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Surayas Fund

„Zeige deine Schätze!“, rief die Männerstimme scharf.

Suraya erschrak – weniger über den Tonfall als darüber, dass der Mann ihre Sprache verstand und sprach und dass sich tatsächlich eine Felswand öffnete.

Das Mädchen liebte es, den Menschen zuzusehen, wenn sie durch die Täler wanderten oder sich abmühten, die Berge hinaufzuklettern. Inzwischen verstand sie auch einige Ausdrücke in der Sprache des Tales, doch sie hatte es noch nicht erlebt, dass Menschen aus dem Tal ihre Sprache beherrschten. Auch verschlossen sie, wie ihr Bruder Jantar, der schon manchmal in die Täler gekommen war, erzählt hatte, Wände nicht durch Passwörter; sie verwendeten Eisenstücke dazu.

Die beiden Männer zogen Geräte aus der Tasche, worauf es in der Höhle, die der Fels freigegeben hatte, hell wurde. Dies wiederum kannte Suraya: Ihre Mutter hatte ihr vor Jahren erklärt, dass die Menschen des Tales Tageslicht brauchten, um richtig sehen zu können; in Höhlen und bei Nacht mussten sie es künstlich erzeugen, so, wie sie und alle, die sie kannte, ihre Augen mit der Dämmersalbe bestreichen mussten, um nicht geblendet zu werden, wenn sie bei Tageslicht die Höhle verließen.

Suraya beobachtete die beiden von ihrem Felsen aus. Sie suchten etwas Bestimmtes in der Höhle, doch da sie nun wieder die Sprache des Tales benutzten, konnte das Mädchen nicht verstehen, was genau. Mehrmals fiel das Wort „Stein“, doch Steine waren im Gebirge nichts Besonderes, auch nicht in Höhlen.

Die Männer gingen tiefer in die Höhle und Suraya folgte ihnen neugierig. Am Höhleneingang betrachtete sie sich nochmals kritisch: Ja, der Tarnmantel saß und wenn sie etwas vorsichtig war, würde nicht einmal jemand, der mit Tarnkleidung rechnete, sie sofort bemerken.

 

Endlich schien einer der Männer fündig geworden zu sein. Er deutete auf eine Reihe bunter Steine am Boden, nahm einen grünen und steckte ihn in seine Tasche. Gleich danach gingen die beiden in Richtung Ausgang. Suraya schaute sich in der Höhle um, immer auf der Hut, um notfalls schnell fliehen zu können, falls die Männer die Höhle wieder verschließen sollten. Nicht alle Höhlen ließen sich von innen öffnen, schon gar nicht musste das Passwort dasselbe sein.

Sie steckte einen blauen Stein, der etwa dieselbe Form hatte wie der grüne, ein und schwebte zum Eingang. Da fiel ihr über diesem eine Reihe kleiner Bilder auf – nein, es musste eine Schrift sein, allerdings eine, die sie nicht kannte.

„Senke deinen Schleier!“, rief einer der Männer.

Im allerletzten Moment konnte sie noch durch den Höhleneingang sausen, bevor der Felsen sich schloss. Sie verfluchte ihren Leichtsinn und sah den Männern kurz nach. Sie gingen den steilen Pfad zum Bach hinunter, der in den See mündete, den ihre Sippe „Auge der Erde“ nannte.

Als sie sicher war, dass die beiden Männer sie nicht mehr sehen konnten, versuchte sie das Passwort selbst. Es klappte, sowohl beim Öffnen als auch beim Schließen. Stimmgebunden war es also nicht.

Sie öffnete nochmals und ging wieder in die Höhle, um sich die Schrift genauer anzuschauen. Es blieb dabei, sie konnte es nicht lesen.

Als sie sich sicher war, dass sie alleine nicht auf die Lösung der Rätsel kommen würde, verließ und verschloss sie die Höhle wieder. Sie erkannte, dass es schon dunkler wurde. Allmählich würde das Leben in den Höhlen ihrer Sippe erwachen. Sie griff an die Seiten ihres Tarnmantels, der sich dadurch links und rechts ausbeulte, steckte vorsichtig ihre Flügel in die Ausbuchtungen und hob ab. Zuerst flog sie den Männern hinterher, die offenbar auf das Dorf mit dem hohen Turm zugingen, dann machte sie kehrt, überquerte den Bergkamm und ging bei der Höhle ihrer Eltern nieder. Sie flog hinein, landete und begrüßte ihre Mutter mit einem Kuss auf die Wangen.

„Na, wo warst du so früh?“, fragte die. „Wieder Wanderer beobachtet? Irgendwann werden die Menschen sich noch wundern, wenn es dir den Tarnmantel wegweht und sie dich sehen.“

„Ich mach immer meinen Tarnmantel anständig zu“, protestierte Suraya leise. „Mich sieht keiner, der mich nicht sehen darf.“

„Schon gut! Zieh ihn aus, deinen Tarnmantel, komm in die Küche zum Essen!“

 

Beim Essen erzählte Suraya von ihrem Fund. Weder ihre Eltern noch ihr Bruder Jantar konnten den Stein zuordnen, doch alle wunderten sich, dass Menschen aus dem Tal die Geheimnisse der Höhlen kannten.

„Du solltest auf jeden Fall den Stein Herrn Jovar zeigen“, riet der Vater. „Auch von der Schrift solltest du ihm erzählen. Wenn die Sache harmlos ist, können wir immer noch sehen, was wir mit dem Stein tun.“ Herr Jovar war der Schulmeister und der Vater von Surayas bester Freundin Alin. „Aber komm bis Mitternacht wieder, ich habe vorgestern Drachen gesehen und um diese Jahreszeit häuten sie sich oft.“

Meist zogen Drachen sich zum Häuten tief in Höhlen oder Felsspalten zurück, sodass es nicht immer einfach war, die abgelegten Hautstücke zu finden. Drachenleder war allerdings ein begehrter, da praktisch unzerstörbarer Rohstoff für Kleidung, Schuhe oder Behälter. Manchmal konnte man aus Schuppen auch Schmuck herstellen, den Männer wie Frauen gern trugen. Ein Mann wie Surayas Vater, der sehr geschickt beim Finden abgelegter Hautstücke war, konnte damit gutes Geld verdienen und das magere Einkommen, das die wenigen Büsche und die fünf Schafe, die er besaß, abwarfen, gehörig aufbessern. Suraya war längst nicht so gut darin, Anzeichen für Drachenverstecke zu sehen, wie ihr Vater, doch vier Augen sahen immer mehr als zwei und Jantar würde in dieser Nacht in der Schmiede seines Meisters arbeiten müssen, egal, ob Neumond war oder nicht.

 

Suraya steckte den Stein ein, ging in ihr Zimmer, kämmte sich die Haare nochmals und lief hinaus. Die Schulzimmerhöhle hatte einen kleinen, schwer sichtbaren Zugang, zu dem man von der Halle des goldenen Drachen aus gelangen konnte. Genau hinter diesem Zugang lag Alins Zimmer.

Das Mädchen lief durch die Höhlengänge, grüßte einige Erwachsene, die ihr entgegenkamen und erreichte schließlich den riesigen Raum, den man Halle des goldenen Drachen nannte, weil die Sage ging, dass ein goldener Drache, eine unbekannte Art, diese Höhle einst aus dem Fels gehauen und ihre Wände mit seinem Feueratem geglättet hatte. In der Halle waren in den Tagen rund um Voll- und Neumond die Stände von Menschen aus fremden Sippen aufgebaut, die hier Handel trieben. An einem anderen Tag hätte Suraya sich ins Markttreiben gestürzt, doch heute flog sie geradewegs die Wand hinauf zu jenem Gang, der zur Schulhöhle führte. Sie hoffte, Alin und ihre Eltern noch anzutreffen und war neugierig, ob Jovar ihr erklären konnte, was sie gefunden hatte.

 

Sie klopfte an der Felsspalte und schnell erschien Alin, vergrößerte die Spalte , sodass Suraya hindurchgehen konnte. Alins Haar war noch unfrisiert und sie war barfuß. Die Mädchen küssten sich zur Begrüßung.

„Weißt du, was ich geträumt habe?“, fragte Alin. „Dass heute Nacht ein Junge hier klopft – aber wieder warst es nur du.“

„Adrast vielleicht? Ich glaube, der denkt noch nicht so weit.“

Adrast war ein Junge aus ihrem Jahrgang, der vor einigen Wochen schon Alin gefragt hatte, ob sie in der Sonnwendnacht mit ihm tanzen wollte. Dass sie als eine der ersten gefragt worden war, machte Alin stolz und ließ sie sich allmählich als Frau fühlen.

„Du träumst und ich habe etwas erlebt. Schau!“ Suraya zog den Stein aus der Tasche. „Und Menschen aus dem Tal haben einen Felsen mit einem Passwort geöffnet.“

„Wie? Ich dachte, Menschen beherrschen keine solchen Passwörter.“

„Guten Morgen Alin, aufgewacht? Das denk ich auch und meine Eltern auch. Und da wollte ich wissen, ob dein Vater mehr weiß.“

„Das musst du allerdings ihn fragen. Ich denke, er ist schon wach.“

Die Eltern waren in der Tat wach, da Frau Mila, Alins Mutter, in diesem Moment energisch rief.

„Ich komme, Mama!“, antwortete das Mädchen, frisierte sich fertig, zog Haussandalen an und ging, eingehakt mit Suraya, in die Küche. „Schaut mal, wen ich euch mitgebracht habe!“, rief sie ihren Eltern zu.

Frau Mila hieß Suraya niedersetzen und stellte eine Tasse Tee vor ihren Platz.

 

„Ich danke dir!“ Außerhalb des Unterrichts und festlicher Anlässe duzte Suraya die Eltern ihrer besten Freundin, wie fast alle Erwachsenen. „Aber ich komme gerade selbst vom Essen. Hier, schaut!“

„Schöner Stein!“, fand Frau Mila. „Wo hast du ihn gefunden?“

Suraya erzählte die ganze Geschichte. „Ich habe gedacht, Jovar, dass du vielleicht die Schrift kennst. Und auch mein Vater denkt so.“

„Es ehrt mich, dass ihr mich für so weise haltet, aber weder kann ich eine andere Schrift lesen als die, die ich auch euch gelehrt habe, noch habe ich je etwas von Menschen aus dem Tal gehört, die unsere Sprache verstehen.“

„Das heißt, ihr… du weißt es auch nicht?!“

„Nein. Aber da wir alle wissen, dass der Kontakt zu Menschen aus dem Tal streng verboten ist, macht mir das Sorgen.“ Er überlegte kurz. „Du solltest zum Weisen gehen!“

„Willst du…?“

Herr Jovar schüttelte den Kopf. „Nur du hast etwas gesehen und nur du kannst ihm sagen, was er wissen muss. – Kennst du seine Höhle?“

Suraya nickte. „Aber meinst du wirklich, ich sollte alleine zum Weisen gehen?“

„Solche Dinge muss der Weise wissen und es ist nicht meine Sache, dich zu begleiten, sondern wenn, dann die deines Vaters oder deiner Mutter. Mit ihnen solltest du auf jeden Fall reden.“

„Darf ich mit, Sura?“, bettelte Alin.

„Kommt nicht in Frage!“, antwortete ihr Vater scharf. „Niemand belästigt den Weisen, wenn er nichts Wichtiges vorzutragen hat.“

 

Suraya verabschiedete sich von Alin und ihren Eltern und nahm diesmal den Weg durch den Haupteingang. Zu Hause berichtete sie und fragte, ob sie wirklich zum Weisen gehen sollte.

„Wenn Jovar es nicht weiß, kann ich mir nicht vorstellen, wer es sonst wissen könnte“, entschied der Vater. „Und ich glaube, dass du durchaus würdig bist, alleine hinzugehen. Du bist fast erwachsen und ich bin auch nur ein armer Bauer.

„Aber lass dich anschauen, bevor du gehst!“

Das war ohnehin selbstverständlich. Suraya packte Seife, Schaber und Tücher, rannte aus dem Haus und flog hinunter zum Quellteich. Wer zum Weisen gehen wollte, hatte in frischem Wasser zu Baden und nicht nur Wasser aus Eimern zu benutzen.

Das Wasser war kalt, doch sie war es nicht anders gewohnt. Sie tauchte unter, rieb sich mit Seife ein, tauchte nochmals unter, trocknete sich halbwegs ab, zog ihr Untergewand wieder über und flog zurück. Zu Hause zog sie ihr Festkleid an und ging in die Küche, wo die Mutter ihre noch nassen Haare frisierte. Sie flocht einen dünnen Kranz und befestigte diesen und die übrigen Haare mit ihren eigenen Spangen für Feste. Anschließend ging sie in ihr Schlafzimmer und kam mit mehreren Dosen wieder.

Suraya kannte den Inhalt: In einer war Goldstaub, in der anderen eine rötliche Mischung aus Sand und geriebenem Stein; die größeren Dosen enthielten Fett und Harz der Eisenkiefer. Normalerweise durfte ein Mädchen diese Dinge zum ersten Mal bei der Brandtaufe benützen. Auch die Mutter gebrauchte sie selten.

Sie bestrich ihre Fingernägel dünn mit dem Harz, zeigte sie ihrer Mutter, die sie anschließend mit Goldstaub bestreute. Das Harz wurde rasch fest, sodass der Goldstaub darin kleben blieb und Surayas Nägel glänzen ließ. Wo Goldstaub auf die Finger selbst gekommen war, wischte sie ihn sorgfältig ab und streifte ihn zurück in die Dose. Gold war kostbar, auch an Festtagen. Anschließend schmierte sie ihr Gesicht mit Fett und danach die Wangen mit dem rötlichen Brei ein. Auch auf ihre Augenlider kam etwas Goldstaub, während sie Wimpern und Brauen mit Ruß nachzog.

 

Suraya musste warten, bis ihre Haare trocken waren. In dieser Zeit schnürte ihre Mutter ein Paket mit Brot, Schafskäse, Früchten und geräuchertem Fleisch brachte noch einige Ermahnungen an ihre Tochter: Sie sollte, wenn überhaupt, vorsichtig fliegen, um das Kleid nicht zu beschädigen; sie sollte den Knicks vor dem Weisen nicht vergessen und ihn nicht von sich aus ansprechen; sie solle ihm nicht direkt ins Gesicht sehen und noch viele andere Dinge.

Als sie aus der Höhle trat, war es bereits völlig dunkel, sodass sie keine Dämmersalbe brauchte. Sie schaute in Richtung der Höhle des Weisen und entschied sich, zu fliegen, da der Weg zwar nicht weit, aber der Pfad sehr steil war. Auch der Platz vor dem Eingang zur Höhle des Weisen war uneben, sodass sie ihre Flügel leicht ausgebreitet ließ, um das Gleichgewicht besser halten zu können.

 

Der Felsen öffnete sich und gab den Zugang zur Höhle frei. Noch ehe sie eine Person sah, klappte das Mädchen ihre Flügel völlig zusammen und fiel auf die Knie.

Der Weise stand selbst vor ihr. „Sei mir gegrüßt!“, sagte er leise.

„Ehrwürdiger Weiser, obwohl ich es durch nichts verdient habe, wage ich es heute, Eure Hilfe zu beanspruchen. Ich bezeuge meine höchste Verehrung und bitte in aller Ehrfurcht um Einlass, auch wenn ich mir bewusst bin, dass ich keinerlei Recht….“, erwiderte sie protokollgemäß.

„Steh auf und komm herein, Suraya, Tochter des Haris!“

„Ihr kennt mich?“, fragte Suraya im Aufstehen, alle Manieren vergessend.

„Natürlich lasse ich mir über diejenigen, denen ich die Brandtaufe spenden werde, berichten und sie mir auch zeigen. Über dich ist einiges gesprochen worden.“

„Ehrwürdiger, ich bitte… Ich weiß und bekenne, dass ich oft…“, stammelte sie.

„Keine Angst, was Herr Javor über dich sagt, scheint mir positiv. Nun komm herein und setz dich!“

Er ging ihr voran in die Stube, zeigte auf einen Stuhl, nahm eine Tasse aus dem Regal und die Teekanne vom Feuer, stellte die Tasse vor sie, goss sie voll und hängte die Kanne wieder über das Feuer. Erst dann setzte er sich selbst ihr gegenüber.

Suraya konnte es noch kaum fassen. Sie, ein Mädchen, das die Brandtaufe noch nicht empfangen hatte, saß in der Stube des Weisen wie bei einem Onkel oder den Eltern einer Freundin.

„Zu deiner Frage“, begann der Weise und trank aus seiner eigenen Tasse. „Sowohl Herr Javor als auch dein eigener Vater beschreiben dich als sehr intelligent und wissbegierig, jedoch weniger handwerklich geschickt. Beide sagen, dein Wunsch sei es, Lehrerin zu werden, doch dein Vater meint auch, du strebtest eigentlich nach Höherem.“

Sie fühlte sich ertappt. „Herr!“ Sie verbesserte sich: „Ehrwürdiger, ich weiß, dass dies einem Mädchen nicht geziemt.“

„Wenn du meinst, dass dein Traum sei, selbst eine Weise zu werden: Dieser Wunsch ist für ein Kind deines Alters in der Tat ungebührlich, für ein Mädchen aber nicht mehr und nicht weniger als für einen Knaben. Niemand wird als Weiser geboren. Jeder Weise ist ein gewöhnlicher Mensch, der sein Leben gelebt, geliebt, gearbeitet und gestritten, sich in den Augen anderer Weiser jedoch mehr als andere bewährt hat. Auch ich würde niemals wagen, zu entscheiden, ob ein Kind in deinem Alter einmal ein Weiser werden kann. Ein Traum ist nicht ungebührlich, solange er ein Traum bleibt, doch wichtig ist, dass du eine wahre und ehrliche Vorstellung von dem, was unmittelbar vor dir liegt, hast. – Nun, mir scheint, du bist aber nicht gekommen, um mich um meinen Segen für deine Zukunftswünsche oder ein gutes Wort zu deinem Vater oder deinem Lehrer zu bitten. Nun sprich!“

Suraya berichtete so klar und knapp wie sie konnte. Jede Vermutung oder Gefühlsbezeugung hatte in einem Bericht an den Weisen zu unterbleiben.

„Dies, Ehrwürdiger, ist, was ich gesehen habe und bezeuge. Ich schwöre Euch, Ehrwürdiger, bei der Ehre meiner Sippe, die Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen zu haben.“ Sie wusste nicht sicher, ob dieser Eid gegenüber dem Weisen gebührlich war, er war jedoch in wichtigen Anliegen allgemein üblich. Zum Ende ihrer Rede legte sie den Stein auf den Tisch.

„Das ist in der Tat wunderlich“, antwortete der Weise. „Es ist mir nicht bekannt, dass die Kinder des Tales von uns gehört haben – seit Jahrhunderten, seit sie unsere Vorfahren als Hexer verfolgt haben, gilt es als ehernes Gesetz, uns ihnen nicht zu zeigen.“ Er nahm den Stein in die Hand und besah ihn sich genau. „Es scheint nichts Besonderes daran zu sein. Das muss allerdings nicht bedeuten, dass der Stein, den die beiden Männer an sich genommen haben, nicht geheime Kräfte hat. Wichtiger aber erscheint mir die Schrift. Du bist sicher, dass sie die Schrift nicht gesehen haben?“

„Soweit ein einfaches Mädchen etwas sicher sagen darf, Ehrwürdiger, wage ich es. Sie haben mit ihren Lichtern nicht auf die Schrift geschaut.“

„Nun, so führe mich zu dieser Höhle, damit ich die Schrift lesen kann!“

„Ehrwürdiger, mein Tarnmantel liegt in der Höhle meiner Eltern. Ich bitte um die Erlaubnis, ihn zu holen.“

„Das ist nicht nötig. Zu dieser Stunde sind Kinder des Tales gewöhnlich nicht mehr im Gebirge und wenn, so sind sie an ihren Lichtern leicht zu erkennen. Bedenke nur, dass ich ein alter Mann bin und die Hand der Jahre meine Füße und Flügel hindern kann, dir zu folgen!“

Er stand auf und gab ihr zu erkennen, dass seine Entscheidung gefallen war und sie zu gehorchen hatte. So ging sie an ihm vorbei zur Tür und flog auf. Kaum waren sie jedoch in der Luft, fiel ihr etwas Merkwürdiges auf: Alle, die unterwegs waren, Kinder und Erwachsene, drehten sich in ihre Richtung.

 

 

Surayas neue Rolle

Suraya flog mit Rücksicht auf ihr Kleid ohnehin langsamer als sie es gewöhnlich tat, doch als sie sich umdrehte, sah sie, dass der Weise dennoch Mühe hatte, ihr zu folgen. Als sie den See, aus dem ihre Sippe das Wasser bezog, überflog, kam es ihr vor, als ob sie still in der Luft stand.

 Alle anderen hielten respektvollen Abstand zum Weisen, sodass sie keinem Hindernis ausweichen mussten. Dennoch dauerte es über eine halbe Stunde, bis sie die Stelle erreichten, wo Menschen aus dem Tal die versteckte Höhle betreten hatten.

 Suraya sagte das Passwort und der Felsen öffnete sich. Sie zeigte dem Weisen die Steine.

 „Hm, es ist ungewöhnlich, dass so verschiedenfarbige Steine so frei in einer Höhle liegen“, meinte er. „Habe ich dich richtig verstanden: Du glaubst, dass die Männer diesen Stein gezielt suchten?“

 „Ja, Ehrwürdiger! Sie sagten etwas von einem ‚Stein‘, suchten mit ihrem Licht und verließen die Höhle sofort wieder, als sie den grünen Stein hatten. Die anderen Steine und die übrige Höhle interessierten sie nicht.“

 Nun wunderte der Weise sich: „Du hast verstanden, was sie sagten?“

 „Ehrwürdiger, mögt Ihr bitte nicht denken, ich würde etwas von mir behaupten, was nicht stimmt. Ich verstehe nur einige wenige Wörter in ihrer Sprache…“

 „Du…verstehst…“

 „Ich verdiene keine Bewunderung, Ehrwürdiger! Ich habe sie manchmal beobachtet und ihnen zugehört. Daher weiß ich, was ‚Wasser‘, ‚Stein‘, ‚Berg‘ oder ‚Höhle‘ in ihrer Sprache heißt oder dass sie die Taschen, die sie auf dem Rücken tragen ‚Rucksack‘ nennen. Aber sicher gibt es viele andere, die ihre Sprache weit besser beherrschen.“

 „Oh nein! Es gibt viele Kinder, die ihnen zusehen, so wie du, aber, soweit ich weiß, hat sich noch niemand die Mühe gemacht, ihre Sprache zu verstehen. Sie ist unter uns verloren – unsere Vorfahren müssen sie noch beherrscht haben, wenn sie unter ihnen gelebt haben. Und das, Suraya, ist in der Tat ein wichtiger Unterschied zwischen einem Weisen und einem Tauglichen: Ein Tauglicher beherrscht sein Handwerk, sei es das eines Schmiedes, eines Schneiders oder auch eines Schulmeisters; er weiß und beherrscht die Dinge, die sein Lehrmeister ihm beigebracht hat und kann sie anderen weitergeben. Ein Weiser muss auch Dinge lernen können, die ihm niemand beibringen kann. Natürlich ist es noch ein weiter Weg aber ein erster Schritt und wenige Mädchen oder Knaben in deinem Alter sind in der Lage dazu, ihn zu tun. – Nun aber wollen wir die Schrift ansehen. Du sagst, über dem Eingang sei sie.“ Das Mädchen nickte.

 

 Der Weise sah sich die Schrift einige Zeit an. „Es ist eine Schrift der Menschen aus dem Tal“, stellte er fest. „Aber früher wurde sie auch von unseren Leuten benutzt. Die Sprache ist der unseren sehr ähnlich, es mag sogar eine alte Form der unseren sein, wenn auch einige Wörter enthalten sind, die wir heute nicht mehr kennen. Dennoch kann ich es verstehen: ‚Wanderer, bedenke‘, muss das heißen. ‚Diese Steine enthalten eine Kraft, ein jeder...‘ das hier heißt wohl ‚für sich. Aber in ihnen wohnt auch eine Gefahr. So du sie nicht kennst, hüte dich, die Steine an dich zu nehmen. Das ist, was ich dir sagen kann: Der Seffir ist der Stärkste.‘ " Er sah das Mädchen an:  „Du weißt nicht, was ein Seffir ist?! Ich auch nicht. Vermutlich der grüne Stein. Derjenige, von dem die Männer, die du beobachtet hast, ihre Informationen haben, scheint es zu wissen. Er mag ein Nachkomme dessen sein, der die Höhle angelegt hat, aber die Warnung seines Ahnen kennt er wohl nicht.“

 „Verzeiht die Frage, Ehrwürdiger: Meint ihr, jemand von uns hat diese Höhle angelegt?“

„Nun zeig mir, ob ich dich nicht überschätzt habe. Alle Informationen, die nötig sind, um diese Frage zu beantworten, hast du ebenso wie ich. Überlege also!“

 „Nun, es ist eine Schrift aus dem Tal, die aber, wie Ihr sagt, auch unsere Leute verwendet haben. Die Sprache ist aber unsere oder eine Ähnliche und wenn Ihr sagt, ich wüsste alles, was ich wissen muss, so haben die Menschen des Tales nie unsere Sprache benutzt… Außerdem ist die Schrift in einer Höhle, also dazu gemacht, dass jemand, der im Dunkeln sieht, sie bemerkt. Ein Mensch aus dem Tal würde sie nur zu leicht übersehen. Also, wenn Ihr erlaubt, Ehrwürdiger, so ist meine bescheidene Meinung, dass es jemand von uns war und er es auch für unsere Leute schrieb.“

 „Wunderbar! Genau das denke ich auch! Nun, vielleicht ergeben meine Schriftrollen Informationen, wann diese Schrift von unseren Leuten benutzt wurde.“

 „Es müsste ja wohl geschrieben worden sein, bevor unsere Vorfahren sich von den Menschen aus dem Tal zurückzogen“, überlegte Suraya laut.

 Der Weise sah sie streng an: „Muss es das?“

 „Verzeiht die Respektlosigkeit! Nein!“ Sie sah, dass er noch nicht zufrieden war. „Nein, das muss nicht sein. Ich dachte nur, der Schreiber wollte nicht, dass Menschen aus dem Tal die Höhle finden. Aber vielleicht hat er gar nicht damit gerechnet. Der Pfad ist für sie sehr steil.“

 „Richtig. Im Gegenteil, ich glaube sogar eher, dass er sie vor unseren Leuten verstecken wollte als vor Menschen aus dem Tal – und wenn du dich umsiehst, wirst du erkennen warum.“

 „Vielleicht, weil es hier keine Höhlen gibt.“

 „Nicht nur das. Die ganze Umgebung ist zu steil, als dass hier Feldbau möglich wäre oder Tiere, die nicht des Fliegens mächtig sind, ohne weiteres hierher gelangen könnten. Der Raum, von wo aus man diesen Felsen sieht, ist außerdem nicht groß. Daher genügte auch ein einfaches Passwort. Er musste nur sichergehen, dass ihn niemand sah, als er die Höhle verschloss – und das ist am Leichtesten in einer Gegend, in die wenige Leute kommen, damit möglichst niemandem auffällt, dass die Höhle nicht mehr existiert. – Gut, das ist im Moment alles, was wir sagen können. Eine Probe will ich dir aber noch stellen.“ Er ging aus der Höhle, zog einen Kohlestift aus der Tasche und schrieb etwas auf den Stein. „Lies!“

 „Es ist die gleiche Schrift wie innen“, sagte sie halblaut, merkte sich die Buchstaben und ging wieder hinein.

 „ ‚Wandern‘ oder ‚Wanderung‘ “ sagte sie, als sie wieder herauskam.

 „Gut geantwortet. Was von beiden?“

 Sie überlegte: „Wenn Ihr erlaubt, ich denke ‚Wandern‘. Es fehlen zwei Zeichen des Wortes ‚Wanderer‘ und nur eines ist hinzugefügt.“

 „Sehr gut! Diese Schrift ist so beschaffen, dass jedes Zeichen nur einen Laut bedeutet, nicht zwei zusammenhängende wie in unserer. Das heißt, dein Name hätte in dieser Schrift sechs Zeichen.“

 „ ‚Sa‘ ist also nicht ein Zeichen, sondern es sind ‚s‘ und ‚a‘?“

 „Richtig. – Du willst diese Schrift lernen“, stellte er mehr fest als er fragte. „Komm mich dazu wieder besuchen, wenn du kannst. Ich verlasse sehr selten meine Höhle und solange niemand anderer mit einem Anliegen mich besucht, bist du immer willkommen.“

 „Womit habe ich diese Gunst verdient? Und, verzeiht mir die Frage, könnt Ihr meine Gedanken lesen?“

 „Du hast dir die Gunst verdient, weil du eben diese Voraussetzung für Weisheit besitzt. Und, nein, ich kann nicht direkt Gedanken ‚lesen‘ wie Buchstaben, aber ich kann spüren, was einen Menschen bewegt, der mit mir spricht. Auch das ist Grundvoraussetzung für einen Weisen – aber man kann es durch Erfahrung lernen; auch ich konnte es nicht immer. – Nun aber zurück! Deine lieben Eltern werden dich schon vermissen.“

 

 Noch bevor sie den Hang, in dem die Höhen von Surayas Sippe lagen, erreicht hatten, entließ der Weise sie. Die ersten Neugierigen waren ihnen schon entgegengekommen, wichen allerdings aus, als Suraya auf sie zuflog. Sie landete und schaute auf den Zeitanzeiger, der über dem Zugang zur Haupthöhle mit der Halle des Goldenen Drachen angebracht war: Noch war nicht Mitternacht, sodass sie noch Zeit hatte, sich den Markt anzusehen. Während sie auf die Halle zuging, bemerkte sie allerdings etwas Seltsames: Alle Menschen, Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene, bildeten eine Gasse für sie und zwei Mädchen knicksten sogar vor ihr nieder. Ebenso war es im dichten Gedränge des Marktes: Immer wieder zeigten Hände auf sie, wer ihr im Weg stand, flog rasch auf, um an der Seite zu landen. Sie schwebte hoch, um die Stände genauer sehen zu können, worauf viele der Umstehenden sich verbeugten.

 War etwa der Weise ihr gefolgt? Sie drehte sich um, doch sah sie ihn nicht. Kopfschüttelnd hielt sie auf einen Stand zu, an dem Schmuck aus echten und falschen Drachenzähnen verkauft wurde. Alle Wartenden traten einen Schritt zurück, so auch Yarda, die Frau des Paddok.

 „Was ist mit Euch, Frau Yarda? Ihr wart vor mir!“, sprach Suraya sie an.

 „Nicht doch, hochzuachtende Vertraute des Ehrwürdigen!“, antwortete diese. „Wie könnte mir armer Frau in den Sinn kommen, Euch zuvorzukommen?“

 „Ihr seid wirklich die Vertraute des Ehrwürdigen? Ich bitte Euch, nehmt diese bescheidene und Eurer unwürdige Kette an!“, rief nun die Verkäuferin und hielt Suraya ein ausgezeichnet gearbeitetes Stück entgegen. Alle Drachenzähne und Perlen schienen echt zu sein. Selbst die Frauen reicher Männer trugen solchen Schmuck nur an Festtagen.

 „Was kostet sie? Ich fürchte, ich kann nicht…“

 „Hochzuachtende Vertraute des Ehrwürdigen, niemals würde mir einfallen, von Euch Geld zu verlangen. Nehmt meine Gabe an, ich bitte Euch, und bittet die Götter um Segen für mich und meinen Mann Arid, den Tändler!“

  Suraya war zu verwirrt, um antworten zu können. Außerdem kniete schon eine Fremde vor ihr: „Wenn Eure Magd Euer gnädiges Ohr findet, mögt Ihr Euch, hochzuachtende Frau, beim Ehrwürdigen dafür versprechen, dass unsere Tiere gesund sein mögen. Ich werde Euch meine bescheidene Gabe überbringen.“

 „Ich werde es ihm sagen“, antwortete Suraya knapp, legte die Kette an und flog auf, wobei ihr einige folgten. Sie überhörte die Bittrufe und öffnete den Eingang zur elterlichen Höhle mit dem Passwort, um sofort hineinzufliegen und den Eingang schnurstracks wieder zu verschließen.

 

 Ihre Mutter empfing sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Vorwurf: „Ist es wirklich wahr, dass du gemeinsam mit dem Weisen unterwegs warst?“

 Suraya nickte. „Er wollte, dass ich ihm die Höhle zeige, damit er die Schrift lesen kann.“

 Ausführlicher musste sie erzählen, als auch ihr Vater und ihre Brüder anwesend waren und die Mutter das Mitternachtsessen servierte.

 „Er will dich – tatsächlich – noch einmal sehen?“, fragte der Vater ungläubig. „Warum das?“

 „Ja, Vater. Er will mich die Schrift lehren, in der die Zeichen geschrieben sind.“

 „Dich? Hat er gesagt warum?“

 Würde die Wahrheit zu unbescheiden klingen? „Er hat gesagt… er traut es mir zu… Er hat mir einige Prüfungen gestellt und meint, ich bin… ich will mich nicht selbst loben…dass ich mehr weiß und verstehe als andere hat er gesagt.“

 „Ob er wirklich weise ist, wenn er das behauptet?“, grinste Jantar seine Schwester an, was ihm einen tadelnden Blick des Vaters einbrachte.

 „Der Weise meint wirklich, du seiest etwas Besonderes? Wei… klüger als andere? – Mädchen, ist dir klar, was du sagst?“, fragte der Vater ernst. „Weißt du, was es bedeutet, sich mit einem falschen Spruch des Weisen zu schmücken?“

 Suraya wollte sich das lieber nicht vorstellen. „Vater, ich schwöre, es stimmt.“

 „Die Götter seien uns gnädig!“, flüsterte der Vater beinahe und schwieg bis zum Ende des Essens.

 

 „Liebe Tochter, ich bitte dich, würdest du mich bei der Suche nach Drachenhäuten unterstützen?“, bat der Vater, nachdem die Mutter begonnen hatte, den Tisch abzuräumen. „Vorausgesetzt, der Weise braucht dich nicht.“

 Suraya traute ihren Ohren nicht. Seit wann mussten Eltern um die Hilfe ihrer Kinder bitten? „Selbstverständlich!“, antwortete sie, während die Mutter ihren jüngeren Bruder Daruk zum Wasserholen schickte.

 Daruk musste ebenfalls der Mutter beim Abspülen helfen, was sonst Surayas Sache war. Jantar verabschiedete sich wieder zur Arbeit und als er vor seiner Schwester stand, verbeugte er sich leicht. Die schüttelte den Kopf, ging in ihr Zimmer und zog ihr Festkleid aus und stattdessen das Drachenlederkleid über. Inzwischen reichte es ihr zwar nicht einmal mehr bis zu den Knien, aber es bot immer noch einen gewissen Schutz für den Oberkörper.

 

  Suraya und ihr Vater suchten den ganzen Nachmittag nach Fußspuren, die von Drachen stammen könnten. Tatsächlich fanden sie in einer Höhle zwei Hautstücke, mit denen der Vater aber nicht zufrieden war. „Schlechte Qualität! Der scheint krank gewesen zu sein“, murrte er. „Na ja, ein Teil könnte noch brauchbar sein, besser als nichts!“

 In einer anderen Höhle, in die Drachenspuren führten, wurden sie komplett enttäuscht. Der Drache hatte offenbar nur ein Beutetier dorthin verfolgt. Im Wegfliegen bemerkte Suraya etwas: „Vater, schau!“, rief sie. „Dieser Stein glänzt!“

 Der Vater ging nieder, berührte den Stein und schabte mit seinem Messer die Umgebung frei.

 „Gute Götter!“, rief er. „Tarnsilber! Ich hätte nicht gedacht, dass es so flach liegen kann. Auf dir muss wirklich ein Segen der Götter ruhen!“

 „Sollen wir es ausgraben?“

 „Das werden wir alleine nicht schaffen. Zumindest Jantar muss uns helfen, vermutlich auch andere Männer. Aber wenn nicht die Dämonen uns einen Streich spielen, ist das Silber an die hundert Drachenkronen wert.“

 Suraya wusste nicht, wie viel rohes Tarnsilber wert war. In der Schule hatte sie zwar gelernt, dass das Silber für Tarnmäntel gereinigt, geschmolzen und nach dem Festwerden dünn geschliffen und in einer bestimmten Weise in Stücken auf das Unterkleid aufgesetzt werden musste, damit sich der Hintergrund spiegelte und der Träger verschwamm, doch von den Preisen für Material und Arbeit hatte Herr Jovar nie geredet.

 

 Sie flogen zurück, um Werkzeug, eine Transportkiste und Siegelstein zu holen.  Bis zum Morgengrauen hatten sie vielleicht vier oder fünf Pfund aus dem Boden herausgearbeitet. Jantar bekam leider nicht vorher frei und untertags wollte der Vater nicht graben, da sie zu leicht gesehen werden könnten. Er versiegelte die Höhle mit dem Siegelstein und legte ein Passwort darauf. „Schauen wir, was Herr Tadir dazu sagt“, meinte er. „Aber das ist Gold wert.“

 

 Beim Essen servierte die Mutter Suraya zuerst, statt dem Vater, wie es Tradition war. Auch diesmal brauchte das Mädchen nicht mitzuhelfen.

 Der Vater ging nach dem Essen noch zu Tadir, dem Tarnmantelmacher und kam freudenstrahlend nach Hause: „Gute Qualität, sagt er, wenn auch nicht erstklassig. Für das Pfund will er uns fünf Drachenkronen und sieben Vierhandteile geben und alleine wir beide haben über zehn Pfund geholt.“

 Dreiundfünfzig Drachenkronen waren für Suraya fast unvorstellbar viel Geld und sie hatte ja selbst gesehen, dass in der Höhle das Vier- bis Fünffache liegen konnte. Für Drachenhautstücke, selbst bester Qualität, hatte der Vater nie mehr als zehn bekommen, meist nur vier oder fünf. Für dreißig Drachenkronen bekam man ein Festkleid, für fünfunddreißig bis vierzig einen Tarnmantel. Sie überlegte bis zum Einschlafen, was man mit diesem Geld alles tun könnte.

 

 Wie üblich war es draußen noch hell, als sie aufwachte, doch irgendetwas stand im Luftschacht zu ihrem Zimmer. Sie ging hinaus in den Flur und schmierte sich Dämmersalbe auf die Augen, um es besser sehen zu können und erschrak beinahe, als sie wieder zurückkam: Da war ein Säckchen mit Süßigkeiten, ein Armband aus Tarnsilberabfällen und sogar eine kleine Tüte mit Goldstaub. Bei dem Armband lag eine Botschaft: „Wenn das Silber seine Mutter findet, bitte ich Euch, o von den Göttern Begünstigte, es mir mitzuteilen und mir einen Teil davon zu überlassen, wenn es Euch gefällt!“

 Sie schüttelte den Kopf und ging wieder in die Küche, um nach dem Wasser zu sehen. Wie sie gedacht hatte, war der Bottich leer. Sie nahm ihn in beide Hände, verließ die Höhle und flog in Richtung See, wo schon einige Jungen und Mädchen herumstanden und schöpften.

 „Die Vertraute des Meisters!“, rief Seddek, der ein Jahr jünger war als sie.

 „Die Herrin des Silbers!“, rief Majurda, ihre Jahrgangskollegin.

 Alle Gespräche verstummten, die Jungen verbeugten sich und die Mädchen fielen auf die Knie, selbst Kinder, die sie kannte, seit sie laufen konnte. Selbst Madur, der Witzbold der Schule, war still.

 „Ich bitte um die Gnade, Euren Bottich füllen zu dürfen“, bat Seddek.

 „Darf ich ihn dann tragen?“, bat Urdar, der ebenso alt war wie er.

 Suraya wollte erst widersprechen, ließ sich dann aber den Bottich von Seddek füllen und trug ihn gemeinsam mit Urdar nach Hause.

 

 Erst zu Hause fiel ihr auf, dass sie noch das Harz und den Goldstaub auf den Fingernägeln trug. Sie überlegte sich, den Schaber zu benützen. Sicher war es ungehörig, an einem Werktag goldglänzende Fingernägel zu tragen, doch sie fand, es war schade um das teure Pulver und schabte ihre Nägel nicht ab. Die Mutter schaute zwar auf ihre Hände, sagte aber nichts.

 Auch in der Schule war nichts mehr wie vorher: Selbst Alin wagte nicht, Suraya anzusprechen und Jovar deutete eine Verbeugung an, als er die Klasse betrat. Suraya fühlte sich wie ein bunter Drache, der plötzlich ins Tal gekommen war. Jeder, den sie ansprach, wurde rot und begann zu stottern. Es kostete sie die ganze Zeit bis Mittag, bis wenigstens Alin sich normal benahm. Die schien es bereits für ungewöhnlich zu halten, in der Pause auf die Terrasse zu fliegen, auf der die beiden Mädchen fast jede Pause am Vormittag verbrachten.

 

 Nach dem Mitternachtsessen half sie erneut ihrem Vater beim Graben nach Tarnsilber. Diesmal war auch Jantar dabei und hatte von seinem Meister geliehenes Werkzeug mitgenommen, sodass sie an diesem Tag schneller vorankamen. Der Vater konnte noch vor dem Morgengrauen und dem Tagmahl zu Tadir gehen und die ersten knapp dreißig Pfund verkaufen. Der Händler hielt sein Versprechen und Herr Haris kehrte um 163 und eine halbe Drachenkrone reicher nach Hause.

 „Zwei Drittel gehören der Familie“, entschied er. „Vom Rest bekommt die Hälfte die Finderin, die andere Hälfte teilen wir. Und einen Teil des Geldes magst du dem Weisen geben als Dank für die Götter.“

 So großzügig kannte Saruya ihren Vater nicht. 27 Drachenkronen für den Fund und knapp zehn für zwei Fünftel der Mitarbeit machte 37; vermutlich besaß niemand in ihrem Alter, selbst Majulina, die Tochter des Goldschmieds, so viel eigenes Geld.

 An diesem Morgen wurde es zu spät, doch in der Nacht darauf wollte sie unbedingt zum Weisen gehen. Wieder standen Geschenke im Luftschacht und untertags baten mehrere Bauern sie, sie möge die Götter gnädig stimmen.

 Als sie nach dem Tagmahl ihr Festkleid anzog, die Drachenzahnkette anlegte und sich schminkte, brauchte die Mutter kaum mehr zu helfen. Dennoch war sie nervös, als sie hinaufflog.

 „Bittet für uns, Freundin der Götter!“, rief eine Frauenstimme, die sie nicht gleich erkannte.

 „Fragt ihn, ob die Götter Jagdglück verheißen!“, bat ein Mann.

 

 Der Weise machte den Eindruck, als freue er sich über Surayas Besuch. Diesmal war sein Diener bei ihm und schenkte Tee ein, verzog sich danach jedoch sofort.

 „Nun, bevor wir mit der Lektion beginnen: Du hast einige Anliegen!“

 Sie schilderte die Bitten Yardas, des Absenders des Armreifs und einige andere, die sie mitbekommen hatte.

 „Nun? Glaubst du, die Götter gehorchen mir?“, fragte der Weise ohne Bewegung in der Stimme.

 „Man sagt es, Ehrwürdiger!“

 „Dann überleg dir Folgendes: Wie kann eines der Schafe deines Vaters erreichen, dass du ihm gehorchst?“

 „Gar nicht, Ehrwürdiger.“ Sie überlegte kurz. „Ihr meint, Ihr könntet … nichts bei den Göttern erreichen?“

 „Das stimmt nicht ganz. Ein Schaf kann nichts tun, dass sein Herr ihm gehorchen müsste, aber es kann sich wohl so verhalten, dass er es nicht schlägt und es auf gute Weiden führt. Ebenso ist es mit den Göttern, auch wenn ein Schaf einem Menschen unendlich näher steht als ein Mensch einem Gott.“

 „Woran erkenne ich, welches Verhalten die Götter wollen?“

 „Eine gute Frage und da wir die Götter nicht sehen können, nicht leicht zu beantworten. Sie führt uns auf den Grund der Welt: Es gibt eine Ordnung in der Welt und es gibt einen Grund, warum Dinge sind, wie sie sind. Das glaube ich ganz fest. Diese Ordnung mag ein Gott oder mehrere Götter bestimmt haben; eins ist jedoch sicher: Diese Gottheit ist uns Menschen so fremd wie wir Menschen dem Wurm. Sie ist nicht Mann oder Frau, sie isst nicht, schläft nicht und denkt nicht wie wir Menschen. Diese Gottheit muss überall wirken, das heißt, viele Tausend lange Meilen nach Nord, Süd, West und Ost, unendlich viel weiter als du oder ich jemals kommen werden; wie soll dies ein Mensch tun? Wir verstehen ja nicht einmal, warum wir die Fähigkeit zu fliegen haben und die Menschen des Tals nicht, warum uns Menschen die Fähigkeit zu denken gegeben ist und den Drachen, den Hunden oder den Schafen nicht - und das sind nur zwei der Geheimnisse der Welt und keineswegs die Größten.

 Eines aber ist gewiss: Entweder die Götter oder den Gott kümmern wir Menschen gar nicht – dann ist einerlei, was wir tun – oder es gibt eine Ordnung, die von Gott oder den Göttern gewollt ist – dann sind die Wesen, denen die Fähigkeit zu denken gegeben ist, ganz gewiss auch mit dem Sinn dafür begabt, was diese Ordnung ist.

 Wenn du also fragst, was von dir verlangt ist, dann frag dich zuerst, was du von anderen möchtest. Wenn du an deine Mutter denkst, bedenke, was sie dir Gutes getan hat, aber auch, wann sie dich gekränkt hast, und wenn du einst Kinder gebierst, mühe dich, eine noch bessere Mutter zu sein als sie es war.

 Wenn du – und das steht dir bevor – Lehrerin sein willst, so denke, was dir ein guter Lehrer scheint und versuche, so zu sein.

 

 Dies ist das eine und das, wonach jeder streben soll, das jedoch kaum einer, auch nicht ein Weiser, je erreicht. Das andere ergibt sich durch Erfahrung: Jeder Bauer sieht, wenn er aufs Weinkraut, auf die Brottanne, auf die Würzkräuter oder was er sonst züchtet, schaut, wann Zeit ist zu ernten. Dein Vater, über den die Menschen sagen, er sehe die Drachenhaut, wird nicht von den Göttern dorthin geleitet, wo Drachen ihre Haut wechseln, sondern er kennt, wie ein Drache aussieht, der seine Haut zu wechseln sich anschickt.“

 „Ich glaube, ich verstehe. – Ihr meint also, dass es Zufall war, dass ich das Tarnsilber gefunden habe?“

 „Vielleicht war es Zufall, vielleicht der Plan eines Gottes, den ich noch nicht verstehe; ganz gewiss jedoch bist du nicht die Herrin des Silbers, wie du schon geheißen wurdest – denn wärst du dies, so wüsstest du, wie du es findest.

 Eines muss ich dir daher dringend ans Herz legen: Du bist keine Göttin und du bist auch nicht mehr Freundin der Götter als irgendein anderer Mensch es ist. Wenn du solches reden hörst, so widersprich!“

 „Ehrwürdiger, ich weiß nicht, ob ich das kann.“

  „Wohl wirst du es nicht verhindern können, dass mancher dich für eine Göttin hält – nicht einmal ich kann dies und wie könnte ich von einem Mädchen mehr verlangen als wozu ich selbst imstande bin. Also verlange ich von dir nicht mehr als ich selbst tue, wenn ich spüre, dass einer mich macht, was ich nicht bin: Sag ihm, du bist ein Mensch wie er!“

 „Ehrwürdiger, ich weiß, ich bin Staub.“

 „Nenn dich nicht Göttin, doch nenn dich auch nicht Staub. Jeder Mensch ist etwas Heiliges, denn jeder Mensch ist von den Göttern gewollt – und dich haben sie mit mehr Verstand begabt als andere Mädchen und Knaben deines Alters; das macht dich zu etwas Besonderem, doch es macht dich nicht göttlich.

 

 Nun aber wollen wir tun, wozu ich dich am Neumond gerufen habe: Sieh! Das hier ist dein Name!“, er zeigte auf eine Tafel, auf der die alten Schriftzeichen der Talmenschen zu lesen waren. „Suraya, Tochter des Haris. Das hier“, er wies auf dieselbe Tafel, jedoch zwei Zeilen tiefer, „ist der Meine: Surdar, Sohn des Layan. Nun bedenke, dass jedes Zeichen nur einen Laut bedeutet und schreibe daneben den Namen deiner besten Freundin!“

 Die Buchstaben A-l-i-n gingen ihr leicht von der Hand. Länger brauchte sie für Jovar. Der Weise lobte sie dennoch. Er ließ sie auf dieselbe Weise noch einige Wörter und Sätze schreiben und schließlich aus einer Schriftrolle vorlesen. Sie las holprig, aber es war verständlich. Es ging in dieser Rolle um Menschen aus dem Tal, die ins Gebirge gekommen waren und in den Höhlen der Vorfahren gelebt hatten.

 „Es ist eine alte Sage. Niemand weiß genau, ob nur Wahrheit in ihr ist. Die Namen, ob von Menschen oder Göttern, sind lange vergessen, doch wenn du sie mit Verstand liest, wirst du finden, welche Wahrheit in dieser Schrift ist. Es ist etwas, das für uns alle sehr wichtig werden kann. Gebrauche dein Wissen und deinen Verstand – und, um der Götter Willen, verlier diese Rolle nicht und lass sie dir nicht wegnehmen; sie ist wertvoller als Tausend gut gearbeitete Schwerter, ein Gros Tarnmäntel und ein Bock besten Goldes in einem!“

 „Ehrwürdiger, Ihr habt zu viel Vertrauen in mich.“

 „Ich weiß, wem ich was anvertraue. Nimm diese Rolle und lies sie – aber lies nicht nur mit den Augen, sondern auch mit dem Herzen.

 Es wird schwer für dich sein, denn die Sprache ist alt und die Schrift für dich neu, doch unendlich leicht verglichen damit, was dich noch erwartet.“

 „Ehrwürdiger, erlaubt Ihr die Frage…?“

 „Du wirst sie zu beantworten lernen, wenn du tust, was ich dich geheißen. Vermagst du es nicht, so ist die Frage für dich ohne Wichtigkeit, denn dann muss ich einen anderen senden.“

Drachenangriff

 Gleich nachdem sie nach Hause kam, begann Suraya die Rolle zu lesen und sie tat es in jeder freien Minute, die sie in den folgenden Tagen hatte. Sie malte sich die Schriftzeichen, die der Weise ihr beigebracht hatte, auf ein Täfelchen, um gegebenenfalls nachschauen zu können, doch die Schrift war das geringste Problem. Vielmehr war die Sprache altertümlich und die Wortstellung oft seltsam.

 Je mehr sie las, desto vertrauter wurde sie mit den ungewohnten Schriftzeichen. Hatte sie am ersten Tag noch die Tafel benutzt, so brauchte sie diese am dritten Tag nicht mehr und nach dem Vollmond konnte sie die fremde Schrift beinahe so flüssig lesen wie die, die sie in der Schule bei Jovar gelernt hatte.

 Die Geschichte handelte davon, dass Menschen aus dem Tal zum Thron der Götter aufgebrochen waren, da sie davon gehört hatten, dass demjenigen Menschen, dem dies gelinge, die Herrschaft über die Welt versprochen worden sei. Sie waren dazu einen Berg, der als ‚Farikspitze‘ bezeichnet wurde, hinaufgestiegen. Ihre Vorräte seien allerdings zur Neige gegangen, als sie in der Hochebene zwischen zwei Bergen, von denen der eine den Rücken eines schlafenden Buckelrindes, der andere die Hörner des Steinbocks darstelle, unterwegs gewesen waren.

 

Suraya wusste nicht, was ein Buckelrind war, doch hatte sie eine Vorstellung, welcher Berg mit den „Hörnern des Steinbocks“ gemeint sein könnte: Wenn man den Berg, an dem die Höhle des Weisen war, überflog, kam man auf ein weites Feld. Zur Linken lag der Felsrücken, in dem die Sippe des Pediko, die ebenfalls dem gleichen Weisen unterstand, lebte, zur Rechten lagen Berge in so weiter Entfernung, dass man sie nur bei klarem Wetter überhaupt sehen konnte. Fast in gerader Linie von den Höhlen von Surayas Sippe, die diejenige des Durdak genannt wurde, über die Spitze des Berges, unter dem der Weise lebte, jedoch in einer Entfernung von mindestens zwanzig langen Meilen sah man zwei auffällig hohe und steile Spitzen, die in der Sippe des Durdak „Göttergabel“ genannt wurden. Suraya konnte sich vorstellen, dass man sie mit etwas Phantasie für die Hörner eines riesigen Steinbocks halten konnte, wenn sie auch lange nicht so krumm waren.

 Sie nahm sich vor, demnächst in diese Region zu fliegen, um vielleicht ausfindig machen zu können, welchen Berg der Verfasser mit dem Buckelrind gemeint hatte. Sie hatte im Kopf, dass es in jener Ebene wenig Wasser gab und für Talmenschen, die nicht fliegen konnten und für zwanzig lange Meilen mehrere Tage benötigten, mochte das durchaus gefährlich sein.

 

 Der Text ging weiter und handelte davon, dass „fliegende Wesen mit Menschengesichtern“ die Wanderer gefunden und in eine Gegend mit Höhlen gebracht hätten. Das Tal und die Höhlen wurden ausführlich beschrieben, sodass Suraya unschwer erkannte, dass weder das langgestreckte und zweimal sich krümmende Tal, in dem ihre Sippe lebte, noch die so genannten Zwillingstäler der Sippe des Radax noch der Felsrücken am Rand der Hochebene, den die Sippe des Pediko bewohnte, gemeint sein konnte.

 Im Folgenden ging es darum, wie die Talmenschen im Dorf bewirtet wurden und mit den Einwohnern ins Gespräch kamen. Der Weise, der, wie üblich, nicht mit Namen genannt wurde, habe  nur gewusst, dass der Thron der Götter „aus gewaltigen Steinen gebaut“ sei und „mehrere hundert lange Meilen nach Mitternacht“ liege. Allerdings gebe es geheime Botschaften, die ein anderer Weiser „das Tal hinab“ besitze, der sie allerdings nicht herausgebe.

 

 Während der Weise der fremden Sippe und die Anführer der Talmenschen übereinkamen, mit dem anderen Weisen in Kontakt zu treten, hätten sich ein geldgieriger Mann namens Woyuk und einer der Talmenschen „von derselben Boshaftigkeit“ verbündet. Der Talmensch habe Woyuk ein Rohr gezeigt, wodurch man „mit der Kraft des Feuers Geschosse mit viel größerer Kraft und viel genauer denn mit Pfeilen möglich“ schießen konnte. Es musste sich dabei um einen Feuerschläger handeln; offenbar hatten die Menschen aus dem Tal diese Waffen damals schon herstellen können; in Surayas Sippe war Sprengpulver lange nur zur Abschreckung verwendet worden.

Der Talmensch habe dieses Rohr genommen und sich von Woyuk durch die Ebene tragen lassen.

 Bei diesem Flug über die Ebene endete die Rolle.

 

 Suraya überlegte, ob sie den Weisen nach der Fortsetzung fragen solle. Ihr fiel allerdings ein, dass er verlangt hatte, sie solle ‚auch mit dem Herzen‘ lesen. Welche geheime Botschaft konnte die Rolle enthalten?

 Sie las den Text nochmals und genauer: Der Weg, den die Talmenschen gegangen waren, war genau beschrieben. Sie hatten ihren Ausgang sicher nicht bei den Talmenschendörfern genommen, die sie kannte. Das Dorf musste von der beschriebenen Hochebene aus gesehen auf der anderen Seite des Felsrückens der Sippe des Pediko liegen. Nun, das konnte man herausfinden. Die genaue Beschreibung setzte jedoch ab dem Moment, in dem die Talmenschen von den Männern aus der fremden Sippe gerettet wurden, aus und fuhr erst in deren Dorf fort.

 Ihr fielen einige ungewöhnliche Formulierungen auf, doch erst, als sie einige Sätze aus der Rede des Weisen laut las, bemerkte sie es: Der Text war in Versen geschrieben wie Gebete oder Segenssprüche.

 Sie las auch den Anfang laut, doch stellte sie fest, dass dieser nicht in Versen gelesen werden konnte, obwohl es auch dort einige ungewöhnliche Stellungen gab – nun ja, diese mochten in der Zeit, in der die Rolle geschrieben war, normal gewesen sein.

 Sie rollte das Pergament am Stab schneller auf, um zu prüfen, wo in Versen geschrieben war und wo nicht und kam zum Schluss, dass die Dichtung ab der Stelle begann, in der das fremde Dorf beschrieben wurde und dort endete, wo Woyuk und der Talmensch ihren Ränkeplan schmiedeten.   Die letzten beiden Zeilen waren dagegen wieder Verse: „Und flogen sie dahin / an langen Berges Seiten, zum frevelhaften Ziel / wie sie geschwor’n zuvorder.“

 

 Es war also weder nur der Weise, der in Versen sprach, noch der Erzähler, da der erste Teil anders geschrieben war. Suraya überlegte, was sonst der Grund gewesen sein könnte und warum die Wortstellung dennoch ungewöhnlich war. Sie kam jedoch zu keiner Lösung und hoffte, der Weise werde ihr nicht böse sein. Sie nahm sich vor, am Tag des Vollmonds die Gebiete zu erkunden, von denen in der Schriftrolle die Rede war.

 

 In den Tagen bis dahin hatte sie noch einiges zu tun, zum einen musste sie lernen, da vor Sonnwend noch die Abschlussprüfungen anstanden, zum anderen gelegentlich ihren Eltern zur Hand gehen. In der Schule behandelte man sie immer noch distanziert, was zwar den Vorteil hatte, dass Herr Jovar sich kaum traute, Suraya abzufragen, doch andererseits dazu führte, dass Alin sich immer mehr von ihr entfernte.

 So überraschte es Suraya, dass ausgerechnet der lange Jodik, ein Junge, der zwar intelligent war, doch an Kraft sogar manchen Mädchen unterlegen, sie am Tag vor Vollmond ansprach: „Frau Suraya…“

 „Vergiss die Frau und nenn mich Sura! Worum geht’s? Soll ich die Götter bitten, dass du noch bessere Noten oder dass du endlich Muskeln bekommst?“

 „Weder…noch.“ Er sah sich um und flüsterte: „Die Götter gehorchen keinem Menschen.“

 „Wer sagt das?“, fragte Suraya in normaler Lautstärke.

 „Der Weise. Er hat…als mein Vater ihn gebeten hat, zu opfern, damit meine Mutter wieder gesund wird, hat er das gesagt.“

 „Na ja, gesund scheint sie ja wieder zu sein.“ Sie kannte Jodiks Mutter flüchtig. „Aber was wolltest du jetzt?“

 „Ich wollte dich fragen, ob du… an Sonnwend…“

 Suraya schaute ihn entgeistert an. Beinahe hätte sie glatt abgelehnt, doch dann fiel ihr ein, dass außer ihm kaum mehr ein Junge frei sein würde. Im Vorjahr hatte Herr Jovar Tebuk vor den anderen befohlen, mit Usika zu tanzen – wenn sie ablehnen und Sarmin sich für Hatala oder Dinta entscheiden sollte, würde ihr dasselbe passieren wie der froschgesichtigen Usika, zumal dann ein Junge aus dem nächstniederen Jahr oder einer derjenigen, die im Vorjahr die Feuertaufe empfangen hatte, Surayas Partner werden würde. Da sie die Blamage, dass alle wussten, dass ihr Partner nur gezwungen mit ihr tanzte, fürchtete, sagte sie zu.

 

 An Vollmond musste sie vor dem Mitternachtsessen einige Besorgungen erledigen, doch danach hatte sie Zeit genug. Sie zog Drachenlederkleid und Tarnmantel an und flog hoch über den Berggipfel und die Wohnstätten der Sippe des Pediko hinweg. Sie stellte fest, dass die Ebene tatsächlich sehr viel trockener zu sein schien als die Gebiete in Richtung der Talmenschendörfer, die sie kannte.

 Ein gutes Stück in Richtung Mitternacht stieg der Kamm, in den die Höhlen der Sippe des Pediko getrieben waren, wieder zu einem Berg an und hinter dem Berg war ein Spalt zu erkennen. Sie schloss nicht aus, dass dort ein für Talmenschen begehbarer Weg hindurchführte. Tatsächlich fand sie einige Details aus der Schriftrolle, etwa zwei direkt übereinander liegende Quellen oder einen Geröllhaufen, der vom Berg aus genau in Richtung Mitternacht führte, bestätigt. Der Pfad, den die Männer aus der Schriftrolle vor langer Zeit gegangen sein mussten, war zu erkennen und Suraya empfand eine Mischung aus Mitleid und Bewunderung für sie: Sie hätte sich hier nirgends zu landen getraut, so abschüssig war der Hang und diese flügellosen Talmenschen waren den ganzen langen Weg hinaufgestiegen!

 Sie flog wieder über den Kamm und die Ebene, die dahinter lag. Tatsächlich war diese eine Steinwüste, in der nirgends ein Bach zu erkennen war; nur gegen Mittag lagen einige kleine Felder in der Nähe der Wohngegend der Sippe des Pediko. Sie erinnerte sich, dass diese Sippe zwar reich war, da sie Gold und Edelsteine nahe ihren Höhlen gefunden hatte, aber dass ihre Mitglieder oft Dinge des täglichen Bedarfs wie Brot, Nadelmehl, Beeren- oder Krautwein auf dem Markt in der Höhle des Goldenen Drachen kauften.

 Aus einiger Entfernung sah der Berg, der von dem Pass, über den die fremden Talmenschen gekommen sein mussten, aus in Richtung Mitternacht lag tatsächlich wie ein buckliges Rind aus, wenn auch keine Hörner zu erkennen waren. Von nahe betrachtet war der Buckel keineswegs regelmäßig, sondern von zahlreichen Erhebungen und Tälern durchzogen.

 Je näher Suraya der anderen Seite der Ebene kam, desto deutlicher stellte sie fest, dass dasselbe für die Göttergabel galt, die in der Schriftrolle ‚Hörner des Steinbocks‘  genannt wurde: Zwar ragten die beiden Spitzen immer noch hoch und steil auf, doch gab es zwischen und hinter ihnen andere, wenn auch niedrigere Bergspitzen von ähnlicher Art, die aus der Ferne jedoch nicht auffielen und von unten gesehen wohl noch weniger.

 Die Ebene war noch breiter als Suraya gedacht hatte: Die Sterne hatten sich bereits deutlich bewegt, als das Land unter ihr wieder anstieg und grüner wurde. Sie zog ihre Sternenuhr aus der Tasche und fand bestätigt, was sie vermutet hatte: Es war mehr als drei Stunden nach Mitternacht, was bedeutete, dass sie mindestens anderthalb Stunden über die Ebene geflogen sein musste; normalerweise schaffte sie in einer Stunde knapp zwanzig lange Meilen.

 

 Kurz bevor sie die Felsen der Gegenseite erreichte, kamen ihr drei Männer entgegen. Sie hatten sie offensichtlich bemerkt, denn einer der drei flog direkt auf sie zu.

 Da sie nicht wusste, ob die drei Gutes im Sinn hatten, flog sie zur Seite. Einer der Männer, der sie offenbar gesehen hatte, folgte ihr.

 Ein Tarnmantel spiegelte nur den Hintergrund, der sich bei raschen Bewegungen natürlich änderte, sodass ein halbwegs geübter Beobachter zwar nicht den Träger sehen, wohl aber erkennen konnte, dass und wo sich jemand befand. Suraya wusste das nur zu gut: ‚Fang den Unsichtbaren‘ war eines ihrer Lieblingsspiele. Dabei musste jemand im Tarnmantel ein bestimmtes Ziel erreichen, woran ihn die anderen, sichtbar, hindern mussten. Da man in der Luft weder stehenbleiben noch sich so langsam bewegen konnte, dass es nicht auffiel, war es ratsam, sich auf den Boden sinken zu lassen, wenn man umzingelt war. Genau das tat sie auch jetzt, doch die drei anderen kannten das Spiel wohl auch: Der Mann, der in ihre Richtung geflogen war, ließ sich ebenfalls sinken und der dritte flog unter ihr rasch hin und her, sodass sie nicht ohne weiteres ungesehen an ihm vorbei landen konnte. Während sie noch eine neue Strategie überlegte, spannten zwei der Männer den Bogen.

 „Wer bischt? Zeig di!“, rief derjenige, der ihr zuerst entgegengeflogen war. Er richtete den Pfeil direkt auf sie. Suraya bekam Angst: Zwar war sie gut im Ausweichen, Flügel waren jedoch ein dankbares Ziel und ein Treffer führte fast immer zum Sturz. Sie hob ihren Tarnmantel. „Ich bin Suraya, die Tochter des Haris, aus der Sippe des Durdak. Ich komme in Frieden.“

 „Durdak?“, fragte der, der unter ihr hin und hergeflogen war, ein junger Bursche, wohl nur wenig älter als sie, seine Kollegen. „Hascht des schomal ghört?“

 „Wir wohnen dort hinten“, erklärte sie und zeigte über die Ebene.

 „Was fliegsch so weit? Über d’Wüscht?“, fragte nun wieder der erste, offenbar der Anführer.

 „Nichts weiter. Ich war nur neugierig, was hier passiert.“

 Der Mann beriet sich kurz mit seinen Kollegen. „Sie isch a kleas Madl“, flüsterte einer. „Kann mir niad vorstelln, dass’s was Schlimms will.“

 Auch der Anführer schien davon auszugehen: „Sei niad bös, aber wenn da a Fremder unsichtbar herkommt, weischt niad, was los isch. Bisch allei?“

 Suraya bejahte, worauf die Männer ihr Misstrauen endgültig ablegten. Sie wurde sogar zum Tee in eine ihrer Höhlen eingeladen.

 

 Es sah eigentlich so aus wie bei ihr zu Hause, wenn auch die Menschen ungewohnt sprachen und der Tee etwas anders schmeckte als in ihrer Sippe. Die drei Männer und die Frau des Anführers wollten einiges über Surayas Sippe und sie selbst wissen und erzählten auch manches von sich. Wie ihre eigene hatte die fremde Sippe ihre kleinen Felder und hielt Tiere; auch einige Spiele wie ‚Fang den Unsichtbaren‘ oder Nestball waren den Fremden bekannt. Über Talmenschen wussten sie allerdings nichts.

 

 Suraya blieb nur etwa eine Stunde bei  den Fremden, um rechtzeitig zum Tagmahl wieder zu Hause zu sein. Sie kam dennoch zu spät, obwohl sie sich beeilte und fertig war, als sie heimkam. Über vier Stunden in der Luft, davon die letzten zwei Stunden ohne Pause, zehrten an ihren Kräften.

 Ehe sie schlafen ging, zeichnete sie aus dem Gedächtnis eine Karte. Demnächst wollte sie das Gebiet erkunden, aus dem die Talmenschen gekommen sein mussten und ihre Karte dabei mitnehmen und verbessern. Anschließend wollte sie die Ergebnisse dem Weisen präsentieren.

 

 Dessen Pläne waren jedoch anders: Bereits am zweiten Tag nach dem Vollmond fand sich Taran, der Diener des Weisen, gegen Morgen bei ihren Eltern ein. Diese bewirteten den Gast freundlich, doch fielen beim Essen wenige Worte. Erst danach bat Taran: „Herr Haris, ich bitte Euch um die Gnade, mit Eurer Tochter alleine zu sprechen.“

 „Ihr müsst zugeben, dass diese Bitte ungewöhnlich ist – oder wollt Ihr womöglich um ihre… dann wisset hiermit, dass ich meine Tochter nicht in den nächsten drei Jahren und nicht gegen ihren eigenen Willen einem Mann geben werde.“

 „Ich schwöre bei allen Göttern, dass ich weder im Sinn habe, Eure Tochter zur Frau zu nehmen noch – vielmehr noch weit weniger – irgendetwas zu tun, was einem anständigen Mann bei einem fremden Mädchen nicht geziemt. Allerdings hat mein Herr mir befohlen, einige Dinge mit ihr und nur mit ihr zu besprechen.“

 

 Der Vater stimmte zu und Taran ging mit Suraya in deren Zimmer. „Mein Herr lässt dich fragen, ob du inzwischen seine Aufträge erfüllen konntest“, begann er.

 „Ich muss leider gestehen, dass ich noch nicht alle Fragen, die sich mir gestellt haben, beantworten konnte.“

„Aber du hast die Rolle gelesen?!“

 „Ja, das schon.“

 „Ich habe auch gehört, du seiest vorgestern jenseits der Wohnungen der Sippe des Pediko gewesen. Hat es damit zu tun?“

 „Ja, Herr. Ich wollte sehen, ob die Angaben in der Rolle stimmen.“

 „Dann weißt du bereits einiges, wie mein Herr auch vermutet hat. Er will dich sehen, sobald es dir möglich ist. Er lässt dich allerdings bitten, den Tarnmantel zu tragen, wenn du kommst – du hast doch einen Tarnmantel?!“

 „Ja, aber ich verstehe nicht…“

 „Er hat darauf bestanden.“

 

 Sie half in der nächsten Nacht wieder ihrem Vater und ihrem Bruder bei der Gewinnung von Silber und richtete sich gegen Morgen für den Besuch beim Weisen her. Dabei benutzte sie einige der Opfergegenstände, die zwar nicht mehr so reichlich wie in den Tagen nach ihrem Ausflug mit dem Weisen, jedoch immer noch häufig vor ihrem Zimmer lagen, darunter ein Paar schön gearbeitete Silberohrringe, ein duftendes Öl und ein rötlich glänzendes, sehr feines Harz, das auf ihren Fingernägeln ganz anders wirkte als das einfache. Ein Freund ihres Bruders, der zu Besuch war, pfiff, als Suraya die Höhle verließ.

 Draußen jedoch zog sie, wie der Weise gefordert hatte, den Tarnmantel über, ehe sie aufflog. Einmal kehrte sie noch um, da sie ihre Zeichnung mitnehmen wollte.

 Der Weise sagte diesmal, abgesehen von der üblichen Aufforderung, aufzustehen und hereinzukommen und der Erwiderung des Grußes, nichts. Suraya verstand das als Aufforderung, dass sie sprechen sollte. Sie berichtete, was ihr bei der Lektüre der Schriftrolle aufgefallen war.

 „Nun, wie erklärst du dir den Wechsel zwischen Versen und Prosa?“, unterbrach er sie zum ersten Mal.

 „Ich weiß nicht, Ehrwürdiger. Ich habe ja, wie ich euch bereits gesagt habe, bemerkt, dass der Text nur in Versen geschrieben ist, wenn von unseren Leuten die Rede ist.“

 „Das hast du durchaus richtig beobachtet. Hast du auch bemerkt, wie der Verfasser des Textes uns nennt?“

 „Ihr meint… ‚fliegende Menschen‘ oder…?“

 „Mehr noch: ‚Fliegende Wesen mit Menschengesichtern‘. Nun überleg dir, was dir an dieser Formulierung auffällt!“

 „Dem Verfasser… erscheint es ungewöhnlich, dass Menschen fliegen können… Ihr meint, er ist… ein Talmensch?!“

 „So ist es. In den Teilen jedoch, die als Verse geschrieben sind, werden Dinge beschrieben, die ein Talmensch nicht wissen kann. Umgekehrt spricht der Text von einem Rohr, mit dem man ‚mit der Kraft des Feuers‘ schießen kann und das die Menschen im beschriebenen Dorf nicht kannten.“

 „Der Feuerschläger ist eine…“

 „Verzeih mir die Unterbrechung, aber du enttäuschst mich: Die Talmenschen kannten damals also schon Feuerschläger oder etwas Ähnliches – und wenn sie es kannten, hatten sie sicher auch ein Wort dafür. Das Folgerichtige wäre gewesen, dieses Wort zu übernehmen. – Mit anderen Worten: Der Text wurde von zwei verschiedenen Personen geschrieben, einem Talmenschen und einem von uns. Ein anderer hat die Worte des Talmenschen übersetzt.

  Und hier, Suraya, liegt deine Aufgabe: Ich glaube, dass dieser Text noch einige Geheimnisse enthält. Du sprichst von einer ‚ungewöhnlichen Wortstellung‘: Vielleicht war der Text in der Sprache des Tales ebenfalls in Versen geschrieben. Es wird eine schwere Aufgabe sein, dies herauszufinden – und eine Aufgabe, die ich nicht mehr werde erfüllen können, denn meine Jahre sind gezählt. Du aber bist noch jung genug, um die Sprache der Talmenschen wieder zu uns zu bringen.“

 „Ihr meint…aber das dauert Jahre.“

 „Das ist richtig. Aber es ist unsere einzige Möglichkeit. Keiner der anderen Weisen kennt die Sprache der Talmenschen; einige kennen einzelne Wörter, doch mir scheint, du bist diejenige, die sich die meisten angeeignet hat. Auf diesem Pfad sollst du weitergehen. – Es kann durchaus  sein, dass in diesen Worten der Talmenschen der Schlüssel zum Verständnis liegt; von einer weiteren Schriftrolle ist nichts bekannt, doch es ist sicher, dass irgendjemand das Schicksal des Woyuk kennt.“

 „Meint Ihr, es könnte nützen, mit dem Stamm bei der Göttergabel Kontakt aufzunehmen?“

 „Das habe ich schon getan. Der Weise dieses Stammes kennt die Geschichte, aber nur Gerüchte darüber, wie es Woyuk und dem Verräter unter den Talmenschen ergangen ist, die er aber nicht für wahr hält. Immerhin ist es möglich, dass es Geheimnisse gibt, die einzelne Talmenschen mit einzelnen unserer Vorfahren teilten und dass diese Geheimnisse noch nicht ganz verloren sind.“

 „Meint Ihr den Seffir?“

 „Das wage ich nicht zu behaupten, doch es wäre denkbar.“

 

 Suraya musste noch über ihren Flug über die Ebene erzählen und ihre Karte zeigen. „Sie ist schlecht, ich weiß, Ehrwürdiger!“

 „Nein. Für eine aus dem Gedächtnis gezeichnete Karte ist sie gut. Diese hier…“ er zog eine Schriftrolle aus einer Tonne, „ist jedoch besser. Und sieh sie dir genau an!“

 Suraya gehorchte. „Da hat jemand den Weg nachgezeichnet“, rief sie erstaunt, „und mögliche Wege des Woyuk vielleicht. Wisst ihr, von wem die Karte ist?“

 „Leider nein, aber du hast es richtig erfasst: Der Zeichner wusste mehr als wir.“ Er machte eine Sprechpause. „Eine andere Sache, die mir etwas Sorge bereitet: Du hattest Glück, dass die Männer es gut meinten, aber was tust du, wenn du an andere geraten solltest? Bist du im Kampf geübt?“

 „Das wage ich nicht zu behaupten. Mein Bruder ist ein sehr guter Ringer und ich kenne einige Griffe von ihm; gefochten und geschossen habe ich schon, aber beides nur gelegentlich; Alin, meine beste Freundin, und ich haben uns Schwerter zur Brandtaufe gewünscht, denn wir wollen das Fechten richtig lernen, aber mein Vater…“

 „… wird diesen Wunsch unterstützen, denn es muss sein. Vor allem aber solltest du dich in Acht nehmen. Es kann mitunter sein, dass es besser ist zu fliehen.“

 

 Er sah sie lange prüfend an. „Du hast noch etwas auf dem Herzen!“

 „Ja, warum sollte ich im Tarnmantel… Sollen die Leute nicht wissen, dass ich zu euch komme?“

 „Sie dürfen nicht wissen, wie oft du kommst und du wirst häufiger kommen müssen, denn ich werde dich noch vieles lehren müssen – aber auch von dir einiges lernen.

 Dein Fechtunterricht kann übrigens bereits morgen beginnen: Taran wird dich unterweisen und er ist, wie du vielleicht weißt, ein sehr geübter Fechter. Es ist dir auch erlaubt, deine Freundin Alin mitzubringen; wenn ihr euch gegenseitig anstachelt, nützt das eurem Fortschritt. Übungswaffen besitze ich. – Aber dich bedrückt noch etwas: Jodik, der Sohn des Berserkerzüchters.“

 „Woher wisst ihr das? Könnt ihr doch Gedanken…?“

 „Aber nein! Vielmehr habe ich ihm das geraten.“

 „Warum das? – Ich möchte ja eure Weisheit nicht hinterfragen, aber…“

 „Es gibt zwei junge Leute, die dieses Jahr die Feuertaufe empfangen werden, deren Verstand für höhere Aufgaben ausreicht. Dies sagt Herr Jovar und dies kann ich bestätigen, soweit ich die beiden kenne. Es handelt sich um ein Mädchen, das bist du, und einen Knaben, das ist Jodik, der Sohn des Berserkerzüchters Avuk. Wo aber können ein Mädchen und ein Knabe, die nicht verwandt sind, weniger auffällig miteinander reden als nach den Tänzen, die auf die Feuertaufe folgen, wenn der Gesang leiser wird und die jungen Erwachsenen sich in allem Anstand zurückziehen dürfen?“

 „Das heißt, Jodik gehört auch zu eurem Plan?!“

 „Das tut er, genau wie du. Falls es nötig ist, werden dazu noch Männer und Frauen kommen, die sich besser aufs Kämpfen verstehen.“

 „Meint ihr, dass wir kämpfen müssen?“

 „Das kann ich ebenso wenig sagen wie du. Sicher ist, dass wir Wege finden müssen, den Zusammenhang zwischen der Schriftrolle und den Edelsteinen herauszufinden. Wenn wirklich ein Fluch auf dem Seffir liegt, kann es für den Finder und andere gefährlich werden. Und es ist sehr gut möglich, dass die Männer, die du in der Höhle des Seffir beobachtet hast, Böses im Sinn haben. Du weißt, dass ich nie rate, die Waffen zu ergreifen, wenn es sich irgend vermeiden lässt, aber es könnte nötig sein.“

 

 Suraya brachte es nicht übers Herz, mit Jodik über die Aufgabe zu sprechen. Auch er traute sich nicht, vor den anderen mit ihr in Kontakt zu treten.

 Die erste Möglichkeit ergab sich jedoch, als Suraya zwei Tage später gemeinsam mit Alin zu Taran flog, um die erste Fechtstunde zu nehmen. Auch Jodik war zur Überraschung der Mädchen dabei – und stellte sich noch ungeschickter an als Suraya, während Alin relativ gut focht und von Taran gelobt wurde.

 Nachdem sie die Schwerter zurückgelegt hatten, lobte Jodik auch Suraya, flüsterte ihr dann aber, als Alin schon am Wegfliegen war, zu: „Wie gut kannst du die Sprache der Talmenschen eigentlich?“

 „Ein paar Wörter, nicht wirklich gut“, antwortete Suraya wahrheitsgemäß.

 „Ich auch, aber ich hab eine Idee, wie wir sie besser lernen können. Wir müssen uns einmal treffen.“

 „Ja, schon, aber ich hab wenig Zeit.“

 

 Bis zum Neumond trafen sie sich nicht. Suraya, Alin und Jodik nahmen insgesamt vier weitere Fechtstunden bei  Taran, der allen Fortschritte bescheinigte, obwohl Suraya nicht wirklich mit sich zufrieden war.

 Am Neumond löste Suraya ihr Vorhaben ein und flog den Weg entlang, den die Talmenschen in alter Zeit hinaufgestiegen sein mussten. Sie sah bereits einzelne Dörfer, als plötzlich ein riesiger, schwarzer Drache ihr entgegenkam.

 Sie wusste, dass es keinen Grund gab, Angst vor Drachen zu haben: Zwar konnten sie sehr schnell fliegen und Feuer speien und waren schwer zu verletzen, doch umso leichter konnte man sie ablenken, selbst mit einfachen Steinen.

 Suraya drückte auf ihren Sprengring, worauf ein ohrenbetäubender Knall zu hören war und eine schwarze Wolke nach rechts wegschoss. Der Drache ließ sich jedoch nicht beeindrucken und flog auf sie zu. Sie löste die zweite Sprengung aus, diesmal direkt auf den Drachen, doch auch dies hielt ihn nur einen Moment auf.

 Nun bekam sie wirklich Angst: Sie hatte keine geeigneten Waffen dabei, sah keine Höhle, in der sie sich verstecken könnte und der Drache war sicher schneller als sie. Sie betete zu allen Göttern und Geistern, während sie die nächste Sprengung auslöste. Bald würde ihr Ring erloschen sein.

 

 Einige Zeit hatte sie mit der einzigen Methode, die ihr einfiel, Erfolg: Haken schlagen. Der Drache kam zwar auf Feuerweite heran, sie wich allerdings aus und er spie sein Feuer in die Luft. Gemeinsam mit den Sprengungen und den dunklen, dichten Wolken die dadurch ausgelöst wurden, reichte es für Suraya dazu, bis zu den Höhlen der Sippe des Pediko zu kommen. Die ersten Höhlen schlossen sich allerdings, als die Menschen den Drachen nahen sahen und wenn Suraya gehofft hatte, irgendwo aufgenommen zu werden, wurde sie enttäuscht.

 „Schämt euch!“, rief eine Männerstimme. Im nächsten Moment krachte ein Feuerschläger. Die Kugel schien den Drachen getroffen, jedoch nicht verletzt zu haben. Er wandte sich für einen Moment von Suraya ab, die dies ausnützte, um den Vorsprung zu vergrößern. Ein zweiter Schuss krachte, diesmal auf den Hals des Drachen.

 Der blieb unverletzt und blies Feuer auf den Angreifer, der noch einmal ausweichen konnte; als er erneut zum Schuss ansetzte, war aber der Drache schneller: Ein Feuerstoß ließ einen Flügel des Mannes verbrennen, der so zur Erde stürzte.

 

 Suraya flog hin, so schnell sie konnte. Wenn sie dem Fremden, der ihr geholfen hatte, schon nicht gegen den Drachen beistehen konnte, so wollte sie doch zumindest seinen Sturz abfangen.

 Der Drache, der sich wieder ihr zugewandt hatte, war irritiert, doch als Suraya den Mann mit dem einen Flügel zu fassen bekam, hatte er sie auch wieder gewittert: Er drehte nun auf sie zu und holte Luft. Gleich würde er sie verbrennen!

 „Geister der Erde, nehmt mich gnädig auf!“, betete Suraya verzweifelt.

Die Beute

 Sie wich im letzten Moment aus, sodass der Feuerstoß sie nur streifte. Sie spürte zwar ein Brennen am Rand ihres rechten Flügels, konnte aber, wenn auch unter Schmerzen, weiterhin fliegen. Noch mehr irritierte sie, dass der Drache plötzlich aufjaulte. Sie sah genauer: Das Monster spuckte Blut. Der Fremde musste es ins Maul getroffen haben.

 „Hier, nimm! Ich kann nichts mehr damit anfangen!“, brüllte der Mann von unten und hielt ihr ein Schwert entgegen. Sie wunderte sich: Was sollte sie mit einem gewöhnlichen Schwert gegen einen Drachen anfangen? Als sie genauer hinschaute, erkannte sie jedoch den rötlichen Schimmer: Es war durangehärtet!

 „Na los, Mädchen, willst du warten, bis das Biest uns beide grillt?!“

 Sie flog hin, nahm dem Mann das Schwert aus der Hand und wich dem Drachen gerade rechtzeitig aus. Ein zweites Mal flog sie das Ungeheuer an und schlug mit dem Schwert zu, doch die Klinge glitt am Schuppenpanzer des Drachen ab. Wenn sie Erfolg haben wollte, musste sie unter den Schuppen durchstechen.

 Sie hielt sich in der Bauchregion des Drachen auf, da dieser offenbar Schwierigkeiten hatte, seinen Kopf dorthin zu bewegen.

 „Hoch! Fass!“, ertönte ein scharfer Befehl. Suraya erkannte nicht, wem er galt, doch der Drache wandte den Kopf nach hinten. So wagte sie es, den Hals anzufliegen und zuzustechen. Diesmal traf sie, doch die Wunde war nur oberflächlich.

 Auf dem Rücken des Drachen hörte sie ein lautes, tiefes Bellen. Sie mussten so nah am Boden sein, dass ein Berserker dem Ungeheuer auf den Rücken hatte springen können. Dieses spie Feuer, offenbar, um den Angreifer loszuwerden, was Suraya die Gelegenheit gab, nochmals zuzustoßen. Diesmal saß der Stich: Ein daumendicker Blutstrahl schoss aus dem Körper des Monsters über ihre Arme. Sie war stolz, aber sicher, dass die Wunde nicht reichen würde, zumal der Blutfluss nachließ. Sie stieß ein zweites Mal zu, wieder erfolgreich, doch diesmal traf sie der Feuerstoß am Arm. Sie spürte heftiges Brennen und es grenzte an ein Wunder, dass sie ihr Schwert nicht fallenließ. Sie flog zur Seite und wich einem neuen Feuerstoß aus, doch merkte sie, dass dieser schwächer war als die vorigen. Im selben Moment krachte ein Schuss von unten und wieder floss Blut aus dem Maul des Drachen. Sie flog ein weiteres Mal den Drachen an, nun auf der Höhe, auf der das Herz liegen musste und stieß zu, einmal, zweimal und ein drittes Mal, als die erste Wunde zu verheilen begann. Der Drache drehte nochmals seinen Kopf in ihre Richtung, doch die Feuerkraft reichte nicht mehr.

 Sie spürte erneut Blut, allerdings vom Rücken des Drachen: Der Berserker musste es geschafft haben, den kugelfesten Panzer des Ungeheuers durchzubeißen. Sie stach ein weiteres Mal die verheilenden Wunden mit dem Schwert auf und spürte, wie der Drache allmählich sank. Er versuchte, sie anzugreifen, doch sein Hals und seine Klauen gehorchten nicht mehr, ebenso wenig wie seine Flügel. Mit einem Krachen fiel das riesige Tier auf den Felsenboden.

 „Gut, Barhu, nochmal!“, hörte sie eine Stimme rufen. Der Berserker, er musste eine Schulterhöhe von gut der Größe eines erwachsenen Menschen haben, biss erneut zu. Auch Suraya stach noch einmal zu und der Fremde schoss auf eine der Wunden am Hals, die nun wieder aufplatzte.

 

 „Das war’s. Danke euch!“, rief nun der Besitzer des Schwertes. „Holt den großen Bottich aus meiner  Höhle. Hier, der Eingang dort drüben, dritte Seitenhöhle rechts, Passwort Silberring! Ihr seid schneller dort als ich. Das Blut dieses Biestes ist Gold wert.“

 „Sehr brav, Barhu!“, rief die andere Stimme und Suraya merkte erst jetzt, dass sie Yodik gehörte. „Bock gibt’s daheim! Sitz!“

 Der Berserker sprang vom Rücken des Drachen. Sitzend war er gut doppelt so groß wie Yodik, der nun in die angegebene Richtung flog. Suraya tat dasselbe, auch wenn ihr Flügel immer noch schmerzte.

 „Danke dir!“, brachte sie heraus.

 „Wenn ich helfen kann, ist das doch selbstverständlich“, blieb Yodik bescheiden.

 „Wusstest du, dass der Berserker Drachenhaut durchbeißen kann?“

 „Berserker wachsen mit ihren Aufgaben. Barhu ist unser bester und stärkster Zuchtrüde; er hat schon armdicke Eisenketten zerrissen und durchgebissen. Ich habe gedacht, wenn es eine Möglichkeit gibt, den Drachen zu besiegen, dann mit seiner Hilfe.

 

Sie fanden die Höhle, holten den Bottich und stellten ihn unter den Drachen, dessen Wunden Suraya erneut mit dem Schwert aufstoßen musste, damit das Blut weiter floss.

 Sie flog auf den Fremden zu und wollte ihm die Waffe zurückgeben.

 „Es gehört Euch! Was soll ein Krüppel mit einem Schwert?“, sagte der Mann.

 „Wenn Ihr ein Krüppel seid, dann deshalb, weil Ihr mir geholfen habt. Ich werde Euch das Schwert natürlich bezahlen und noch mehr.“

 „Und Ihr habt meinen Sturz abgefangen und dem Biest die tödlichen Wunden zugefügt.“

 „Das wage ich nicht zu behaupten. Ihr habt ihm ins Maul geschossen und der Berserkerhund hat ebenfalls seinen Anteil.“

 „Dennoch habt Ihr ihm die tödlichen Stiche beigebracht und seid als einzige direkt an ihm gewesen.“

 „Ein erfahrener Mann mag das entscheiden!“

 „Ich schlage einen Mann aus der Sippe des Radax vor“, mischte sich nun erstmals Yodik in das Gespräch ein. „Wir beide sind aus der Sippe des Durdak, Ihr wohl aus der des Pediko. Ich werde mich darum kümmern, aber vorher erlaubt, dass ich meinen Hund nach Hause bringe.“

 „Selbstverständlich, junger Herr, und vernehmt, dass Yarum, aus der Sippe des Pediko, keinen Anspruch auf diesen Drachen erhebt.“

 „Und vernehmt, dass Suraya, aus der Sippe des Durdak, es als Beleidigung auffassen würde, würdet Ihr auf Euren Anteil verzichten.“

 „Komm!“ Yodik tippte Suraya auf den Rücken. Sie flogen auf, während der Berserker unter ihnen herrannte. Suraya hatte immer noch Schmerzen, allerdings keine Schwierigkeiten, Yodiks Tempo mitzuhalten.

 

 In ihrem Tal trieb Yodik erst einmal dem Berserker den versprochenen Bock entgegen, den er sofort tot biss, um sich heißhungrig über ihn herzumachen. Suraya flog inzwischen zu ihrer Familie, wo sie erzählen musste, wo sie gewesen war und wie sie zu dem Schwert gekommen war. „So etwas in Kinderhände, das hätte es früher nicht gegeben!“, lästerte ihr Bruder.

 Ihre Eltern gerieten noch durch die Erzählung in Angst und der Vater richtete ein Dankopfer her. Jantar meinte, das Schwert käme mindestens auf fünfzehn Drachenkronen.

 

 Während Yodik sich auf die Suche nach einem erfahrenen Jäger in der Sippe des Radax machte, besuchte Suraya den Drachenhauthändler Lobont, um ihm vom Fund zu erzählen. Der glaubte ihr erst nicht, als sie aber berichtete, das Tier sei mindestens fünfzehn Klafter lang und das Leder von bester Qualität, kam er mit, um sich den Fund nicht entgehen zu lassen.

 Als Suraya und Lobont an der Stelle, an der der Drache verendet war, ankamen, warteten Yodik und der Mann aus der Sippe des Radax bereits. Unter den Augen Surayas, Yarums und Yodiks begann der Jäger, den Körper des Drachen zu untersuchen.

 „Keine der Wunden hätte alleine gereicht, um den Drachen zu töten“, stellte er schließlich fest. „Im Zweifelsfall verdient derjenige, der das Schwert geführt hat, ein wenig mehr als die beiden anderen, allerdings höchstens zwei Fünftel insgesamt, denn auch die Hundebisse und die Schüsse ins Maul hatten Anteil am Tod des Tieres.“

 Die drei Drachentöter dankten ihm und wandten sich nun an Lobont. „500 und ich übernehme Häutung und Abtransport“, erklärte der.

 „Mann, das ist lächerlich“, protestierte Yarum. „Das Vieh ist mindestens 1000 wert. Geht und ich frage in meiner Sippe!“

 „So wahr die Götter mir helfen, mehr als 500 wird euch niemand geben!“

 „Ihr solltet nicht leichtfertig die Götter beschwören“, antwortete Yarum.

 „Schon gar nicht falsch. Also? 1000 oder sollen wir andere Händler fragen?“

 „550 vielleicht, aber keinen Kreuzer mehr!“

 Es wurden zähe Verhandlungen, bis sie sich schließlich auf 745 Drachenkronen einigten, für jeden der drei ein kleines Vermögen. Lobont hatte nur 300 vorrätig, versprach allerdings, nachzuzahlen, sobald er das Geld hatte. Suraya übergab von ihrem Anteil von 100 Kronen sofort siebzehn Yarum für das Schwert. Für zweieinhalb weitere überließ er ihr auch noch die Scheide dazu.

 

 Obwohl der Drache schon vor seinem Tod viel Blut verloren hatte und sie sicher nicht professionell vorgegangen waren, war Yarums Bottich fast voll geworden – Suraya schätzte die Menge auf vier oder fünf Scheffel. Sie und Yodik meldeten bei Lobont den Wunsch nach Schutzanzügen an, ehe sie auseinandergingen. Lobont holte seine Söhne und Knechte, um den Drachen zu häuten, während Suraya und Yodik Eimer und ein Messgefäß herbeibrachten.

 Sie hatte nicht schlecht geschätzt: Beim Aufteilen stellten sie fest, dass vier Scheffel und fünf Massel Blut im Bottich waren. Dies war leicht durch drei teilbar: Ein Scheffel und sieben Massel, mehr als zwei volle, schwere Eimer für jeden.

 Suraya und Yodik mussten je zweimal fliegen, um die Beute nach Hause zu bringen. Sie nahmen sich vor, gleich am nächsten Tag den Weisen aufzusuchen, um ihn über die genaue Verwendung von Drachenblut zu befragen.

 

 Als Suraya sich zu Hause im Spiegel ansah, stellte sie einen Brandflecken von etwa einer Handfläche Größe an ihrem rechten Flügel fest; an ihren Armen waren jedoch keine sichtbaren Wunden, was sie überraschte. Sie war sich sicher, dass der Drache sie am Arm erwischt hatte, auch wenn sie nichts mehr spürte.

 Eine ähnliche Beobachtung hatte Yodik, wie er am nächsten Tag erzählte, an seinem Hund gemacht.

Er zeigte Suraya in der Pause die Brandwunde am Körper des Berserkers: „Schau, so rund kann keine echte Brandwunde sein. Da ist noch was anderes und zwar muss das die Stelle sein, wo ihn das Drachenblut erwischt hat.“

 Suraya erzählte ihm, was sie an ihren Armen beobachtet hatte. „Es sieht so aus, als ob Wunden wieder verheilen würden.“

 

 Zu Hause testete sie ihre Vermutung, indem sie sich mit dem scharfen Schwert in den Arm schnitt. Es floss zwar Blut, doch die Wunde verheilte innerhalb von Sekunden. Sie zog sich daraufhin aus und schmierte sich am ganzen Körper einschließlich Flügeln mit dem Drachenblut ein und nahm den Flügel zu Hilfe, um auch den Rücken einzuschmieren. Tatsächlich verheilte auch die Brandwunde an ihrem Flügel nach einiger Zeit.

 Yodik, der denselben Versuch an sich selbst gemacht hatte, schlug vor, zu Yarum zu fliegen, um ihm die Nachricht zu bringen, dass sein Flügel womöglich noch nicht endgültig verloren sei. Der war wenig zuversichtlich und zunächst zeigte sich auch noch keine Veränderung.

 „Gebt nicht auf!“, versuchte Yodik ihn zu ermuntern. „Es ist ja keine kleine Wunde. Bei meinem Hund hat es auch die ganze Nacht gedauert, bis man etwas von der Heilung gesehen hat.“

 

 Am Abend flogen Suraya, Alin und Yodik wieder zu Taran, um Fechtunterricht zu nehmen. Suraya nahm ihr neu gekauftes Schwert mit, doch Taran verbot ihr, es zu nehmen: „Bereits mit einem leichten Schlag kann man einen Menschen töten. Setz diese Waffe bitte nur im Ernstfall ein!“

 Suraya hatte ohnehin das Gefühl, als ob ihre Schläge, auch mit der Übungswaffe, härter wären als sonst. Gegen Alin unterlag sie dennoch dank deren besserer Technik knapp.

 „Wenn es euch recht ist“, sprach Taran Suraya und Yodik an, „will mein Herr euch sprechen – und zwar möglichst sofort.“

 

 Suraya zog sich daheim zwar noch um, schminkte sich aber nicht mehr, um dem Wunsch des Weisen nachkommen zu können. Als sie ankam, wartete dieser bereits mit Yodik auf sie.

 „Ich beglückwünsche euch zu eurem Erfolg“, begann er das Gespräch. „Yodik hat mir bereits erzählt, was passiert ist – und, um es gleich zu klären: Auch ich habe noch nie gehört, dass ein Drache sich so sehr auf ein Opfer festgelegt hat.“

 „Was meint Ihr also?“, fragte Suraya erschrocken.

 „Dass jemand dir Böses will und dieser jemand, ich wage es kaum zu sagen, den Drachen abgerichtet hat.“

 „Ich dachte, Ehrwürdiger, man kann einen Drachen nicht dressieren.“

 „Das dachte ich bis heute auch, doch du weißt wohl so gut wie ich oder jeder andere, dass man einen Drachen leicht ablenken kann. Dass du es versucht hast, hat auch Yodik mitbekommen. Es gibt keine andere Möglichkeit, sofern ich alles bedacht habe.“

 „Es wäre denkbar, Ehrwürdiger, dass es möglich ist, ein Drachenjunges zu dressieren. Man kann, wie Ihr sicher wisst auch einen erwachsenen Berserker nicht mehr dressieren oder auch nur an einen neuen Herrn gewöhnen“, bestätigte Yodik.

 Sowohl der Weise als auch Suraya nickten. Das Mädchen verstand nicht viel von Berserkern, wusste aber, dass Menschen sie normalerweise schon als Welpen kauften und Jahre mit ihnen übten, bis die oft mehrere Klafter großen Tiere das konnten, wofür sie gebraucht wurden.

 „Es ist nicht auszuschließen“, fuhr der Weise fort, „dass derjenige, der diesen Drachen abgerichtet hat, noch über weitere Tiere verfügt. Und darum, meine liebe Suraya, muss ich dir vorläufig verbieten, dich alleine weiter als eine lange Meile von unserem Gebiet zu entfernen.“

 „Aber ich sollte doch…“

 „Dein Leben ist wichtiger als alles andere“, unterbrach er sie. „In einer langen Meile Entfernung gibt es durchaus Wege von Talmenschen, sodass du dort deiner Aufgabe nachgehen kannst, andere es allerdings sehen können, sollte sich erneut ein Drache dir nähern. Außerdem habe ich dir nur verboten, dich [i]alleine[/i] mehr als eine lange Meile von unserem Gebiet zu entfernen. Wenn Yodik oder Alin oder sonst jemand dabei ist, kann er oder sie dich unterstützen oder Hilfe holen, wodurch deine Chancen gegen jeden Angreifer steigen. Überlege nur, was du ohne Yarums und Yodiks Hilfe hättest ausrichten können – und das, obwohl du, wenn ich Yodiks Erzählung richtig gefolgt bin, alles richtig gemacht hast, was in einer solchen Situation unendliche Bewunderung verdient; viele erwachsene Männer wären in deiner Lage in Panik geraten.“

 „Warum denkt Ihr, Ehrwürdiger, dass der Besitzer des Drachen Suraya töten will?“, fragte Yodik.

 „Nun, es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine ist, dass er gemerkt hat, dass sie auf der Spur der in der alten Schriftrolle beschriebenen Menschen war, die andere hat mit dem ‚Seffir‘ genannten Stein zu tun.“

 „Welchen Stein meint Ihr?“

 

 Suraya musste von dem Fund in der Höhle erzählen.

 „Du hast also einen ähnlichen Stein?!“, stellte Yodik mehr fest als er fragte. „Ist dir etwas daran aufgefallen?“

 Suraya schüttelte den Kopf. „Es ist ein schöner Stein, mehr nicht. Ich habe mir schon überlegt, ihn zerteilen und mir daraus eine Kette und einen Ring machen zu lassen, für das Sonnwendfest. Aber wenn ein Fluch darauf liegt?!“

 „Das wäre vielleicht nicht einmal der schlechteste Gedanke“, meinte der Weise. „Es mag sein, dass alle Steine verflucht sind, vielleicht auch nur der Seffir.

 Wenn du, Suraya, beim Fest Teile dieses Steines an dir trägst, sehen dich alle, vor allem auch wir beide und wenn etwas passieren oder du dich auffällig benehmen solltest, kann ich oder kannst du, Yodik, veranlassen, dass der Schmuck, der aus diesem Stein besteht, dir, Suraya, weggenommen wird. Es ist allerdings gut möglich, dass man den Stein nicht spalten kann – aber das wird der Goldschmied feststellen, wenn du zu ihm gehst. Nur eines: Trage den Stein möglichst nicht an dir, wenn du allein bist!“

 „Aber ich muss ihn dem Goldschmied bringen.“

 „Wenn ich mich richtig entsinne, liegt die Höhle deiner Eltern vielleicht sechzig oder siebzig Klafter von jener des Goldschmieds entfernt. An einem Arbeitstag sehen dich dabei alle Menschen aus deiner Sippe, die dir sofort helfen könnten, wenn dir übel werden sollte oder dich aufhalten könnten, wenn du etwas tun solltest, was gefährlich ist.“

 „Was meint Ihr?“

 „Es ist oft schon gehört worden von Menschen, die nicht mehr Herren ihrer selbst waren und wahnsinnig wurden. Manche sind es von Geburt, aber manche werden es durch bestimmte Zauber. Wir wissen nicht, ob und welcher Fluch auf dem Stein liegt, aber wir müssen vorsichtig sein.“

 „Meint Ihr, Ehrwürdiger dass derjenige, der den Stein aus der Höhle genommen hat und derjenige, der den Drachen abgerichtet hat, eine Person sind?“, wollte Suraya wissen.

 „Denkbar wäre es. Vielleicht sind es auch mehrere Mitglieder einer Rotte. Es geht diesem Menschen oder seinen Hintermännern auf jeden Fall um viel Macht, so viel scheint mir sicher zu sein – und du stehst ihnen aufgrund dessen, was du bisher herausgefunden hast, im Weg. Folglich beginnt nun die Aufgabe anderer.“

 „Meine, Ehrwürdiger?“, fragte nun Yodik.

 „Zum Beispiel. Allerdings auch die Alins und einiger anderer. Sobald man dich in Surayas Nähe sieht, bist auch du gefährdet.“

 „Aber Alin ist meine beste Freundin, das wissen alle“, warf Suraya ein.

 „Alle aus eurer Sippe wissen das; ich vermute, es ist bereits in der Sippe des Radax oder des Pediko nicht mehr allen bekannt und der Drachenzüchter stammt aus keiner der drei Sippen; wenn jemand hier Drachen besäße, wüsste ich das; so etwas kann nicht über längere Zeit verborgen werden.

 Alin und alle anderen Helfer, die wir noch auswählen werden, sollen dich nicht begleiten, sondern hier bleiben und nur dir zu Hilfe kommen, wenn es nötig ist. Sie versteht sich aufs Fechten, was wichtig sein kann. So kannst du dich auf sie verlassen, aber sie geraten nicht in Gefahr.“

Sonnwend

 Die nächsten zwei Wochen verliefen für Suraya weitgehend ereignislos, zum einen, da sie wegen des Verbots des Weisen ihr Tal nicht verlassen durfte, zum anderen weil sie sich für die letzten Prüfungen und das Fest vorbereiten musste. Sie brachte den gefundenen Stein zum Goldschmied, der feststellte, dass man ihn zwar an einer Sollbruchstelle brechen, sonst aber nur schleifen konnte. Sie entschied sich, aus einem der Teile einen Anhänger für ihre Kette machen zu lassen, für den anderen hatte sie keine Verwendung. Für einen Ring waren beide Teile zu groß.

 

 Nach einigen Tagen erhielt sie ihren  Drachenhautanzug und zog ihn auch gleich zum nächsten Fechtunterricht an. Alins Schwert bekam eine gewaltige Scharte und Yodik traute sich daraufhin gar nicht mehr, gegen Suraya voll durchzuziehen. Diese wurde im Vertrauen auf ihren Anzug mutiger und gewann so gegen Alin, die weitgehend defensiv blieb. Gegen Yodik, der ebenfalls einen Anzug aus dem Leder des schwarzen Drachen trug, machte Suraya dieselbe negative Erfahrung wie Alin gegen sie. Ihre Versuche, von unten zuzustechen, die mit der Übungswaffe ohnehin nichts gebracht hätten, unterband Yodik geschickt.

 

 Sie schrieb ihren Aufsatz und die Prüfungen im Rechnen, in Geschichte und Naturkunde. Auch eine Näh- oder Bastelarbeit – sie entschied sich für eine einfache Bluse – musste sie für die Abschlussprüfung machen. Eine sportliche Prüfung, bei der sie am Boden und in der Luft bestimmte Geschwindigkeiten erreichen und einen Stein werfen musste, stand ebenfalls auf dem Programm. Sie besiegte alle anderen Mädchen, im Flug mit einer Ausnahme, und einen Großteil der Jungen, worauf sie stolz war.

 Während Herr Jovar die meiste Zeit damit beschäftigt war, die Arbeiten zu korrigieren, übte dessen Frau mit den Schülern des Abschlussjahrgangs Tanzschritte am Boden und in der Luft. Yodik erwies sich hierbei als nicht besonders geschickt, sodass Suraya es bereute, sich nicht rechtzeitig nach einem anderen Partner umgesehen zu haben.

 In ihrer freien Zeit spielten die Schüler Nestball oder rangen miteinander, was teilweise aufs Gleiche herauskam: Es war beim Nestball erlaubt, den ballführenden Spieler zu schlagen, zu treten oder festzuhalten. Nur Kämpfe ohne Ball waren verboten. Wenn ein Mädchen, und Suraya tat das oft, mit Jungen mitspielen wollte, wurde auf sie auch keine besondere Rücksicht genommen. Je mehr ihr allerdings das Wissen darum, dass sie dadurch, dass das Drachenblut in ihre Haut eingedrungen war, kaum dauerhaft verletzt werden konnte, in Fleisch und Blut überging, desto selbstbewusster spielte sie. Sie war schwer vom Ball zu trennen, sodass sie oft hart attackiert wurde, doch meist waren ihre Verletzungen schon bis Spielende wieder verheilt.

 

 Beim Ringen gerieten einmal Yodik und Adrast aneinander und Alin feuerte ihren Partner leidenschaftlich an. „Schade für dich, dass dir nur der Verlierer bleibt“, sagte sie spöttisch zu Suraya. Die antwortete spitz: „Ich brauch einen Mann nicht dazu, dass er für mich kämpft.“ Sie sah auf die beiden Jungen und erkannte, dass beide sich nur auf Kraft verließen und kaum Technik beherrschten. Sie kannte von ihrem Bruder, der einer der besten Ringer der Sippe war, einige Tricks, mit denen sie schon gegen viele Jungen gewonnen hatte.

 „Ich fordere den Sieger“, rief sie den beiden zu und sah Alin triumphierend an. Adrast schlug im gleichen Moment zu, doch Yodik schien den Schlag nicht zu spüren. Er trat und der Tritt saß: Adrast kam aus dem Gleichgewicht, schlug mit den Flügeln und landete schließlich in Yodiks Würgegriff. In Surayas Augen war der Griff schlecht angesetzt, doch Adrast gelang es nicht, sich zu befreien und er musste schließlich aufgeben.

 Suraya und Yodik verbeugten sich voreinander. Bei seiner ersten Attacke packte Yodik Suraya an den Schulterblättern, wohl, um zu verhindern, dass sie die Flügel ausbreitete. Das hieß, dass er sie schon öfter beobachtet hatte und wusste, dass sie vor allem bei Luftkämpfen, bei denen ihre Beine gefährliche Waffen darstellten, stark war. Suraya war aus demselben Grund wichtig, den Kampf in die Luft zu verlagern. Mit zwei geschickten Griffen befreite sie sich, wich Yodiks nächstem Schlag aus, attackierte mit dem Bein, wodurch Yodik zwar nicht ernsthaft getroffen wurde, aber zurückweichen musste, was ihr die Möglichkeit gab, die Flügel auszubreiten und aufzufliegen. Ehe Yodik sich eine Reaktion richtig überlegt hatte, nahm sie ihn in eine Beinklammer, sodass er ihren Fäusten und Handkantenschlägen hilflos ausgeliefert wurde. Er gab nicht auf und versuchte tapfer, sich zu befreien. Adrast zählte unten bereits. Suraya ging in die gewöhnliche Flugstellung mit den Beinen nach hinten, sodass Yodik kopfüber an ihr hing. Er versuchte, sich umzudrehen, doch sie reagierte schneller, presste mit den Armen seine Flügel in die Beinklammer und drückte die Beine wieder nach hinten. Nun konnte er seine Arme nicht mehr gebrauchen, da seine Hände Surayas Körper nicht mehr erreichten. Es war Irrsinn, in einer solchen Situation nicht aufzugeben: Sie hätte ihn fallen lassen können und es wäre ihm wohl nicht mehr gelungen, die Flügel rechtzeitig auszubreiten. Dennoch verharrte Yodik, bis Adrast laut rief: „29, 30. Aus! Tut mir leid für dich, Yodik!“

 

 Yodik gratulierte Suraya, die abwinkte: „Ist Übung. Wenn ich dir ein paar Tricks zeige, kannst du auch mehr.“

 „Es hat mich schon gewundert, dass ich gegen Adrast gewonnen habe.“

 „Mich eigentlich mehr, wie du gewonnen hast. Adrast hat zwar viel Kraft, aber eine ganz schlechte Technik. Aber, sei mir nicht böse, deinen Würgegriff hätte jeder brechen können.“

 „Geb ich zu.“ Er flüsterte: „Glaubst du auch, dass wir durch das Drachenblut nicht nur weniger verletzlich, sondern auch stärker geworden sind?“

 „Wäre möglich. Hab ich mir beim Fechten schon gedacht. – Hast du eine Ahnung, wie viel du früher hast hochheben können?“

 „Ich habe es nie wirklich probiert. Mehr als einen Bock sicher. Und du?“

 „Bin auch nie an die Grenze gegangen. Das schwerste, woran ich mich erinnern kann, war ein Felsen, der einen Bock fünfzehn Pfund schwer war, aber das war schon vor zwei Jahren. Das war zwar ordentlich schwer, aber ich denke, zehn, fünfzehn Pfund mehr hätte ich sogar damals geschafft.“

 „Hm, das heißt, wenn du deutlich über zwei Bock heben könntest, wäre wohl was passiert – Mädchen werden in unserem Alter nicht mehr um so viel stärker.“

 „Bei zwei Bock wäre ich mir nicht ganz sicher, aber wenn du mit „deutlich“ fünfzig Pfund mehr meinst, auf jeden Fall. Bei dir dann wohl auch. – Habt ihr eine Waage, auf der man so viel anzeigen kann.“

 „Haben wir natürlich, für unsere Berserker. Müssen nur sehen, dass wir die richtigen Felsbrocken finden.“

 

 Suraya fand in der nächsten Nacht  einen Felsbrocken, den sie gerade noch heben konnte, am Rand ihres Tales. Sie war sich jedoch nicht sicher, ob sie genügend Kraft haben würde, ihn allein zu Yodiks Höhle zu transportieren und bat daher diesen um Hilfe. Zusammen schafften sie es, wenn auch mit Mühe. Sie stellte mit Stolz fest, dass Yodik drei Versuche brauchte, um den Felsblock auf die Berserkerwaage zu heben. Sie hob ihn nochmals auf, legte ihn daneben und hob ihn erneut auf die Waage, um sicher zu sein: Sie war stärker als der Junge.

 „Na, gezeigt, was du kannst? Jetzt lass mal liegen!“ Yodik flog zum Waagbalken, der in gut drei Klafter Höhe hing und schob das Kontrollgewicht an diesem entlang, bis der Balken gerade stand.

 „Hey!“, rief er. „Drei Bock fünfundvierzig! Da hast du auf das Dreifache zugelegt.“

 „Gut, das überzeugt. Mehr als drei Bock können auch die stärksten Männer nicht ohne weiteres heben – und ich habe mich zwar schon anstrengen müssen, aber ich habe das Gefühl, zehn, zwanzig Pfund mehr könnte ich auch noch heben.“

 

 Als der Weise sie zwei Tage vor Sonnwend nochmals sprechen wollte, erzählten sie ihm von dieser Beobachtung.

 „Nun gut“, meinte er. „Es ist gehört worden, dass Drachenblut Kräfte von Menschen verstärken kann; aber in allen Sippen, die ich kennengelernt habe, hat seit vielen Generationen niemand mehr Drachen getötet; man lenkt sie, wie ihr ja seit Kindesbeinen wisst, eher ab und vermeidet einen Kampf, wenn man ihnen begegnet. Daher weiß auch niemand wirklich, wie Drachenblut wirkt und es ist möglich, dass die Reden davon, dass Menschen plötzlich hundertfach stärker seien als vorher weit übertrieben sind. Ebenso ist möglich, dass ein Mensch Drachenblut auf eine andere Weise einnehmen muss, will er seine Kraft erhöhen.“

 „Ihr meint, man soll es trinken?“

 „Ich weiß, wie gesagt, nicht mehr als ihr.“

 

 Suraya trank noch am selben Abend von dem Drachenblut und flog am nächsten Tag noch einmal dorthin, wo sie den über drei Bock schweren Felsblock gefunden und gemeinsam wieder zurückgelegt hatten. Tatsächlich war er nun für sie federleicht. Sie konnte ihn mit einer Hand halten und sogar hochwerfen und wieder fangen. Sie flog rund um das Tal, konnte aber nirgends einen Felsen finden, der groß und schwer genug gewesen wäre, um ihre Kraft ernsthaft zu fordern.

 

 Zwei Tage vor Sonnwend gab es die Prüfungsergebnisse. Suraya hatte fast überall passable Noten und gut genug bestanden, dass auch Herr Jovar der Meinung war, es werde sich für sie sicher ein Platz finden. Auch Alin und Yodik waren zufrieden mit ihren Ergebnissen. Alin hatte bereits eine Lehrstelle beim Goldschmied – sie war eine leidenschaftliche Handwerkerin – und Yodik würde, egal, wie seine Noten ausfielen, in der Zucht seines Vaters einsteigen und sie eines Tages übernehmen.

 

 Die große Nacht kam. Überall wurden die besten Speisen zubereitet, die Höhlen festlich geschmückt und der Altar hergerichtet. Die Jugendlichen, die diesmal die Brandtaufe erhalten sollten, erhielten einen neuen Haarschnitt und an den Festkleidern wurden die letzten Ausbesserungen und Verschönerungen vorgenommen. Surayas Vater hatte ein Fass Beerenwein seit dem letzten Herbst immer wieder neu angesetzt, damit es genau an Sonnwend den besten Geschmack erhalten sollte, ein Aufwand, den ein einfacher Mann sonst nie trieb.

 Jantar gefiel sich darin, seiner Schwester Angst vor der Brandtaufe zu machen: Immer wieder seien Mädchen vor Schmerz zusammengeklappt. Suraya bekam tatsächlich etwas Angst, obwohl sie sich selbst beruhigte, dass es keinen Grund dazu gab: Bei Jantars Feuertaufe vor drei Jahren war niemand ernsthaft verletzt worden und hatte auch niemand geschrien; auch von anderen Feuertaufen hatte sie dergleichen nicht gehört. Da an der eigentlichen Zeremonie neben dem Weisen, den Lehrern und dem Opferdiener, der im Wechsel von den drei Sippen bestellt wurde, nur die Brandtäuflinge und deren Eltern und Geschwister teilnehmen durften, hatte Suraya außer der ihres Bruders bisher keine Brandtaufe erlebt.

 

 Suraya hatte nach ihrem Sieg über den Drachen weitere Geschenke erhalten, da für viele nun endgültig feststand, dass sie eine Freundin nicht nur des Weisen, sondern auch der Götter, war. An Sonnwend bedeutete es keine Schande und galt es nicht als prahlerisch, Nägel und Wangen farbig anzumalen und mit reichlich Goldstaub zu bestreuen oder mehrere goldene Ketten, Armreifen und Ringe zu tragen und so genoss sie es, sich zurechtmachen zu können als ob sie selbst eine Göttin sei. Fast alle knieten vor ihr nieder, als sie prächtig herausgeputzt mit ihren Eltern den Weg zum Altar hinaufging.

 Yodik wartete schon auf sie. Auch er war sehr fein angezogen, trug einen Gürtel mit schwerer, goldener Schnalle und Goldbeschlag an den Borten seines Obergewandes, Dinge, die wohl kaum sein Vater bezahlt hatte. Nachdem er sie zur Begrüßung auf die Wangen geküsst und ihr den Arm angeboten hatte, bildeten die anderen, sowohl die Paare von Jugendlichen als auch deren Eltern und Geschwister, eine Gasse. Ohne dass es jemand angeordnet hatte, waren sich alle einig, dass die Vertrauten des Weisen und Drachenbesieger den Ehrenplatz haben müssten, wenn der Weise kommen und das Opfer vollziehen würde.

 

 Da kam er auch schon heruntergeschwebt, im weißen Gewand, gefolgt von Taran, Jovar und zwei anderen Männern, die Suraya nicht kannte; sie vermutete, dass es die Lehrer der Sippen des Durdak und des Pediko waren; zumindest trugen sie deren Sippenzeichen, den Steinbock und den Bartgeier, an ihren Gewändern, was bedeutete, dass sie zu den hochrangigen Sippenmitgliedern gehören mussten – Surayas Vater stand beispielsweise der Falke, Symbol ihrer Sippe, nicht zu.

 Der Opferdiener verneigte sich vor dem Weisen und trat beiseite, als dieser landete, um ihm den Vortritt auf die Altarstufen zu lassen. Der Weise schritt drei Stufen hinauf, drehte sich um und sprach zu den Menschen: „Heute, Schwestern und Brüder, Kinder der Sippen des Durdak, des Radax und des Pediko, ist der große Tag gekommen. So wie die Sonne sich wendet und die Nächte wieder an Kraft gewinnen, so geht auch der Zeiten Lauf ewig dahin und so wie die Pflanzen blühen, reifen und verdorren, so ist auch des Menschen Los. Kinder werden geboren, wachsen, werden zu Männern und Frauen, haben selbst Kinder und werden alt.

 Heute, Schwestern und Brüder, wollen wir aber den Tag feiern, an dem Mädchen und Knaben eurer Sippen zu jungen Frauen und Männern erklärt werden. Wir wollen die Götter für sie, vor denen nun das Leben und die Verantwortung von Erwachsenen liegt, bitten.

 Ihr, meine lieben Jungmänner und Jungfrauen, habt nach dem weisen Plan eurer Lehrer gelernt, was ihr wissen müsst und euch in Prüfungen bewährt. Heute werde ich euch das Feuer auf die Stirn zeichnen. Es steht für die Gefahr, die ihr nun ohne eurer Eltern und Lehrer Hilfe bestehen müsst, aber auch für die Macht, die ihr habt, da ihr nun selbst Waffen führen und Feuer machen dürft.

 Ehe ich nun die Götter um ihren Segen bitte, frage ich Euch, Herr Jovar, Sohn des Maduk, nach Beschluss der Ältesten Lehrer in der Sippe des Durdak: Seid Ihr überzeugt, dass alle Mädchen und Knaben, die Ihr heute zum Altar geführt habt, reif und würdig sind?“

 „Ehrwürdiger, so wahr die Götter das Leben der Menschen lenken, das ist meine feste Überzeugung!“, antwortete Jovar mit fester Stimme.

 Auch dem Lehrer der Sippe des Radax, der Pentu hieß und Salman, dem Lehrer der Sippe des Pediko, wurde dieselbe Frage gestellt und sie beantworteten sie ebenso.

 „So wollen wir für sie den Segen und die Gnade der Götter erbitten“ ergriff nun wieder der Wiese das Wort. „Hüter des Altarfeuers, gib dem Feuer Nahrung, dass es wachse!“

 Der Opferdiener trat wieder an den Altar und schob Holz in das Feuer, das bisher kaum sichtbar gewesen war, nun aber bald auf eine Elle und bald auf ein Klafter Höhe aufstieg.

 Der Weise drehte sich zum Altar und begann einen Singsang, in dem er die Götter bat, das Opfer gnädig aufzunehmen und die nun der Kindheit Entsprungenen zu behüten.

 

 Suraya überlegte sich, was der Weise wirklich empfand. Sie sah sich wieder in seiner Höhle und hörte, was er ihr über die Götter gesagt hatte. Glaubte er an den Sinn eines solchen Opfers?

 Ihr fiel ein, dass Hunde gelegentlich ihre Beute ihrem Herrn vorlegten und meist ein Lob erwarteten. Sie dachte auch an ihre ersten Mal- und Bastelversuche als Kind oder die ihres jüngeren Bruders und wie die Mutter sie gelobt hatte, wie hässlich und unbeholfen es auch aussah.

 Vielleicht freuten sich die Götter ebenso über die Zuneigung, die ihnen Menschen zeigten, obwohl sie ganz sicher nicht darauf angewiesen waren.

 Obwohl Yodik nichts sagte – sich während der Zeremonie zu unterhalten, war undenkbar – spürte Suraya, dass es in seinem Kopf ähnlich arbeitete und sie sah sogar ihn in der Höhle des Weisen sitzen und ein ähnliches Gespräch mit diesem führen.

 Der Weise hatte sein Gebet beendet und der Opferdiener legte, jeweils unterstützt von zwei Männern aus der entsprechenden Sippe, einen Riesenbock für die Sippe des Durdak, die des Radax und die des Pediko ins Feuer. Der Weise betete, dass die Flammen Nase und Mund der Götter erreichten, drehte sich nun wieder zum Volk und forderte dazu auf, die Fahnen zu errichten.

 

 Einige Männer stießen mehrere Klafter lange Masten mit den Symbolen der Sippen um die Erde. Der jeweilige Lehrer und die Jugendlichen, die auf ihre Brandtaufe warteten, stellten sich um diese herum auf und riefen die Schutzgeister der Sippe an, während die Erwachsenen und die jüngeren Kinder zurücktraten.

 Der Weise setzte sich und die Jugendlichen nahmen das als Zeichen, dass nun die Zeremonie unterbrochen war. Langsam kamen Unterhaltungen in Gang. Alin und Madara bewunderten Surayas Schmuck und Yodik sprach mit Adrast über einen Berserker, den Adrasts Vater derzeit an sich gewöhnte. Nur Herr Jovar schwieg und hielt die Augen stets auf den Weisen und das Feuer gerichtet.

 Kaum hatte der alte Mann begonnen, sich zu erheben, um auf das niedriger gewordene Feuer zuzugehen, nahm der Lehrer Haltung an. „Steht fest und schweigt!“, befahl er scharf. Alle leisteten sofort Folge.

 

 „Himmlische, ihr habt das bescheidene Opfer eurer Diener gesehen und seinen Duft gerochen“, rief der Weise in Richtung Altar. „Nun erfüllt mir, eurem unwürdigen Diener, die Bitte und gießt eure Gnade über die Mädchen und Knaben, die ich nun mit dem Feuer, eurer edelsten Gabe, bezeichne!“

 Er drehte sich um, nahm einen Stock in die Hand und hielt ihn ins Feuer, während Jovar Taran eine Liste übergab. Dieser trat vor seinen Herrn und hielt sie ihm hin.

 „Tritt zum Altar, Irman, Sohn des Kuvar!“, rief der Weise.  Mächtig stolz, der erste zu sein, ging der Junge hinauf und kniete vor dem Weisen nieder. Der Weise hielt ihm die Glut auf die Stirn, sprach leise zu ihm und schon ging er wieder zurück, wo Herr Jovar ihm die Hand drückte.

 Selima wurde aufgerufen, danach Adrast.

 „Tritt zum Altar, Suraya, Tochter des Haris!“ Suraya erschrak beinahe, als sie ihren Namen hörte. Sie hoffte, dass es niemandem aufgefallen war und ging zum Altar. Der Weise berührte ihre Stirn mit dem glühenden Stab, doch es tat, anders als sie gedacht hatte, kaum weh.

 „Möge der Segen der Götter auf dir ruhen, Suraya! Mögen sie dich begleiten in allem, was du tust!“, flüsterte der Weise. „Gesegnet seiest du, deine Arbeit und einst dein Ehemann und deine Kinder! Geh mit dem Schutz des Himmels, Suraya!“

 Eine Antwort war nicht vorgesehen. Suraya stand auf und kehrte zu ihren Jahrgangskollegen zurück, während schon ein Junge namens Uryuk hinaufstieg. Jovar und ihre Freunde gratulierten ihr.

 Es dauerte eine knappe Stunde, bis die Jugendlichen aller drei Sippen die Brandtaufe erhalten hatten. Das Feuer brannte kaum mehr und der Weise beauftragte den Opferdiener, es zu löschen, ehe er sich zum letzten Mal zum Volk drehte: „Wir haben den Segen der Götter auf unsere Söhne und Töchter herabgerufen. Wollen wir nun das Festmahl halten und genießen, was durch unsere Arbeit und ihren Segen gewachsen und gereift ist!“ Er erhob sich in die Luft und flog über die Volksmenge zum Festplatz, wo das Mahl angerichtet war. Für die Jugendlichen bildete die Menge ein Spalier und jeder bemühte sich, möglichst vielen zu gratulieren. Zu fliegen war an diesem Tag vor Mitternacht Privileg des Weisen und seiner Diener und bis zum Morgengrauen zusätzlich das der Brandgetauften.

 

 Die Jugendlichen durften sich an eine eigene Tafel, die gegenüber denen für ihre Eltern und Geschwister erhöht war, setzen. Familien, in denen es keinen Brandtäufling gab, feierten diese Nacht zu Hause oder mit Freunden.

 Noch vor dem Essen wurde der erste Becher Beerenwein getrunken. Anschließend gab es mehrere Gänge, Gemüse, Fleischsuppe, gebratenes Schaf-, Steinbock- und Wildschweinfleisch und schließlich Brot, Käse, Kuchen und Obst. Als der Weise die Glocke zum Ende des Festmahls läutete, fühlte Suraya sich vollgegessen und war vom Wein in ungewohnter Menge auch leicht benebelt.

 Dennoch wahrten sie und Yodik die Form bei der ersten Tanzrunde in Formation, auch als der Weise den Befehl zum Auffliegen gab.

 Es folgte eine zweite Tanzrunde mit dem Partner und eine dritte, bei der die Partner gewechselt wurden. So tanzte sie auch einmal mit Adrast.

Nach dieser Runde stoppte die Kapelle. Der Weise erhob sich hoch in die Luft und befahl, die Wappenmasten aufzupflanzen. Wieder versammelten die Brandgetauften sich darum.  Als sie alle eine Hand am Masten hatten, bliesen die Hornisten ihren Tusch, das Zeichen, das nun den übrigen Sippenmitgliedern das Hinzutreten erlaubte.

 Als erster trat der alte Waffenschmied Gubudan, dessen Sohn Sarsad längst die Schmiede übernommen hatte und Jantars Lehrmeister war, heran. Als ältestem Mann, der kein Kind oder Enkelkind unter den Brandgetauften hatte, kam ihm die Aufgabe zu, die jungen Erwachsenen im Namen der Sippe zu begrüßen.

 Lange hatte sie sich auf diesen Moment gefreut, doch nun erschien das „Seid mir gegrüßt, Frau Suraya!“ belanglos. Dass jeder, der nicht mit ihr verwandt war, sie nun offiziell mit „Ihr“ anzureden hatte, war seltsamerweise nichts Besonderes mehr für sie.

 

 Die Musik spielte wieder auf zum letzten Pflichttanz, dem mit ihrem Vater. Herr Haris gratulierte seiner Tochter, mit der er seit dem Abend kaum ein Wort gewechselt hatte. Suraya merkte, dass ihrem Vater die Frage auf der Zunge lag, wie sie zu Yodik stand, doch er sagte nichts.

 Es folgten mehrere weitere Tänze. Yodik machte eine gute Figur, sowohl am Boden als auch in der Luft, sodass Suraya keinen Grund hatte, den Partner zu wechseln oder sich unter einem Vorwand zu verkriechen, wie sie vorher gedacht hatte.

 Alin und Adrast hatten sich bereits gemeinsam einen stillen Ort gesucht und Suraya war es, obwohl sie nur kurz hingeschaut hatte, klar, dass es zwischen beiden ernst wurde. Sie spürte, dass Yodik den Moment erwartete, bis sie mit ihm dasselbe tun würde, doch sie wollte weiter tanzen, solange die Musik spielte, obwohl schon der Morgen graute.

 Einige Paare hatten schon die Lust verloren oder waren müde geworden und die Musiker schienen dies mit immer schnelleren Melodien beschleunigen zu wollen, doch Suraya und Yodik blieben munter wie um Mitternacht, auch als die Sonne schon hoch stand und sie die einzigen waren, die sich noch im Takt der Musik bewegten – vielleicht gab ihre übermenschliche Kraft ihnen auch mehr Ausdauer.

 

 Sie hörten erst auf, als es fast Mittag war – dabei hatte keiner der beiden die Augen eingeschmiert.

 „Lass uns lieber aus dem Schussfeld fliegen!“, schlug Yodik vor. Damit hatte er nicht unrecht: Ältere Jugendliche, die meist schon reichlich dem Wein zugesprochen hatten, pflegten um diese Zeit gefährliche Mutproben zu machen, wie ohne sich die Augen zu salben mit vollem Tempo quer über das Tal zu fliegen oder lockere Steine aufeinander zu werfen.

 Suraya folgte Yodik auf die Plattform, auf der dieser das Sonnwendzelt aufgebaut hatte, das freilich einen offenen Zugang hatte, sodass es zu sehen wäre, wenn man nicht wirklich schlafen würde. Freilich gab es, wie Jantar erzählt hatte, Möglichkeiten, diesen zu schließen, doch auch Eltern und ältere Brüder kannten diese und wer ein geschlossenes Zelt fand, öffnete es, um sicherzugehen, dass nichts Unanständiges passierte. Ansonsten hatten die Eltern und Geschwister sich im Lauf des Nachmittags aufzumachen und ihre Söhne, Töchter, Brüder oder Schwestern zu suchen, um sie nach Hause zu bringen.

 Suraya war keineswegs müde und sie merkte, dass es Yodik nicht anders ging. Wegen des Tageslichts musste sie allerdings blinzeln.

 „Einen wunderbaren Platz hast du dir ausgesucht“, lobte sie. „Da komme ich gern nachts oder mit Augensalbe wieder.“

 „Einen wunderbaren Platz für ein wunderbares Mädchen“, sagte Yodik. Sie spürte, dass er sie gerne küssen würde, aber sich noch nicht traute.

 ‚Warum nicht?‘, dachte sie. Aus Tanzpaaren auf der Brandtaufe wurden ohnehin selten dauerhafte Paare – alle Ehepaare, bei denen sie es wusste, einschließlich ihrer Eltern, hatten sich erst in der Herumspringerzeit näher kennen gelernt. Der heutige Tag war nicht mehr als eine erste Erfahrung, so wie der erste Flug ohne die Mutter oder den Vater unter sich zu wissen, der erste Schultag und bald der erste Tag außerhalb des Elternhauses. Zudem war sie stärker, selbst wenn Yodik auch Drachenblut getrunken haben sollte. Wenn er also etwas tun sollte, was sie nicht wollte, würde sie sich wehren können.

 Sie lehnte sich an ihn: „Tu, was du schon seit Stunden möchtest!“

 Er nahm sie fest in die Arme und küsste sie.

Blick in die Zukunft

 Obwohl Suraya und Yodik wegen des Tageslichts kaum die Augen öffnen konnten, merkten sie, dass immer noch Menschen die Wand entlang flogen. Die jungen Männer hatten ihre Sonnwendzelte am Vortag aufgebaut und gemäß der Tradition ruhten sie sich hier mit ihren Partnerinnen aus und es war Aufgabe der Eltern und Geschwister, sie zu suchen. Viele Familien aus ihrer Sippe waren noch damit beschäftigt.

 Lange saßen die Jugendlichen schweigend da. Yodik hatte den Arm um Surayas Schultern gelegt und ihre Hand ruhte auf seinem Oberschenkel.

 „Hast du mit Herrn Jovar schon gesprochen?“, wollte Yodik wissen. „Oder was wirst du tun, wenn er dich nicht braucht?“

 „Ich habe mir noch keine Gedanken gemacht. Aber vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn ich weggehen müsste. Erstens bin ich einfach neugierig: Ich will eine andere Sippe kennen lernen. Zweitens kann ich mir nicht vorstellen, Kinder zu unterrichten, mit denen ich gestern noch gespielt und Unsinn gemacht habe.“

 „Na, du wirst ja nicht gleich unterrichten. Erst wirst du die Schulräume putzen, schätze ich. Aber was, wenn du weit weg musst? Was soll aus uns werden?“

 „Wir werden uns sehen. Es gibt ja freie Tage und Ferien und unsere Flügel tragen uns weit – und umso weiter, wenn ich mich freue, dich zu sehen.“

 „Ja, schon, aber…“

 „Und auch du kannst hier aus diesem Tal herauskommen, um mich zu besuchen. Wozu haben wir unsere Flügel? Und hat der Ehrwürdige uns nicht gelobt, weil wir hinter Grenzen schauen? Auch du kannst vieles entdecken und weißt, weit hinter vielen Bergketten und Tälern warte ich auf dich und werde dir Speis und Trank mit Liebe bereiten.“

 „Ich hoffe doch, nicht nur Speis und Trank!“ Er zog sie fester an sich und küsste sie nochmals.

 

 Sie spürte, dass Yodik schon weiter dachte. Er war immer eher ein Außenseiter gewesen, sodass es für ihn schon ein Erfolg war, dass ein Mädchen wie Suraya seine Partnerin war und noch mehr, dass sie sich von ihm küssen ließ. Nun hatte er Angst, sie wieder zu verlieren und hoffte, sie werde einst seine Frau sein, als ob nicht noch die Lehrjahre und die Zeit des Herumziehens vor ihnen lägen. Er träumte, ähnlich wie Alin, doch beide träumten von einer Sache, die irgendwann sowieso kommen würde. Sie, die als Träumerin galt, kam sich nun realistisch und erwachsen vor: Was heute geschah, war eben heute, der Tag nach der Brandtaufe, der erste Bursche, dem sie nähergekommen war, doch sicher nicht der letzte, so schön auch für sie der Augenblick war.

 

 Es war schon Nachmittag, als Surayas Eltern und Brüder ihr Nest fanden. Herr Haris und Frau Neralda flogen in einem Tempo auf die Tochter zu, als ob sie einen Wettflug gewinnen wollten. Jantar blieb zurück und gab Yodiks Eltern ein Zeichen.

 Die beiden Jugendlichen standen folgsam auf, doch ließen sie sich lange Zeit für den Abschiedskuss, ehe sie ihren Eltern nach Hause folgten. Suraya spürte, dass ihrer Mutter die Frage danach, ob sie sich im Klaren sei, was passieren könne, wenn ein Mädchen und ein Bursche so lange allein waren, auf der Zunge lag, doch Frau Neralda sagte nichts, bis sie ihre Höhle erreichten. Gemäß der Tradition tranken sie ein letztes Mal auf die Tochter, die nun so gut wie erwachsen war, ehe sie schlafen gingen.

 

 Es war fast schon Mitternacht, als Suraya aufwachte. Ihr Vater war es letztlich, der sie auf ihr Verhältnis zu Yodik ansprach: „Ganz verstehe ich dich noch nicht: Vor dem Fest hattest du so wenig Kontakt zu ihm, dass wir Angst haben müssten, du würdest während des Tanzes verschwinden – und nun seid ihr ein Liebespaar, sodass wir Angst vor etwas ganz anderem haben müssen.“

 Suraya schüttelte den Kopf und kicherte. „Nein, Papa, soweit werden wir nicht gehen!“

„Im Ernstfall bist du nicht Herrin deiner selbst“, schaltete die Mutter sich ein. „Und wer weiß, welche Gedanken er hat?“

 „Ich weiß jedenfalls, dass ich das im Moment noch nicht will. Und ich könnte mich auch wehren, wenn Yodik so etwas von mir verlangen würde“, antwortete Suraya selbstbewusst.

 „Mögen die Götter es geben!“, antwortete der Vater beschwörend und mahnte die Mutter und Jantar, in Zukunft besser aufzupassen.

 

 In den nächsten Tagen hatte Suraya ohnehin wenig Gelegenheit, sich längere Zeit mit Yodik zu treffen: Die Schafschur stand an und anschließend die Vorbereitungen für die Ernte und sie musste jeden Tag kräftig mithelfen, wie in den meisten Ferien. Auch Yodik hatte zu tun, da zwei der Zuchthündinnen seines Vaters geworfen hatten und nun die Suche nach Fleisch für die Welpen, aber auch nach am Kauf interessierten Personen anstanden.  Sie konnten sich meist nur kurz, bevor die anderen aufstanden oder vor dem Schlafengehen, treffen.

 

 Als Suraya erstmals vor dem Morgen mit der Arbeit fertig wurde, führte ihr nächster Weg sie nicht zu Yodik, sondern zu Jovar, den sie fragte, ob sie bei ihm oder einem seiner Kollegen in den Nachbarsippen als Mitarbeiterin einsteigen könne. Er verneinte, meinte jedoch, der Weise selbst wisse mehr dazu.

 Zwei Tage später machte Suraya sich, nachdem ihr Tagwerk getan war, nochmals auf: Sie wusch sich im See, schmierte sich mit Duftöl ein, zog ihr bestes Kleid an und flog zum Weisen, um ihn direkt darauf anzusprechen.

 „In der Tat“, antwortete dieser, „kann ich Euch Arbeit als Hilfslehrerin verschaffen. Mein lieber Schwiegersohn starb überraschend im letzten Winter, sodass meine Tochter Adisa alleine die Schule führt. Unsere Sippe ist etwas kleiner als die Eure, doch nicht um so viel, dass dies ohne weiteres möglich wäre. Freilich sind ihr Herumspringer zur Hand gegangen und werden dies auch wieder tun, denn mein Bruder im Dienst an Göttern und Menschen, der für unsere und die umgebenden Sippen zuständig ist, hat sehr edel gehandelt und dafür geworben. Dennoch wäre es meiner lieben Tochter Recht, etwas Kontinuität hereinzubringen und Ihr bliebet ja, wenn sie es zufrieden ist und Ihr es zufrieden seid, drei Jahre bei ihr und ihren Schülern, den Enkeln der Schüler, die ich selbst einst unterrichtet.

 Es kommt nun darauf an, ob Ihr selbst dies wollt und Euer Herr Vater einverstanden ist: Es sind über hundert lange Meilen bis dorthin und es scheint ja, als ob Euch der Pfeil der Liebe getroffen hätte.“

 „Es ist nichts, was nicht sein dürfte, Ehrwürdiger, und ich habe damit gerechnet. Ich danke Euch und werde meinen Vater fragen.“

 

 Herr Haris schlief allerdings schon, als sie zurückkehrte. Am nächsten Tag sprach sie ihn darauf an. „Nun, wenn der Ehrwürdige, der Freund der Götter, dies wünscht und es dir zutraut, so soll es denn sein. Es ist ja kein Abschied auf immer.“ Sie hatte beinahe das Gefühl, der Vater freute sich, dass sie die Sippe verlassen und somit wohl auch Yodik seltener sehen würde.

 Noch am  selben Morgen überbrachte sie dem Weisen die Nachricht.

 „Ich danke Euch! Ich bin sicher, meine Tochter wird es nicht bereuen. Ich werde ihr mitteilen, dass Ihr und Euer Vater einverstanden seid. Danach wird sie Euch, denke ich, direkt schreiben – ich gehe davon aus, dass sie Euch noch vor Schulbeginn kennenlernen möchte.

 Eine Wohnung könnte sie Euch bieten: Meine beiden Enkel haben andere Berufe ergriffen und hätten wohl auch nicht zum Lehrberuf getaugt. Der ältere ist bereits verheiratet, der jüngere derzeit im Herumspringer-Alter.

 Es gibt noch einen anderen Grund, warum es mich freut, dass gerade Ihr diese Stelle annehmen wollt: Nicht weit vom Dorf unserer Sippe ist das sogenannte Steintor und es heißt, bei diesem Tor sei das Geheimnis zu finden, wie die Welt beherrscht werden könnte. Zwei Brüder meines Zeichens gehen davon aus, dass die Talmenschen, von deren Zug Ihr gelesen habt, dieses Tor zu erreichen suchten; wie Ihr wisst, ist ja nur der Anfang ihrer Geschichte erhalten. Es wäre auch möglich, dass dieses Tor das nächste Ziel der Männer ist, die den Seffir an sich genommen haben.“

 „Was wollt Ihr von mir? Dass ich verhindere, dass sie dorthin kommen, dass ich es melde, wenn sie es versuchen oder dass ich mich selbst umsehe?“

 „Das erste wäre vermutlich zu viel verlangt: Wenn sie wissen, wo genau das Geheimnis liegt, werden sie mit mehreren Kriegern angreifen. Das zweite besorgt bereits der Bruder meines Zeichens Idul, der Sohn des Sarman, dessen Stamm dort lebt. Das dritte wäre, soweit es in Euren Möglichkeiten liegt, Eure Aufgabe.“

 „Ich werde mein Bestes tun, Ehrwürdiger!“

 „Ich danke Euch!“ Suraya wurde schlagartig bewusst, dass der Weise gerade eine unendliche Zahl der unsichtbaren Stufen herabgestiegen war, die ihn von gewöhnlichen Menschen trennten. Er bat sie und dankte ihr, als ob sie ihm gleichwertig wäre. Entweder war ihm die Sache so wichtig oder er hielt sie für weit mehr als sie ihrer Herkunft und ihrem Alter nach sein konnte.

 „Eine Frage hätte ich noch, Frau Suraya: Ihr habt, wie mir scheint, am Sonnwendfest den blauen Stein oder einen Teil davon am Körper getragen. Ist Euch etwas aufgefallen? War irgendetwas an Euch nicht wie sonst?“

 Suraya überlegte, ob sie es sagen sollte. „Ich bin mir nicht sicher, Ehrwürdiger, aber ich hatte das Gefühl, ich könnte die Gedanken und Gefühle anderer spüren.“

 „Nun, wenn es so ist, dann tragt den Stein noch einige Male und seht selbst, ob sich Euer Gefühl bestätigt! Da Herr Yodik ja um den Stein weiß, könnte er auch eingreifen, falls der Stein Euch oder anderen gefährlich würde – und ich denke nicht, dass Ihr etwas dagegen hättet, ihn bei Euch zu haben.“

 

 Das hatte Suraya in der Tat nicht. Im Gegenteil, sie traute sich nicht, Yodik mitzuteilen, dass sie noch in diesem Sommer die Sippe verlassen würde. Am Morgen vor dem Neumond tat sie es allerdings doch. Yodik schien enttäuscht, obwohl er damit gerechnet hatte.

 Am Neumond selbst hatte sie eine Idee, wie sie ihn trösten konnte: Sie kaufte beim Kartenzeichner eine Karte mit detaillierten Anweisungen, nach welchen Sternen man sich wann zu richten hatte. Mit dieser Karte flog sie noch vor Mitternacht zum Weisen und ließ sich dessen Heimatdorf zeigen. Sie stellte fest, dass es tatsächlich etwa hundert Meilen entfernt lag und zeigte nach dem Mitternachtsessen Yodik die Karte.

 „Ich habe mir gedacht, ich würde mir gern heute oder am nächsten Feiertag die Gegend anschauen, in der ich künftig arbeiten werde“, erklärte sie. „Und, wie du weißt, hat der Weise mir verboten, unser Dorf ohne Begleitung zu verlassen.“

 „Du willst also, dass ich mit dir komme?! Sehr gern, natürlich. Wohin du willst. Nur: Wie willst du bis heute Morgen so weit und noch zurück kommen? Selbst wenn wir dreißig lange Meilen in der Stunde schaffen sollten, bezweifle ich, dass wir vor dem nächsten Abend wieder hier sind.“

 „Oh Yodik! Wir stehen immer noch unter dem Einfluss des Drachenblutes, das wir getrunken haben. Ich bin sicher, wir können die fünf- bis zehnfache Geschwindigkeit erreichen wie normal!“, antwortete sie. „Wenn wir gleich losfliegen könnten wir es schaffen!“

 „Da dürftest du Recht haben! Also, ziehen wir uns um, nehmen Waffen mit und los!“

 Sie zogen ihre Anzüge aus dem Leder des Schwarzen Drachen und darüber ihre Tarnmäntel an. Yodik besaß einen Feuerschläger, den er auch mitnahm, Suraya nur Pfeil und Bogen, dafür allerdings das Duranschwert.

 Selbst Suraya hatte die übermenschlichen Kräfte unterschätzt, die sie beide noch besaßen. Bis zum Steinbockfelsen, wohin sie mit ihrer normalen Kraft noch anderthalb Stunden gebraucht hatte, kamen sie in weniger als einer Viertelstunde, und das, obwohl sie sich Zeit ließen. Nach einer weiteren Viertelstunde endeten die Gebirgszüge und es ging hinunter dorthin, wo die Talmenschen lebten.

 „Wir haben Zeit! In höchstens einer Viertelstunde sind wir am Ziel“, stellte Suraya fest. „Und ich bin neugierig! Lass uns runterfliegen!“

 Auch Yodik interessierte sich dafür, wie eine Talmenschensiedlung aussah. Freilich schliefen um diese Zeit die meisten Menschen im Tal, doch was Suraya und Yodik sahen, erschien ihnen seltsam genug: Zwischen den Häusern standen Kisten aus Blech und Glas, von denen einige, die noch auf den Wegen waren, sogar noch zu fahren schienen. Auch hatten die Lichter, die überall brannten, nichts mit Feuer zu tun. Sogar Schriften leuchteten so hell auf, dass Suraya und Yodik blinzeln mussten und es verfluchten, dass sie keine Augensalbe mitgenommen hatten. Es schien, als ob in der Zeit, seit man in der Sippe des Radax keinen Kontakt mehr zu den Talmenschen hielt dort unten einiges geschehen sei.

 „Womöglich haben sie inzwischen auch Geräte zum Fliegen und brauchen unsere Hilfe überhaupt nicht mehr“, flüsterte Yodik.

 „Oder sie haben Waffen, gegen die wir keine Chance haben, oder beides“, stellte Suraya fest. „Auf jeden Fall ist bei ihnen einiges passiert. Es wundert mich, dass sie immer noch zu Fuß die Berge hinauf gehen.“

 „Vielleicht ist das ein Sport bei ihnen. Bei uns gibt es ja auch Spiele und Kämpfe, bei denen man die Flügel nicht einsetzen darf“, vermutete Yodik.

 Immerhin schienen die wenigen Talmenschen, die noch unterwegs waren, immer noch nicht durch Tarnmäntel sehen zu können. Zumindest nahm niemand von Suraya und Yodik Notiz, sodass die beiden sich sogar in einer Straße, in der immer noch viele, meist junge Talmenschen unterwegs waren, zu landen trauten. Als sie einige verliebte Paare sahen, nahm auch Yodik Suraya fest in die Arme. Die riet allerdings, ein Stück aufzufliegen: „Ein Kuss durch die Tarnmaske ist doof und wenn wir die Mäntel abnehmen, fallen wir auf. Die Talmenschen haben nicht nur keine Flügel, sondern sind auch ganz anders angezogen.“

 Sie verzogen sich schließlich in eine dunkle Seitengasse, wo sie ungestört die Tarnmäntel ablegen konnten. Nach einigen Küssen zogen sie sich allerdings wieder komplett an und kehrten in die Hauptstraße zurück. Einige Wörter schnappten sie auf, doch Suraya fiel noch etwas anderes ein: Wenn sie tatsächlich mit dem Stein an ihrer Kette Gedanken fühlen konnte, galt das möglicherweise auch für Talmenschen – und vielleicht könnte sie so auch deren Sprache besser lernen.

 

 Nach einiger Zeit flogen sie auf. Es kam wieder eine Bergkette mit Höhlen. Am Himmel stand der Große Wagen vor ihnen und Suraya las aus ihrer Karte, dass sie links davon fliegen mussten. Kurz dahinter kam eine Siedlung in Sicht und Suraya erkannte, als sie die Landschaft mit ihrer Karte verglich, dass es sich um die Sippe des Urax handeln musste. Noch um einen Bergrücken mussten sie herumfliegen, dann waren sie am Ziel.

 Sie sahen Wächter auf einem Felsvorsprung sitzen, die jedoch nicht in ihre Richtung schauten.

 „Wenn wir schnell sind, haben wir eine Chance, dass sie uns nicht sehen“, meinte Yodik.  Suraya nickte, riet jedoch dazu, sich zu trennen. „Könnte sein, dass wir uns sichtbar machen müssen, und dann sollten sie uns nicht zusammen sehen. Schließlich will ich hier nicht gleich als Flittchen gelten.“

 „Du doch nicht – aber du hast Recht.“ Yodik nahm die Tarnmaske ab und zog auch Suraya die ihre vom Kopf. Sie küssten sich in der Luft nochmals, ehe sie sich trennten und niedergingen.

 

 Die Vorsichtsmaßnahme war übertrieben, denn die Wachen bemerkten nichts. Suraya flog knapp über dem Boden und was sie sah, wirkte vertraut: Jugendliche spielten Nestball, Frauen und Männer liefen oder flogen auf eine große Höhle zu, in der Markt abgehalten zu werden schien, ein Mann, der ein totes Schaf im Arm trug, flog knapp an Suraya vorbei; offenbar hatte er es gerade geschlachtet und wollte es nun verarbeiten. Auch der Dialekt war nach einigem Hinhören verständlich.

 Suraya passte auf, dass sie mit niemandem zusammenstieß und nicht auffiel. Soweit sie sah, trug hier niemand einen Tarnmantel; im eigenen Dorf nahe der Markthöhle war dies auch ungewöhnlich; gerade deshalb rechnete sie allerdings damit, dass man jederzeit auf sie zeigen könnte, wenn sie zu nahe an den Menschen vorbeiflog.

 

 Ihr fielen die zahlreichen Bäche auf, die die Felder durchzogen. Viele davon schienen direkt aus Höhlen herauszufließen. Ein See oder sonstiges größeres Gewässer schien jedoch nicht in der Nähe zu sein. Noch etwas war ungewöhnlich: Niemand stand mit Schöpfgefäß an einem der Bäche, obwohl die Höhlen, die dort hoch oben lagen, sicher nicht von Bächen durchflossen wurden, aber bewohnt zu sein schienen.

 „Schau, da flieget eins!“, rief eine Stimmbruchstimme.

 Suraya fluchte, nahm allerdings gleich ihren Tarnmantel ab. „Ich komme in Frieden“, rief sie.

 „Wer seid Ihr, Herrin?“, fragte der Junge, der ein oder zwei Jahre jünger sein mochte als sie selbst. Eine Gruppe anderer Jugendlicher war schnell um sie herum.

 „Warum Herrin? Mein Name ist Suraya.“

 „Sie traget ein Schwert; ein achtes Schwert“, flüsterte ein anderer Junge.

 „Wo…woher habt Ihr…?“, interessierte sich ein Mädchen.

  „Den Tarnmantel oder das Schwert? Das Tarnsilber selbst gefunden, den Mantel machen lassen und das Schwert gekauft.“

 „Tarnsilber gefunden. Die Götter waren Euch gnädig. Ihr müsset gewiss sehr riche sein.“

 „Warum? Ist das so ungewöhnlich?“

 

 Sie fand im Gespräch heraus, dass Tarnsilber in dieser Region selten und sehr teuer war. Nur wenige Krieger besaßen daher eigene Tarnmäntel. Auch war es hier offenbar ungewöhnlich, ja fast ungehörig, dass Frauen Waffen trugen.

 Suraya konnte sich dagegen zwar nicht vorstellen, ernsthaft zu kämpfen und in der Tat trugen Frauen auch in ihrer Sippe seltener Waffen bei sich als Männer, deren Aufgabe normalerweise Jagd oder Schlachtung waren. Fast alle Frauen, die sie kannte, besaßen allerdings Pfeil und Bogen, die meisten auch ein Schwert, und alle konnten damit umgehen.

 Dafür hörte sie eine Erklärung, woher die Menschen hier das Wasser schöpften: „Wir ziehent es hoch – es hat ein See unter dem Berge.“

 Wie dies genau funktionierte, verstand sie nicht, doch die Aussicht auf die Arbeit hier freute sie nun noch mehr: Sie würde hier nicht nur lernen, wie man Kinder unterrichtete, sondern auch über das Leben im fremden Stamm. 

Aus dem Nest

 Suraya und Yodik brauchten für den Rückflug nicht einmal eine Dreiviertelstunde und kamen so rechtzeitig zum Tagmahl wieder nach Hause.

 Schon am nächsten Tag kam ein Brief von Frau Adisa, der Tochter des Weisen und Surayas künftiger Meisterin. In diesem bat sie ihr künftiges Lehrmädchen, in den nächsten Tagen zu kommen, um sich vorzustellen. Ihr sei jeder Tag recht, sofern sie es vorher erführe. Herr Haris meinte, es sei für seine Tochter momentan das Wichtigste, für ihre berufliche Zukunft zu sorgen, weshalb sie möglichst bald dorthin fliegen sollte.

 „Denk aber daran, dass du um die fünf Stunden unterwegs sein wirst, mach also den Termin nicht zu bald abends aus! Und lass dir Zeit beim Fliegen! Es muss nicht sein, dass du vollkommen verschwitzt und ungeordnet bei deiner künftigen Meisterin erscheinst!“

 Suraya schlug in ihrem Antwortbrief die sechste Stunde am zweiten Tag nach Neumond vor. So konnte sie den nächsten Tag noch nutzen, um ihre Kleider zu säubern und eine aufgegangene Naht an ihrer Bluse wieder zusammenzunähen. Auch die künftige Meisterin konnte noch das Nötige veranlassen.

 Suraya stand so früh auf, wie sie es hätte tun müssen, wenn sie keine übermenschlichen Kräfte hätte und richtete sich zusammen wie an einem Festtag oder für einen Besuch beim Weisen. Die Zeit, die ihr nach dem Frühstück noch blieb, nutzte sie, um bei Yodik vorbeizufliegen. Der konnte zwar nicht den ganzen Tag über freinehmen, wohl aber nahm er sich die Zeit, mit ihr zu Adisas Sippe zu fliegen. Um Surayas Festtagskleid nicht zu beschädigen, mussten sie langsamer fliegen als zwei Tage zuvor. Dennoch brauchten sie nur etwa anderthalb Stunden bis zum Ziel. Unmittelbar vor dem Tal machte Yodik sich unsichtbar und gab ihr den Abschiedskuss. Er wollte nach Höhlen suchen, in denen sie sich hier verstecken konnten.

 Suraya verfluchte sich, weil sie ihren Tarnmantel vergessen hatte. So konnte sie sich nun, um die dritte Stunde, da schon viele Menschen unterwegs waren, nicht ohne weiteres gemeinsam mit Yodik irgendwohin zurückziehen. Stattdessen flog sie hinunter, fragte nach der Höhle Adisas, der Lehrerin, der Tochter des Surdar. Man wies ihr eine Höhle, deren Zugang von der Haupthöhle der Sippe aus erfolgen musste. Sie fand den richtigen Gang schnell und sah sich danach in der Haupthöhle um. Es war kein Markttag, doch nicht nur einige Bauern mit Lebensmitteln, sondern auch einige Handwerker, die ihre Dienste anboten, standen hier. Sie sah, dass die Gold- und Silberschmiede hier sich auf ihr Handwerk verstanden; hätte sie nicht zu Hause, dank den vielen Opfergaben, genügend Schmuck, dafür nun wenig Geld einstecken gehabt, hätte sie sofort etwas gekauft.

 

 Sie war noch nicht lange in der Haupthöhle, als Yodik vor ihr stand. Der Versuchung, ihn zu küssen, musste sie widerstehen.

  „Ich hab was gefunden“, flüsterte er. „Wenn du nicht die ganze Zeit hier verbringen willst. Aber dafür brauchen wir noch ein Sitzkissen, sonst versaust du dir dein bestes Kleid.“

 Suraya lehnte seinen Vorschlag ab, er könne es für sie kaufen und fragte sich selbst nach dem entsprechenden Händler durch. Yodik verließ sie inzwischen und versprach ihr, am Eingang zum Tal zu warten.

 Sie kaufte ein Kissen und flog damit an die vereinbarte Stelle. Dort übergab er ihr seinen Tarnmantel. „Dass ein Bursche in Arbeitskleidung in eine Höhle fliegt ist Alltag. Ich könnte ja hinter einem Tier her sein. Ein Mädchen im Festkleid fällt viel mehr auf. Hier, hinter dem Felsen sieht dich keiner. Zieh den Umhang an und flieg einfach hinter mir her!“

 Er hatte eine gemütliche Höhle gefunden, die vom Tal aus schlecht einsehbar war. Hier konnte man sich durchaus auch später heimlich treffen. Sie verbrachten die Zeit gemeinsam, bis die sechste Stunde kam. Suraya betrachtete sich nochmals im Spiegel und machte sich mit Yodiks Hilfe zurecht, ehe er ihr den endgültigen Abschiedskuss gab. „Nach dem Tagmahl komm ich vorbei“, versprach er. „Dann kannst du mir erzählen, wie es war.“

 

 Suraya flog ins Tal hinein und in Frau Adisas Höhle. Die Lehrerin öffnete selbst. Sie war eine Frau mittleren Alters mit langen, dunklen Haaren, durch die sich schon graue Strähnen zogen. Wie in der Trauerzeit üblich trug sie ein schwarzes Gewand und die Haare offen.

 „Seid mir gegrüßt, Frau Adisa, wie ich annehme“, grüßte Suraya und knickste. „Ich bin Suraya, die Tochter des Haris aus der Sippe des Durdak und bitte Euch, obwohl ich mir dies durch nichts verdient habe, mich, wenn es Euch gefällt, in Euer Lehrverhältnis aufzunehmen.“

 „Kommt!“ Sie führte Suraya in ihre Wohnstube und forderte sie auf, sich zu setzen. Suraya sah sich um: Wie in allen Wohnstuben, die sie kannte, waren gepolsterte Stühle um einen Holztisch gruppiert. In der Ecke hing ein Teekessel über dem schwachen Feuer. An den Wänden hingen Bilder, teilweise eindeutig von Kindern gemalt. Dergleichen kannte sie aus Alins Elternhaus. Auf einem Mauervorsprung stand eine Götterfigur, die Suraya nicht zuordnen konnte, ein Wesen mit menschlichem Oberkörper aber gefiedertem Schwanz. Das einzige Auffällige war, dass über dem Wasserkessel ein Metallrohr aus der Wand hing und noch etwas höher zwei gut faustgroße Luken in derselben Wand waren, die aber nicht ins Freie führten.

 Frau Adisa schenkte Tee ein und kam sofort zur Sache: „Wie Euch mein Vater sicher schon erzählt hat, ist mein Mann Barusch vor gut einem halben Jahr gestorben. Die Götter mögen seine Seele wieder beleben. Im Frühjahr hatte ich zwei Herumspringer hintereinander, die mich unterstützt haben und vermutlich bekomme ich auch im Herbst wieder einen, doch gerade für die kleinen Kinder ist es gut, wenn sie eine Person haben, die sich dauerhaft um sie kümmert – Ihr könnt Euch vorstellen, was ich meine: Ihnen bei ihren Aufgaben zu helfen, sie beim Spielen zu beaufsichtigen, Verletzungen zu verarzten und dergleichen Dinge, für die man noch nicht viel Erfahrung als Schulmeister braucht.

 Den Unterricht selbst werde ich halten oder, wenn alles wie geplant verläuft, ein Herumspringer für die Kleinen und ich für die Großen. Ihr schaut zunächst einmal zu. Gebt acht, wie die Kinder reagieren; wir werden darüber sprechen. Nach einiger Zeit werdet Ihr anfangen, selbst Unterricht zu halten.

 Nun gut. Könnt Ihr einfache Wunden verarzten?“

 „Ich kann Verbände machen und ich weiß, wie ich ein Kind halten muss, wenn ich es zum Heiler bringe, Herrin.“

 „Sagt nicht ‚Herrin‘ zu mir! Mit ‚Frau Adisa‘ bin ich zufrieden. Nun, mein Vater sagt, dass Ihr kräftig, schnell und in körperlichen Übungen stark und erfahren seid. Ich glaube also, Euch auch zumuten zu können, auf die älteren Schüler aufzupassen und Prügeleien zu unterbinden. Ich muss Euch nur zu einem ermahnen: Denkt daran, dass Ihr von nun an deren Lehrerin seid und nicht deren Freundin und dass Ihr Euch einen gewissen Respekt erarbeiten müsst. Ich werde natürlich dafür sorgen, dass die Schüler Euch diesen erweisen, doch Ihr müsst Euch ebenfalls entsprechend benehmen.

 Wenn Ihr also in Eurer Freizeit selbst ringen, fechten oder Nestball spielen wollt, so tut das mit älteren Jugendlichen und nicht mit Schülern! Besteht auch darauf, dass die Schüler Euch mit „Ihr“ und mit ‚Frau Suraya‘ oder ‚Frau Lehrerin‘ ansprechen!

  Das neue Schuljahr wird am Tag nach dem nächsten Neumond beginnen. Schon mein Vater hielt es so, dass die Sommerferien nicht weniger als anderthalb und nicht mehr als zwei Monde dauern sollen.“

 „War bei uns auch so.“

 „Das hat sich bewährt, denn nach dieser Zeit sind die Schüler erholt, aber haben noch nicht alles vergessen. Ich erwarte Euch ein Mondviertel vorher, denn wir werden noch einiges klären müssen. Ich weiß auch noch nicht sicher, wie gesagt, ob ein Herumspringer kommt oder nicht.“

 Sie stand auf. „Wenn Ihr mir bitte folgen wollt, damit ich Euch Euer Zimmer zeige.“

 Surayas künftiges Zimmer lag unter der Wohnstube ihrer Meisterin. Es war einfach, aber sauber mit einem bequemen Bett und ausreichend Schränken und Abstellmöglichkeiten. Auch hier gab es ein Metallrohr in der Wand. Frau Adisa erklärte ihr auf Nachfragen, dass es  von einem Kessel ausging, den man durch Ziehen an einem Seil, das daneben angebracht war, aus der Quelle darunter nachfüllen konnte, wenn er leer war. Suraya wollte dies gleich ausprobieren.

 „Mein Vater hat mir erzählt, dass Eure Handwerker dergleichen nicht können. Leider kann man diese Vorrichtungen sehr schwer nachträglich einbauen, da sie viel Platz brauchen. Aber Ihr wisst nun Bescheid.“

 Sie gingen wieder in die Stube zurück. Dort erfuhr Suraya auch das Nötige über die äußeren Umstände: Sie würde zunächst zwar die Unterkunft und Verpflegung gestellt bekommen, allerdings vor Wintersonnwend keinen Lohn. Dies war üblich. Bei Jantar hatte es fast ein ganzes Jahr gedauert, bis er eigenes Geld verdiente – und das, obwohl sein Meister ihm gar keine Unterkunft bieten musste.

 „Wenn Ihr etwas braucht, sei es für Kleidung oder sonstiges, lasst es mich wissen“, bot Frau Adisa außerdem an. „Das verrechnen wir später – ich möchte nicht, dass meine Helferin in Lumpen vor die Klasse treten muss.“

 Suraya wurde mit der Bitte verabschiedet, an Vollmond gemeinsam mit ihren Eltern wiederzukommen.

 

 Es war gegen Ende der achten Stunde, als sie Frau Adisa verließ. Ihr Vater hatte ihr etwas Geld mitgegeben, wovon sie sich beim Bäcker eine Kleinigkeit zu Essen kaufte. Anschließend flog sie aus dem Tal auf, zunächst nicht schneller als andere. Erst an der Biegung am Ende des Tales beschleunigte sie.

 Sie war kaum über die erste Felswand geflogen, als ihr Yodik entgegenkam. „Da bist du ja, Schatz!“, rief er. Sie küssten sich.

 „Hast du doch den ganzen Tag freibekommen?“, wollte Suraya wissen.

 „Mir freigenommen. Papa wird’s verschmerzen – nahe der Göttergabel habe ich zwei schwarze Drachen gesehen, von der Art wie der, den wir getötet haben. Da kann ich dich unmöglich allein und ohne Waffen heimfliegen lassen.“

 „Gute Götter! Bist du entkommen?“

 „Die beiden hatten es, den Göttern sei Dank, nicht auf mich abgesehen. Ich weiß nicht, ob sie auf Beute gelauert oder auf jemand gewartet haben, aber sicher ist sicher. – Da hast du einen Bogen und ein paar Pfeile. Die Spitzen sind mit Duran gehärtet.“

 „Vielen lieben Dank dir! Hoffen wir das Beste!“ Sie umarmte und küsste ihn, ehe sie sich Bogen Köcher umhängte.  „Am besten, wir bleiben hoch über den Bergen, damit wir sehen, was auf uns zukommt. Drachen können sich nicht unsichtbar machen, soweit ich weiß.“

 

 Suraya hatte ein bisschen Angst, doch geschah auf dem Heimweg nichts. Nicht einmal normale Drachen, die man mit einem Sprengring verscheuchen konnte, ließen sich sehen – zumindest nicht in dieser Höhe.  Ringsum die Göttergabel war geschäftiges Treiben, doch sie sahen nicht genauer nach, was los war. So kamen sie unbeschadet heim und Suraya konnte beim Tagmahl positiv über ihren ersten Besuch berichten. Ihr Vater versprach, am Vollmond mitzukommen.

 Spät am Morgen, als die Sonne schon hoch stand und Suraya dabei war, sich abzuschminken, hörte sie Tarans Stimme aus der Stube: „Herr Haris, entschuldigt die späte Störung, aber mein Herr will Eure Tochter sprechen. Es ist dringend!“

  Ehe sie sich wieder zurechtmachen konnte, hatte der Vater die Tür geöffnet. „Du …sollst… zum Ehrwürdigen!“, stammelte er.

 Suraya sah in sein Gesicht und danach in Tarans. Der Diener des Weisen war bleich wie Kreidefelsen. „Was ist los, Herr Taran?“

 „Das wird mein Herr Euch sagen. Nun kommt! Auch Euer Freund soll mitkommen.“

 Sie folgte ihm zu Avuks Höhle. Yodik kam schnell heraus, als er gerufen wurde. Sie verloren keine Zeit, um zum Weisen zu fliegen.

 In dessen Stube saß ein älterer Mann aus der Sippe des Radax und ein Mann mittleren Alters, den Suraya noch nie gesehen hatte. Beide Männer hatten ihre Haare zerrauft und trugen weite, schwarze Kittel.

Der Weise stellte sie einander vor: „Das sind Frau Suraya, Tochter des Haris und Herr Yodik, Sohn des Avuk, die schon einmal ein solches Biest besiegt haben. Das sind Herr Torix, Sohn des Bojan.“ Er zeigte auf den Alten „und Herr Filar, Sohn des Bascher, aus der Sippe des Modad.“

 Yodik fasste sich als erster: „Herr Torix und Herr Filar, Ihr tragt Trauer… hat einer der beiden Drachen…“

 „Ihr sagt ‚einer der beiden Drachen‘. Wisst Ihr davon?“, fragte Torix.

 „Verzeiht, Herr Torix, ich habe… zwei schwarze Drachen gesehen… heute Nachmittag, gegen die siebte Stunde. Ich war alleine und… ich hielt es für meine Pflicht, Suraya zu Hilfe zu kommen: Auch sie war allein, bei ihrer künftigen Lehrherrin und ohne Waffen.“

 „‘S isch niad euer Schuld“, brachte Filar unter Tränen heraus. „Ihr hätt’s allein auch niad helfen könnt.“ Er weinte. „Vier Söhne hab i ghabt, vier brave, starke Burschen. Alle vier sein’s g’fressen worden.“

 „Unsere Späher haben gesehen, dass Drachen dort bei der Göttergabel Feuer auf Menschen speien und nicht vertrieben werden können“, berichtete Torix. „Wir sind mit mehreren Mann hingeflogen. Auch aus der Sippe des Pediko haben wir Unterstützung bekommen, aber es dauert seine Zeit, bis man die Ebene überquert hat. Da kamen uns die beiden Ungeheuer auch schon entgegen. Wir konnten sie besiegen, doch drei von uns ließen ihr Leben, darunter mein jüngerer Sohn.“

 Suraya fühlte sich elend: „Beileid!“, brachte sie heraus. „Mögen die Götter sie empfangen und ihre Seelen wieder beleben!“

 „Danke! – Habt Ihr jemals noch solche Ungeheuer gesehen?“, wollte Torix wissen.

 Suraya und Yodik schüttelten den Kopf. „Nicht vor und nicht nach dem Kampf“, berichtete Yodik. „Damals hat der Drache meine liebe Suraya verfolgt und wir haben zu dritt, sie, ich und ein Herr Yarum aus der Sippe des Pediko gegen ihn gekämpft. Alle drei wurden wir verletzt. Selbst Duran dringt nur von unten durch die Schuppen, doch unser stärkster Berserker konnte den Hals des Drachen durchbeißen.“

 „Es sieht so aus, als ob die Drachen abermals gezielt angegriffen hätten“, stellte der Weise fest. „Ihr, Herr Filar, habt erzählt, Eure Söhne seien mit anderen Jugendlichen zusammen gewesen, die fliehen konnten. – Herr Filar, verzeiht, doch ich muss Euch eines fragen: Kann es sein, dass jemand irgendetwas mit Eurer Familie abzurechnen hat?“

 Der Fremde schluckte. „‘S isch geheim – eig’tlich. `S hat ein alten Stein mit Zeichen, ein Schrift, die mir niad lesen können. Der Stein, er isch heilig für uns und nur zwei Männer wissen, wo er liegt – einer bin ich. Ein Fremder hat mich g’fragt, wo er isch, ich hab g’sagt, ich verrat niad, wo er isch, des isch `s Geheimnis von unserer Sippen. Vorgeschtern war das.“

 „Gute Götter! – Ihr wisst also selbst nicht, was auf dem Stein steht oder wie alt er ist?“

 „Ma redt von 300 Jahr.“

 Der Weise legte die Stirn in Falten und Suraya merkte, dass er ähnlich dachte wie sie. „Es gibt bei uns eine Sage von einer Schatzsuche, vielleicht auch vor 300 Jahren. Verbrecher aus dem Tal und von einer Sippe, die dort, wo heute die Eure lebt, gewohnt hat, haben ihre Kameraden betrogen und wollten alleine den Schatz suchen. Leider kennen wir nur den Anfang der Sage.“

 „Ihr meint, dass… dass der Rescht bei uns isch?“

 „Das wäre möglich. – Mein Herr, ich will nicht wissen, wo die Steintafel ist und schon gar nicht will ich sie an mich nehmen, doch wenn Eure Sippe es erlaubt, möchte ich gerne einen Blick darauf werfen.“

 „Muss der Sippenrat entscheiden.“

 „Es ist auf jeden Fall klar, dass Eure Sippe die Hilfe der Sippen, für die ich verantwortlich bin, bekommen wird, soweit das in meiner Entscheidung liegt. Alle drei Sippenräte müssen sich jedenfalls treffen. – Frau Suraya und Herr Yodik, ich ließ Euch unter anderem rufen, um Euch zu warnen: Keine Eigenmächtigkeiten bitte! Ihr seid in höchster Gefahr.“

 

 Als Suraya zu Hause darüber erzählte, erschraken die Eltern. Die Mutter machte dem Vater Vorwürfe, dass er Suraya allein zum Vorstellungsgespräch hatte fliegen lassen.

 Am Vollmond kamen zwanzig bewaffnete Männer mit ihnen, doch glücklicherweise mussten sie nicht kämpfen.

 Die drei folgenden Tage über hielten auch die Sippen des Durdak und des Pediko Trauer. In den Waffenschmieden lief die Arbeit auf Hochtouren, zumal die Sippe des Modad, die selbst entweder kein Duran besaß oder verarbeiten konnte, einen Großauftrag gegeben hatte.

 

 Zwei Tage vor Neumond brachte Jantar am Abend einen Feuerschläger mit nach Hause. „Papas und mein Abschiedsgeschenk, Schwesterherz!“, sagte er zu Suraya. „Du wirst ihn vielleicht brauchen. Er hält Durankugeln aus und aus jedem der vier Läufe kannst du bis zu sechsmal schießen.“

 „Jantar, das ist an die zwanzig Kronen wert. Das kann ich doch nicht annehmen!“

 „Übertreib nicht! Acht bis zehn maximal, je nach Verhandlungsgeschick. Und dein Leben ist uns allen mehr wert. In der Fremde können wir nicht alle auf dich aufpassen.“

 Suraya übte die letzten beiden Tage in der Heimat mit dem neuen Feuerschläger Schießen und stellte fest, dass er zudem auch eine große Reichweite hatte. Er war allerdings nicht schwerer zu bedienen als Waffen, die sie kannte.

 

 Sie packte am Morgen vor dem Neumond ihre Sachen zusammen und verabschiedete sich von Alin sowie besonders tränenreich von Yodik.

 „Wir werden uns sehen, sooft es geht“, versprach dieser. „Und wenn die nächsten Monde über keine Drachen auftauchen, wird es leichter.“

 

 Am Abend der Neumondnacht opferte Haris den Göttern, um den Segen für seine Tochter zu erbitten. Er hatte einen von Flugböcken gezogenen Wagen für Surayas Habseligkeiten gemietet, mit dem die Familie sich auf den Weg machte.

 Yodik begleitete die Familie in Rüstung und Waffen. Auch einige andere junge Männer sowie Alin kamen zum Schutz mit.

 Der endgültige Abschied war hart. Tausend Gedanken gingen Suraya durch den Kopf. Sollte sie ihre neue Meisterin über die Gefahr informieren oder würde dies Frau Adisa unnötig beunruhigen?

 Gegen Ende der fünften Stunde waren sie angekommen und es dauerte bis Mitte der siebten, bis die Familie und die Begleiter sich von Suraya verabschiedet hatten.

 „Pass auf dich auf!“, warnte Frau Neralda. „Flieg nicht allein zu weit weg! Und vergiss nicht, dass auch Herumspringer gefährlich werden können. Unsere Tochter wollen wir behalten, aber Enkelkinder sollen bis zu ihrer Zeit warten.“

 „Untersteh dich!“, gab Yodik ihr Recht. „Für diese Herumspringer könnte es sich ausgesprungen haben.“

 

 

 

Einleben mit Hindernissen

 Tatsächlich meldete sich vier Tage vor Schulbeginn ein Herumspringer bei Frau Adisa. Er hieß Yardan und stammte aus der Suraya unbekannten Sippe des Kabon. Laut eigenen Aussagen hatte er bereits zwei Jahre als Herumspringer hinter sich. Er war groß und kräftig und trug sein Haar länger als es in Surayas Sippe üblich war. Er gefiel ihr, doch zum einen hatte sie sich in Yodik weit mehr verliebt als sie es sich je hatte vorstellen können, zum anderen machte Frau Adisa den beiden sehr schnell klar, dass sie „kein unanständiges Verhältnis in meinem Haus“ wünsche. Yardans Zimmer war über dem Wohnzimmer und dem Schlafzimmer der Schulmeisterin und nur durch deren Räume mit Surayas verbunden – selbst wenn man von außen kam, musste man an ihr vorbei.

 

 Frau Adisa plante, zunächst den Unterricht für die Älteren selbst zu halten und Yardan den für die Kleinen zu überlassen; nach etwa einem Mond würden sie tauschen. Suraya würde überwiegend bei den Kleinen eingesetzt werden, da diese ständig Betreuung bräuchten. Zunächst sollte sie selbst keinen Unterricht halten, sondern bei Übungen etwa kontrollieren, ob die Schulanfänger die Zeichen und Zahlen richtig schrieben oder sie bei sportlichen Übungen beaufsichtigen. „Bei den Kleinen ist es wichtig, dass sie sich keine Fehler angewöhnen. Das kann bei den Zeichen leicht passieren – schnell liest man „ya“ für „ha“ – und auch wenn sie sich bewegen. Die Älteren müssen mehr selbst für sich sorgen können; wenn sie Fehler machen oder sich verletzen, merken sie sich das eben.“

 

 Gemeinsam brachten Adisa, Yardan und Suraya sowie Adisas Sohn Farar, der in den nächsten Tagen zu Besuch kam, die beiden Schulräume in Ordnung. Es mussten genügend saubere und glatte Tische zur Verfügung stehen, außerdem die Wandtafeln sauber sein und Kreide und frischer Ton, vor allem für die Anfänger, deren Arbeiten oft wieder gelöscht werden mussten, sodass der Ton anderweitig verwendet werden musste, besorgt werden. Auch eine Tonwalze war gegen Ende des Vorjahrs gebrochen und musste repariert werden.

 Ansonsten waren die letzten Tage vor Schuljahrsbeginn nicht besonders ereignisreich. Suraya nutzte die Freizeit, um sich in ihrer neuen Heimat umzusehen und umzuhören. Einmal spielte sie auch mit einigen älteren Jugendlichen Nestball. Von Yardan erfuhr sie, dass es Fechtkurse gab, dort allerdings normalerweise keine Mädchen zugelassen wurden. Yardan schlug den Jungen am Ort vor, Suraya sollte eine Bewährungsprobe machen: Wenn sie zur Zufriedenheit der anderen mit dem Schwert umgehen könne, solle man es ihr erlauben. Nur wenige Jungen ließen sich darauf ein, sodass Suraya in diesen Tagen nur am Abend vor Schulbeginn einmal mit Yardan die Klingen kreuzte. Der focht besser als selbst Alin, sodass sie trotz ihrer übermenschlichen Kraft, mit der sie sich außerdem zurückhalten musste, um nicht aufzufallen, in arge Bedrängnis kam. Er lobte sie dennoch: „Ich war in meiner Sippe und in der Sippe, wo ich im Frühjahr war, Meister, also mach dir nichts draus! Du hast dich verdammt gut gehalten! Ich hab noch kein Mädchen so fechten sehen. Ich schätze, bald werden auch die anderen dich akzeptieren.“

 

 Gegen Morgen kam Yodik zu Besuch. Er pfiff vor der Höhle eine Melodie, die Suraya kannte. Sie zog ihren Tarnmantel über und ging hinaus, wo sie ihm entgegenflog. Sichtbar machten sich beide allerdings erst in der Höhle, die er vor einigen Wochen gefunden hatte. Sie genossen noch den Abend miteinander und Suraya ließ sich erzählen, dass es wenig Bemerkenswertes gab. Schwarze Drachen seien nicht mehr aufgetaucht, nur die üblichen Langhörner, die als Feinde aller Schafszüchter galten; wieder einmal hatten sie zwei Schafe erwischt; eines davon gehörte Remuel, dem Vater von Jantars einstiger Sonnwendfeierpartnerin Rihana. „Inzwischen haben wir sie aber hoffentlich endgültig verscheucht“, schloss Yodik. „Bei euch gibt’s nichts dergleichen?“

 „Nichts gehört.“

 „Sei froh! Und ich bin es auch. – Ich hab ein bisschen Angst um dich.“

 

 Suraya schlief in der Nacht unruhig, doch ihr erster Schultag auf der anderen Seite verlief ereignisärmer als gedacht. Die Kinder, vor allem die kleinen, waren neugierig auf die Hilfslehrer aus der Fremde. Einige der Älteren, bei denen Suraya am vierten Schultag zum ersten Mal hospitierte, lachten über ihren oder auch Yardans Dialekt.

 Surayas Arbeit bestand hauptsächlich darin, die Schüler zu beaufsichtigen und vor allem bei den Kleinen die Aufgaben zu unterstützen. An manche Schwierigkeiten konnte sie sich noch selbst erinnern: Das ‚ya‘, das oben eine Wellenlinie und das ‚ha‘, das oben eine gerade Linie hatte, waren nur eines davon. Auch ‚he‘ und ‚we‘, zu unterscheiden vor allem durch den Abstand zwischen den Längsstrichen, wurden gerne verwechselt. Suraya kam einmal auf die Idee, Schüler im zweiten Jahr bewusst schlampig geschriebene Wörter lesen zu lassen, was bei einigen der Kinder den erwünschten Effekt hatte.

 „Gute Idee, merk ich mir!“, lobte Yardan und grinste. „Kenn‘ ich irgendwie vom Ringen her. Da haben mein Vater und mein großer Bruder mich manchmal merken lassen, wenn ich nicht aufgepasst habe oder ich musste probieren, sie nach hinten zu drücken, wenn sie in der richtigen Grundstellung waren oder wenn nicht. – In der Schule, zumindest bei uns daheim und bei meinem Lehrmeister, haben wir zu wenig durch Ausprobieren gelernt.“

 Auch Frau Adisa hielt viel vom Lernen durch Ausprobieren und aus Fehlern. Sie verlangte von den älteren Schülern, das, was andere vortrugen, kritisch zu beobachten und gelegentlich zu verbessern. Auch wenn jemand einen offensichtlichen Fehler machte, sagte sie fast nie sofort: „Das ist falsch!“, sondern fragte die Klasse „War das richtig?“, was sie auch manchmal tat, wenn die Antwort korrekt war.

 Dagegen verbot sie es strikt, dass Schüler einander auslachten: Ein Junge, der es an einem Tag mehrmals tat, war denn auch der erste und, zumindest soweit Suraya es beobachten konnte, der einzige, der eine Ohrfeige von ihr kassierte.

 Yardan, der bis zum Siegestag der Nacht die Kleinen, danach für einige Zeit die Größeren unterrichtete, hatte dabei weitgehend freie Hand. Frau Adisa  war der Meinung, die Herumspring-zeit sei dafür da, eigene Wege zu versuchen.

 

 Zwei Tage nach dem Siegestag der Nacht hielt Suraya ihre erste eigene Unterrichtsstunde, bei der sie mit den Kleinen das Teilen einüben sollte. Sie demonstrierte es mit einer Scheibe Kastenbrot, die sie nach dem Frühstück in zwölf Würfel geschnitten hatte.

 Die Mehrzahl der Kinder schien es verstanden zu haben und auch Frau Adisa war zufrieden: „Ihr werdet es nicht immer schaffen, aber soweit Ihr könnt, lasst die Kinder selbst probieren“, gab sie ihr als Rat mit. „Wer die Dinge sieht, die er lernt, lernt besser. Das merkt Euch ruhig auch für Eure nächste Stunde – es ist ja Erntezeit und ich möchte, dass Ihr mit den Kindern demnächst verschiedene Früchte durchnehmt!“

 

 Yodik kam nach wie vor oft an freien Tagen und gelegentlich auch dazwischen; noch wirkte das Drachenblut bei beiden, sodass Suraya und er die Strecke in einer Dreiviertelstunde zurücklegen konnten, ohne sich besonders beeilen zu müssen. In der Heimat gab es wenig Neues. Der Weise ließ über Yodik ausrichten, Suraya sollte noch vor dem Winter versuchen, zum Felsentor zu kommen.

 Bei einem ihrer Ausflüge sahen sie es aus der Ferne und wenn Yodik mehr als eine gute Stunde Zeit gehabt hätte, bis er zu Hause erwartet wurde, wären sie hingeflogen.

 Immerhin kannte Suraya die Richtung und schätzte, dass sie es von ihrer neuen Wohnung aus in einer halben Stunde würde erreichen können. In den nächsten Wochen wollte sie es versuchen, mit oder ohne Yodik.

 

 Wenn sie mit Yodik unterwegs war, benutzte Suraya stets ihren Tarnmantel, sodass niemand sie zusammen sehen konnte; sie hatte inzwischen herausgefunden, dass Tarnsilber hierzulande mehr als das Vierfache des Preises kostete, den man in der Sippe des Durdak zahlte und deshalb nur sehr wenige Männer und Frauen und schon gar keine Jugendlichen solche besaßen.

 Das bedeutete allerdings nicht, dass ihre Abwesenheit nicht aufgefallen wäre. Yardan sprach sie einmal darauf an, doch sie erwiderte nur, sie habe ihre Geheimnisse und respektiere die seinen.

 

 Zu Jugendlichen ihres Alters fand sie zwar schnell Kontakt, doch hielten die Einheimischen eine gewisse Distanz zu ihr; man ließ sie beim Nestball mitspielen, erkannte ihre Schnelligkeit und Wurfkraft an, unterhielt sich mit ihr über Belanglosigkeiten und den Alltag der Lehrzeit, fragte sie das eine oder andere über ihre Sippe, doch einen Kontakt, der auch nur in die Nähe einer Freundschaft kam, konnte sie zunächst nicht knüpfen.

 Immerhin erfuhr sie einige ungeschriebenen Regeln: Während Nestball ebenso populär war wie zu Hause, war Fechten hier reine Männersache und selbst Mädchen wunderten sich, dass Suraya ein Schwert besaß und focht. Ringkämpfe gab es dagegen, doch zum einen waren Mädchen und Jungen dabei getrennt, zum anderen unterschied man zwischen Ring- und Schlagkampf. Beim letzteren waren Schläge und Tritte erlaubt, dagegen durfte man den Gegner grundsätzlich nicht festhalten, beim Ringen durfte dagegen weder geschlagen, noch getreten werden.

 Dass sie von den Kampftechniken der Einheimischen noch lernen konnte, sah sie einmal eher zufällig in der Pause: Wegen eines Sturmes lagen Äste vor der Schulhöhle herum. Einige elf- oder zwölfjährige Jungen und Mädchen standen um einen besonders langen Ast herum und Suraya flog über sie hinweg, um zuzuschauen, was sie taten.

 Ein Junge schlug mit der Handkante auf den Ast, der sofort brach und drehte sich seiner Nachbarin zu: „Na, was sagst du, Sarina?“

 Die schaute gelangweilt: „Das ist Kinderkram, Tukim! Nimm den Ast und schlag mit dem anderen Ende zu, dann siehst du was!“

 Suraya hatte schon vor, einzugreifen: Sarina war ein zierliches Mädchen, das man mit einem über zwei Klafter langem und am unteren Ende beinahe eine Spanne dicken Ast ernsthaft verletzen konnte. Da hatte Tukim allerdings schon Folge geleistet. Er griff den Ast in der Mitte, während die anderen auswichen und drehte ihn, offensichtlich mit Mühe, mit dem dicken Ende auf Sarina zu. Die ließ ihren rechten Arm durch die Luft schnellen. Suraya hörte ein Knacken: Ein Stück Holz war abgebrochen, der Arm des Mädchens dagegen unverletzt. Die anderen klatschten Beifall.

 „Das nenne ich einen Handkantenschlag, der sitzt!“, rief Sarina stolz. „Zeig mal, ob du den auch zusammenbringst!“

 „Nein, das wird er jetzt nicht zeigen! Legt den Ast wieder hin!“, befahl Suraya von oben.

 „Ich kann das schon, keine Angst!“, rief Tukim.

 „Und von dir brauchen wir uns nichts sagen zu lassen“, sagte ein anderer Junge.

 „Freundchen, ich hab dir nicht erlaubt, mich zu duzen! Und du weißt sehr genau, dass du mir ebenso zu gehorchen hast wie Frau Adisa. Und, Tukim: Macht solche Übungen bitte mit einem Kampflehrer, aber nicht hier! Wenn jemand einen Fehler macht, gibt es böse Verletzungen und ich habe keine Lust, jemanden mit gebrochenem Arm oder Schlimmerem zum Heiler zu bringen. – Also, ich sagte, legt den Ast hin! Wenn ich ihn noch einmal in der Luft sehe, setzt es Strafarbeiten für die Beteiligten.“

 Die Kinder murrten, gehorchten aber. Suraya nahm sich vor, die Kampfkünste der Jugendlichen hier genauer zu beobachten: Wenn ein nicht einmal drei Ellen großes und vielleicht sechzig Pfund schweres Mädchen so dicke Stämme zerschlagen konnte, waren die nicht zu verachten.

 

 Insofern wunderte Suraya sich nicht, als sie in den nächsten Tagen hörte, dass bei  einer Prügelei ein junger Mann namens Bordan zu Tode gekommen war. Frau Adisas Mahnung, dessen jüngere Schwester Misira in den nächsten Tagen möglichst milde zu behandeln, sah sie dagegen sofort ein. Am Abend allerdings bat die Schulmeisterin Suraya und Yardan zu sich.

 „Ihr habt von dieser unglaublichen Tat gehört. Es heißt, dass Badko, den man verdächtigt, betrunken und mehr zufällig mit Bordan in Streit geraten ist, aber das glaube ich nicht.“

 „Warum nicht? Traut Ihr einem Betrunkenen nicht solche Schläge zu?“, wollte Yardan wissen.

 „Ich weiß, dass es einige hier gibt, die tödlich zuschlagen können, wenn sie wollen. Vielleicht auch einige Schüler wie Sarina, die Tochter des Schusters Pasum, der zugleich der Meister des Schlagkampfes ist. Herr Pasum und die anderen Meister wissen aber, wie gefährlich die Schläge und Tritte sein können, die sie ihren Schülern beibringen und warnen sie daher; Herr Badko ist Herrn Pasums Neffe und auch er hat, wie seine kleine Cousine, den Schlagkampf gelernt, seit er laufen kann und ihn nie missbraucht.“

 „Frau Meisterin, entschuldigt, wenn ich Euch widerspreche, aber leider sind viele, wenn sie getrunken haben, nicht mehr Herren ihrer selbst“, gab Yardan zu bedenken.

 „Herr Yardan, Eure Meinung ist mir durchaus wichtig, aber ich kann Euch versichern, dass ich meine ehemaligen Schüler kenne. Herr Badko war nicht derjenige, der sich provozieren ließ und schon gar nicht derjenige, der gleich zuschlug. Ich glaube wie Ihr, dass er nicht Herr seiner selbst war; allerdings war der Grund dafür nicht der Wein.“

 „Sondern?“, wagte nun auch Suraya zu unterbrechen.

 „Frau Suraya, wenn stimmt, was mein Vater mir über Euch gesagt hat, könnt Ihr Euch vorstellen, was ich meine.“

 Suraya überlegte kurz: „Ihr meint…dass der Seffir…damit zu tun haben könnte? Dass man damit andere Menschen besetzen kann?“

„Das würde ich nicht ausschließen. Es gibt freilich auch andere Möglichkeiten, wie Menschen anderen ihren Willen aufzwingen, aber ich wüsste nicht, dass jemandem hier eine solche geläufig wäre.“

 

 Suraya musste erzählen, was der Seffir war und was es damit vermutlich auf sich hatte. Als sie geendet hatte, meinte Yardan: „Aber Ihr wisst offenbar selbst nichts Genaues über diesen Stein. Außerdem: Was soll ein Fremder gegen zwei junge Männer gehabt haben?“

 „Ihre Familien gehören zu den angesehensten hier, Herr Yardan. Es kann leicht eine Spaltung der ganzen Sippe entstehen, sowohl, wenn Badko freigesprochen wird, als auch, wenn er zu schnell verurteilt wird. Und soviel ich gehört habe, hat niemand genau gesehen, ob es wirklich Badko war, der zuschlug.“

 „Das ist richtig“, bestätigte Yardan. „Ich habe mitbekommen, wie Schüler darüber gesprochen haben. Es waren mehrere an der Prügelei beteiligt, fünf oder sechs bestimmt, darunter Badko. Angeblich hat niemand genau gesehen, wer zugeschlagen hat, aber man hat es ihm am ehesten zugetraut.“

 „Nun denn, ich wollte Euch warnen, was passieren kann. Wollen wir hoffen, dass der Sippenrat weise entscheidet. Mögen die Götter unsere Männer den rechten Weg führen.“  Sie zündete eine Kerze vor dem Götterbild in der Stube an. „Muscherat, Herr unserer Berge, Gott unseres Stammes, der du unser Tun begleitest, dem Weisheit und Gerechtigkeit gefallen: Schenke Weisheit denen, die über diesen Fall zu entscheiden haben und bewahre die Familien vor Rachsucht, damit es keine weiteren Toten gibt!“

 

 Dass Frau Adisas Befürchtungen nicht grundlos waren, zeigte sich in den nächsten Tagen: Selbst die Kleinen bildeten deutlich zwei Parteien und immer wieder kam es zu Beschimpfungen zwischen Verwandten des toten Bordan und denen des verdächtigen Badko, die ihrerseits anderen Beteiligten die Schuld gaben und diese dadurch in den Streit hineinzogen. Beleidigungen, selbst während des Unterrichts und Prügeleien häuften sich.

 Am schlimmsten wurde es allerdings beim Begräbnis Bordans: Unter den Teilnehmern waren auch Badko und seine Familie, die von den Angehörigen des Toten beschimpft und mit faulem Gemüse, bald sogar mit Steinen beworfen wurden. Der Weise und der Sippenratsvorsitzende mussten ihre ganze Autorität aufwenden, um die Leute zu beruhigen.

 

 Suraya flog unter diesen Umständen am nächsten Vollmond gern nach Hause, wo nicht nur die Eltern und Yodik warteten, sondern auch Ruhe herrschte. Sie stellte allerdings fest, dass sie für den Flug gut zwei Stunden brauchte; immer noch weniger als die Hälfte der Zeit, die sie mit normaler Kraft benötigt hätte, doch die Kraft des Drachenblutes schien nachzulassen. Sie bat Yodik um einen Becher und versprach, sich bald zu revanchieren.

 Sie suchte gemeinsam mit Yodik und ihrem Vater nach Tarnsilber, um es in Adisas Sippe verkaufen zu können, fand jedoch an diesem Tag keines. Yodik versprach, falls er in den nächsten Tagen Tarnsilber finden sollte, es mitzunehmen und Suraya am Gewinn zu beteiligen.

 

 Während sie zurückflog, fiel Suraya ihr Anhänger mit dem blauen Stein ein. Wenn sie wirklich die Gedanken anderer spüren konnte, konnte sie vielleicht auch herausbekommen, wer mehr wusste als er zugab.

 In sechs Tagen würde, wie Frau Adisa gesagt hatte, das Erntefest zu Ehren des Muscherat und der Wassergöttin Hirata stattfinden; dort käme sie sicher mit vielen Leuten in Kontakt.

 Zunächst einmal sammelte Suraya jedoch Früchte, denn ihre Meisterin hatte die Ankündigung wahrgemacht: Zwei Tage vor dem Fest hielt Suraya ihre Stunde über Früchte. Die Kinder wussten einiges und manche von ihnen hatten auch eine klare Vorstellung, wie die Blüten aussahen. Suraya ließ schließlich ihre Schüler je einen der besprochenen Sträucher in Blütezeit und mit erntereifen Früchten malen; die besten Bilder wurden ausgehängt.

 Frau Adisa war auch diesmal zufrieden, auch wenn Suraya längst nicht alles durchgebracht hatte, was sie sich vorgenommen hatte.

 

 Es kam das Erntefest. Suraya zog ihr bestes Kleid an, schminkte sich und hängte sich unter anderem die Kette mit dem blauen Stein um. Sie merkte, dass Jungen ihr nachsahen und wurde gefragt, ob ihre Eltern reich seien, weil sie so teuren Schmuck besaß. Das rötliche Harz, das sie wieder auf ihre Nägel aufgetragen hatte, war hier allerdings nicht ungewöhnlich: Auch einige Schülerinnen trugen es.

 Der Weise der Sippe brachte den Göttern Früchte als Opfergaben dar und einige andere taten es ihm gleich. Man dankte für die gute Ernte und betete um Bewahrung vor Fäulnis und Ratten.

 Am Berg entlang waren überall Stände aufgebaut, wo gebratenes Fleisch, Obst, Gemüse, Gebäck und Wein angeboten wurde. Viele Familien hatten gekocht, doch kaum jemand aß zuhause.

 Suraya unterhielt sich mit mehreren Männern und Frauen in der Hoffnung, etwas herauszufinden, doch außer Trauer und Wut erkannte sie nichts.

 Nach Mitternacht wurde zum Tanz aufgespielt. Yardan forderte ziemlich bald Suraya und lud sie anschließend auf einen Wein ein. Sie spürte, dass er sich für sie mehr interessierte als es Frau Adisa Recht war. Freilich konnte man sich verstecken und sie hatte ja auch einen Tarnmantel – aber sie hatte außerdem Yodik; auch wenn sie die Beziehung zu ihm nur als Ausprobieren angesehen hatte: Er liebte sie ernsthaft und sie ihn mehr als sie vorgehabt hatte.

 Sie tanzte auch mit anderen, um Yardan keine zu großen Hoffnungen zu machen, doch dieser forderte sie immer wieder auf. Er bot ihr das Du an und lud sie zu einem gemeinsamen Rundflug ein. „Du hast doch auch einen Tarnmantel“, sagte er, als Suraya Bedenken wegen Frau Adisa äußerte.

 „Woher weißt du das?“

 „Weil ich zwei Augen im Kopf habe. Wenn ich sehe, du bist weg, aber dich nicht wegfliegen gesehen habe, kann ich es mir vorstellen.“

Sarina

 Sie flogen kurz hintereinander nach Hause und holten ihre Tarnmäntel; Suraya nahm außerdem noch ein Sitzkissen mit. Da Adisas Höhle ein ganzes Stück vom Festgelände entfernt lag, hatte kaum jemand die beiden Jugendlichen wahrgenommen und noch weniger kam jemand überhaupt auf die Idee, in den Himmel zu schauen, ob sich der Hintergrund auffällig veränderte und die Lehrerin selbst war nicht zu Hause.

 „Wohin fliegen wir?“, fragte Suraya, nachdem sie den Gebirgskamm überquert hatten.

„Ich kenne eine Höhle hier in der Nähe, die ideal als Versteck ist. Man sieht von oben kaum den Eingang. Hab sie selbst zufällig gefunden, weil ich dort in der Nähe einen Krampf im Flügel bekommen habe und landen musste. Bin dann einige Zeit herumspaziert, da hab ich eine dunkle Stelle im Felsen gesehen. Als ich dann wieder fliegen konnte, hab ich genauer nachgeschaut.“

 Sie gelangten ohne Schwierigkeiten zu der Höhle, zogen drin ihre Tarnmäntel aus und ließen sich nebeneinander wieder. Yardan holte aus seiner großen Tasche einen Krug und zwei Gläser.

 „Was ist das?“

 „Beerenwein. Hab heute früh bei mehreren Händlern probiert und von dem, der mir am besten geschmeckt hat, gleich einige Krüge gekauft. Magst du?“

 Suraya nahm gerne an. Yardan schenkte ihr und dann sich selbst ein und stieß mit ihr an.

 „Jetzt erzähl von dir und deiner Sippe!“, forderte er sie auf. „Man wohnt praktisch nebeneinander, aber bekommt kaum etwas übereinander mit.“ Er schaute sie genauer an. „Was macht dein Vater? Es scheint, er ist reich.“

 „Mein Vater nicht, aber…Verwandte“, antwortete Suraya ausweichend. Natürlich, ihr Schmuck war teurer als das, was sich eine angehende Hilfslehrerin ohne eigenes Einkommen selbst leisten konnte. Sie erzählte von der Tarnsilbersuche und ihrem Erfolg dabei, von ihrer eigenen Schule und von Alin und anderen Freunden. Sie beschrieb auch, wo ihre Heimat ungefähr lag. Über Yodik sprach sie nicht. Stattdessen fragte sie Yardan nach seiner Heimat, aber auch seinen bisherigen Erfahrungen in der Herumspringerzeit. Er hatte noch drei jüngere Geschwister, sodass die Eltern hofften, seine Herumspringerzeit möge bald enden und er irgendwo fest unterkommen. „Chancen hätte ich vielleicht in der Sippe des Mend, vielleicht zehn lange Meilen gegen Mittag von hier“, meinte er. „Der Lehrer dort ist schon ziemlich alt und wohl froh, wenn er aufhören kann; die Schüler auch – er ist ein echter Prügel- und Auswendiglernlasstyp, kein Vergleich mit unserer Frau Adisa.“

 „Da hatte ich offenbar Glück, sowohl als Schülerin als auch jetzt. Wahrscheinlich hätt ich mir auch einen anderen Beruf gesucht, wenn meine Vorbilder so schlecht gewesen wären.“

 

 Er hatte ausgetrunken, sie beinahe. Ungefragt schenkte er die Gläser nochmals nach. Sie spürte, dass ihn noch etwas bewegte: „Hast du irgendwas gehört wegen dieses Badko?“, fragte er.

Suraya schüttelte den Kopf. „Mir scheint, es gibt immer noch Ärger, sogar bei den Kleinen. Genaues weiß ich nicht.“

 „Seine Cousine ist völlig verstört und selbst ihre Freundinnen wollen nichts mehr mit ihr zu tun haben. Irgendwie tut sie mir leid, auch wenn ich nach wie vor nicht glaube, dass irgendjemand von außen Badko dazu gebracht hat, sondern dass er betrunken war. Aber Sarina kann nichts dafür und seine anderen engeren Verwandten ebenso wenig. Kennst du das eigentlich so mit Familienkriegen?“

 Suraya legte die Stirn in Falten: „Ich glaube, es gibt ein Gewohnheitsrecht, dass die Angehörigen sich rächen dürfen, wenn nicht die gesamte Sippe in einer bestimmten Zeit ein Urteil gesprochen hat, aber frag mich nicht, wie lang diese Zeit ist. Bei uns gab es so etwas nicht; das Schlimmste war ein Jagdunfall, bei dem wohl andere nicht aufgepasst haben.“

 „Sei froh. Bei uns ist Vergeltung durch jemand anderen als den Sippenrat streng verboten – es gab auch genug Tote durch Blutrache, zum Glück vor meiner Zeit. – Aber, sag mal, glaubst du wirklich, dass man andere Menschen zu so etwas zwingen kann?“

 „Ja. Frau Adisa hat mich überzeugt. Und die Geschichte mit den Steinen habe ich damals schon erzählt. Ich weiß nicht, ob du es weißt: Frau Adisas Vater ist unser Weiser. Er ist ziemlich gegen Aberglauben, aber dass diese Steine geheime Kräfte haben, denkt er auch.“

 „Und warum sollte jemand gerade in dieser Sippe Streit säen wollen?“

 „Kann ich das beurteilen? Vielleicht kannst du einen Draht zu Sarina oder sonst jemand herstellen.“

 „Ich werde es versuchen. – Oder du, von Frau zu Frau geht es vielleicht besser. Ansonsten scheint Badko keine Verwandten mehr in der Schule zu haben.“

 

 Suraya schwieg, worauf Yardan auf sein Thema kam: „Hattest du schon einen Freund?“

 „Meinen Partner bei meiner Brandtaufe, und, ja, wir haben uns auch geküsst.“

 „Also nichts Ernsthaftes.“

 „Was verstehst du unter ernsthaft?“

 „Verlobung oder …nun ja, andere Umstände. Alles andere was in der Herumspringerzeit läuft ist Spielerei.“

 „Du hast wohl schon entsprechende Erfahrungen?!“, stellte Suraya mehr fest als sie fragte, denn sie sah eine andere Herumspringerin, mit der Yardan etwas gehabt hatte, klar vor sich.

 „Hm, ja, schon. – Also, nicht, dass du mich für einen Aufreißer hältst oder für einen, der sich jede nimmt. Aber du bist eben nicht jede.“

 Suraya ließ es zu, dass er den Arm um ihre Schultern legte, schob ihn allerdings weg, als er sie küssen wollte: „Lass das mal noch!“

 „Keine Angst, ich tu dir nichts Böses!“

 „Lass das, sage ich. Das geht mir zu schnell!“

 „Ich hab dich nicht für so streng gehalten.“

„Weiß nicht, ob ich extrem streng bin, aber ich möchte mir noch ein bisschen mehr Zeit lassen.“ Sie drückte ihn an sich. „Aber das heißt nicht, dass es nie sein wird.“

 

 Sie fand Yardan zwar durchaus nett, aber es war nicht dasselbe Gefühl, das sie für Yodik hegte und er hatte ihr ja deutlich gesagt, dass er Liebeleien nur als Spiel ansah. Sie war zwar gern bereit, mitzuspielen, doch wenn, dann sollten ihre Regeln im Spiel gelten.

 So saßen sie noch einige Zeit Arm in Arm zusammen und unterhielten sich über belanglosere Dinge. Schließlich fiel Suraya etwas anderes ein: „Sag, kennst du einen Felsen, der ‚Steintor‘ genannt wird?“

 „Wie kommst du drauf?“

 „In meiner Sippe wird davon erzählt. Er soll hier in der Nähe liegen und es heißt, dass dort das Tor zum Palast der Götter ist.“

 Yardan überlegte: „Ich habe einen Felsen in der Nähe einer Siedlung, in der ich meine erste Station als Herumspringer hatte, gesehen, der aussieht wie ein Tor. Die Einheimischen dort nannten ihn allerdings Brückenfels. Er müsste gut zwanzig lange Meilen in Richtung Mitternacht von hier liegen – also zu weit, um schnell noch hinzufliegen. Dass man ihn sehen kann, wenn man hoch genug steigt, kann ich mir dagegen gut vorstellen.“

 „Magst du ihn mir zeigen?“

 „Warum? Willst du die Götter besuchen gehen?“

 „Vielleicht. – Nein, ernsthaft: Ich glaube nicht, dass die Götter Häuser oder Höhlen auf der Erde haben wie Menschen; ich bin nur neugierig, weil ich die Geschichte gehört habe.“

 „Wir können nachher einen Umweg machen und schauen, ob man es sieht.“

 Das taten sie auch und tatsächlich konnte man es aus der entsprechenden Höhe erkennen, auch wenn es nur schwach sichtbar war, sodass Suraya einige Zeit brauchte, bis sie es sah. Sie fand, dass der Vergleich mit einer Brücke passender war als der mit einem Tor, da zumindest an einer Seite der Fels langsam anstieg.

 

 Die nächsten Tage verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Yardan blieb an Suraya interessiert, zeigte dies allerdings nicht offen vor der Schulmeisterin. Surayas erste Stunde bei den Älteren, in der sie Flächenberechnung einführen sollte, verlief nur teilweise zu ihrer eigenen und Frau Adisas Zufriedenheit, da sie ernsthafte Zeitschwierigkeiten bekam.

 

 Zwei Tage vor Neumond begann der Prozess gegen Badko und schon bald zeichnete sich ab, dass er mit Verbannung enden würde. Suraya verfolgte den Prozess zeitweise als Zuschauerin und wurde dabei Zeugin mehrerer Prügeleien, die der Ältestenrat nur schwer in Griff bekam. Schließlich gelang es Badkos Familie, durch hohe Ausgleichszahlungen zu erreichen, dass der Angeklagte zumindest nicht gebrandmarkt oder sonst mit einem Schandmal gezeichnet wurde, wenn er auch Vermögen und Rückkehrrecht verlor. Yardan kommentierte, er könne froh sein: Immerhin könne er so bei einer Sippe unterkommen, in der er nicht bekannt sei.

 

 Am nächsten Tag erhielt Suraya einen Brief von Yodiks Vater über einen Postfalken, dass Yodik krank geworden sei; er habe einen Ausschlag bekommen, den die Heiler für Drachenpocken hielten. Herr Avuk warnte Suraya, ihn zu besuchen und wollte außerdem wissen, ob auch sie krank geworden sei. Diese fühlte sich allerdings verpflichtet, heimzufliegen und ihren kranken Freund zu besuchen. Frau Adisa und Yardan gegenüber erklärte sie, ein Vetter sei ernsthaft krank geworden, weshalb sie gleich nach der Schule fliegen und vermutlich erst am nächsten Tag spät zurückkommen würde.

Frau Adisa versprach ihr ein Dankesopfer und Yardan nahm sie fest in die Arme und ließ sie sich ausweinen.

 Drachenpocken kannte Suraya bisher nur aus Erzählungen, wofür sie allen Göttern dankte. Sie wusste, dass diese Krankheit fast immer tödlich und außerdem unheilbar und ansteckend war. Sie versprach im Flug sämtlichen Göttern Opfer, falls Yodik wieder gesund werden sollte. Sie sauste dahin wie noch nie in ihrem Leben und kam nach nur gut einer halben Stunde in ihrem Heimattal an, wo sie sofort zu Yodiks Höhle flog, doch Frau Asmina, seine Mutter, ließ sie nicht hinein: „Geht! Fliegt weg! Gebt mir nicht die Hand, da mein Sohn schwer krank ist.“

 

 Suraya richtete nur Grüße aus und begab sich auf dem schnellsten Weg zum Weisen. Dieser empfing sie freundlich, war erfreut, als sie erzählte, sie wisse, wo das Felsentor sei und fragte, noch ehe sie etwas gesagt hatte, nach dem Grund ihres Kummers. Sie berichtete ihm alles.

 „Nun, wenn Herr Yodik wirklich Drachenpocken hätte, dann hätte seine Mutter Recht, doch so ist es nicht. Die Heiler hatten einen Verdacht, doch ich meine, er wäre nicht der einzige Erkrankte geblieben. Im Gegensatz zu den meisten Menschen hier habe ich es selbst erlebt, zu meiner Herum-springerzeit vor mehr als einem Menschenalter, dass die Drachenpocken eine Sippe schlugen. Mein damaliger Meister, Friede seiner Seele, befahl mir, noch am nächsten Tag zu gehen, sobald er davon erfuhr – und noch an jenem Tag starben vier Menschen und mehrere andere hatten einen hässlichen Ausschlag im Gesicht. Ich selbst bekam fast zwei Monde lang keine neue Anstellung, weil die Leute sich vor mir fürchteten.

 So sind die Drachenpocken und was immer Herrn Yodik getroffen hat, ist, den Göttern sei Dank, etwas anderes.“

 „Was glaubt Ihr?“

 „Wie Ihr wisst, Frau Suraya, bin ich Lehrer gewesen und kein Heiler; zudem habe ich Herrn Yodik nicht selbst zu Gesicht bekommen. Es ist wohl eine Krankheit, die die Heiler nicht kennen. Ob und wann er wieder gesund werden wird, kann niemand sagen.“

 „Aber – wen es so ist: Warum lässt seine Mutter niemanden an sich heran?“

 „Vielleicht will sie lieber zu große Sorgfalt als zu große Sorglosigkeit walten lassen, vielleicht auch Euch bewahren – Mein Diener hat mir hinterbracht, es gehe das Gerücht, dass der Schwarze Drache schuld an seiner Erkrankung sei. Was das für Euch und Euren Ruf hier bedeutet, wisst Ihr sehr gut.“

 „Warum? Es wäre doch im Gegenteil ein Beweis, dass es nichts mit den Drachen zu tun hat, wenn die Leute sehen, dass ich gesund bin.“

 „Frau Suraya, die Leute sehen, was sie sehen wollen und hören, was sie hören wollen. Es ist bekannte Tatsache, dass Drachenpocken nichts mit Drachen zu tun haben, sondern ihren Namen erhielten, weil der Ausschlag, den ein Erkrankter im Anfangsstadium bekommt, aussieht wie Schuppen eines Drachen. Ebenso werden sie womöglich bei Euch jede Unebenheit der Haut als Zeichen ansehen, dass Ihr erkrankt seid. Eure eigene Mutter hat mich bereits aufgesucht.“

 

 Suraya schüttelte den Kopf, doch noch am selben Abend musste sie feststellen, wie Recht der Weise gehabt hatte. Selbst Alin und deren Familie mieden sie und Yodiks Mutter ließ sich auf keine Diskussionen ein.  Surayas Eltern sprachen nicht über den Verdacht, aber das Mädchen hatte den Eindruck, die eigenen Eltern waren froh, als sie entgegen ihrem ursprünglichen Plan schon sofort nach Mitternacht zurück an ihre Arbeitsstätte flog.

 

 In den folgenden Tagen standen außer Hospitieren und Putzen keine Arbeiten an, sodass Suraya Zeit hatte, sich in der Umgebung umzusehen und mehrmals zum Schlagkampftraining ging. Im Ringkampf beherrschte sie die meisten Techniken, die sie hier beobachtet hatte, während sie, was Faust- und Beinarbeit anging erheblichen Nachholbedarf hatte. So trainierte sie schon seit über einem Mond den Schlagkampf.

 

 Auch dort hatte sie, vermutlich Dank ihrer übermenschlichen Kraft und Schnelligkeit, inzwischen ein gewisses Niveau erreicht, sodass die Kampflehrerin sie am sechsten Tag nach dem Neumond bat, ihr zu folgen: „Ihr sollt nicht mehr mit den Anfängern trainieren. Kommt!“

 Sie berührte eine Stelle an der Felswand, sagte aber kein Passwort; dennoch öffnete sich ein Durchgang. Im hinteren Raum waren nur fünf Mädchen, während im Übungsraum der Anfänger heute 17 Jugendliche kämpften, was auch dem Durchschnitt entsprach. Unter den fünf, die sämtlich nur mit Brust- und Unterleibschutz bekleidet waren, befand sich auch Sarina und Suraya merkte, dass es in dieser Sippe zwar kein Tarnsilber geben mochte, doch irgendwelche Tarnmethoden sicher vorhanden sein mussten: So, halbnackt, war Sarina zwar immer noch klein, aber keinesfalls zierlich, sondern überaus muskulös für ein Mädchen. Suraya hatte kein Problem mehr, dieser Sarina zuzutrauen, mit einem gut gezielten Handkantenschlag Bäume entzwei zu hauen.

 

 Während des Trainings sah Suraya, dass das Mädchen nicht nur stark, sondern auch außerordentlich schnell und geschickt war: Sarina wechselte zwischen Faust-, Handkanten- und Fußangriffen in einem Tempo, dass Suraya kaum sehen konnte, ob nun ihre Hand oder ihr Fuß vorne war. Außerdem schien sie auch unter der niedrigen Decke ihre Flügel zumindest soweit gebrauchen zu können, dass sie ihre Füße genauso schnell hin- und herbewegen konnte wie ihre Hände. Suraya versuchte, Sarinas Bewegungsabläufe nachzumachen, doch es gelang ihr nicht und sie stürzte sogar einmal.

 Ihr fiel auf, dass die vier anderen bei Partnerübungen Sarina mieden; sie war ganz froh darüber, denn zum einen konnte sie viel von ihr lernen, zum anderen hoffte sie, irgendwie mit dem Mädchen ins Gespräch zu kommen.

 Dies gelang ihr schneller und anders als sie gedacht hatte: Als sie einer Schlag- und Trittfolge Sarinas ausweichen wollte, stolperte sie und schürfte sich den linken Arm an der Mauer auf. Sarina sah das und bemerkte auch, wie die Verletzung im Nu wieder heilte.

 „Ihr…seid…“

 „Nichts passiert. Nochmal und dann bin ich dran.“

 „Aber…“ – „Nachher können wir reden!“, unterbrach Suraya sie. Sie merkte, dass es dem Mädchen schwer fiel, die Neugier zu bändigen, doch sie blieb hart.

 

 Nach dem Training hielt Sarina sich an Suraya, während die anderen schon bald gegangen waren.

 „Gut. Du sollst deine Antworten bekommen“, flüsterte diese. „Aber unter der Bedingung, dass niemand etwas davon erfährt.“

 „Ich schwöre es bei allen Göttern.“

 Suraya schaute durch den Eingang, ob jemand draußen war.

 „Kommt, Frau Lehrerin!“  Sarina tippte eine Wand an, worauf sich ein Gang öffnete, obwohl sie kein Passwort gesagt hatte. Sie trat in den Gang. Suraya folgte ihr, worauf die Wand sich wieder schloss.

 „Ihr seid mutig“, stellte das Mädchen fest. „Ihr wisst nicht, welche Stelle man berühren muss.  Nehmen wir an, ich wollte Euch einsperren.“

 „Sagen wir es so: Ich habe Vertrauen zu dir. Deshalb sage ich dir auch, warum die Schürfwunde so schnell geheilt ist.“

 „Seid ihr eine Magierin oder gar ein übermenschliches Wesen?“

 „Nein. Hör zu!“ Suraya erzählte vom Schwarzen Drachen und von der Wirkung seines Blutes.

 Das Mädchen hörte mit offenem Mund zu. „Der Drache hat Euch direkt verfolgt?!“

 „Ja. Niemand weiß genau, warum. Aber es scheint jemand zu geben, der mir Böses will und dessen Fähigkeiten man nicht unterschätzen sollte. Das sagt auch unser Weiser. Und es ist gut möglich, dass… dass dieser Jemand auch hier seine Kreise zieht und nicht nur mich als Opfer ausersehen hat.“

 Sie schaute Sarina in die Augen. Das Mädchen senkte den Kopf. „Ihr meint, hier in der Siedlung könnten auch Drachen wie dieser auftauchen?“

 „Vielleicht. Oder jemand besetzt den Geist eines Menschen hier und zwingt ihn zu Verbrechen.“

 „Ihr meint, dass…Bad…“

 „Kannst du dir das nicht vorstellen? – Du musst nicht mit mir darüber reden, wenn du nicht möchtest. Schließlich geht es um deine Familie.“

 „Frau Adisa hat vor einem Viertelmond mit mir darüber gesprochen. Sie hat angedeutet, sie glaubt auch, dass er unschuldig ist. Wenigstens sie – aber meine besten Freundinnen oder die Mädchen, die ich dafür gehalten habe, sehen das anders.“

 „Ich kenne ihn nicht, aber ich glaube Frau Adisa. – Was ich dich fragen wollte: Kannst du dir vorstellen, dass er von einem Fremden zu einer Gewalttat gezwungen wurde? Dass er nicht mehr Herr seiner selbst war?“

 „Von einem Fremden, also von einem Menschen, nicht. Er…er war in den Blauen Bergen beim Felsentor. Dort gibt es böse Geister, sagt man. Viele, denen Tiere dorthin durchgegangen sind oder die aus Neugier dorthin geflogen sind, sind nicht mehr zurückgekommen oder wenn, waren sie verrückt.“

 „Und er war dort?“

 „Er musste, weil ein Weißhornbock ihm abgehauen ist. Diese Tiere sind die Kostbarsten, die wir haben.“

 „Sie haben ziemlich gutes Leder und ihr Horn ist als Heilmittel gefragt. Wir haben in der Sippe wenige.“

 „Ihr Leder ist hart wie das von Drachen, aber viel geschmeidiger. Mein Brust- und Unterleibschutz ist daraus gemacht. Aber die Tiere rennen so schnell, wie wir fliegen und sie sind gut im Hakenschlagen. Wenn einer auskommt, ist es verdammt schwer, ihn wieder zu erwischen. Badko hat den Bock bis in die Blauen Berge verfolgt. – Wenn es Euch Frau Adisa noch nicht gesagt hat: Es ist ungefährlich, die Blauen Berge zu überfliegen, aber kein vernünftiger Mensch landet dort. – Ihr müsst mir glauben, dass er kein böser Mensch ist, bitte!“

 „Und wenn er es wäre, bist du es nicht. Wenn du Hilfe brauchst oder mir noch etwas sagen willst, gerne. Wir werden uns hier ja noch öfter sehen. Aber eines bitte dringend: Dieses Gespräch hat nicht stattgefunden. Frau Adisa würde es kaum gutheißen, dass ich mich mit meinen Schülerinnen herumprügle und ich lege keinen Wert darauf, dass jeder vom Drachenblut erfährt.“

 „Ich habe es geschworen, Frau Lehrerin!“

 „Du musst mich nicht so förmlich anreden. Sag ‚Frau Suraya‘ oder auch nur ‚Suraya‘, solange du in der Schule die ‚Frau‘ nicht weglässt.“

 „In Ordnung. Und … Ihr sagt bitte auch niemandem etwas. Ich will nicht, dass alle denken, ich würde einen Mörder oder Schläger verteidigen; das tue ich nicht, auch wenn er mein Bruder wäre.“
 „Ich verspreche es dir.“

 

 Suraya sprach mit Yardan über die Blauen Berge, ohne ihm zu erzählen, woher sie es wusste. „Glaubst du, dort gibt es wirklich böse Geister?“

 „Würde ich nicht ausschließen. Die Einheimischen werden wissen, warum sie nicht dorthin gehen.“

 „Meinst du, man sieht etwas aus der Luft?“

 „Vielleicht. Schauen wir es uns morgen nach der Schule an!“

 

 Die Blauen Berge waren nur eine halbe Flugstunde in normalem Tempo vom Tal, in dem Adisas Sippe lebte, entfernt. Aus der Luft gesehen waren sie von einer Art dichtem Nebel bedeckt, sodass man die Bodenbeschaffenheit nicht erkennen konnte.

 „Hier kann man nirgends landen“, stellte Suraya fest.

 „Nicht zu empfehlen. Könnte böse enden, wenn man nichts sieht.  Lass uns lieber an schönere Orte fliegen!“

 Sie flogen zu Yardans Höhle, wo sie noch eine gute Stunde zusammensaßen und Suraya sich erstmals von Yardan küssen ließ.

 

 Kurz vor Vollmond kam endlich eine Nachricht von Yodik. Er sei fast wieder gesund, aber noch ziemlich schwach. Allerdings freue er sich über Surayas Besuch.

 Sie nahm die Einladung gerne an und flog erneut nach dem Unterricht in ihr Heimatdorf. Als sie Yodik sah, erschrak sie, wie bleich und abgemagert er war. Er wirkte immer noch müde und hatte auch wenig Appetit. Laut seiner Mutter wussten die Heiler immer noch nicht genau, woran genau er erkrankt war.

 Suraya beschloss, ihn mit den Neuigkeiten zunächst zu verschonen, damit er nicht auf die Idee kommen sollte, ihr zu helfen, ehe er völlig gesund war. So erzählte sie nur Belanglosigkeiten von ihrer neuen Heimat und ließ ihn in Ruhe, als ihm die Augen zufielen.

 

 Wieder flog sie sofort nach Mitternacht zurück. Auf den Spitzen einiger Berge lag schon der erste Schnee. Während des Rückflugs beschloss Suraya, sich das Felsentor aus der Nähe anzusehen – falls es dort etwas in der Erde zu finden gab, sollte man besser vor Wintereinbruch suchen.

 

 Sie nahm neben dem Schwert, das sie auf längeren Flügen stets trug, auch ihren Feuerschläger mit, band den Helm fest um ihren Kopf und flog sofort los. Nach gut zehn Minuten Eilflug erreichte sie das Felsentor, wo ihr sofort Wächter entgegenflogen.

 Sie hob ihren Tarnmantel und zeigte ihnen die offenen Hände als Zeichen, dass sie in Frieden kam. Noch ehe sie etwas sagen konnte, spannten die Wächter allerdings ihre Bögen und schossen. Zwei Pfeile prallten von Surayas Drachenanzug ab, einer blieb in ihrem Flügel stecken und flog mit einem „Plopp“ wieder heraus.

 „Lasst das! Ich komme in Frieden!“, rief sie. Statt einer Antwort flogen noch mehr Pfeile, die durch ihren Anzug aber keinerlei Schaden anrichten konnten. Die Stellen, an denen Pfeile ihre Flügel trafen, taten kurz weh, doch der Schmerz blieb nicht und schränkte ihre Flugfähigkeit auch nicht ein. Auch durchbohrte kein Pfeil ihren Flügel, sondern sie fielen sämtlich nach vorne wieder heraus.

 Erst nach der dritten Salve griff Suraya zu ihrem Feuerschläger. Sie gab einen Warnschuss ab, der den Pfeilregen aber nicht bremste. Daraufhin schoss sie einem der Angreifer in den Flügel. Der Mann stürzte, doch keiner seiner Kameraden half ihm, sondern sie schossen noch eine Salve ab. Erst als sie den nächsten in den Flügel traf, stoppten die Pfeile, doch Suraya hatte keine Zeit, sich zu erholen: Fünf Männer flogen auf sie zu und zogen das Schwert. Zwei versuchten, sie zu packen.

 Im Nahkampf war ein Feuerschläger keine gute Waffe, da er nur schwer manövriert werden konnte. Suraya band ihn auf den Rücken und zog ihr Schwert.

 Der erste Angreifer zog durch, doch sein Schwert brach an den Schuppen ihres Anzuges. Sie zerschlug mit dem ersten Schwertstreich die Waffe eines Gegners. Einen Zweiten verletzte sie am Arm, während Schwertschläge der Wächter an ihrem Helm und Anzug abprallten. Mit einem Tritt brachte sie einen der Männer aus der Bahn, zerschlug das Schwert des Vierten und schlug dem Fünften ihre Faust ins Gesicht.

 „Merkt ihr, dass das nichts nützt? Ich habe keine bösen Absichten, aber wenn ihr mich noch einmal angreift, stirbt der Nächste von euch!“

 Die verbliebenen Wächter flohen. Suraya verfolgte sie nicht, sondern schloss die Waffenriemen wieder und ging nieder. Etwa dreißig oder vierzig Klafter vom Felsentor entfernt fiel ihr eine glänzende Stelle auf. Sie flog näher und stürzte plötzlich zur Erde. Im nächsten Moment verlor sie das Bewusstsein.

 

Der fremde Mann

Suraya spürte einen leichten Stoß gegen ihre Schulter, dann gegen den rechten Flügel. Ihr Kopf war schwer und es bereitete ihr Mühe, die Augen zu öffnen. Sie lag auf einem kahlen Steinfeld und ihr linker Flügel tat unnatürlich weh. Als sie sich hinwandte, merkte sie, warum: Er war völlig verdreht, das Ende unter ihrem Rücken, sodass ihr Feuerschläger noch zusätzlich gegen den Flügel drückte. Von der anderen Seite nahm sie mehrere mindestens vier Klafter lange Stangen und endlich die Männer, die sie hielten, wahr. An zweien der Stangen waren spitze Haken angebracht, doch schien man ihr damit nicht wehtun zu wollen. Stattdessen schob einer eine Stange unter ihren Rücken und versuchte, sie so umzudrehen. Sie wusste nicht recht, was diese Leute von ihr wollten und warum sie nicht näher kamen. Ja, sie standen auf einem steilen Felsen, doch warum flogen sie nicht? Waren es Talmenschen?

 Sie setzte sich auf, gerade rechtzeitig, dass der Haken an der Stange ihre Waffe verfehlte. Endlich wurde ihr klar, welchen Sinn die Stangen hatten und dass die Männer, die sie hielten, keine Talmenschen waren: Sie sah, wie sie bewusstlos geworden war. Irgendwo in der Nähe musste giftiger Dampf oder Ähnliches aufsteigen, der sie zum Sturz gebracht hatte. Die Einheimischen kannten diesen, weshalb sie nicht näher kamen. Sie erinnerte sich an den Kampf und sah nun klar: Man versuchte, ihr die Waffen abzunehmen!

 Wieder traf der Haken ihren Waffengurt, doch der war fest genug gezogen, dass er nicht ohne weiteres entfernt werden konnte, schon gar nicht über den Flügel. Sie langte selbst nach ihrem Feuerschläger. Schwer wog die Waffe in ihrer Hand, doch es gelang ihr, damit einer Stange, die das Gerät beiseite schlagen sollte, auszuweichen und zu zielen. Sie traf gut und einer der Männer ließ seine Stange fallen.

 Erschrocken stellte Suraya fest, dass sie nicht genügend Kraft hatte, um mit der Stange zu hantieren und dass die drei übrigen Männer sich durch die Verletzung ihres Kameraden nicht abhalten ließen. Nun versuchten zwei gleichzeitig, nachdem sie mit dem Haken erneut Surayas Waffengurt getroffen hatten, diesen mit vereinter Kraft durchzureißen.

 Das Mädchen griff zu ihrem Schwert. Zwar konnte sie kaum voll durchziehen, doch die Klinge war scharf genug, um die Stange glatt zu durchschlagen und den Haken an der Spitze abzutrennen.

 Droben erklang ein Befehl, doch in einem Dialekt, den Suraya nicht verstand. Im nächsten Moment stießen drei Stangen unter ihre Beine. Offenbar wollte man sie wegstoßen, was vermutlich bedeutete, dass sich zu ihrer Linken das befand, was sie so geschwächt hatte.

 Die Furcht vor dem Tod gab ihr die Kraft, schnell aufzustehen, obwohl die Stange siebeinahe von den Beinen geholt hätte. Erneut stieß ihr jemand zwischen die Beine. Sie versuchte, die nächste Stange mit dem Schwert zu durchschlagen, doch konnte sie es nicht mit der gewohnten Schnelligkeit führen: Ihre Gegner wichen aus und versuchten erneut, sie von den Füßen zu holen.

 Es gelang ihr nicht, aufzufliegen, doch sie erinnerte sich an einen Ringkampftrick, den sie von ihrem Bruder kannte und ging leicht in die Hocke, um sich schwerer zu machen. So war sie mit der Kraft eines einzelnen Menschen kaum umzuwerfen. Sie steckte das Schwert in die Scheide und griff zum Feuerschläger. Zwar musste sie nachladen, doch der nächste Schuss hatte endlich die Wirkung, dass die Angreifer sich zurückzogen.

 Ihr war klar, dass sie nur eine Verschnaufpause hatte: Die Angreifer konnten jederzeit wiederkommen. Sie sah sich um: Links von ihr befand sich eine kleine Vertiefung, aus der bläulicher Nebel aufstieg. Diesen hatte sie zu meiden. Um aufzufliegen, fehlte ihr allerdings nach wie vor die Kraft und der Felsen nach rechts war zu steil, um zu laufen. Dort vorn schien es eine Möglichkeit zu geben.

 Sie ging in die Richtung und stieg hinauf, doch war es anstrengender als erwartet: Sie musste große Schritte machen und sich gut festhalten, was ihr schwerfiel, da Klettern für sie ungewohnt war. Endlich stand sie auf der erhöhten Fläche, doch schon nahten neue Angreifer, die knapp vor ihr niedergingen. Einer schoss einen Pfeil auf ihr Gesicht, doch sie deckte dieses geistesgegenwärtig mit dem rechten Arm ab, sodass das Geschoss von der Haut des Schwarzen Drachen abprallte. Zwei versuchten, sie mit Stangen wieder hinunterzustoßen, doch sie stellte erfreut fest, dass sie wieder genug Kraft hatte, um den Stoß abzufangen. Sie packte eine Stange und entriss sie mit einem Ruck ihrem Träger. Im nächsten Moment breitete sie die Flügel aus und hob ab.

 Ihre Kräfte reichten noch nicht aus, um sofort außer Reichweite zu kommen, doch sobald sie ihren Feuerschläger erneut in die Hand nahm, gaben die Angreifer auf.

 Nach knapp einer halben Stunde erreichte Suraya ihre Höhle. Sie zog lediglich ihren Schutzanzug aus und legte die Waffen ab; danach fiel sie erschöpft ins Bett.

 Als sie wieder aufwachte, war draußen schon heller Tag. Sie stand auf und wusch sich das Gesicht. In ihrem Kopf verarbeitete sie die Ereignisse. Sie war mit dem Leben davongekommen, hatte aber für zehn lange Meilen so lange gebraucht wie zu der Zeit, bevor sie vom Drachenblut getrunken hatte.

Sie zog ihr Untergewand aus und betrachtete sich im Spiegel: Sie war unverletzt. Die heilende Kraft war offenbar geblieben. War die Schwäche nur vorübergehend?

 In der Überzeugung, ohnehin nicht schlafen zu können, bevor das geklärt war, zog sie sich wieder komplett an, bestrich die Augen mit Dämmersalbe und schwebte zur Tür hinaus. Obwohl sie nicht damit rechnete noch jemandem zu begegnen, kontrollierte sie sorgfältig den Sitz ihres Tarnmantels, ehe sie hinausflog.

 Sie steuerte direkt auf eine Felsenwand zu, schaute sich nochmals um, öffnete ihren Tarnmantel und schlug mit der Faust in die Wand. Die Steine zersplitterten und mehrere große Brocken brachen heraus.  Sie hätte am liebsten laut gejubelt, unterließ es aber, um niemand aufzuwecken. In einiger Entfernung sah sie einen Findling von gewiss vier bis fünf Bock Gewicht liegen, flog darauf zu und hob ihn hoch. Es gelang ihr mühelos und sie konnte ihn sogar mit einer Hand halten. Um ganz sicher zu sein, beschleunigte sie durch das Tal. Für die Strecke von gut einer langen Meile brauchte sie nur knapp zwanzig Sekunden.  Sie atmete auf: Ihre Kraft war vollständig wieder zurückgekehrt.

 

 Am Abend fiel es ihr dennoch schwer, aufzustehen und sie war auch während des Unterrichts nervös, was auch Yardan auffiel. Der junge Mann machte sich Sorgen, doch sie beruhigte ihn, sie habe vermutlich nur eine leichte Erkältung.

 Ehe sie an die Unterrichtsvorbereitungen für den nächsten Tag ging, legte sie sich noch einmal kurz hin. Während sie dalag, fiel ihr ein, dass sie Yardan auf die Gefahr aufmerksam machen musste. Sie tat es beim Tagmahl, während Frau Adisa kurz aus dem Raum gegangen war.

 „Danke dir! Ich hatte ohnehin nicht vor, in nächster Zeit dorthin zu fliegen. – Aber mir ist gestern auf etwas aufgefallen, was ich dir möglichst bald zeigen möchte. Du weißt ja vielleicht, dass es im Unterricht demnächst um die Talmenschen gehen wird.“

 „Weißt du viel über sie? Ich kenne einige Wörter in ihrer Sprache und ich habe gesehen, dass sie Kisten aus Metall benutzen, um längere Strecken zu fahren.“

 „Interessant. Das zweite habe ich gehört, aber noch nicht gesehen.“

 „Ich hab es zufällig gesehen, als ich einmal in eine ihrer Siedlungen geflogen bin, aus Neugier.“

 „Hm. Sollte ich fast mal anschauen. Dann kann ich dir auch das andere zeigen. Kommst du mit oder hast du noch was vor?“

 „Jetzt gleich?“

 „Nach dem Essen. Ich schätze in ein, zwei Stunden sind wir wieder hier. Wenn du nicht besonders empfindlich bist, brauchst du wahrscheinlich nicht einmal Dämmersalbe.“

 Sie steckte sicherheitshalber trotzdem welche ein. Außerdem zog sie den Schutzanzug über und legte Waffen an. Yardan schaute sie kurz an, sagte aber nichts. Auch er war bewaffnet.

 „Hast du deinen Tarnmantel dabei, falls wir in die Siedlung fliegen müssen?“, fragte er. Suraya nickte.

 Schweigend flogen sie Richtung Sonnenaufgang einen langgezogenen  Pass entlang, der in einer leichten Erhöhung endete. „Merk dir die Landschaft genau!“, rief Yardan ihr zu.

 Hinter der Erhöhung ging es steil abwärts. Nachdem sie etwa zweihundert Klafter an Höhe verloren hatten, wies er sie an, sich nach oben umzudrehen.

 „Ui!“ rief Suraya erstaunt. Über ihr endete der Berg in einer steilen Spitze. Der Pass, der beinahe auf der Höhe des Gipfels lag, war verschwunden; an seiner Stelle hing eine Wolke in der Luft, die knapp an den Gipfel reichte.

 „Was ist da passiert? Ist das…Zauberei?“

 „Ich weiß nicht, ob es Zauberei ist. Von hier unten sieht man jedenfalls nur diese Wolke; erst über dem Gipfel sieht man den Pass wieder. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Talmenschen ihn überhaupt nicht sehen.“

 „Aber wieso…? Wie gibt es das?“

 „Das weiß ich auch nicht. Offenbar sind ihre und unsere Welt doch stärker getrennt, als wir bisher gedacht haben. In diesem Fall ist es besser so – ich weiß nicht, ob diese Wolke einen Menschen aushält; wir können fliegen, wenn der Untergrund zu schwach ist, sie nicht.“

 „Seit wann weißt du das hier?“

 „Ich habe einmal Talmenschen zugeschaut, als sie den Berg hier hinaufgestiegen sind. Sie waren plötzlich wieder verschwunden, doch ich wusste nicht, wohin. So bin ich ihnen nach. Als ich das erste Mal hier war, ist mir gar nicht aufgefallen, dass die Landschaft von unten ganz anders aussieht als von oben.“

 „Kann es sein, dass jemand nicht wollte, dass die Talmenschen in unsere Welt gelangen?“

 „Möglich. Kann aber auch sein, Sura, dass das, was wir von oben sehen, die Illusion ist und wirklich zwischen diesem Berg und dem nächsten, hinter dem unsere Siedlung beginnt, eine tiefe und steile Schlucht liegt. – Aber was ist mit den Kisten, von denen du gesprochen hast?“

 „Weißt du, wo die nächste Talmenschensiedlung ist?“

 „Ich glaube, dort.“ Er flog parallel zum Berghang in Richtung Morgen. Sie folgte ihm und schon bald wurden sie fündig: Als das Gelände flacher wurde, fanden sie einen offenbar künstlich befestigten Weg. In einiger Entfernung sahen sie Häuser der Talmenschen, doch noch ehe sie diese erreicht hatten, fuhr unter ihnen eine der Metallkisten hindurch.

 „Ich weiß nicht, ob du es gesehen hast:  In dieser Kiste sitzen Talmenschen. Wie sie funktioniert, weiß ich nicht, aber ich schätze, die fährt in einer Stunde dreißig, vierzig lange Meilen. Soweit ich beobachtet habe, können sie zu Fuß nur zwei bis drei in einer Stunde gehen.“

 „Da hast du ihnen ja schon lange zugeschaut.“

 Suraya antwortete nicht, sondern schaute nachdenklich  auf das Dorf. Sie hatte sich doch vorgenommen, mittels ihres Medaillons die Sprache der Talmenschen zu lernen, doch bisher war sie nicht einmal dazu gekommen, nochmals in ihre Siedlungen zu fliegen. Aber ging es überhaupt? Sie wusste inzwischen mit Sicherheit, dass sie es spüren konnte, welche Hintergedanken jemand hatte, der mit ihr sprach, doch dazu musste sie erst einmal verstehen, was er sagte. Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste es schaffen, ihre Frage durch Gedankenübertragung in einen anderen zu projizieren und versuchen, die Antwort zu verstehen. Dies ging vielleicht auch ohne Worte. Dabei mussten wohl oder übel andere als Opfer herhalten.

 

 „Was ist mit dir, Sura?“, riss Yardan sie aus ihren Gedanken. Er flog sie an und legte ihr den Arm um die Schultern.

 „Alles klar. Fliegen wir zurück – oder zumindest irgendwohin, wo wir die Tarnmäntel ablegen können.“

 „Gern!“ Er umarmte sie und flog den Berg hinauf und den von unten nicht sichtbaren Pass entlang, bis er eine Höhle fand, in die sie sich zurückzogen. Drin war es zu dieser Jahreszeit weniger kalt als draußen, sodass sie nicht nur die Tarnmäntel, sondern auch ihre Ober- und Schutzkleidung ablegen konnten. Suraya spürte das Bedürfnis nach körperlicher Nähe ebenso wie Yardan und vertraute darauf, dass sie die Stärkere war, falls er zu zudringlich werden sollte.

 Eine knappe Stunde verbrachten sie miteinander in der Höhle. Sie kamen sich näher als je zuvor und Yardan ließ einmal, nachdem er Surayas Busen massiert hatte, seine Hand an ihrem Körper abwärts gleiten und machte danach Anstalten, erst sich und dann sie komplett auszuziehen. Suraya befreite sich ruckartig und ging in Angriffsstellung, doch da zog er sich, erschrocken über sich selbst, schon zurück.

 „Tut mir leid!“, sagte er. „Ich weiß, das sollten wir nicht…“

 „Noch nicht.“ Suraya zog ihr Untergewand wieder so weit hoch, dass ihr Busen bedeckt war, lehnte sich vor und küsste Yardan. „Alles zu seiner Zeit.“

 „Und jetzt ist die Zeit, unseren Spaß zu haben, aber nicht zu mehr.“

 Yardan war auch einverstanden, als Suraya vorschlug, zurückzufliegen, um rechtzeitig ins Bett zu kommen. Frau Adisa war schon schlafen gegangen, sodass sie es riskieren konnten, die Tarnmaske abzunehmen und sich mit einem Kuss zu verabschieden.

 

 Während der Schultage ließen sie sich nichts anmerken. Suraya assistierte, als Yardan die Talmenschen einführte. Er tat es geschickt, indem er zunächst die Schüler aufforderte, sich vorzustellen, wie sie zurechtkämen, wenn sie nicht fliegen könnten. Sie kamen darauf, dass es wenige fliegende Tiere gab, die stark genug waren, um einen Menschen zu tragen und man deshalb andere Möglichkeiten brauchte, um schneller zu sein. Anschließend fragte Yardan, welche Maschinen die Schüler kannten. Wasserräder hatten sie alle schon gesehen, doch viel mehr fiel ihnen nicht ein.

 Er zeigte einen kleinen Metallkessel. „Stellt euch vor, ich mache hier Feuer – ich lasse es, weil sonst die Meisterin sauer sein wird.“ Einige kicherten. „Was wird passieren, wenn ich diesen Kessel mit Wasser darauf stelle?“

 „Es wird kochen“, platzte ein Mädchen heraus.

 „Gut, Sudra, aber das nächste Mal erst die Hand hoch! Und was wird mit dem Deckel passieren? – Ja, Usira?!“

 „Der wird sich auch hochheben.“

 „Genau. Magst du den Deckel mal in die Hand nehmen?“

 Das Mädchen tat es. „Uff, ist der schwer!“

 „Seht ihr? Durch Dampf kann man einen schweren Deckel heben. Es gibt aber noch etwas anderes: Die Talmenschen haben Maschinen, die fliegen können. – Hat jemand von euch so etwas schon gesehen? Avran?“

 „Die sind aus Eisen, oder, Herr Lehrer?“

 „Sind sie. Eisen ist aber schwerer als Menschen an sich. Was sieht man denn oft hinter solchen Maschinen?“

 Zaghaft meldete sich Sudra nochmals. Yardan rief sie auf. – „Mein Bruder hat einmal so was gesehen und gesagt, das sieht aus, als ob es brennt.“

 „Das hat er gut beobachtet, dein Bruder. – Und nun denkt einmal daran, was man mit Feuer alles machen kann!“

 Sie kamen auf verschiedene Lösungen von braten bis Eisen schmieden. Suraya dachte, Yardan wisse vielleicht, wie genau die Kisten funktionierten und vergaß ganz, dass sie noch etwas anderes vorhatte. Als Yardan sich längere Zeit nicht äußerte, sondern nur Ideen sammelte, übertrug sie die Frage in seinen Kopf und stellte fest, dass er nur von der Kraft des Feuers im Allgemeinen auf diese Möglichkeit schloss.

 Tatsächlich gab Yardan zu, es nur zu vermuten. Er ließ als Ergebnis festhalten, dass die Talmenschen die Kraft von Feuer und Dampf zur Fortbewegung nutzen könnten, man aber nicht genau wisse, wie das funktioniere. Suraya ging durch die Reihen und kontrollierte die Mitschriften. Dabei projizierte sie harmlose Fragen in die Köpfe der Kinder: Was machst du heute Nachmittag? Wie heißen deine Eltern und was sind sie von Beruf? Hast du Geschwister? Leben sie noch zu Hause?

Nicht bei allen wurde sie fündig. Sie vermutete, dass es umso leichter ging, je intensiver der Betreffende schon vorher an das gedacht hatte, was sie wissen wollte.

 

 „Super, wie du das gemacht hast!“, lobte sie anschließend. „Ich hab echt gedacht, du wüsstest das mit dem Feuer.“

 „Ich hab gesehen, dass aus diesen Kisten – eine fliegende habe ich vor längerer Zeit gesehen, die anderen mit dir – Rauch herauskommt. Wo Rauch ist, ist Feuer, oder? Also muss es etwas damit zu tun haben. Und das mit dem Dampf habe ich mal gelesen.

 Eigentlich wollte ich ja mit den Unterschieden beim Körperbau anfangen, aber es hat sich anders ergeben.“

 Suraya erkannte, dass er die Wahrheit sagte. „Echt? Du hast einfach so umgestellt? Hab ich gar nicht gemerkt.“

 „Das konnte ich im ersten Lehrjahr auch noch nicht. Ist Übungssache. Ich hab gemerkt, dass die Kleinen sich dafür mehr interessieren und gedacht, machen muss ich sowieso beides, also fang ich damit an, damit sie bei der Stange bleiben – ach ja, ich soll dich von Frau Adisa noch fragen, ob du eine Stunde zu den Talmenschen halten willst oder das nächste Thema zum Sprachunterricht einführen.“

 „Was müssen wir zu den Talmenschen noch machen? Körperbau, Augen und so weiter. Dann würde ich gern erst mal Körperbau allgemein wiederholen.“

 „Schadet nicht. Ach ja, ich kann dir schnell was zeigen.“

 Er ging in sein Zimmer und holte ein teilweise geschwärztes Pergament heraus.

 „Was ist das?“

 „Eine Lichtzeichnung von der Leiche eines Talmenschen. Schau dir den Rücken an und die Beine im Verhältnis zum Körper, dann merkst du was.“

 „Danke! Kann ich sicher gebrauchen.“ Nun, da er sie darauf aufmerksam gemacht hatte, erkannte sie klar, dass der Rücken eines Talmenschen weniger stark gekrümmt und die Beine im Verhältnis zum Körper länger und bei weitem kräftiger waren als bei ihren Artgenossen.

 „Ja, klar, ein Talmensch braucht keine Rückenmuskeln, die Flügel bewegen und den Körper hochreißen können. Dafür müssen ihn seine Beine über längere Strecken tragen“, murmelte sie. „Weißt du, ob die Unterschiede schon von Geburt da sind?“

 „Ich schätze, schon – aber klar, sie verstärken sich, weil seine Muskeln eben anders beansprucht werden als unsere. Du machst ja auch viel Sport und hast deshalb entsprechende Muskeln.“ Er kniff sie in den Arm. „Und ein Talmensch braucht eben manche Muskeln mehr und andere weniger als wir und deshalb entwickeln sie sich anders.“

 

 Suraya begann ihre nächste Stunde mit einer Wiederholung des Körperbaus im Allgemeinen, hängte anschließend die Lichtzeichnung an die Tafel, stellte sich seitlich und mit dem Gesicht zur Klasse daneben und ließ Unterschiede zwischen sich und dem Talmenschen erarbeiten. Die Kinder kamen auf die richtigen Ergebnisse, wenn sie auch die eingeplante Zeit überzog. Yardan lobte sie dennoch, ebenso wie Frau Adisa, die allerdings nur kurz hereinschaute.

 

 In den nächsten Tagen wurde es kälter. Frau Adisa schickte Suraya am Tag vor Vollmond in die Markthöhle, um Wintergemüse einzukaufen. Sie gab ihr drei Drachenkronen mit und erlaubte ihr ausdrücklich, den Rest für sich zu verwerten.

 Das Mädchen bummelte an den Ständen vorbei, unterhielt sich mit einigen anderen und schaute auf das Angebot. Als sie Sarina traf, fiel ihr etwas ein: Sie fragte, ob irgendwo Schutzkleidung aus Drachenhaut verkauft würde. Die verneinte, meinte aber, Weißhornbockleder sei für alle Zwecke ebenso gut und führte sie zu einem Verkäufer namens Darun, wie sich herausstellte, ihrem Onkel, Badkos Vater. Der Mann war von der gleichen kleinwüchsigen, aber muskulösen Statur wie seine Nichte.

 Suraya erkundigte sich zunächst nach Brust- und Unterleibschutz für Schlagkämpfe, worauf sie von der Frau des Besitzers in ein Zelt geführt wurde, wo sie sich ausziehen musste, damit diese ihr Maß nehmen konnte.

 „Zweieinhalb, einverstanden?“

 „Zweieinhalb was?“

 Die Frau sah Suraya an, als ob sie die Sprache der Talmenschen gesprochen hätte. „Drachenkronen natürlich. Wie lange es dauert, müsst Ihr meinen Mann fragen.“

Suraya, die mit wesentlich mehr gerechnet hätte, erkundigte sich gleich noch, ob Herr Darun ihr einen Gesichtsschutz für ihren Helm machen könne. Der wollte zunächst ihren Helm sehen, sagte dann aber sofort zu.

 Ihrer Meinung nach biss sich das helle Weißhornbockleder mit dem schwarzen Drachenleder, doch Gesichtsschutz brauchte keinen Schönheitspreis zu bekommen.

 

 Am Neumond wollte sie wieder nach Hause fliegen und ging am Morgen zuvor schon bald ins Bett, doch sie schlief noch nicht, als sie einen Pfiff hörte. Es war das Signal, das sie mit Yodik vereinbart hatte. Schnell fuhr sie in ihre Kleider, packte den Tarnmantel und ging vor die Tür. Mit ihren diesbezüglich geübten Augen sah sie, wie eine unsichtbare Person dicht an ihr vorbeiflog. Sie nickte, führte die Fingerspitzen zum Mund, küsste sie, zog den Tarnmantel an und folgte der Person. Sie flogen bis zu der Höhle, die sie im Sommer ausfindig gemacht hatten, zogen dort die Umhänge aus und küssten sich.

 „Tut mir leid, wenn ich dich aufgeweckt habe, Schatz! Ich hatte solche Sehnsucht nach dir.“

 „Und ich bin so froh, dass du wieder gesund bist.“

 „Es war gar nicht so schlimm, eigentlich. Es ist nur so, dass die Heiler nicht dahintergekommen sind, was genau los war – und da hatten natürlich alle Angst. Und du? Was treibst du so?“

 Suraya erzählte von ihrem Erlebnis am Steintor und vom von unten nicht sichtbaren Pass. Auch von ihrer letzten Stunde berichtete sie, ohne Yardans Namen zu erwähnen. Yodik schien keinen Verdacht zu schöpfen – genau konnte sie es nicht sagen, da sie das Amulett nicht angelegt hatte und zudem Gewissensbisse gehabt hätte, den Jungen, den sie noch immer liebte, auszuspionieren.

 „Ich kann dich leider nicht übernachten lassen. Die Meisterin würde es nicht erlauben.“

 „Macht nichts. Wenn du nur morgen kommst und wir den Tag für uns haben können.“

 „Sicher. Ich werde allerdings noch zum Weisen gehen und ihm die Sache vom Steintor berichten.“

 „Tu das. Und vor allem: Mach so etwas nie mehr allein.“ Er nahm sie fest in die Arme und küsste sie. „Erspar es mir, um dich Angst haben zu müssen. Wenn du sterben oder in Gefangenschaft gehen musst, dann will ich mit dir gehen.“

 Sie schmiegte sich fest an ihn und küsste ihn lange. So schön es mit Yardan war, die Beziehung mit Yodik stand auf einer anderen Ebene. Yardan mochte ein guter Lehrer sein, freundlich und zuvorkommend und es tat gut, sich an ihn anlehnen zu können, doch sie wusste in diesem Augenblick, wem ihr Herz wirklich gehörte.

 Aber hatte sie diesen Mann verdient? Konnte sie ehrlicherweise sagen, dass sie bereit war, mit Yodik zu sterben, wenn sie ihn schon betrogen hatte?

 Plötzlich kam sie sich klein und elend vor.

 „Was hältst du davon, wenn wir nach Wintersonnwend gemeinsam hinfliegen?“, riss Yodik sie aus den Träumen.

 „Wohin? Ans Steintor?“

 „Klar. Wenn wieder etwas passieren sollte, kann einer dem anderen helfen.“

 „Mitten im Winter?“

 „Ja, warum? Gegen Kälte kann man sich warm anziehen und wenn es dort etwas zu finden gibt, dann finden wir es im Winter und im Sommer.“

 

 Yodik begleitete sie noch zur Schulhöhle, ehe er nach Hause flog. Suraya hatte am nächsten Tag nur noch einige Stunden bei den Älteren zu hospitieren und machte sich anschließend sofort auf den Heimweg, während Yardan noch seine Sachen verstaute.

 Als Suraya die Höhlen ihrer Sippe erreichte, arbeitete Yodik noch. Sie begrüßte Herrn Tavuk und Yodiks jüngeren Bruder Sadik, küsste Yodik lange und flog weiter zum Weisen.

 Dieser lauschte ihren Schilderungen von den Erlebnissen am Steintor und der Kraft ihres Amuletts interessiert.

 „Vermutlich hat alles seine Sinn“, sagte er danach, „und Ihr könnt den Göttern danken, zum einen dafür, dass Ihr davongekommen seid, zum anderen für das, was Ihr gelernt habt.“

 „Was meint Ihr?“

 „Ihr habt geglaubt, unbesiegbar zu sein und seid dadurch leichtsinnig geworden. In eine völlig unbekannte Gegend fliegt man besser nicht allein, das hättet Ihr wissen können. Den Göttern sei Dank, hatten diese Leute kein Mittel gegen Eure Kräfte und Waffen, aber denkt daran, dass derjenige, der den Seffir an sich gebracht hat, derjenige, der die Schwarzen Drachen abgerichtet hat und derjenige, der Menschen zu Verbrechen treibt, Euch mindestens ebenbürtig sind, egal, ob es sich um eine oder um drei Personen handelt.“

 „Ihr glaubt also auch, dass eine Person diesen Badko beeinflusst hat?!“

 „Das erscheint mir am wahrscheinlichsten. Sicher kann es niemand wissen. Aber seid Euch immer bewusst, dass das Drachenblut nur Eure Haut schützt, nicht Eure Gedanken. Wenn es so ist und derjenige Euren Geist lenken will, seid Ihr so schwach wie jeder andere – und deshalb ermahne ich Euch eindringlich: Agiert in dieser Sache nicht allein!“

 Suraya nickte und berichtete von Yodiks Vorschlag, den der Weise guthieß.

 „Was Herrn Yodik betrifft, so habt Ihr noch etwas auf dem Herzen.“

 „Wisst Ihr es oder könnt Ihr doch meine Gedanken…“

 „Ich spüre, dass es etwas gibt, aber nicht, was es ist. Ich kann Euch freilich nicht zwingen, zu sprechen.“

 „Ehrwürdiger, dürfte ich Euch nur um eines bitten?!“

 „Nämlich?“

 „Dass Ihr das, was ich Euch nun sage, niemandem weitersagt, weder meinen Eltern, noch Yodik, noch sonst jemandem.“

 „Ja, das verspreche ich.“

 Sie gestand das Liebesstündchen mit Yardan, betonte aber auch, was Yodik ihr bedeutete.

 „Nun, Frau Suraya, es ist Eure Entscheidung, aber mir scheint, Ihr habt Euch schon entschieden. Dann steht zu Eurer Entscheidung.“

 „Ihr meint nicht, dass ich…ich weiß, es war nicht recht.“

 „Ich habe versprochen, es Herrn Yodik nicht zu sagen und es liegt an Euch, wem Ihr Euch sonst anvertraut, aber Ihr könnt dieses Spiel nicht weiterspielen. Sagt das Herrn Yardan. Ihr werdet es verschmerzen müssen, dass er davon nicht begeistert sein wird. Es ist die einzige Möglichkeit. Versprecht mir das, wenn Ihr eine Frau von Ehre seid!“

 Sie erschrak. Noch nie hatte der Weise so streng mit ihr gesprochen. „Ich will es versuchen!“, sagte sie.

 

 Sie genoss den freien Tag mit Yodik und besuchte gemeinsam mit ihm Alin, die ernsthaft mit einem Herumspringer in ihrer Werkstatt befreundet war. Yodik begleitete sie auch noch über die verschneiten Berge zurück zu ihrer Arbeitsstätte.

 Sie brachte es nicht übers Herz, Yardan die Wahrheit zu sagen, doch das Problem löste sich auf andere Weise: Zwei Tage vor Wintersonnwend eröffnete dieser ihr, dass er gehen würde.

 „Hat Frau Adisa …etwas mitbekommen?“

 „Ich weiß es nicht, aber ich habe damit gerechnet. Es ist traurig, aber so ist eben das Los eines Herumspringers; schließlich war ich schon über drei Monde hier. Aber ich habe auch noch keine Schulmeisterin gefunden wie sie – und kein Mädchen wie dich.“ Er zog sie an sich und küsste sie.

 „Was während der Lehr- und Herumspringerzeit passiert, ist Spaß. Deine Worte.“

 „Schon, aber… Außer, man verlobt sich oder … man muss das tun. Und bisher habe ich mich zurückhalten können. Bei dir fällt es mir schwer.“

 „Also ist es vielleicht besser. Mein Vater wäre kaum begeistert.“

 „Und du selbst?“

 „Ich habe noch zwei Lehr- und mindestens drei Herumspringerjahre vor mir. Danach ist die Zeit, an so etwas zu denken.“

 „Recht hast du.“ Auch wenn sie ihr Amulett nicht trug, merkte sie, dass Yardan sich zu diesen Worten eher zwang. „Vielleicht, wenn die Götter wollen, kommst du einst als Herumspringerin zu mir oder wir sind beide noch frei, wenn ich es zum Meister gebracht habe.“ Er küsste sie wieder und sie brachte es nicht übers Herz, ihn wegzuschieben oder ihm die Wahrheit zu sagen.

 

 Wintersonnwend wurde in aller Pracht gefeiert und Suraya, die sich so festlich zurecht gemacht hatte wie zu ihrer Brandtaufe, merkte, wie Yardan immer wieder auf sie schaute. Während der offiziellen Feierlichkeiten schaute Frau Adisa zu, sodass es keinen Grund gab, auszuweichen. Danach flogen sie gemeinsam in eine Höhle, wo sie Abschied voneinander nahmen.

 „Sobald ich meine nächste Stelle habe, lasse ich es dich wissen. Und wir können uns ja vielleicht besuchen. Es wird ja hoffentlich keine ganze Tagesreise sein.“

 Suraya ertappte sich, dass sie gerade darum betete – zumindest eine Tagesreise für einen normalen Menschen, der zwanzig und nicht 150 lange Meilen in einer Stunde flog. War es recht, die Götter um Gründe für eine Ausrede zu bitten? Andererseits: War es recht, Yardan zu verletzen?

 

 Suraya kaufte an ihrem letzten Tag noch einige kleine Geschenke für ihre Eltern, ehe sie sich von Frau Adisa verabschiedete. Schnell flog sie nach Hause und versuchte, Yardan zu vergessen.

 Die Geschenke im Hause des Haris waren traditionell eher bescheiden – man feierte eher die Geburtstage, das Ende der Schul- und Lehrjahre oder das Erntefest. Viel mehr bedeutete es, zusammen zu sein. Die Eltern freuten sich, dass Suraya und Jantar, der zum dritten Herbstmond seine Stelle gewechselt hatte, glücklich waren und die Familie einige Tage gemeinsam verbringen konnte.

 

 Am dritten Tag nach Wintersonnwend flogen Suraya und Yodik den langen Weg bis zum Steintor. Überraschenderweise wurden sie diesmal nicht angegriffen. Suraya zeigte Yodik, wo die gefährliche Schlucht war. Wenn man es wusste, war es einigermaßen leicht zu sehen.

 Plötzlich wurde Surayas Aufmerksamkeit aber genau in dieses Tal gelenkt: Dort unten weinte jemand. Sie schaute hin und sah einen alten Mann auf dem Felsen liegen. Sie schaute genauer: Es war ein Talmensch, ohne Flügel.

 „Yodik, Schatz! Der Mann wird sterben ohne Hilfe! Wir müssen dort hinunter!“

„Sura, nein! Du wirst wieder stürzen und dann ist niemand geholfen.“

 „Doch. Er liegt weit genug von der Dampfquelle weg.“

 „Warte!“ Er packte sie am Arm und zog sie zu einer Stelle, an der eine gut acht Klafter hohe Kiefer aus dem Boden ragte. Er ließ sie los und riss die Kiefer aus. „Wenn sie dich mit einer Stange treffen konnten, um dich dort hineinzustoßen, kann ich auch eine Stange benutzen, um dich herauszuziehen. Flieg hin, aber lass mir Zeit, mitzukommen und schau genau, wo die Kiefer ist – und wenn du nicht mehr hochkommst, halt dich fest. Vielleicht können wir so auch den Mann herausziehen.“

 „Du bist der beste!“ Sie gab ihm einen Kuss, ehe sie hinunterflog. Noch spürte sie nichts von dem giftigen Dampf und war bei vollem Bewusstsein. Sie landete und berührte den Alten. Sein Körper war noch warm und auch sein Atem ging leicht.

„Könnt Ihr mich hören?“, rief sie.

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Tag der Veröffentlichung: 22.04.2013

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