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Die Kinder von San Benito

Es ging gegen Mittag auf dem Gut San Benito und allmählich zogen sich die meisten Menschen in den Schatten zurück. Nur wenige Arbeiter auf den Feldern mussten weitermachen. Sie würden es nicht lange überleben, aber entweder hofften sie so auf genug Geld oder den Aufstieg zu einem weniger qualvollen Beruf oder sie waren ganz einfach mit Gewalt dazu gezwungen worden. Hinter den Feldern lag ein schattiger Park, der allerdings umzäunt war. Am Rande dieses Parks graste ein Pferd. Daneben saß ein elfjähriges Mädchen in weißer Bluse und Reithose auf einem Felsblock. Die rote Reitjacke hatte sie über die Knie gelegt, der Helm lag vor ihren Füßen auf dem Boden. Das Mädchen schaute durch die Bäume auf die Landschaft mit den Plantagen und auf das etwa fünf Kilometer entfernte Dorf. Aus der Ferne wirkte das Dorf malerisch, doch in Wahrheit waren die Hütten verfallen und die Menschen bettelarm. Das wusste auch das Mädchen auf dem Felsen. Sie hieß Inés García Masquiero und war die Tochter der Herrschaften, denen der Park mit der dazugehörigen Villa und die Plantagen gehörten. Inés war groß für ihr Alter und sah gut aus: Die langen und dichten Haare und der feine Gesichtsschnitt waren angeboren, doch die Kosmetikerinnen und Friseusen des Hauses hatten das Ihre dazugetan.

 Unten auf der Plantage bellte ein Hund. Inés dachte sich zunächst nichts dabei, doch als das Bellen länger anhielt, entschied sie sich, nachzuschauen. Sie zog Jacke und Helm an und sprang auf ihr Pferd. Sie ritt durch das Tor auf die daran anschließende Bananenplantage. Der Reitweg führte mitten durch diese und Inés hatte es schon erlebt, wie ihre Eltern, auch zusammen mit Gästen, durchgeritten waren, um den Arbeitern zuzuschauen. Die Tore ließen sich durch eine elektrische Fernsteuerung öffnen, damit die hohen Herrschaften nicht absitzen mussten. Die Arbeiter oder gar Diebe sollten aber nicht ohne Erlaubnis hineinkommen. Da Inés selbst ein Steuerungsgerät besaß und die meisten Kombinationen kannte, konnte sie problemlos die Tore öffnen. Zurzeit war bei den Bananen nichts zu tun und deshalb kaum jemand auf diesen Feldern. Nur Daboy, der Wachhund, durfte hier frei laufen. Wenn er so lange bellte, stimmte hier etwas nicht. Inés sah allerdings noch keine Wachen. Sie ritt dem Bellen nach. Am Rand der Plantage war Daboy, und dahinter sprang gerade ein Junge vom Zaun herunter nach außen. Inés ritt hin: „Stehen bleiben!“ schrie sie. Was hatte der Junge hier zu suchen? Die Kinder der Arbeiter waren, wenn sie selbst nicht arbeiten mussten, in den umliegenden Dörfern. Inés zog ihre Pistole und schoss in die Luft: „Stehen bleiben habe ich gesagt!“. Es war zwar nur eine Schreckschusspistole, doch sie wirkte auf den Jungen. Der blieb wirklich stehen. Doch noch weiter außen war ein anderer Junge mit einem Sack, der ihn nun anbrüllte: „Schnell, Pepe du Idiot! Die schießt nicht so weit und hier kann sie uns auch nicht nachreiten. Da drüben im Buschwald sind wir sicher, wenn sie die Wächter holt.“

 Die beiden Jungen rannten los. Wenn die Wächter reagierten, würde es immer noch eine Zeit dauern, bis sie herunterkämen, denn hier war keine Straße. Inés überlegte: Wenn sie zum Tor ritt, konnten die Jungen inzwischen den Buschwald erreichen und dort abtauchen. Es gab nur eine Möglichkeit... Sie graulte ihrem Pferd Rico die Mähne. „Du schaffst es, mein Guter!“, flüsterte sie ihm zu und gab ihm die Sporen. Tatsächlich übersprang das Pferd ohne Probleme den Zaun, der zwei Meter hoch und oben mit elektrischem Draht gesichert war. Schon oft war sie über höhere Hindernisse gesprungen, aber das hier war etwas Neues. Sie fühlte sich großartig, als sie auf ihrem Pferd hinter den völlig verschreckten Jungen herjagte. Inés schoss noch einmal. „Zum letzten Mal: Stehen bleiben oder es knallt!“ Nun gehorchten die Jungen und fielen auf die Knie. „Gnade, Señorita!“, flehte der Ältere. „Ich lass meine Bananen hier, aber lassen Sie uns laufen. Wir müssen unsere Mutter und unsere Geschwister durchbringen. Bitte, wir sind keine Diebe!“

 Inés zog die Zügel an und schaute auf die Jungen herunter. Ihre Gesichter waren eingefallen, ihre Kleider zerlumpt und schmutzig. Der Ältere, der sie angesprochen hatte, mochte acht oder neun Jahre alt sein. Er hatte eine Narbe im Gesicht und seine Haare waren lang, wie bei Indios üblich. Der jüngere, Pepe, hatte ein – obwohl er rappeldürr war – fast rundes Kindergesicht. Älter als sechs Jahre war er bestimmt nicht.

 Inés sah von ihrem Pferd herunter. „Was habt ihr denn überhaupt im Sack? Um die Jahreszeit sind doch die Bananen noch lange nicht reif!“

 „Zum Kochen reicht es, Señorita!“, sagte der ältere Junge. „Sehen Sie selbst, da drin ist nichts anderes.“ Er öffnete den Sack und hob ihn mit großer Mühe hoch. Tatsächlich war nichts anderes als giftgrüne Bananen darin. Inés schüttelte den Kopf.

 „Señorita, wenn man Hunger hat, gibt es nichts besseres. Und die Felder, auf denen erntereife Früchte sind, werden bewacht.“

 „Ich mach euch einen Vorschlag: Ich geb euch fünf Dollar, dafür kauft euch Essen und lasst die Bananen in Ruhe! Die sind momentan nicht gut für euch und wenn ihr welche stehlt, hat auch niemand was davon, wenn sie reif sind.“

 Sie griff nach ihrem Geldbeutel, holte einen Schein heraus und beugte sich nach unten zu den Jungen. Die trauten sich gar nicht, zuzugreifen. Endlich sagte der Jüngere: „Ist das wirklich für uns?“ Inés nickte.

 „Vielen Dank, Señorita!“ riefen die beiden Jungen einstimmig.

 Inzwischen waren Wächter hergekommen. Sie richteten ihre Gewehre auf die beiden Jungen. „Haben sie Sie belästigt, Señorita?“, fragte der Anführer.

 „Alles in Ordnung! Fehlalarm! Geht auf eure Posten!“, sagte Inés mit möglichst fester Stimme. Wenn sie die Wahrheit sagen würde, dann würden die beiden Jungen womöglich erschossen.

 „Señorita, ich glaube kaum, dass es für eine junge Dame in Ihrer Stellung angemessen ist, sich mit solchen Lumpen abzugeben. Was der Patrón wohl sagen wird?“

 „Das lasst meine Sorge sein und die meines Vaters!“, schimpfte Inés, nun wirklich wütend. Sie hatte es satt, wie alle Bediensteten sie bemuttern wollten. „Abmarsch! Das ist ein Befehl!“

 Die Wächter salutierten und ritten davon, blieben aber in Sichtweite.

 „Warum suchen eure Eltern nicht Arbeit hier auf den Feldern?“, fragte Inés die beiden Jungen.

 „Finden keine. Alles schon vergeben. Und die Bezahlung wird immer schlechter. Ich hab letzten Monat ein paar Tage dort gearbeitet. Am letzten Tag 20.000 Pesos bekommen – das heißt, drei Tage später, da waren die kaum noch was wert. Inés erschrak: 20.000 Pesos, davon konnte man gerade einmal eine Tortilla mit Belag kaufen. Das konnte sie sich gar nicht vorstellen.

 „Du lügst! Von 20.000 Pesos am Tag kann kein Mensch leben!“, sagte sie.

 „Kann man auch nicht!“, antwortete der jüngere. „Aber was, wenn du keine andere Möglichkeit hast? Und wenn der Vater weg ist und die Mutter kein Geld hat? Wir sind sechs Kinder daheim, da ist jeder Peso wichtig.“

 Der ältere sagte: „Vielleicht gehe ich in die Großstadt und dort Geld verdienen. Da geht mehr. Schließlich bin ich schon zwölf.“

 Inés erschrak wieder. Der Junge war etwas älter als sie, doch wenn sie nicht völlig falsch schätzte, was vom Pferd aus durchaus möglich war, um fast einen Kopf kleiner und viel schmächtiger, weshalb sie ihn auch jünger geschätzt hatte. Und der wollte weg in die Großstadt und dort alleine leben?

 Sie sah auf ihre Uhr. Fast eins, sie musste nach Hause. „Jungs, ich muss los!“, sagte sie. „Ich werd' mal sehen, was sich machen lässt! Wir können uns ein anderes Mal wieder hier treffen! – Ach ja, wie heißt ihr eigentlich?“
 „Ich bin Pancho, das ist mein Bruder Pepe“, antwortete der Ältere. „Und, wenn es Ihnen nichts ausmacht: treffen wir uns lieber im Busch, beim ‚Ewigen Baum’! Dort sieht uns niemand“

 Der „Ewige Baum“ war ein riesiger und uralter Baum, der aus dem niedrigen Gehölz ringsum herausragte. Er hatte die Brandrodung vor fünfzig Jahren überlebt und wurde seitdem von manchen als heilig angesehen.

 „Einverstanden!“, sagte Inés. „Freitag Nachmittag um drei, am Ende der Siesta.“ Um diese Zeit würde niemand darauf achten, warum sie ausgerechnet auf die Büsche zuritt.

 „Und vielen Dank noch einmal, Señorita! Wir hatten noch nie so viel Geld!“, fügte Pancho hinzu. Inés konnte es kaum glauben – ihr wöchentliches Taschengeld betrug 40 Dollar und sollte demnächst noch erhöht werden.

 Die beiden Jungen verbeugten sich tief und gingen auf den Wald zu. Das Mädchen ritt zurück zum Park, in dem sich das Schloss ihrer Eltern befand. Dort saß sie ab. Ein Pferdeknecht führte den braven Rico in den Stall, während Inés in ihr Schlafzimmer ging und sich frische Kleidung suchte. Danach duschte sie, zog die neue Kleidung, eine weiße, bestickte Bluse und einen schwarzen Rock, an, suchte einige dazu passende Schmuckstücke zusammen und schlüpfte in ihre Sandalen. Zum Schminken war keine Zeit mehr, doch sie sprühte sich noch mit Parfüm ein. Sie ging ins Esszimmer. Ihre Mutter saß schon am Tisch, ihr Bruder José würde jeden Moment kommen. Ob der Vater kommen würde, war dagegen nicht sicher.

 José kam ins Zimmer, ein schlanker Bursche von vierzehn Jahren mit einer modischen Frisur. Die Stoffhose und die Krawatte, die er trug, passten nicht ganz zu seinem jungenhaften Gesicht. Er begrüßte seine Mutter mit Handkuss, seine Schwester dagegen nur mit lässig erhobener Hand. Doña María del Pilar sah auf die Standuhr. „Es sieht aus, als ob mein Mann nicht kommt. Beginnen Sie mit dem Auftragen, Carlos!“, wandte sie sich an den Diener im Anzug, der an der Tür stand. Der verneigte sich. „Sehr wohl, Señora!“

 Sekunden später standen Salatplatten mit Filetstückchen und Muscheln und verschiedene Sorten Brot auf dem Tisch. Die Mutter aß nur wenig und Inés kam vor, als ob irgend etwas sie bedrückte. José dagegen hatte seinen Teller schnell leer und legte noch nach, als ob nicht nachher noch Fleisch auf den Teller käme. Irgendwann schien auch er zu merken, dass etwas nicht stimmte. „Was ist denn los, Mama?“, fragte er.

 „Ach, nichts! Ich fühl mich nur nicht wohl. Aber es ist nichts Ernstes!“

 Damit war das Gespräch beendet. José erzählte von seinen Gesprächen mit dem Verwalter und dem Landrat. Die Mutter war zufrieden, dass er offensichtlich einen angemessenen Eindruck für ein Mitglied der Präsidentenfamilie hinterlassen hatte.

 Obst und Süßspeisen wurden aufgetragen, danach Kaffee. Es war kurz vor zwei Uhr, als Doña Pilar die Tafel aufhob. Inés ging gemeinsam mit José in den Trakt, in dem ihre Zimmer lagen. Eigentlich war sie nicht müde, aber José würde sich auch hinlegen und mit ihrer Kinderfrau Gloria wollte Inés sich nicht unterhalten. So legte sie sich auf das Sofa in ihrem Wohnzimmer. Auch das Fernsehprogramm gab um diese Zeit nichts her. Die Langeweile störte Inés manchmal auf dem Landgut. In Traslidera durfte sie zwar das Stadtpalais nicht alleine verlassen – das war auch zu verstehen, es war viel zu gefährlich bei all den Schießereien – doch dort hatte sie ihre Freundinnen, mit denen sie sich treffen konnte. Fast immer, wenn sie wollte, fand sich ein Chauffeur, der sie mit einer der kugelsicheren Limousinen des Hauses zu einer ihrer Freundinnen brachte. Oft waren diese auch bei ihr und das Stadtpalais bot so wie das Landgut, alle Möglichkeiten: Man konnte Tennis spielen, schwimmen (im Freien oder in der Halle), fechten und noch vieles mehr. Nur beim Reiten zeigten sich die Grenzen des Stadtpalais schnell. Das war hier, wo Inés durch die ganze Finca, zu der mehrere Dörfer gehörten, reiten durfte, angenehmer. Doch auf sonstigen Sport hatte sie wenig Lust, da hier nur ihr Bruder als Partner in Frage kam, der ihr in allen Sportarten weit überlegen war.

 Doch selbst José war am Nachmittag, als Inés ihr Zimmer verließ, schon wieder weg. So nahm sie ihre Badesachen und schwamm einige Runden durchs Schwimmbecken. Danach ließ sie sich von der Sonne bescheinen. Ihre Eltern sahen das nicht gern, denn braun gebrannt waren die Arbeiter auf den Plantagen, die den ganzen Tag in der Sonne aushalten mussten. Unter besseren Leuten galt es nicht als schön, braun zu sein.

 Am Abend war auch Inés’ Vater, der Bürgermeister von Traslidera, Manuel García Hernández, anwesend. Er sprach wenig, erzählte auch nicht, was ihn am Mittag aufgehalten hatte. Inés konnte sich mehrere Dinge vorstellen: In Traslidera gab es genug Straßenbanden, mit denen die Polizei nicht fertig wurde. Vielleicht war wieder etwas passiert. Vielleicht hatte der Vater auch mit der Staatsregierung zu tun gehabt.

 Er versprach Inés eine Überraschung. Das Mädchen dachte nicht lange nach, was es sein könnte. Sie hatte eigentlich alles, was sie wollte, und ihre Freundinnen konnte selbst ihr Vater nicht herzaubern.

 

 Am nächsten Tag, nach ihrem Morgenausritt, klopfte Nieves, das Dienstmädchen, bei Inés.

„Sie haben Post, Señorita!“, sagte sie mit einem Knicks, drückte ihr einen Brief in die Hand und verschwand. Inés las und hätte beinahe laut gejubelt: „Liebe Inés, ich weiß nicht, ob es dir deine Eltern schon gesagt haben, aber wir wollen euch besuchen. Mein Vater sagt nichts Genaues, aber er will mit deinem Vater wichtige Dinge bereden. Vielleicht darf ich sogar länger bleiben, wenn deine Eltern nichts dagegen haben. Kannst du bei ihnen ein gutes Wort einlegen? Ich würde mich riesig freuen, die Ferien waren so langweilig ohne dich. Sei so lieb und ruf mich an (Wir sind seit gestern wieder in der Stadt). Grüße und Küsse, Deine Teresa.“

 Teresa Fernández war Inés’ beste Freundin. Ihr Vater war Direktor des Finanzdepartments der Region Traslidera-Central und hatte oft mit Inés’ Vater zu tun. Der hatte einmal im Scherz gesagt: „Ein Glück, dass unsere Töchter befreundet sind, da fällt es niemandem auf, wenn wir uns treffen!“

 Der Vater erzählte beim Mittagessen vom geplanten Besuch, ohne dass Inés ihn bitten musste. Er fügte auch ganz selbstverständlich hinzu, dass Teresa die nächste Woche und vielleicht noch länger bleiben wollte.

 Nach dem Mittagessen bat Doña María del Pilar ihre Tochter zu sich. „Kleines“, sagte sie. „Wenn du im Oktober zwölf Jahre alt wirst, sollst du zum ersten Mal in die Gesellschaft eingeführt werden. Dein Großvater will es so.“ – ‚Nie sagt sie „mein Vater“’, dachte Inés. ‚Fehlt noch, dass sie ‚der Herr Präsident’ sagt wie Papa.’ – „Und da haben Papa und ich gedacht, wir werden an diesem Wochenende schon einmal üben. Don Domingo Fernández kennt dich und wird dir nichts übel nehmen, aber ich möchte, dass du dich benimmst, als ob seine Familie offizielle Gäste wären. Fangen wir also an: Was tust du vor dem Essen?“

 „Ääh – ich dusche mich, ziehe mich anständig an und...“

 „Selbstverständlich! Mónica wird dich herrichten. Und im Übrigen: Du hängst nicht am Fenster, bevor sie kommen, sondern wartest mit uns im Salon bis Carlos sie ankündigt. Und dann: Wie begrüßt du sie?“

 „Ich grüße zuerst Teresas Eltern und sage zu ihnen „Señor Director“ und „Doña Mari Ángeles.“ – „Und?“

 Inés zuckte mit den Schultern.

 „Dass du ja nicht wieder auf die Idee kommst, Doña Mari Ángeles mit Handkuss zu begrüßen. Der Handkuss steht dir zu. Und sie haben dich zuerst zu grüßen, auch die Eltern! Du gehörst zur Präsidentenfamilie, nicht sie.“

 Wie die verschiedenen Bestecke zu benutzen waren, wusste Inés. Auch dass laute Unterhaltung über den Tisch weg tabu war und dass sie nur leicht den Kopf zu heben hatte, wenn sie etwas brauchte. Carlos war ein sehr aufmerksamer Diener und sah die kleinste Bewegung seiner Herrschaften.

 „Und du bleibst am Tisch sitzen, bis die Tafel aufgehoben wird. Und das tut niemand außer Papa“, schloss die Mutter ihren Vortrag.

 Das versprach ja, anstrengend zu werden!

 „Wir werden das heute und morgen üben. Vor dem Essen wird Marco, der Chauffeur, Teresas Vater sein, Mónica Teresas Mutter und Nieves Teresa.“

 

 Es wurde so anstrengend, bereits bei der Übung, wie Inés gedacht hatte. Ihre Eltern waren streng, wenn sie Fehler machte, doch tröstete es sie, dass auch ihr Bruder José nicht perfekt war.

 Nach dem Essen rief Inés Teresa an. Die Mädchen redeten lange über Gott und die Welt, Inés empfahl Teresa, welche Kleidung sie mitnehmen sollte, Teresa erzählte ihr, dass auf dem Paseo Masquiero wieder neue Geschäfte geöffnet hatten und sie unbedingt dorthin wollte. Gegenseitig schworen sie sich zehnmal, wie sehr sie sich vermissten.

 In der Nacht dachte Inés auch über ihr Versprechen an Pancho und Pepe nach. Wie wollte sie ungesehen in die Büsche kommen? Welcher Pferdeknecht sollte ihren Rico satteln? Nicht, dass sie es nicht selbst konnte, aber trotzdem. Und: Was wollten diese Jungen? War es nicht gefährlich, ganz allein? Wenn sie herausfänden, dass Inés nur eine Schreckschusspistole hatte? Die echte Pistole, mit der Inés gelegentlich Schießübungen machte, lag verschlossen in einem Sicherheitsschrank, dessen Schlüssel sie nicht hatte. Und wie sollte sie ihren Eltern erklären, dass sie eine Pistole brauchte? Inés wälzte sich im Bett hin und her; sie hatte Angst, ihren Eltern zu erzählen, was sie erlebt hatte. Was sie am Freitag vorhatte, sich mit dem „Abschaum“ zu treffen, und was am Samstag geplant war, sie gesellschaftsfähig zu machen, widersprach sich. Wenn ihre Eltern je erfahren sollten, dass sie Bauernkinder traf, was dann? Und wie konnte sie diesen armen Teufeln helfen?

Die neue Straße

 Es war ein heißer Tag Ende August. Alle warteten schon auf die Regenzeit, doch die kam nicht. Ich lief durch die Gassen. Da! Schüsse in einiger Entfernung!

 Nichts Ungewöhnliches in unserer Gegend. Dauernd kämpften Banden gegeneinander und immer wieder gab es Tote. Und die allerschlimmste war die „Guardia Especial“ des Herrn Präsidenten. Sie hatten vor Jahren meinen Vater abgeholt. Nur weil er verlangt hatte, dass ein Kunde die Rechnung zahlte. Leider war der Kunde über drei Ecken mit dem Herrn Präsident verwandt.

 Meine Schwester Sara war damals erst ein Jahr alt gewesen. Meine Mutter sagte oft: „Wie soll sich das Mädchen normal entwickeln, wenn es so früh schon den Vater verliert?“ Sara war aber ein gesundes, prächtiges Mädel, auch wenn sie eine fürchterliche Nervensäge sein konnte. Nach Papa fragte sie nie; sie war ja auch nicht die einzige, die keinen Vater hatte.

 

 Als Papa noch bei uns gewesen war, war es uns nicht schlecht gegangen. Als Schreiner hat er gearbeitet, nicht reich gewesen, klar, aber es war genug für ein kleines, zum Großteil selbst gebautes Häuschen am Rand von Traslidera. Das hatten sie uns weggenommen. Jetzt wohnten wir in einer schäbigen Hütte. Die Garde war immer wieder zu Besuch gewesen. Zweimal haben sie Mama vergewaltigt, vor unseren Augen. Einmal hat Mama das Kind wegmachen lassen, das dann kam. Seitdem – sie hat noch mit mehreren Männern etwas gehabt – war sie ein paar mal schwanger geworden, aber kein Kind kam auf die Welt. 

. Wir hätten glücklich sein können, wenn damals nicht die Garde gekommen wäre und Papa geholt hätte. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Mit Mama ist es bergab gegangen seit der letzten Vergewaltigung und der Abtreibung. Alle Nasen andere Männer, und vor allem der Schnaps machte sie kaputt.

 Ich ging weiter die Straße entlang nach Hause. Von einem unvorsichtigen Touristen hatte ich einen Geldbeutel mit ein paar Dollar erbeutet, das reichte für ein paar Tortillas für uns alle. Ich pfiff einen Schlager und dachte nicht mehr an die Schüsse.

 Da krachte es noch einmal. Und ein kleines Mädchen lief mir entgegen, total verheult. „Pedro, Pedro!“, brüllte sie. Das Mädchen war Charo Vallecas, Saras Freundin. „Hilfe!“ Ich nahm sie in die Arme. „Na, was ist denn, Charita?“ – „Die – die Garde! Vor eurer Hütte! Sie erschießen alle!“

 „Na, komm, jetzt übertreib mal nicht, Kleine“, sagte ich, doch leider wusste ich, dass Charo Recht haben konnte. Es war schon mehrmals vorgekommen, dass die Garde in den Armenvierteln alles niedergeschossen hatte, was sie erwischte. Aus Rache, weil sie einen Verbrecher nicht fanden, weil ihnen jemand die Meinung sagte, eine Frau sich nicht ficken ließ oder einfach aus Lust und Laune. Nochmals Schüsse und die Gardisten kamen uns entgegen. „Schnell, hier rein“, brüllte ich und rannte in die nächstbeste Hütte. Deren Besitzer, ein alter Mann, erschrak fürchterlich. Charo spuckte einen Gardisten an und wollte mir dann nach. Doch der Gardist war schneller, packte sie und schlug sie zweimal gegen einen Laternenpfahl.

 „Ihr Schweine, ein Kind anzugreifen!“, brüllte eine alte Frau. Als Antwort krachte es wieder. Die Frau war tot, ebenso alle anderen, die noch auf der Straße waren. Auch in einige Häuser hatten sie geschossen.

 Charo lebte, aber heulte und konnte sich kaum bewegen. Ich hob sie hoch und ging weiter. Die Hütte von Charos Eltern lag in derselben Gasse wie unsere, aber ein ganzes Stück entfernt. Als wir ankamen, war niemand da. Die Garde hatte die Tür eingetreten, alles, was die Familie besaß, lag auf dem Boden verstreut. Die Familie war geflohen. Kein Wunder. Ramón, Charos ältester Bruder, roch immer als einer der ersten Gefahr. Charo heulte noch mehr. „Hab keine Angst, Kleines“, sagte ich und streichelte ihren Kopf. „Wir gehen zu uns. Vielleicht kann unsere Mutter helfen.“

 Doch da, wo einmal unsere Hütte gestanden war, lagen nur noch Trümmer herum. Eine breite Schneise war geschlagen und vereinzelte Gardisten bewachten sie. Niemand mehr traute sich zu schimpfen.

 Mama lag am Rand der Schneise auf dem Boden, Sara und ein fremder Mann knieten neben ihr. „Mama, Sara! Was ist denn los?“ fragte ich. Ich küsste Mama. Sie hatte Schlagspuren im Gesicht.

 

 „Pedro! Gut, dass du ...da bist“, sagte sie mit schwacher Stimme. Sie....“. Der Mann neben Mama legte den Finger auf den Mund und zog mich weg. „Die neue Straße!“, flüsterte er mir zu. „Sie haben die Hütten abgerissen, die der neuen Straße im Weg waren. Deine Mutter hat sich gewehrt und sie haben sie zusammengeschlagen.“

 „Das gibt’s doch nicht!“, sagte ich laut. Natürlich wusste ich von der neuen Straße. Ein Mann, der sich „Stadtbaurat“ nannte, hatte es ausrufen lassen. Bis zum ersten September sollten alle Bewohner freiwillig gehen. Er hatte auch neue Wohnungen versprochen. Aber Versprechungen der Regierung glaubte sowieso niemand und so war kaum jemand gegangen. „Ist denn schon der erste September?“, fragte ich.

 „Ich dachte, du kannst lesen? Hat Juana dich nicht in die Schule geschickt? Egal, nein, der ist übermorgen. Heute früh sind wieder welche gekommen, diesmal mit Spezialgarde. Haben befohlen, dass jeder sofort die Sachen packen soll. Und als das nicht schnell genug passiert ist, haben die Gardisten alles plattgewalzt, was im Weg war, und jeden erschossen. Deine Mama wollte noch abhauen, aber sie ist verletzt. Wenn du einen Arzt organisieren kannst, kommt sie vielleicht durch.“

 Das war zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre! Wovon sollten wir einen Arzt bezahlen? Alles, was wir besaßen, war zusammen mit unserer Hütte platt gewalzt worden. Ich sah in den gestohlenen Geldbeutel.

 –„Meinst du, zwanzig Dollar reichen für einen Arzt?“

– „Für einen echten Arzt wohl kaum. Aber für einen der Heiler, die hier herumlaufen, vielleicht. Auf dem Sonnenplatz ist fast immer einer.“

 –„Hilfst du mir, die Mama dorthin zu bringen?“, bat ich.

–  „Versuchen wir’s! und nehmen die Kleine mit, die läuft so seltsam, mit der stimmt auch was nicht!“ Er deutete auf Charo. Dieses heulende Bündel Mensch neben mir hatte ich fast vergessen.

 Gemeinsam schafften wir es, Mama auf die Füße zu stellen. Doch sie blutete wahnsinnig stark. „Zieh dein Hemd aus!“, befahl der Mann. Ich tat es. Er band es fest um Mamas schwerste Wunde. Mamas Bluse war schon um eine andere gebunden.

 „Sara, du hilfst Charo!“, befahl ich. Der Mann und ich schleppten Mama durch die Gasse. Sara ging hinter uns her, Charo stützte sich auf sie.

 Es dauerte eine Ewigkeit, bis wir den Sonnenplatz erreichten. Der heißt so, weil er mitten in unserem Viertel liegt und die Gassen davon weggehen wie Strahlen. Normalerweise schaffe ich es von unserer Hütte bis dorthin in fünf Minuten.

 Am Sonnenplatz waren einige junge Männer, wohl Medizinstudenten, und einige alte Frauen schon in Aktion. Endlich fanden wir eine Frau, die uns nicht gleich wieder wegschickte. „Habt ihr Geld?“, war trotzdem die erste Frage. Ich schob ihr einen Zehn-Dollar-Schein hin.

 „Den hast du aber nicht von deiner Mutter, was? Wie lang machst du deine Finger, Bürschchen?“, sagte sie drohend.

 „Ist jetzt egal!“, sagte der Mann, der uns geholfen hatte. „Mach was, damit Juana wieder gesund wird!“

 Die Frau schüttete Schnaps auf ein dreckiges Taschentuch und wischte damit Mamas Wunden aus. Dann betastete sie Charo. „Bring ein Brett her für das Mädchen! Ich glaube, ihre Schulter ist gebrochen. Und ein paar Kiesel oder irgend etwas, was man auf die Wunden legen kann! Muss nur ordentlich das Blut zurückdrücken!“ Ich wühlte in meinen Hosentaschen. Tatsächlich, die Blechdose, mit der wir heute Fußball gespielt hatten, war noch drin. Das Brett besorgte ich von Charos Hütte. Normalerweise waren Bretter Mangelware, denn alles, was herumlag, wurde verbaut, aber noch hatte niemand die Reste der eingehauenen Tür mitgenommen. Da lagen auch ein paar Holzstücke, die man vielleicht statt Kieseln nützen konnte und sogar eine Bettdecke, die noch niemand mitgenommen hatte. Ich brachte sie der Heilerin.

 Die band damit Teile von Brettern um Charos Schulter und ihr Bein. Auch Mama wurde verbunden, aber die Heilerin machte uns nicht viel Hoffnung. „Könnt beten, dass sie es überlebt! Aber viel Hoffnung habe ich nicht.“

 Scheißkerle von der Garde, dachte ich. Frauen und Kinder umbringen, das könnt ihr! Nicht einmal die schlimmsten Banden im Viertel taten so etwas.

 

 Der Mann, der uns geholfen hatte, fragte: „Kann ich noch was für euch tun?“

 Ich schüttelte den Kopf. „Danke auf jeden Fall, wer immer du bist!

 „Ach ja, sag einfach Rafael zu mir! Ich bin einer der Leute, die für Padre Alfredo arbeiten. Den kennst du doch?“ Ich schüttelte wieder den Kopf.

 „Das ist der Pfarrer von Santo Tomás“, erklärte er mir. „Drüben, auf der anderen Seite der Carreterra Nacional, kennt ihn jeder. Ist so etwas wie der Engel der Armen, sagt man. Er hat viele Menschen in sein Pfarrhaus aufgenommen und hilft auch schon Mal, Ärzte zu finden oder bei den Behörden was zu erreichen. Wenn du willst, bring ich dich zu ihm.“

 „Nein danke!“, sagte ich. Die Pfarrer sind doch alle gleich, dachte ich mir. Jedes Mal, wenn die Garde zugeschlagen hatte, hatten Pfarrer uns Hilfe gebracht. Manche haben auch gesagt, man könnte sie fragen, wenn es Probleme gab, aber die meisten, die zu den Padres gingen, sind dann verpfiffen worden. Wenn es eng wird, halten sie genau so zum Staat wie alle anderen.

 Ich brachte Charo zu ihrer Hütte, wo ihr Bruder Ramón mit dem Aufräumen beschäftigt war. „Ich dank’ dir, Pedro!“, sagte er. „Bring deine Mama her! So lang niemand bei uns ist, kann sie hier liegen.“

Wir blieben bei der Hütte. Noch war Platz, um Mama hinzulegen. Aber die anderen Geschwister kamen langsam und es wurde immer enger. Gegen halb sieben kam ein stockbetrunkener Mann: Ernesto Vallecas, Ramóns und Charos Vater.

 Der brüllte sofort los: „Wo ist die Cati, diese Hure? Und warum steht noch kein Essen auf dem Tisch? Dieses Miststück!“ Dann sah er Mama. „Verschwinde, du Drecksau! Haben hier selber genug Kinder, genug Probleme!“ Er rüttelte sie, riss sie hoch und warf sie vor der Hütte auf dem Boden.

 „Siehst du nicht, dass sie nicht mehr kann, du versoffener Trottel?“, brüllte Ramón seinen Vater an. Der prügelte auf ihn los. Ich half Ramón, doch was nützte das gegen einen Erwachsenen, der überhaupt keine Hemmungen kannte? Schließlich musste ich Mama allein wegschleppen – Ramón wurde auf den Boden geschleudert, als er mir helfen wollte und Sara war zu schwach.

 Sara heulte und auch ich konnte nicht mehr. Wohin nur mit Mama? Wir versuchten es an mehreren Hütten, überall warf man uns hinaus. Schließlich legten wir uns zwischen zwei Hütten auf die Erde. Ich konnte nicht einschlafen, auch Sara nicht. Zum Glück war es noch trocken, obwohl längst Regenzeit sein müsste.

 Mitten in der Nacht, ich muss doch eingeschlafen sein, zerrte mich Sara am Arm. „Pedro, die Mama ist ganz kalt!“ So war es. Ich schrie auf. Der Mann aus der nächsten Hütte gab mir eine Ohrfeige, doch dann fand sich jemand, der nachschaute.

 „Sie ist tot, wirklich!“ An Schlafen war nun nicht mehr zu denken. Mama, tot! Die Gardisten, diese Schweine! Papa hatten sie wahrscheinlich umgebracht, und jetzt auch Mama! Wenn ich doch ein Gewehr hätte, ich würde sie alle erschießen! Und wenn ich selbst dabei draufgehen würde, scheißegal!

 

 Am Morgen tippte mich jemand an. Ramón! „Beileid, Pedro!“, sagte er. „Wenn du willst – ich geh ab jetzt mit dir, wohin du willst!“

 „Wohin soll ich noch gehen?“, sagte ich matt. „Es ist aus! Und du – dich brauchen deine Eltern und deine Geschwister!“

 „Ich hab heute nacht entschieden: Dir hab ich zu verdanken, dass Charo lebt. Und dann hat dich dieses Dreckschwein von einem Alten so behandelt! Er ist mit schuld, dass deine Mutter tot ist. Er hat Mama kaputt gemacht – sie lässt sich von fremden Männern ficken für ein paar Tausend Pesos, die er dann versäuft. Und jeden von uns verprügelt er jeden Tag, sogar Charo gestern noch. Nein, ich wollte schon lang weg, aber dann hab ich immer an Mama gedacht und an die Kleinen. Aber das war’s jetzt. Wenn du willst, hauen wir zusammen ab. Wir machen eine Bande auf!“

 „Zuerst müssen wir überlegen, wie wir Mama begraben.“

 „Auf dem Friedhof, wo Cecilia auch liegt, bei der Müllkippe. Wir graben ein Loch! Es wird uns schon wer helfen. Vielleicht können wir sogar das Geld für einen Pfarrer zusammenbetteln.“

 Cecilia war Ramóns ältere Schwester gewesen, die vor vier Jahren an einem bösen Husten gestorben war. Sie musste ohne Pfarrer beerdigt werden, da der Vater das Geld für den Pfarrer, das die Familie zusammengebracht hatte, versoffen hatte.

 Wir versuchten, Geld zu erbetteln und wurden oft verscheucht, aber schließlich bekam ich – und vor allem Sara, „das arme Kind ohne Eltern“ dann doch etwas – ein paar gekochte Bananen, ein Stück Maisfladen und ein paar Tausend-Peso-Scheine. Zwei Männer schleppten Mama zum „Friedhof“ und machten sich ans Graben. Ich ging zur nächsten Kirche, wo man mir sagte, „Der Pfarrer hat keine Zeit!“ Einer seiner Leute kam aber doch mit. Schon am Abend war die Beerdigung. Der Mann, kein Pfarrer, gab sich Mühe, das merkte ich, aber ich war unfähig, aufzupassen. Mama! Nie mehr würde sie uns anlächeln! Nie mehr von Papa erzählen! Nie mehr einen von uns in den Arm nehmen!

 Die Männer gruben das Loch wieder zu. Ich bedankte mich, gab einem ein paar Zigarettenstummel, die ich irgendwo aufgelesen hatte, einem anderen ein Stück Brot, selbstgestohlen.

 Nur Ramón blieb den Abend neben uns sitzen. Beim Mondschein zeigte er mir ein Messer: „Das hab ich letzte Nacht meinem Alten weggenommen. Ist Gold wert! Der wird schön blöd schauen!“

 „Du brauchst nicht hocken zu bleiben, wenn du nicht willst!“, sagte ich.

 „Ich will aber, Pedro! Ich lass dich nicht allein, mit der kleinen Sara. Je mehr wir sind, auf der Straße, desto stärker sind wir! Allein gehst du drauf und geh ich drauf! Und wieder nach Hause kann ich nicht. Ob mich die Garde umbringt oder der Alte, ist scheißegal, aber draußen hab ich ein paar Chancen, dass die Garde mich nicht erwischt.“

 Am nächsten Morgen ging ich weit, um Wasser zu holen. Soweit, dass ich das Wasser von der Müllkippe trank, war ich noch nicht. Die Flasche nahm ich zwar von dort, aber die konnte man ja ausspülen.

 

 Als die Flasche fast leer war, schnitt sich Ramón in den Arm und ließ das Blut in die Flasche fließen. „Hier, trink mein Blut und wir sind Brüder, wie bei den Indios!“, forderte er mich auf. „Deine Familie ist tot, meine im Arsch, also!“

 Ich schnitt mich ebenfalls und wir tranken unser Blut mit dem restlichen Wasser. Dann planten wir: Wir wollten vor zur Straße. Dort war zwar mit Polizei und Garde zu rechnen, aber auch mit Beute.

 Wir gingen durch die Gassen und kletterten durch ein Loch in der Bretterwand, die zwischen Landstraße und Slums lag.

 „Trennen!“, schlug ich vor. Ramón ging die Straße stadteinwärts in Richtung zu den Geschäften. Ich versuchte mein Glück in Richtung Aussichtspunkt, wo ein Restaurant war. Den Tag über gelang uns nichts, doch gegen Abend wurde es etwas besser. Vor allem Sara konnte Mitleid erregen und drei ganze Dollar zusammenbringen. Ich bekam nur knapp einen zusammen bis der Wächter, der uns schon dreimal verscheucht hatte, auf uns schoss. Wir rannten weg.

 Kurz vor dem Loch holte uns ein Junge ein. „Welche Bande?“, schrie er.

 „Keine!“, gab ich zurück. „Dann Geld her!“ brüllte er mich an und zog sein Messer. „Oder du machst mit! Und das Baby soll heim zur Mami!“

 Ich brauchte einige Zeit, um zu merken, dass er Sara meinte. Dann tauchten noch andere Jungen auf. Verdammt, jetzt war es mit mir auch aus! Doch – das konnte nicht sein! Da war Ramón in der Gruppe. „Leute! Das ist mein Bruder und das meine Schwester! Und wenn ihr ihnen was tut, dann müsst ihr erst mich umbringen!“, schrie er. Wie war Ramón in diese seltsame Gruppe gekommen? Egal. Wichtiger war, wie wir abhauen konnten. Die Jungen steckten die Köpfe zusammen. Ich zog Sara mit, doch Ramón lief hinter uns her.“

 „Bleibt da! Die tun uns nichts! Das ist die Schlangenbande, und zwei von denen stehen in Schuld bei mir! Wenn sie uns nehmen – um so besser die Chance, dass wir nicht krepieren!“

 „Und wenn nicht?“, fragte ich.

 „Sie nehmen uns, keine Angst!“

 Ich zitterte am ganzen Körper.

Wünsche

 Es war die Zeit der Siesta am Freitag. Der Patrón und seine Frau ruhten ebenso wie die meisten der Diener. Inés schlich sich die Treppe hinunter, ihre Reitstiefel in der Hand. Sie grinste: Den ersten Teilerfolg hatte sie schon. Am Vormittag war es ihr gelungen, bei einer Schießübung zusammen mit ihrem Bruder unbemerkt ihre Schreckschusspistole ins Fach zu legen und ihre Pistole für Schießübungen mitzunehmen. Sie öffnete die Haustür, zog die Stiefel an und ging zum Stall. Auch hier war niemand. Sie band ihren Rico los, legte ihm den Sattel auf und das Zaumzeug an und stieg auf. Sie ließ ihn Schritt gehen, damit man im Haus nichts hören konnte. Erst ab der Mitte des Parks ritt sie in gestrecktem Galopp. Sie betätigte den Toröffner und das Parktor sprang auf. Sie ritt weiter. Die Sonne brannte, aber sie war durch Helm, Jacke und Handschuhe geschützt. Kurz vor den Büschen ließ sie ihr Pferd langsamer traben. Im Buschwald musste sie sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, als schon jemand rief: „Herzlich willkommen, Señorita!“ Da standen Pancho und Pepe. Inés zog die Zügel an. Rico stand still und sie sprang ab. „Stellen Sie sich vor! Wir haben gestern richtig warmes Essen machen können, Dank Ihnen, Señorita!“, sagte Pepe. Er fiel auf die Knie und versuchte ungeschickt, Inés’ Hand zu küssen.

 „Fünf Dollar! Die Händler hier haben, glaube ich, noch nicht einmal einen gesehen! Für 50 Cent bekommt man schon fünf Tortillas, mit Gemüse gefüllt, beim fliegenden Händler. Wir haben ein richtiges Fest feiern können!“

 „50 Cent? Fünf gefüllte Tortillas? Das ist mehr als doppelt so viel wie in Traslidera!“, sagte Inés überrascht.

 „Echt?“, fragte Pancho. „Man kann in Traslidera mehr als – Moment – 20 Cent für eine Tortilla verlangen?“

 „Ja, echt! 30 bis 50 Cent in etwa, je nachdem, was drin ist!“

 Pancho schubste seinen Bruder. „He, Pepe, wenn der Mais reif ist, in zwei Wochen, geh ich hin! Die Bäcker dort brauchen sicher welchen. Und Gemüse, ist das dort auch teurer?“

 „Wahrscheinlich“, sagte Inés, die weder wusste, was Gemüse in Traslidera, noch, was es in San Benito kostete. Gemüseläden schrieben ihre Preise nicht so offen an wie Imbissbuden und den Einkauf für ihre Familie erledigte selbstverständlich das Personal.

 „Mann! Ich geh in die Stadt und werd' reich!“, jubelte Pancho. „Ich pack meine Sachen und geh!“
 „Zu Fuß? Das sind über 100 Kilometer!“, wunderte sich Inés.

 „Wenn’s sich lohnt! Die Mama wird sich freuen! Endlich wieder Geld im Haus!“

 „Wovon lebt ihr sonst? Was macht euer Vater?“

„Der ist weg – abgehauen. Und die Mama hat sechs Kinder zu versorgen, zwei davon brauchen noch Milch. Und deshalb, je eher ich weg kann, desto besser!“

 Inés öffnete ihre Umhängetasche. „Ich schreib’ euch meine Adresse in der Stadt auf. Wenn was ist. Ich mein’ es kann alles mögliche passieren...“

 „Ich kann nicht lesen!“, sagte Pancho.

 „Dann merk dir: Stadtteil El Refugio, Calle de la Luna 1. Geht das? – Warte, ich schreib’s dir auf. Lass es dir vorlesen, wenn du es brauchst.“

 „Señorita, Sie sind so gut zu uns! Schade, dass Sie noch nicht, die Herrin sind!“, sagte Pancho mit einer Verbeugung. „Dann müsste niemand gehen. Sie würden uns sicher immer genug Geld geben!“

 „Ich werde mit meinen Eltern reden, versprochen! Vielleicht gibt es mehr Geld für eure Eltern“, sagte Inés.

 Kurz nach vier ritt sie zurück und die Jungen liefen in Richtung des Dorfes, das die Indios Quetzual nannten. Als sie schon im Park war, hörte sie Schüsse. Sie erschrak: Was war nun los?

 

 Sie erfuhr es beim Abendessen. José hatte eine Narbe im Gesicht. „Einer von diesen Indios hat einen Stein auf mich geworfen, als ich mit Papa und dem Verwalter im Dorf war“, klagte er. „Selbstverständlich gab es eine Strafe!“ Er rieb sich die Hände.

 „Warum tut er so was?“, fragte Inés perplex.

 „Die machen sich mausig! Denen passt nicht, dass sie nicht mehr Geld kriegen. Sorry, aber wir wollen auch noch ein bisschen verdienen, nachdem wir sie bezahlt haben“, erklärte José.

 „Stimmt das, dass viele für 20 000 Pesos am Tag arbeiten müssen?“, fragte Inés.

 „Wo hast du das Märchen her?“, fragte ihr Vater zurück. Sie wurde rot.

 „Das war vielleicht vor Jahren so, als der Dollar noch unter 10 000 Pesos wert war“, erklärte er. „Aber jetzt nicht. Wir zahlen anständig. Und zum Dank dafür greifen sie meinen Sohn an.“

 „Ich hab welche gesehen! Die hungern, wirklich!“

 „Inés!“, schimpfte ihre Mutter. „Du warst nicht etwa mit denen zusammen? Und hast dir womöglich von ihnen Märchen erzählen lassen?“

 „Wer anständig arbeitet, hat genug“, fügte ihr Vater hinzu, „wer nicht arbeiten will, soll nicht essen, so steht es in der Bibel. Die meisten Leute, die hungern sind selbst schuld!“

 Wer nicht arbeiten will, soll nicht essen? Kinder, die jünger waren als sie, sollten arbeiten? Verflixt, wie konnte sie ihren Eltern erklären, was sie gehört hatte, ohne zuzugeben, dass sie mit dem „Abschaum“ gesprochen hatte?

 

 Der Samstag kam und Inés saß den ganzen Nachmittag mit Mónica, ihrer Kosmetikerin, im Zimmer. Die wusste auch wirklich tolle Frisuren. Auch im Schminken war sie unübertroffen. Als Inés sich im Galakleid und fertig hergerichtet im Spiegel sah, fand sie, dass sie aussah wie eine Prinzessin.

 Sie ging in den Speisesaal. Dort saßen schon ihre Eltern. Ihr Bruder kam später. Die Kosmetikerin hatte tatsächlich seine Narbe so überschminken können, dass man nichts mehr sah, aber kaum auffiel, dass er geschminkt war. Tolle Leistung!

 Inés wurde vom Warten kribbelig. Endlich, um halb acht, klopfte Carlos: „Der edle Direktor Don Domingo Fernández mit seiner Frau, Doña María de los Ángeles Estévez, seiner Tochter, Señorita Teresa und seinen Söhnen, Señorito Simón und Señorito Andrés, bittet um Einlass, Patrón.“ Der Vater nickte.

 Inés musste sich zusammenreißen, um nicht zu kichern. Teresa ‚Señorita’ zu nennen, das ging ja noch – schließlich sprachen die Bediensteten sie selbst, Inés, ja auch so an. Aber Teresas Brüder mit ihren fünf Jahren als ‚Señoritos’ zu bezeichnen, das war lächerlich!

 Don Domingo Fernández betrat den Saal, ein älterer, aber noch kräftiger Mann mit ausgeprägten Geheimratsecken und dickem Bauch. Er verbeugte sich, küsste Inés’ Mutter die Hand und ließ sich von ihrem Vater die Hand drücken. Danach küsste er Inés, die ihren Kopf vorstreckte, auf die Wangen – Handkuss von einem erwachsenen Mann, noch dazu einem Direktor, fand Inés etwas übertrieben. Auch Doña Mari Ángeles, wesentlich jünger und schlanker als ihr Mann, in einem dunkelblauen Kostüm, begrüßte Doña María Pilar mit Handkuss. Teresa knickste vor Inés Eltern, dann auch vor ihr selbst, doch kam Inés vor, als ob sie grinste. „Erheben Sie sich!“, befahl Inés, ebenfalls mit Grinsen. So hatte sie es bei ihrem Großvater gesehen, wenn er Generäle oder Gouverneure empfing. Die Freundinnen fielen sich in die Arme und küssten sich länger als das Protokoll vorsah. Doña Pilar sah ihre Tochter tadelnd an.

 Während des Essens kreisten die Gespräche um das Wetter, die ausbleibende Regenzeit, den Neubau der Staatsoper, der sich verzögerte, weil Geld fehlte. Alles Themen, die Inés nicht besonders interessierten. Die Fernández-Zwillinge wurden in ihrem Zimmer im Gästetrakt verpflegt. Inés und Teresa hielten sich beim Gespräch zurück, außer sie wurden angesprochen, so wie es sich gehörte.

 Beim Thema des Neubaus der Staatsoper entging Inés’ aufmerksamen Augen aber nicht, wie ihre Mutter ganz leicht mit der Hand abwinkte, als Don Domingo den Neubau als „viel zu groß angelegt“ bezeichnete. Sofort ging Teresas Vater daraufhin dazu über, Essen und Wein zu loben.

 

 Beim Kaffee aber hielten sich die Männer, die beide kräftig dem Wein zugesprochen hatten, nicht mehr zurück: „Stimmt es, Don Domingo, was man vom Straßenneubau erzählt?“, fragte Inés’ Vater.

 „Sie meinen die letzte Heldentat der Garde? Es stimmt leider, Don Manuel. Der Präsident wollte unbedingt...

 Doña Pilar unterbrach: „Ich glaube, es ist Zeit, dass die Mädchen ins Bett kommen.“

 – ‚Wieso das plötzlich?’, dachte Inés. Es war noch nicht einmal neun Uhr. Doch ihre Mutter ließ sich nicht erweichen.

 

 Am nächsten Tag ging es gemeinsam mit den Gästen in die Kirche. Natürlich sahen die Bediensteten und die Dorfbewohner genau hin, wer mit den Herrschaften in die Loge über dem Kirchenschiff stieg.

. Während die Mädchen nach dem Gottesdienst auf den Tennisplatz liefen, sperrte Don Manuel sich in sein Büro ein. „Ich will nicht gestört werden! Von niemandem!“, verkündete er. Das war Inés und Teresa egal; sie kümmerten sich um nichts als um das Spiel. Jede hatte einen Satz gewonnen, als sie sich zum Mittagessen umzogen.

Inés wollte am Nachmittag mit Teresa ausreiten, um ihr die Finca zu zeigen, doch die lehnte ab: „Tut mir Leid, Inés, aber heute fangen die neuen Folgen von „Isaura“ mit Roberto Gúzman an. Das kann ich nicht verpassen, sorry.“

Doch es gab noch etwas anderes, das Inés Sorgen machte: „Kannst du dir vorstellen, was gestern los war?“, fragte sie Teresa. „Warum haben sie uns so früh ins Bett geschickt?“

 „Mama schickt mich oft ins Bett, wenn das Wort ‚Garde’ fällt“, antwortete Teresa. „Papa manchmal auch, außer er ist zu betrunken oder er zu wütend. Ich glaub’, Papa ist nicht mit allem glücklich, was die Garde macht. Aber wenn ich ihn frage, gibt er nie eine Antwort.“

 Inés hatte von ihren Eltern gehört und in der Schule gelernt, dass die Garde gegen Verbrecher vorging, wenn die Polizei es nicht mehr schaffte. Was genau dann passierte, wusste sie nicht.

 

 Auch Inés schwärmte für Roberto Gúzman, den gut aussehenden Schauspieler aus Esperanza, doch Teresas Verehrung für ihn grenzte an eine Religion. Ihr Zimmer war beinahe mit seinen Bildern tapeziert und sie besaß Ordner voller Informationen über ihn.

 So sahen Inés und Teresa auf Inés’ Fernseher die Neuauflage der Serie „Isaura“ mit Roberto Gúzman als Señorito Jerónimo und Anastasia Rodríguez als Dienerin Isaura. Wieder einmal rettete Jerónimo Isaura vor den Nachstellungen seines bösen Bruders. Jeder Zuschauer wusste inzwischen, dass der so gut wie nie die Wahrheit sagte, doch Don Luis, der naive Vater und Gutsherr im Film, fiel immer wieder auf seinen älteren Sohn herein. Die Handlung interessierte Inés und Teresa, so wie viele Mädchen, aber ohnehin nur am Rande.

 „Oh, Inés, für Roberto sterb’ ich!“ schwelgte Teresa. „Wenn ich ihn doch nur einmal live erleben könnte!“

 Inés ließ die Schwärmerei über sich ergehen. Zu oft hatte sie selbst für Schauspieler geschwärmt, zu oft erlebt, wie schüchtern und hässlich sie in Wirklichkeit waren; wenn ihr Großvater, der Präsident, sie empfing, durfte sie gelegentlich dabei sein. Vielleicht war Roberto wirklich anders, sie glaubte aber nicht.

 

 Am Montagmorgen reisten zunächst Teresas Eltern und Brüder ab, die Verwandte besuchen wollten, danach fuhr auch Don Manuel weg. Zu seinen Kindern sagte er nur, er müsse dringend ins Büro. Teresa war nun Feuer und Flamme für einen Ritt um die Finca. Sie liebte das Reiten mindestens so sehr wie Inés und sah auf den großen Feldern rings um das Gut San Benito eine gute Möglichkeit dazu. Ein Pferd für sie, eine prächtige, gescheckte Stute namens Venecia, war schnell gefunden.

Die Mädchen kamen in das Dorf Quetzual, in dem Pancho und Pepe lebten. Das Dorf wirkte wie ausgestorben – vermutlich waren die meisten Männer bei der Arbeit. Doch auch die Kinder verschwanden in ihre Hütten, als Inés und Teresa näher kamen. Inés wunderte sich: Normalerweise drängten sich die Bewohner der Dörfer um die Herrschaften, wenn die durchritten, vor allem, wenn Gäste dabei waren.

 Auch Teresa entging das nicht: „Was ist denn los? Haben die Angst vor dir?“, fragte sie. – „Eigentlich nicht. – keine Ahnung, obwohl...“ Sie erzählte, dass José angegriffen worden war und es Schüsse gegeben hatte. Sie erzählte auch vom Erlebnis mit Pancho und Pepe. Teresa taten die beiden Jungen genau so leid wie ihr selbst.

 Die Mädchen ritten vom Weg ab und hinauf zum Ewigen Baum. Weit ins Gebüsch konnte man nicht reiten, doch Teresa fiel etwas auf: „Warum werfen sie Messer auf den Baum?“ Tatsächlich steckte ein Messer in Höhe der knapp mannshohen Büsche. Außerdem lagen zwischen zwei Büschen einige Steine sauber aufgereiht und darüber waren die Zweige teilweise niedergetreten. „Seltsam“, sagte Inés. „Ich schau mir das `mal an!“ Mit diesen Worten sprang sie vom Pferd.

 „Pass lieber auf“, warnte Teresa, „schau, die Pferde werden auch unruhig.“ Obwohl sie richtig beobachtet hatte, siegte auch bei ihr die Neugier.

 An den „Ewigen Baum“ war ein Bild von Inés’ Vater und ihrem Bruder gehängt – es war mit Kohle gemalt, aber die Gesichter deutlich erkennbar. Außerdem standen darunter die Namen, wenn auch ungelenk geschrieben. Direkt über dem Bild steckte das Messer im Baum, unter das Bild waren Messer und rote Spritzer gemalt.

 „Du meine Güte!“, rief Teresa.

 Inés’ Herz klopfte. „Lass uns lieber abhauen!“ Ein Knacken war zu hören und die Pferde wieherten.

 Kaum saßen die Freundinnen wieder auf den Pferden, ritten ihnen zwei bewaffnete Wächter entgegen. „Endlich finden wie Sie!“, sagte der eine. „Wir sollen Sie begleiten, Señoritas. Befehl der Herrin. Der Señorito ist am Freitag angegriffen worden, die Kollegen mussten schießen, um ihn zu verteidigen, da ist es gefährlich, wenn Sie allein hier herunter reiten. Wir haben Informationen, dass die Arbeiter sich rächen wollen.“

 „Warum? Mein Bruder hat doch hoffentlich niemand erschießen lassen?“

 „Es ging nicht anders, Señorita! Was hätten wir machen sollen? Zwanzig gegen fünf waren sie und plötzlich sind Steine geflogen!“

 „Und ihr hattet Gewehre! Da reicht es, auf einen zu schießen, dann geben die anderen auf.“

 „Señorita, wenn Sie selbst angegriffen werden, reden Sie anders.“

 

 Inés war nicht überzeugt und nahm sich vor, ihren Bruder zur Rede zu stellen. Der sagte Ähnliches wie der Wächter. „Inés, ich bin kein Mörder! Aber ich hatte Angst. Wenn die mit Steinen nach mir werfen, was hätte ich tun sollen? Ich wollte sie nicht erschießen lassen und so haben wir zuerst Warnschüsse abgegeben. Dann aber kamen Steine von hinten geflogen und ich hatte echt Angst um mein Leben. Und dann haben wir die Wachen gerufen. Leider haben sie erst Ruhe gegeben, als die ersten tot waren. Glaub mir, uns wäre es anders lieber gewesen.“

 Natürlich, wenn sie angegriffen worden wäre, dann wäre sie auch froh um die Wachen gewesen. Aber warum griffen die Arbeiter an, wenn es doch so offensichtlich aussichtslos war?

 

 Inés versuchte, den Vorfall zu vergessen und die Woche zu genießen. Zwischen Tennis, Schwimmen, Reiten und „Isaura“ gelang das auch einigermaßen. Schon ab Wochenmitte ließen die Wachen ihr auch außerhalb des ummauerten Bezirks mehr Freiheiten und die Dorfbewohner benahmen sich wieder normal. Nur gelang es ihr nicht, mehr über den Vorfall herauszufinden. Als sie einen Mann auf den „Ewigen Baum“ ansprach, erschrak der und gab sich ahnungslos.

 Don Manuel ließ sich erst am Wochenende wieder auf der Finca blicken und war noch wortkärger als in der Woche zuvor. An jenem Sonntag kamen Teresas Eltern zum Kaffee und holten ihre Tochter ab. Auch Inés fuhr mit Eltern und Bruder zurück in die Stadt. Zwar waren noch fast drei Wochen Ferien, aber der Nationalfeiertag stand an und da musste Inés mit ihren Eltern in der Ehrenloge sitzen.

 

 Sie ließ die Veranstaltung, wie die Parade, an sich vorüberziehen. Es kam ihr vor, als ob jedes Jahr mehr Soldaten mit schärferen Waffen dort standen. Dafür war die Rede ihres Vaters wohl jedes Jahr dieselbe: Er lobte den Präsidenten, die Armee, die fleißigen Bürger. Er hoffte, dass die „unerfreulichen Einzelfälle von Gewalt noch weniger werden und die sonstigen Probleme unserer Stadt gelöst werden können.“ Die Militärkapelle spielte die Nationalhymne und dann war der offizielle Teil auch schon zuende.

 Den Nachmittag verbrachte die Familie zu Hause. Inés schaute sich wieder ihre geliebte „Isaura“ an. Während der Sendung hörte sie plötzlich ein Geräusch an der Tür. Sie öffnete und sah Isabel draußen stehen, das neue Dienstmädchen, eine Fünfzehnjährige mit einer relativ kurzen Lockenfrisur, die sich gerade noch gefangen hatte, bevor sie in den Raum gestürzt wäre.

 „Was soll das? Was willst du? Hier gibt’s nichts auszuhorchen! Das ist nur der Fernseher, den du hier hörst.“

 „Señorita, bei Gott und allen Heiligen, ich wollte Sie nicht aushorchen! Ich wollte...“ Ihr Kopf wurde rot.

 „Sag mir, was los ist, oder ich sag’s meinem Vater! Ich hab dich nicht gerufen und mein Bruder wohnt dort drüben! Ich mag es nicht, wenn man an meiner Tür horcht.“

 Isabel fiel auf die Knie. „Ich wollte... Señorita, bitte verzeihen Sie und sagen Sie nichts dem Patrón! Ich... ich habe die Treppe gekehrt, da habe ich gehört, dass bei Ihnen der Fernseher läuft. Und die Stimme von...“

 „...Roberto Guzmán gehört, stimmt’s oder hab ich Recht?“ Isabel wurde wieder rot. „Dann komm rein, dann siehst du mehr!“

 „Señorita, das geht nicht! Ich muss die Treppe fertig machen. Wenn mich jemand erwischt, dann ist der Teufel los!“

 „Wenn du mich schon Señorita nennst: Komm rein, das ist ein Befehl! Hier drin gibt’s genug sauber zu machen. Staub von mir aus die Regale ab und wenn jemand kommt, sag ich, ich habe es dir angeschafft. Und jetzt Ruhe, sonst verpass’ ich die Hälfte!“

 Inés wusste, dass das, was sie gerade tat, jedem Protokoll widersprach. Aber irgendwie war dieses Mädchen etwas Besonderes. Die anderen Bediensteten verhielten sich irgendwie wie Maschinen und das einzige, was sie je sagten, war ‚Jawohl’ oder ‚Bitte, Señor/-a/-ita/-ito!’ Diese hier war die erste, die Inés als Mensch wahrnahm – als Mensch, der den gleichen Mädchenschwarm verehrte wie sie und ihre Freundinnen.

 Isabel gehorchte dem Befehl sehr freudig, wie Inés erkannte. Sie riss sich zusammen, damit sie trotz des großen Stars zum Abstauben kam.

 

 Am nächsten Tag kam Isabel ganz offiziell zu Inés: „Señorita, die verehrte Señorita Carolina Roldán Álvarez bittet um Einlass“, meldete sie mit perfektem Knicks.

 „Soll reinkommen, danke!“, sagte Inés und stand auf. Carol, ihre zweitbeste Freundin, ein eher kleines Mädchen im blauen Kostüm und mit blonden Strähnen in den künstlich geglätteten Haaren, kam herein und umarmte sie.

 „Hältst du jetzt schon Hof wie eine Prinzessin? Naja, bist ja auch eine. Muss ich ab jetzt im Galakleid erscheinen und ‚Exzellenz’ zu dir sagen, wenn ich dich besuche?“

 Inés grinste. „Nein! Isabel kennt nur noch nicht den Unterschied zwischen offiziellen Besuchern und Freunden. Lassen wir’s: Was treibst du so?“

 „Naja, das Übliche. Wir sind auch am Sonntag heimgekommen und heute ist meine Mutter bei einer Freundin in der Nähe zum Kaffee und da dachte ich mir, lass ich mich mitnehmen und schau mal bei dir vorbei. Hast hoffentlich nichts dagegen?“

 „Nein, ich hab nur gedacht – normalerweise rufst du doch immer vorher an?“

 „Stimmt, ich bin ja nicht die Favoritin, die eine ganze Woche zur Prinzessin aufs Landgut darf. Aber ich hoffe, du hast trotzdem einen Termin für mich frei. Immerhin: Danke, dass ihr an mich gedacht und mir geschrieben habt, wenn ihr mir schon nichts vorher erzählt habt!“

 So nett Carol sonst war, aber ihre Eifersucht war schrecklich. Sie zählte jede Minute, die Inés mehr mit Teresa verbrachte als mit ihr, jeden Kilometer, den sie mehr ritten, sie hatte sogar gelästert, weil Inés Teresas Freundschaftsring rechts, ihren dagegen links trug.

 „Du, ich hab selber bis vor zwei Wochen nicht gewusst, dass Teresa kommt. Unsere Väter hatten irgendetwas zu besprechen und dann durfte sie eben mit.“

 „Das sollte mir mal passieren! Und dabei liegt unser Gut doch nahe bei eurem.“

 „Hättest dich ja mal rühren können. Hätte sich sicher was arrangieren lassen. Aber lassen wir das! Hast du Lust auf ein paar Partien Dame?“

 Inés und Carol saßen den ganzen Nachmittag zusammen, schauten die geliebte „Isaura“ an, spazierten durch den Park und tranken Kaffee. Wenn es um „Isaura“ ging, war Carol sogar die angenehmere Gesprächspartnerin als Teresa, denn sie lästerte auch ganz gern über allzu absehbare Handlungen ab, während Teresa jede Kritik an „ihrem“ Roberto als schwere Beleidigung empfand.

 

 Während der Woche traf ein Brief ihres Großvaters, des Präsidenten, ein, in dem er sie nach Geburtstagswünschen fragte. Am selben Abend wählte sie seine Privatnummer. Ein Diener meldete sich und fragte nach ihren Wünschen.

 „Inés García Masquiero, die Enkelin des Präsidenten. Ich will meinen Großvater sprechen.“

 Der Diener wurde grob: „Ich glaube nicht, dass seine Exzellenz Sinn für diese Art Humor hat. Mach deine Späße woanders!“

– Was bildete der sich ein? Wer konnte einen Telefonscherz beim Präsidenten machen, dessen Privatnummer sich aus Sicherheitsgründen alle vier Wochen änderte? –Gut, der Stoffel sollte sein Fett wegbekommen. Nun bloß sicher auftreten, wie es sich für die Enkelin des Präsidenten gehörte! „Hör zu, Mann! Ich bin seine Enkelin Inés, was er bestätigen wird, wenn du durchstellst. Und wenn du es nicht tust, werde ich ihm melden lassen, was für unhöfliche Diener er hat!“

 Der Diener stellte durch und zwei Sekunden später hörte Inés die tiefe, ruhige Stimme ihres Großvaters. Sie grinste in sich hinein. Das Zittern dieses Flegels von einem Diener konnte sie sich gut vorstellen.

 „Hallo Großvater! Danke für den Brief. Ich wollte – ja, sagen, dass ich mich freue, dass Sie kommen und – meinen Wunsch ausdrücken: Können Sie machen, dass... dass Roberto Guzmán zu meiner Party kommt?“

 Inés hörte ein leises Lachen. „Sieh an, meine Enkelin gehört auch zur Herde Guzmáns. Nun ja, ich werde sehen, was sich machen lässt. Glücklich wird er nicht sein, wenn ich eine Horde Mädchen auf ihn hetze.“

"Sie können sicher. Was Sie sagen, ist doch Gesetz!“

 „Du redest wie dein Vater! So einfach ist das auch nicht. Ich werde es versuchen, du hörst von mir!“ Inés hatte sich schon mehrmals gefragt, ob es ein Kompliment oder das Gegenteil war, wenn er sie in letzter Zeit immer öfter mit ihrem Vater verglich. Doch sie traute sich nicht, ihn zu fragen. Der Großvater fragte nach ihren Ferienerlebnissen. Inés erzählte ihm Unverbindliches. Von Pancho und Pepe und ihrem Fund beim Ewigen Baum sagte sie nichts. Der Großvater legte größten Wert darauf, dass die Familie sich standesgemäß verhielt.

 Inés rieb sich die Hände. Das würde eine Überraschung! Aber wenn José zu seinem vierzehnten Geburtstag fünf Fußballnationalspieler hatte einladen können, warum sollte sie dann nicht den bestaussehenden Schauspieler des Landes einladen?

 

 Einige Tage später bat Don Manuel Inés in sein Arbeitszimmer. „Wie kommst du auf die Idee, dass Don Domingo und ich in San Benito etwas Wichtiges zu besprechen hatten?“

„Wie... Woher weißt du das?“

„Carolina muss Teresa darauf angesprochen haben. Die hat es jedenfalls ihrem Vater erzählt und der hat es mir erzählt. Du täuschst dich: Wir wollten euch überraschen. Wir wissen beide, wie eng ihr miteinander seid und dachten, ihr würdet euch freuen. Gleichzeitig wollten wir mit euch das Verhalten in Gesellschaft üben. Das ist alles. Zwischen Don Domingo und mir läuft sonst nichts.“

 Inés nickte. Dann aber fiel ihr etwas ein. „Wenn das so war: Warum hat uns Mama dann noch beim Kaffee ins Bett geschickt? Und was hattet ihr am Sonntag zu besprechen?“

„Es ist später geworden als wir dachten. Und am Sonntag ... nun ja. – Und überhaupt: Wie kommt dieses Roldán-Mädchen dazu, dir Vorwürfe zu machen? Es ist deine Sache, wen du einlädst und wen nicht, höchstens noch unsere.“

 Inés merkte den Ablenkungsversuch. „Papa“, fragte sie. „Warum darf niemand wissen, dass du und Don Domingo Freunde seid? Bei Teresa und mir wissen es ja auch alle.“

 Der Vater holte tief Luft. „Liebe Tochter“, sagte er dann. „Es wäre kein Problem, wenn Don Domingo und ich gemeinsam Fernsehen schauen oder Schach spielen oder einen guten Tropfen trinken würden. Das tun wir alles manchmal auch, aber in letzter Zeit haben wir – und merk dir das gut! – oft Dinge zu bereden, die besser nicht jeder erfährt. Es ist besser, wenn die Leute glauben, dass Don Domingo nur kommt, um Teresa zu bringen und abzuholen.“

 „Was für Dinge sind das, die ihr beredet?“
 „Dinge, die du nicht verstehst. Und wie gesagt: Je weniger davon wissen, desto besser. Du und Teresa, von mir aus auch du und Carolina, ihr habt doch auch Geheimnisse miteinander, die du mir nicht erzählst? Und wir auch. Punkt."

Wohl oder übel musste Inés sich fügen, aber sie nahm sich vor, herauszufinden, was ihr und Teresas Vater verbargen.

 

Kindergärtner

Die Jungen steckten die Köpfe zusammen. Dann sagte einer: „Der Junge sieht ja nicht schlecht aus. Aber das Baby daneben?“

 „Das ‚Baby’ ist eine Geheimwaffe. Sie hat mehr Geld eingesammelt als ich!“, sagte ich. Ich war sauer. Niemand außer mir durfte Sara „Baby“ nennen!

 „Gut, dann: Zwanzig Dollar bringt jeder in der nächsten Woche her! Einstandsgebühr, ist bei allen Neuen so. Wie ihr dazu kommt, ist egal. Nur wenn euch die Grünen erwischen, dann ist es halt euer Pech. Gilt auch für dich – Hund!“, sagte er zu Ramón.

 „Damit wir klar sehen: zwanzig pro Schnauze!“, sagte ein anderer. „Treffpunkt am nächsten Freitag um fünf, wieder hier. Und dann sehen wir, was ihr geholt habt.“

 

 Die Bande verzog sich. „Na Klasse, das hast du sauber hingekriegt“ sagte ich zu Ramón und schaute ihn böse an.

 „Mann! Was Besseres kann uns nicht passieren! In einer Woche zwanzig Dollar, das ist ja wohl zu machen! Und nächste Woche ist Nationalfeiertag, da gibt’s so ein Gedränge und alle sind besoffen, da können wir leicht mal `ne Geldtasche mitnehmen. Wenn wir bis dahin drin sind, werden wir reich.“

 „Und die Garde passt da natürlich überhaupt nicht auf! Mann, wie blöd bist du denn?“

 „Klar kann es uns passieren, dass uns die Garde schnappt. Aber wenn wir einmal in der Bande sind, ist’s viel weniger gefährlich! Also überlegen wir mal: In der Innenstadt legen sie dich um, wenn du bettelst. Also bei den Parkplätzen, bei Fußballspielen, bei Stierkämpfen und wo halt Touris sind – und wo sie nicht schnell von hinten mit der Giftspritze kommen und tun können, wie wenn du dich tot gesoffen hättest.“

 

 Solche Plätze suchten wir uns in der nächsten Woche und fanden sie auch: Vor den Geschäften, vor dem Stadion, manchmal auch in der Innenstadt – vor allem Sara wurde selbst von Gardisten fast freundlich angesprochen.

 Ich schaffte es in dieser Woche auch, ein Messer zu stehlen. Das erste Mal brauchen konnte ich es, als ich ein Bonzenmädchen allein vor einem Schuhgeschäft sah. Die Leibwächter, wenn sie welche hatte, hatten sich verdrückt, und als ich ihr das Messer an den Hals hielt, gab sie mir ihre Halskette und ihren Geldbeutel mit immerhin 25 Dollar. Die Halskette wollte ich bei einem Händler versilbern. Der erste drohte mit der Polizei, zwei andere wollten nur in Pesos zahlen. Sara bekam es schon mit der Angst, dass die Polizei oder die Garde hinter uns her sein könnte, als wir endlich Erfolg hatten: 21 Dollar gab es von einem Händler, der bei weitem billigere Ketten um den doppelten Preis verkaufte. Aber zusammen mit Saras Betteleinnahmen reichte das auf jeden Fall.

 

 Wir wurden aufgenommen und ich erfuhr die Namen der anderen. Das heißt, die meisten sagten nur die Spitznamen. Saras Erfolge hatten einige gesehen. Deshalb schlug einer vor: „Das Mädel ist unsere Geheimwaffe. Wir taufen dich auf den Namen ‚Secreta’!“ Kaum gesagt, schüttete er ihr eine Flasche mit schmutzigem Wasser über den Kopf.

 Mein Name wurde Niñero, Kindergärtner. Nicht gerade ein Traumname, aber ich hatte keine Chance, zu protestieren. Auf Ramón, der auf ‚Perro’, Hund, getauft wurde, war ich trotzdem neidisch.

 Kopf der Bande war ein großer, dünner Junge mit dem Spitznamen „Cerebro“, Gehirn. Es gab zwar Stärkere unter den anderen, vor allem „Diablo“, Teufel und „Puñierro“, eine Abkürzung für Puño de Hierro, Eisenfaust, die so etwas wie seine Leibwächter waren, doch alle gehorchten ihm. Wir merkten schnell, warum: Er wusste fast alles über die Stadt, wusste, wo die Reviere anderer Banden waren, wo es gutes Geld zu holen gab, wo mit Polizei und Garde zu rechnen war und so weiter.

 Jeden Abend, wenn wir die Beute aufteilten, gingen wir an einen Platz, den meistens Cerebro aussuchte und hielten „Schule“. Mal erzählte Cerebro etwas über Reviere, Banden, Tabus oder Tricks, mal brachte uns Diablo einige Kampftricks bei, mit denen man selbst stärkere Gegner k.o. schlagen konnte, mal übten wir, unbemerkt Geld aus fremden Taschen zu stehlen oder Frauenhandtaschen abzuschneiden, mal brachte uns Zorro, der Fuchs, bei, wie man Personen einschätzte und wie man am besten auf Mitleid machte.

 Diese Schule war ganz anders als die, in die mich Mama geschickt hatte: Was man hier lernte, konnte man brauchen, um zurecht zu kommen. Es war wichtig zu wissen, dass es auch auf der Straße Gesetze gab. „Wir sind ein kleiner Staat, merkt euch das, Chicos“, sagte Cerebro manchmal. „Wir führen Kriege, schließen Verträge, haben Gesetze und bestrafen die, die sich nicht daran halten.“

 Zu diesen Gesetzen gehörte: Alles, was man einnimmt, muss man dem Chef vorlegen, normalerweise werden zwei Drittel aufgeteilt, ein Drittel darf man behalten; in Reviere anderer Banden geht man nicht, außer es ist Krieg oder der Chef der anderen Bande erlaubt es. Wer bei einem Kampf aufgibt, wird nicht weiter verprügelt. Man gibt nicht zum Schein auf.. Man kämpft nicht innerhalb der eigenen Bande und gegen andere Banden nur dann, wenn die das Gebiet verletzen oder Krieg erklärt ist. Das Tabakgeschäft der ‚Malú’ lässt man in Ruhe.“

 Malú war eine alte Witwe, in deren Laden und Hütte sich manche vor der Garde oder fremden Banden verstecken konnten. Fast alle Banden waren sich einig, ihr nichts zu tun und nicht einmal bei ihr versteckte Mitglieder feindlicher Banden anzugreifen, wenn Krieg war.

 

 Das Hauptproblem für uns war es, Schlafplätze zu finden, da die Regenzeit begann. Die gab es unter Brücken, oder in Toreingängen, doch nicht alle waren gut – zweimal wachte ich mitten in der Nacht tropfnass auf. Ende September machten Ramón und Zorro eine Hütte ausfindig, in der nur eine alte Frau wohnte. Wir warteten, bis sie kam, dann hielt ihr Ramón das Messer an den Hals. „So, Oma, deine Hütte gehört jetzt uns. Und du haust ab!“ Die Frau heulte; offenbar wusste sie niemand, der ihr helfen konnte. Schwerfällig ging sie auf die Straße.

 Es war das erste Mal, seit ich in der Bande war, dass ich so etwas wie ein schlechtes Gewissen bekam. Die Menschen, die wir bisher bestohlen hatten, waren reich oder zumindest nicht arm gewesen. Niemand von ihnen verhungerte, weil wir ihm etwas weggenommen hatten und wir brauchten unsere Beute zum Leben. Diese Frau aber hatte jetzt sicher nichts mehr.

 Ich sprach Ramón darauf an. Der lachte nur. „So ist das im Leben! Der Stärkere setzt sich durch. Mein Alter, wenn er Mal Arbeit hatte, ist von seinen Chefs fertig gemacht worden, dann hat er sich besoffen und die Mama verprügelt oder uns, und die Mama hat sich von ihm zwingen lassen, als Nutte zu arbeiten, aber uns hat sie wegen jeder Kleinigkeit verdroschen. Und jetzt genieß ich es, dass ich es bin, der bestimmt – und dass ich mich auf die Bande verlassen kann.“

 

 Klar, auf die Bande war Verlass. Aber meine Familie war auch gut gewesen. Papa hatte Mama nie geschlagen, zumindest konnte ich mich nicht erinnern, und mich auch nur einmal. Und Mama hatte, nachdem sie ihn abgeholt hatten, zwar gesoffen und ihre nichtsnutzigen Lover gehabt, aber uns trotzdem meistens gut behandelt. Nicht einmal die Lover selbst hatten sich aufgeführt, als ob sie als die Stärkeren alles dürften.

 

 Mit oder ohne schlechtes Gewissen: Die Hütte war wasserdicht, besser als die Hütte, in der wir mit Mama gelebt hatten. Platz war für fünf bis sechs Leute. Es gab sogar einen Schlüssel. Im Lauf der nächsten Woche holten wir ein paar Matratzen von der Müllkippe. Es war fast gemütlich in dieser Hütte und nicht ausgeschlossen, dass sie über die ganze Regenzeit hielt.

 

 Drei Tage später versammelte Cerebro nach der Schule die ganze Bande. „Compañeros! Gute Neuigkeiten: Wir haben Burgfrieden ausgehandelt mit den ‚Löwen’, den ‚Tigern’ und den ‚Wölfen’. Bei der Unabhängigkeitsfeier gibt es freie Bahn, wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Das heißt: Wir müssen uns die Plätze sichern, wo das größte Gedränge ist, auch nach den Reden. Ich weiß zuverlässig, dass der Bürgermeister Freibier und Freischnaps ausgibt. Besoffene sind leichte Beute. Für euch ist Alkohol tabu, dass das klar ist! Und passt ja auf, die Garde und die Geheimpolizei tun es auch!“

 Ich war noch nie bei einer Unabhängigkeitsfeier gewesen. Viele Erwachsene und ältere Jugendliche betranken sich dort, und der Bürgermeister würde reden, das war alles, was ich wusste.

 „Also, Einsatzplan: Zweiergruppen, immer in Sichtweite bleiben. Kuckucksruf heißt: Abhauen, zweimal Kuckucksruf heißt Herkommen, klar? Jeder Neue wird von einem Erfahrenen begleitet. Also – Zorro und Perro, Puñodierro, du nimmst Secreta, du schlägst auch mal allein jemand zusammen, wenn’s nötig ist, und Uniojo mit Niñero, klar!“, kommandierte Cerebro.

 Mit Uniojo, Einauge, hatte ich bisher nie gesprochen. Ein kräftiger Bursche, der von der Garde schon einiges abbekommen, unter anderem sein rechtes Auge und einige Zähne verloren hatte, aber immer wieder entkommen war.

 

 Wir gingen also zur Unabhängigkeitsfeier. Sie fand am Rand der Innenstadt, auf der Plaza Presidente Masquiero, einem riesigen Platz, den die Stadt vor drei Jahren erst angelegt hatte, statt. Militär, Polizei und Garde marschierte auf dem Platz auf, das Volk stand dicht gedrängt am Rand. Schon nach fünf Minuten hatte ich den ersten Geldbeutel, nach einer halben Stunde den zweiten. Das wäre aber beinahe böse ausgegangen: Der Besitzer hatte etwas gemerkt und rannte hinter mir her; wenn Einauge ihm nicht im richtigen Moment ein Bein gestellt hätte, wäre es danebengegangen.

 Ein bisschen bekam ich von der Rede des Bürgermeisters mit. „...ich danke der Armee, der Polizei und der Garde, die den Frieden im Land und in der Stadt sichert; wenn es auch einige unerfreuliche Einzelfälle von Gewalt gegeben hat, so darf man doch hoffen, dass das Land weiter auf dem Weg zu einer friedlichen und gerechten Gesellschaft voranschreitet.“

 „So ein Arschloch!“, sagte ich zu Uniojo. „Einzelfälle, von wegen! Die schlachten ganze Stadtviertel ab und...“ – „Halt’s Maul, Mann! Überall Geheimpolizei!“, zischte der mir zu.

 Der Bürgermeister setzte sich wieder. „Ha! Richtig nette Familie!“, kommentierte Uniojo. „Siehst du seine Tochter? Lass sie zwei, drei Jahre älter werden und das wird `ne richtig scharfe Braut.“ – Das stimmte, das Mädchen sah wirklich sehr gut aus.

 „Aber die wird wohl kaum für jemand wie uns zu haben sein!“, seufzte ich.

 „Aber schauen wird man doch noch dürfen! Achtung, Streife!“ Wir verhielten uns ruhig und die Gardisten gingen weiter. Trotzdem merkten wir, dass man gut aufpassen musste.

 

 Alles in allem war der Tag so erfolgreich, wie Cerebro gedacht hatte. Fast jeder hatte dreißig Dollar oder mehr erbeutet. Nur Gato war geschnappt worden. Diablo, der mit ihm unterwegs war, erzählte, dass er noch versucht hatte, ihn zu befreien, aber gegen fünf Gardisten keine Chance hatte.

 „Hoffentlich hält Gato dicht!“, war Cerebros einziger Kommentar. „Oder sie hacken ihn gleich klein und verfüttern ihn an ihre Köter, ohne ihn zu foltern!“

 Ich zuckte zusammen. Uniojo hatte das gemerkt. „Leider nicht übertrieben. Wer zur Garde kommt, wird darauf dressiert, in einem Straßenkind nur ein Stück Scheiße zu sehen oder einen Wurm, den man zertreten muss.“

 Ich war mit Gato nicht gerade befreundet, kannte ihn kaum, aber über so brutale Aussichten war ich trotzdem traurig.

 Die anderen freuten sich mehr, dass wir viel Geld eingenommen hatten. Noch mehr jubelten wir, dass Gordo, der Dicke und Ratón, die Maus zwei Maschinengewehre erbeutet hatten. „Waren in einem Zelt. Fünf Grüne drin, so besoffen, dass sie nichts mehr gecheckt haben. Haben uns zwei von ihren Gewehren geschnappt. Als uns dann doch welche nach sind, haben wir die abgeknallt.“

 „Gute Arbeit, Gordo! Um Grüne ist’s nicht schade!“, lobte Cerebro. Da musste ich ihm Recht geben: Um Gardisten war es wirklich nicht schade!

 „So! Die Gewehre entladen! Perro, die leeren Gewehre und das Pulver nehmt ihr, ihr habt von uns den einzigen Unterschlupf, den man zusperren kann, die Kugeln, die wir noch haben, nehmt ihr, Gordo! Vielleicht fällt mir in der Nacht ein, wo wir neue herkriegen! Aber vorher saufen wir – letzter Befehl für heute!“

Diablo und er kauften Schnaps und Zigaretten. Ich hatte zwar schon ab und zu die Reste aus Mamas Flaschen probiert, aber diesmal war es etwas anders. Ich trank allein mindestens eine halbe Flasche. Geraucht hatte ich erst einmal – heimlich auf dem Schulklo. Auch Sara trank und rauchte mit.

 Am nächsten Tag wurde es spät, bis wir aufstanden und uns allen war speiübel. „Gehört dazu!“, meinte Zorro. „Besser als Klebstoff schnüffeln!“

 Davon wenigstens hielten wir uns fern. Es war eine gute Zeit in der Bande und wir hielten fest zusammen.

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Tag der Veröffentlichung: 30.08.2013

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