nähe des Lehrerzimmers. „Also: Typ 3 ist, wenn etwas schon vorbei ist, also ‚Wenn wir besser gespielt hätten, hätten wir gewonnen‘“, begann Alexandra kurz.

„Also eigentlich wie im Deutschen? Das ist alles?“

„Eigentlich schon. Nur, dass du im if-Satz eben had verwendest und im Hauptsatz would have done.“

„Wie bei Typ 1 und 2. Also dein Beispiel wäre ‚If we had played better, we would have won‘, stimmt’s.“

„Genau.“

„Das war’s schon?“

„Sag ich ja. Also, kommst du mit oder nicht?“

„Ich schau mich lieber mal um.“

 

Andreas ging durch das nun halbleere Schulgebäude, merkte sich, wo die Fachräume für Naturwissenschaften, Kunsterziehung und Musik waren. Zum Schluss ging er hinunter zur Mensa, woher die meisten schon wieder zurückkamen und von dort zu den Turnhallen. Gerade was Pausenhalle und Sportbereich betraf, schien das Heisenberg-Gymnasium deutlich besser ausgestattet zu sein als das Canisius: Es gab in der Pausenhalle Sitzgruppen, drei Tischtennisplatten und zwei Kickertische. Auch Internetnutzung war gegen geringe Gebühr möglich. Bei den Turnhallen befand sich auch ein Fitnessraum, der nachmittags geöffnet war. Andreas beschloss, ihn in den nächsten Tagen einmal auszuprobieren.

 

 

Alexandra war sich sicher, in ihrem Privatkrieg gegen Frau Steger um einen großen Schritt weitergekommen zu sein: Von fünfzehn Sätzen, die sie sich überlegt hatte, waren fünf fast wörtlich vorgekommen. Soweit sie es heraushörte, hatten die meisten anderen ein gutes Gefühl.

Noch nicht ganz einschätzen konnte sie den neuen Mitschüler. Er hatte sich den Tag über bedeckt gehalten. Dumm schien er nicht zu sein, sonst hätte er den Typ 3 nicht sofort kapiert – Frau Steger hatte deutlich ausführlicher erklärt, doch viele hatten sich anfangs schwergetan.

Es wäre interessant, zu wissen, warum er von seiner alten Schule geflogen war, doch war sie sich nicht sicher, ob er es ihr sofort sagen würde. Vermutlich war es besser, Spione auf ihn anzusetzen.

Soweit sie gesehen – er trug einen eher engen Pullover – und beim ‚versehentlichen‘ Anstupsen gespürt hatte, besaß er ziemlich kräftige Muskeln. Eventuell bot das einen Ansatz, ihm seinen Platz zuzuweisen: Gerade starke Jungen ließen sich von starken Mädchen leicht verunsichern.

Ansonsten mussten sie und andere versuchen, mehr aus ihm herauszulocken. Er selbst sollte von ihrer, Alexandras, Stellung möglichst bald erfahren; dann würde sich auch bald zeigen, ob er sich unterordnen oder Widerstand leisten würde.

Zunächst sollten Kevin, der ebenfalls Computerfreak war und Lukas, der Taekwondo machte, mit Andreas Kontakt aufnehmen. Falls sie es nicht von sich aus täten, würde sie dafür sorgen.

 

 

Am nächsten Tag war der neue Tisch angetroffen und Andreas musste allein sitzen, da Alexandras Banknachbarin wieder in der Schule war. Er wunderte sich, dass zwei äußerlich so unterschiedliche Mädchen offenbar befreundet waren: Katharina war klein, zierlich und etwas zu grell angezogen und geschminkt. Alexandra trug wenig figurbetonte Kleidung und Andreas war sich nicht sicher, ob sie Schminke im Gesicht hatte. Am ‚Canisius‘ waren Mädchenfreundschaften meist durch gleiches oder ähnliches Styling erkennbar.

Ihm fiel auf, dass Alexandra relativ ungeniert während des Unterrichts in einem Buch las. Merkten die Lehrer das nicht oder waren sie so gutmütig?

In den Zwischenstunden und Pausen begannen die anderen langsam aufzutauen: Man fragte Andreas nach seinem Musikgeschmack, seinen Freunden und seiner Wohngegend. Auch die anderen erzählten mehr über sich. Kevin, der ebenfalls programmieren konnte, bot ihm sogar an, sich einmal zu treffen. Er zeigte ihm einige Grafiken auf seinem Smartphone. Das konnte Kevin, das musste man ihm lassen; mit Animation hatte er dagegen erst angefangen. Sie tauschten die Handynummern.

 

Ende der zweiten Pause wurde der 8c von einem fremden Lehrer aufgesperrt, ehe Herr Hofmann kam. Lukas und ein anderer, der Daniel hieß, begannen mit Armdrücken. Lukas gewann, Kevin forderte ihn heraus und verlor ebenfalls. Anschließend begannen Jan und Lukas, eifrig von den anderen unterstützt. Es ging längere Zeit hin und her, bis Herr Hofmann das Zimmer betrat und um Ruhe bat.

„Wir machen’s nach der sechsten aus, okay, Lucky?“, schlug Jan vor.

„Von mir aus. Dich hab ich in ein paar Sekunden.“

Andreas war gespannt, wie viele andere folgen würden. Offenbar war Armdrücken hier noch populärer als in seiner alten Klasse. Umso besser, er hatte im letzten Jahr kräftig Muskeln zugelegt und würde vielleicht nicht gegen alle, aber gegen etliche gewinnen.

 

Tatsächlich folgten fast alle Lukas und Jan nach der sechsten Stunde zu den Sitzbänken vor dem Direktorat. Auch Schüler aus anderen Klassen gesellten sich dazu.

Die beiden Jungen lieferten sich lange einen ausgeglichenen Kampf, doch schließlich gewann Lukas. Während die ersten sich schon zum Heimgehen wandten, forderte Andreas Lukas auf.

Lange bewegte sich nichts zwischen den beiden. Andreas schaute kurz auf, als eine helle Stimme rief „Ich fordere den Sieger!“

Beinahe hätte Lukas ihn überrascht, doch er brachte die Arme noch in Ausgangsstellung, gewann schließlich einen Vorteil und kurz darauf lag Lukas‘ Arm auf dem Tisch. Die Umstehenden jubelten.

„Ich hab schließlich vorher schon gegen den Jan gekämpft“, rechtfertigte Lukas seine Niederlage.

„Okay, Revanche jederzeit!“, antwortete Andreas.

„Außer jetzt!“ Alexandra gab Lukas einen Rippenstoß und setzte sich Andreas gegenüber.

„Du willst echt?“, fragte Andreas.

„Ja. Oder traust du dich nicht?“ Alle anderen kicherten, was Andreas‘ Bedenken, gegen ein Mädchen zu kämpfen, zerstörte: Wenn er sich nicht blamieren wollte, musste er die Herausforderung annehmen.

Tatsächlich hatte Alexandra Kraft. Ihm kam vor, als spüre er mindestens denselben Widerstand wie bei Lukas vorher. Ihre Muskeln spannten sich, sodass sie trotz der weiten Ärmel ihrer Bluse sichtbar wurden. Und – sie grinste ihn an. Er erhöhte den Druck, gab sein Letztes, doch noch immer geschah nichts. Plötzlich verstärkte sie ihren Druck, erst langsam, dann immer stärker, bis Andreas nachgeben musste. Eine Sekunde später lag sein Arm auf dem Tisch.

„Okay, vielleicht warst du von vorhin noch fertig. Nochmal mit links?“

Er akzeptierte und sie stellten die linken Arme gegeneinander auf. Diesmal drückte Alexandra von vornherein mit voller Kraft, sodass es nur wenige Sekunden dauerte, bis Andreas verloren hatte.

 Er gratulierte ihr und sie fragte in die Runde, wer sie nun herausfordern wollte. Niemand meldete sich.

„Okay, Jungs, dann schönes Wochenende!“ Sie stiefelte davon. Einige Jungen folgten ihr. Andreas wurde noch von Jan herausgefordert, den er besiegte.

 

Wenig später gingen auch die anderen. Als Andreas zum Fahrradkeller hinunterging, sah er Alexandra mit einigen älteren Jungen davor stehen. Sie schien nicht mit einem von ihnen liiert, aber unter ihnen akzeptiert zu sein. Das wunderte ihn nicht: Sie hatte sicher nicht die Figur einer Traumfrau, allein durch ihre Größe und muskulöse Statur, war auch nicht besonders teuer angezogen oder aufwändig geschminkt, doch sie hatte das gewisse Etwas, wegen dessen auch er ständig in ihre Richtung sehen musste.

Alexandra und die Jungen kicherten, als Andreas an ihnen vorbeiging. Er zwang sich, sie nicht zu beachten. Wahrscheinlich hatte es nichts mit ihm zu tun und wenn doch, war es besser, so etwas zu ignorieren, da sie ihn ja gerade verunsichern wollten.

 

Den Samstag verbrachte er bei den Großeltern, wo er sich mehrfach wegen seines Schulverweises rechtfertigen wollte. Immerhin glaubte man ihm, dass er tatsächlich kein Schläger war, wenn seine Großeltern es auch noch weniger verstehen konnten als seine Eltern, dass man ihn fotografieren konnte, während er mit einem Teleskoprohr in der Hand auf Oliver losgegangen war, wenn doch in Wirklichkeit dieser ihn damit angreifen wollte und er es ihm lediglich abgenommen hatte. Noch weniger glaubhaft erschien, dass sein damals bester Freund Peter die Version Olivers und seiner Kumpane offenbar bestätigt hatte – zumindest hatte das Direktor Drach gesagt; er selbst sprach seitdem nicht mehr mit Peter. Dass sein bester Freund seit Beginn der Gymnasialzeit ihn verraten und Mobbern und Schlägern wie Oliver und seiner Bande geholfen hatte, war die schwerste Enttäuschung für Andreas.

 

Am Montagmorgen fand er dort, wo Alexandra sonst ihr Fahrrad abgestellt hatte, eine Lücke vor, die er ausnützte. Kaum hatte er abgesperrt, kam allerdings Alexandra und forderte ihn in dem ruhigen, aber festen Ton, in dem sie meist sprach, auf, den Platz freizumachen.

Ihre Stimme forderte Gehorsam, doch so schnell wollte er nicht nachgeben: „Seit wann sind Stellplätze vergeben?“, fragte er spöttisch.

„Ach?“ Sie baute sich vor ihm auf und ballte die Fäuste.

„Wenn du denkst, ich prügel mich deshalb mit dir, täuschst du dich!“ Er packte seine Tasche und ging zum Ausgang.

Als er vor der Klassenzimmertür stand, vibrierte sein Handy. Er hatte eine SMS von einem unbekannten Absender: „Das hätte ich nicht getan!“

Woher konnte Alexandra seine Nummer haben? Oder stammte die SMS von jemand anderem?

 

Jedenfalls veränderte sich die am Freitag noch offene Haltung der Klasse ihm gegenüber zur Feindseligkeit: Den ganzen Montag, an dem, so wie am Mittwoch, der Unterricht bis 15:30 ging, sprach niemand mit ihm. Sowohl als er in Latein abgefragt wurde als auch als er sich in Geschichte zu Wort meldete, ging wie auf Kommando Unruhe in der Klasse los. Herr Güttler musste zweimal nachfragen, bis er Andreas‘ Einwand aufgrund der ausgeteilten Materialien verstanden hatte: Die Revolution 1848 sei zu sehr von Professoren und Studenten getragen gewesen; viele einfache Leute hätten sich wohl mit den Regierungen solidarisiert, weil man sich, anders als 1789, um sie gekümmert habe.

Der Lehrer widersprach, dem sei nicht so gewesen. Von den Schülern beteiligte sich ansonsten nur Alexandra, die meinte, es sei egal, ob die Leute das glaubten oder es wirklich so gewesen sei.

 

 Trotz allem nahm Andreas am Mittag nochmals einen Konflikt mit Alexandra in Kauf: Er ließ sie in der Mensa nicht vorbei und er reagierte nicht auf die Aufforderung, die Hantelbank zu verlassen, als Alexandra kam und sie nutzen wollte.

Einordnung in die Herde

Es wunderte Andreas nicht, dass sein Tisch mit Klebstoff eingeschmiert war, als er zu den letzten beiden Stunden ins Klassenzimmer kam. Immerhin merkte er es rechtzeitig, ehe er seine Sachen auspackte oder seinen Arm darauf legte. Mit seinem Taschenmesser kratzte er den Klebstoff ab, während Jan ihm den Rucksack wegnahm.

„Stell den Rucksack hierher oder es wird dir leidtun!“, zischte Andreas.

„Mal schauen, wem hier was leidtun wird!“, antwortete Jan grinsend, trug den Rucksack zum Fenster und wurde nur durch das Eintreffen der Spanischlehrerin daran gehindert, ihn hinauszuwerfen. Da ihm auf die Schnelle kein Grund einfiel, wozu er zwei Rucksäcke brauchte, brachte er ihn sogar zurück.

 

Nach der letzten Stunde standen einige Klassenkameraden auf der Treppe zum Fahrradkeller. Andreas überlegte noch, ob sie ihn durchlassen würden oder wie er reagieren sollte, wenn nicht, als Alexandra neben ihn trat: „Nicht schlecht!“, lobte sie.

„Was meinst du?“

„Ich glaube, das weißt du sehr gut. – Du hast doch gesagt, du machst Taekwondo, oder?“

„Ja, warum?“

„Gegen Taekwondo hab ich zum letzten Mal vor fast zwei Jahren ernsthaft gekämpft. Wie wär’s morgen nach der Schule – oder traust du dich nicht?“

Der letzte Halbsatz war so laut gesprochen, dass alle es hörten.

„Wie du meinst. Aber bild dir nicht ein, ich lass dich gewinnen, weil du ein Mädchen bist“, antwortete Andreas.

„Dann könntest du was erleben. – Also, morgen nach der sechsten, im Lehnerpark. Wer gewinnt, hat bis Weihnachten Vortritt im Fahrradkeller, in der Mensa und im Fitnessraum.“

„Das sind drei verschiedene Sachen.“

„Kein Problem. Dann kämpfen wir halt dreimal.“

Einige andere grinsten. Andreas sah Alexandras Selbstsicherheit, doch er wollte sich keine Blöße geben. „Gut. Aber ich kenne keine Gnade!“

„Das will ich hoffen!“

 

Andreas war sich nicht sicher, ob es richtig gewesen war, die Herausforderung anzunehmen. Alexandra schien die Klasse im Griff zu haben; nur so konnte er sich erklären, dass ihn alle gemobbt hatten. Würde sie fair kämpfen oder ihn in eine Falle locken? Oder hielt sie sich für derart überlegen, dass sie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 06.10.2013
ISBN: 978-3-7368-5511-3

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