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Der Mann im Schilf

Ein Reiher flog auf sein Nest zu, schrak auf und flog wieder hoch. Jeder, der am See aufgewachsen war, wusste, was das bedeutete und am besten wusste es der junge Mann, der in der Nähe des Nestes im Schilf saß – und die Gendarmen hatten sicher auch zwei Augen im Kopf. Außer den Menschen hatten Reiher hier keine natürlichen Feinde, sodass jedem Beobachter klar sein musste, dass sich jemand im Schilf versteckt hielt. Freilich spielten im Sommer oft Kinder dort, doch die verhielten sich meist nicht längere Zeit ruhig und kehrten meist bis spätestens zum Abendessen brav in die elterlichen Höfe zurück.

Er musste unauffällig seinen Standort ändern, ehe jemand auf die Idee kam, nach ihm zu suchen. Er hätte sich pausenlos ohrfeigen können für diese eine Dummheit, die sein Leben verändert hatte. Eine Mutprobe, die ihn, einen einfachen Bauernburschen wie viele andere, zum Besitzer von stolzen 50 Kronen, aber auch zum Gejagten machte. Statt wie sonst tagsüber das Feld zu bestellen, die Tiere zu versorgen, Mist wegzubringen und Scheunen oder Geräte zu reparieren, wenn das nötig war, abends heißhungrig das Essen in sich hinein zu stopfen und bald darauf hundemüde ins Bett zu fallen und die wenigen Heller, die man hatte, am Samstagabend für ein Bier oder einen gespritzten Wein auszugeben, verbrachte er Tag und Nacht im kilometerbreiten, dichten Schilfgürtel des Sees und dem nicht minder undurchdringlichen Auwald, der sich daran anschloss. Seine Mahlzeiten bestanden aus Vogeleiern, Fröschen, essbaren Kräutern und was sich sonst noch in dieser Landschaft finden ließ. Zwar war sein Beutel voll mit jenen silbernen Münzen mit dem Gesicht des Kaisers, die sonst Reichtum bedeuteten, doch Silber war eben nicht essbar und hier konnte man kein Geld ausgeben – und dorthin, wo Geld etwas wert war, konnte er nicht mehr gehen.

Durch das Schilf spähte er auf den See hinaus. Enten schwammen in der Nähe, Reiher, Störche und Möwen überflogen Schilf und See auf der Suche nach Beute. Hoch über dem anderen Ufer leuchteten die Türme des Nikolausklosters in der Sonne.
 In längst vergangenen, fern scheinenden Zeiten, als er noch ein kleiner Junge war, hatte der Vater ihn mitgenommen in jenes prächtige Kloster und die Stadt, die sich darum entwickelt hatte. Wie andere Bauern hatte der Vater dort Gemüse, gelegentlich auch ein Schwein oder ein Rind, verkauft und dafür Kleidung, Werkzeuge, Gewürze, vor Weihnachten oder deren Namenstagen auch Schmuck für die Mutter und die Schwestern gekauft, Dinge eben, die weder er selbst noch der Dorfschmied herstellen konnte. Nur ein halbstündiger Ritt, wenn man schweres Gepäck hatte eine anderthalbstündige Ochsenwagenfahrt und eine knapp einstündige Bahnfahrt um den See oder eine eben so lange Bootsfahrt über denselben trennte das Dorf von der Stadt, in der einst der Rentmeister des Klosters und später der kaiserliche Gouverneur über die Bauern rings um den See regiert hatte.

Dass in der Stadt nicht seine Sprache gesprochen wurde, hatte den Vater ebenso wenig gestört wie die Kinder – im Dorf hatten über ein Drittel der Menschen, darunter auch die Großmutter des jungen Mannes im Schilf, die Sprache der Menschen in der Stadt als Muttersprache; umgekehrt verhielt es sich ebenso. Er, seine Eltern und Geschwister hatten ebenso wenig Probleme, sich in der Stadt zu verständigen wie diese am Westufer. Das alles war vorbei und im Schloss des Kaisers saß nicht mehr er, der ‚Vater der Völker‘ sondern der ‚Führer‘ und ‚Retter der Nation‘, der Mann, der verkündete, die Leute drüben in der Stadt seien wilde Tiere und ihr Land den einzig wahren Menschen, denen, die am Westufer oder in den fernen Bergen lebten, bestimmt.

Die Menschen am See hatten das nicht verstanden; Georg, der Mann im Schilf, ebenso wenig wie seine Eltern und Freunde. Die Kaiserstadt war in den Augen der Bauern und Fischer weit weg, auch wenn es nur zwei Stunden Bahnfahrt dorthin waren und manche, die weder geerbt hatten noch irgendwo einheiraten konnten, dort ihr Glück versuchten. Doch nun hatten die Zeiten sich geändert: Durch den See verlief eine Grenze und jenseits davon lag das Kloster. Jenseits lag auch das Dorf, in dem die Wabrosch Sofie lebte, dessen Kirchturm von hier aus kaum sichtbar aus dem Auwald hervorspitzte. Aus irgendeinem Grund besaßen deren Eltern eine Weide in der Nähe von Georgs Dorf; aus irgendeinem Grund hatte es sich getroffen, dass der alte Wabrosch vor zwei Jahren ausgerechnet Sofie seine Schafe hatte hüten und gemeinsam mit ihrem Bruder Andre scheren lassen. Aus irgendeinem Grund gehörte das Feld daneben Georgs Vater und aus irgendeinem Grund war Georg an einem heißen Sommertag gerade dabei gewesen, die Bewässerungskanäle auszubessern, als auf der Weide der Wabroschs ein Schaf ausbrach und Andre ihm nachlaufen musste, weshalb Sofie allein auf der Weide zurückblieb – und aus einem Grund, den niemand genau verstand, hatten Georg und Sofie sofort jede Beherrschung verloren, als sie einander erblickt hatten.
 Ab diesem Moment überließen sie nichts mehr dem Zufall: Georg arbeitete, wann immer es ging, auf dem Feld neben der Weide der Wabroschs und Sofie hütete, wann immer es ging, die Schafe neben dem Feld von Georgs Eltern. Sie tanzten miteinander auf allen Dorffesten und im Frühjahr dieses Jahres schließlich hatte Georg seinen ganzen Mut zusammengenommen, den Wagen angespannt, war in Sofies Dorf gefahren und hatte beim alten Wabrosch um ihre Hand angehalten.

Damals hatten sich schon die dunklen Wolken abgezeichnet, die trotz dem schönen Sommertag über dem Land hingen: Neben den üblichen Fragen, ob Georg denn kein Mädchen im eigenen Dorf gefunden hatte, waren neue Töne erklungen: Sofie wurde Asiatin, Schlitzauge oder gar Negerin genannt. Ja, ihr Haar war dunkler als das Georgs und seiner Geschwister, doch in seinem Dorf fiel sie äußerlich nicht weiter auf. Sie sprach akzentfrei seine Sprache und auch den Dialekt der Bauern und Winzer vom See, ihre Eltern und Geschwister ebenso. Wenn Georg und Sofie sich gegenseitig besuchten, wurde die Sprache der jeweiligen Gastgeberfamilie gesprochen, doch gleich ob sie Georg und Sofie oder Zsofia und György genannt wurden, sie liebten sich und das zählte. Kühe und Schafe hüten, Schafe scheren, Kühe melken, reiten, säen und ernten und Weinreben pflegen ging nicht anders im übernächsten Dorf und ohne Diskussion war klar, dass die Kinder, die sie einmal haben würden, ihre Mutter- und Vatersprache gleich gut erlernen würden, so wie alle Tätigkeiten des bäuerlichen Lebens.
 Die Veränderungen, die fast zeitgleich mit ihrer Verlobung gekommen waren, hatten sie beide kaum bemerkt: Georg war zwar im Namen des Kaisers zu den Waffen gerufen worden, doch hatte seine Kompanie noch gar nicht die Kampflinie erreicht, als der Kaiser schon geflohen war. Die nationale Revolution hatte gesiegt und in Rathäusern, Polizeistationen, Schulen und Wirtshäusern hing nun das Bild des Führers und Retters der Nation.

Die Bilder dort hatten schon einige Male gewechselt, doch so wie stets auf den alten Kaiser ein jüngerer, angetan mit der gleichen blütenweißen Paradeuniform und der gleichen Schärpe, gefolgt war, war auch das Leben stets weitergegangen: Man hatte die Felder bestellt, das Vieh zur Weide getrieben, geerntet, Korn, Fleisch und Wein verkauft und Tuch und Werkzeug gekauft, die Kinder gingen zur Schule, wo ebenfalls das Kaiserbild hing, das man abzuhängen hatte, wenn man vor den Kameraden etwas gelten wollte; vom Lehrer gab es zwei Ohrfeigen, wenn man sich erwischen ließ, doch die waren Eintrittskarte in jede Kinderbande.

Die Kinder wuchsen, beendeten die Schule, machten vielleicht eine Lehre, die Burschen mussten zum Militär, man verliebte sich oder auch nicht, heiratete aus Liebe oder Berechnung, übernahm den Hof des Vaters oder Schwiegervaters, hatte selbst Kinder und musste sauer sein und dem Sohn vielleicht eine zusätzliche Ohrfeige zu geben, wenn er das Kaiserbild abgehängt oder sonstigen Unsinn getrieben hatte, doch am Abend beim Bier erzählte man anderen Vätern von den eigenen Streichen.

Dann hatten auf einmal Soldaten einen Grenzzaun errichtet und das Kloster und Sofies Dorf lagen plötzlich im Ausland. Georg wusste nicht einmal, ob jemand anderer sie gefreit hatte, denn nicht einmal Post wurde über die Grenze gebracht.

Die Freunde hatten Georg zugeredet, es gebe doch noch viele andere hübsche und noch unverheiratete Mädchen, doch er wollte nur Sofie. Statt Mädchen liebte er immer mehr den Alkohol, was Eltern und Freunden Sorge machte.

Betrunken waren sie auch gewesen an jenem verhängnisvollen Tag, der aus dem jungen Bauernsohn Georg den Flüchtling gemacht hatte: Mit seinen Freunden hatte er gewettet, dass er sich trauen würde, das Bild des Führers und Retters der Nation abzuhängen wie einst das Kaiserbild in der Schule. Fünf von ihnen hatten ein jeder zehn Kronen geboten, gutes Geld: Für eine Krone fünfzig bekam man einen Krug Bier; fünf Kronen hatte einst die Überfahrt über den See zum Kloster gekostet und für ungefähr sechs Kronen gab es im Wirtshaus ein Fleischgericht.

Georg hatte es gewagt und zusätzlich hatte er noch ein Spottlied auf die Melodie des Liedes der Anhänger des ‚Führers und Retters‘ gesungen, wofür sie ihm zusätzlich zu den fünfzig Kronen noch die Zeche gezahlt hatten.
 Leider gaben sich diejenigen, die das Ansehen der neuen Machthaber verteidigten, nicht mit zwei Ohrfeigen zufrieden wie einst der Volksschullehrer.
 Mitten in der Nacht hatte ihn Franz, der Gendarm, geweckt: „Schorsch, sie suchen dich überall! Irgendwer hat dich angezeigt und ich müsst‘ dich verhaften. Schau, dass d‘ dich verstecken kannst und irgendwann über die Grenze, dass d‘ mir das ersparst!“

Sich verstecken hatte er einige Tage können, doch die Grenze zu überschreiten war nicht so einfach: Weder das Boot noch die Eisenbahn fuhr und zum Schwimmen war der See zu breit zumal Patrouillenboote unterwegs waren: Die Machthaber am Westufer wollten verhindern, dass ihre Gegner flohen und die am Ostufer konnten keine Flüchtlinge brauchen.

Georg erschrak noch mehr, als er das Schilf rascheln hörte. Er horchte genauer: Das war kein Tier, sondern ein Mensch, der genau auf ihn zu kam; einer, der sich auskannte noch dazu, denn er leistete sich keinen Fehltritt. Georg zögerte: Bleiben konnte genauso falsch sein wie Fliehen.
 „Schau her, unser Schorsch!“, rief die Stimme halblaut.
 Franz!
 „Hab ich dich! Abhauen kannst ned: Ich kenn die Wege so gut wie du und die Kameraden auch – und mit denen kannst ned reden, mit mir schon.“
 „Was hast vor?“
 „Entweder ich hab nichts gesehen und du bleibst jetzt genau eine Viertelstunde hier und suchst dir dann ein anderes Versteck oder du spielst mit.“
„Bei was?“ 
 „Bei was, wo d‘ dir hundert Kronen verdienen kannst – und deine Sofie wiedersehen. Ich brauch wen, der für mich eine Wallfahrt zum Nikkolo macht.“
 „Aber wie soll ich das machen? Ich hab kein Boot und mir leiht auch keiner eins. Außerdem ist die Grenzwache schneller als ich.“ 
„Das Boot hab ich und wann heut Nacht bei der Grenzwache wer Dienst hat, der keine Faxen macht, weiß ich auch. Du brauchst bloß rudern und drüben an der Grenzwache vorbeikommen“
 „Also, red Deutsch mit mir: Um was geht’s? Wen oder was soll ich rüberbringen?“
„Die Leut, die heute Abend im Boot sitzen. Die haben Geld, können aber ned rudern.“
 „Was für Leut? Juden?“
„Vielleicht.“

Zu den vielen Dingen, die Georg an den neuen Machthabern nicht verstand, gehörte, was sie gegen Juden hatten: Der Arzt im Nachbardorf und einige der Händler in der Klosterstadt waren Juden. Ja, es hieß, die Juden hätten den Herrn Jesus Christus umgebracht, aber der Pfarrer sagte selbst, das waren alte Zeiten und würde nichts mehr über Menschen heute aussagen.

  "Du traust dir!“, entfuhr es Georg.
 „Ich? Wieso? Was meinst, was passiert, wenn du ins Dorf rennst und sagst, ‚der Petritsch Franz hilft Juden verstecken?‘ Meinst, die glauben dir? Einem, der den Retter der Nation beleidigt gegen eine Amtsperson? Ganz abgesehen davon: Wenn ich dich in Richtung Dorf laufen seh, erschieß ich dich, schlepp dich wieder her und lass dich irgendwo im Schilf verfaulen.
 Und wenn’st hier bleibst, findet dich ein anderer Gendarm, bringt dich zurück und lässt dich hängen oder erschießt dich gleich. Du hast nur die Möglichkeit, mitzumachen.“
 „Gut. Wo und wann find ich die Leut?“
 „Heut abend um halb acht, hier. Wenn’st ned kommst, is es dein Problem, Schorsch!“
„Natürlich komm ich. Danke dir!“
 „Gut. Und keinen Blödsinn machen, sonst wirst Futter für die Fisch‘. – Kennwort Schwammerl, wenn ich nicht selber komm.“
„Jawohl!“

Die Flucht

Franz ging zurück in Richtung Dorf, während Georg sich tiefer ins Schilf schlug. Zu seinem Glück kam für den Rest des Tages niemand mehr vorbei. Er fing einen der kleinen Fische, die zwischen den Wasserpflanzen hindurchschwammen. Fische roh zu essen war einst eine Art Mutprobe, nun aber eine Notwendigkeit.
 Nach Einbruch der Dunkelheit ging er ans Ufer zurück, wo er ein Mädchen stehen sah. Sie hatte fast schwarze Haare, noch dunkler als Sofie, trug einen Umhang wie die meisten Mädchen hier, doch ihr Gesicht hatte Georg noch nie gesehen.
 „Entschuldigen S‘, hat’s da oben mehr Schwammerl?“, fragte sie. „Ich hab noch fast nix gefunden.“ Sie zeigte auf ein Gebüsch, das an eine offenbar verlassene Biberburg anschloss. Auf dieses Versteck wäre nicht einmal Georg gekommen!
 „Da droben? Ich weiß ned, aber ich kann mal schauen. Bitte schön, gnädiges Fräulein!“
 Das Mädchen lachte herzlich über die Anrede, die drei oder vier soziale Rangstufen über der ihren berechtigt gewesen wäre.
 Georg überlegte ein letztes Mal: Konnte es eine Falle sein? Das Mädchen stand zum See hin und der Sumpf hinter ihr war unzugänglich. Sollten Gendarmen lauern, mussten diese in oder hinter dem Versteck hocken. Dann müsste er das Mädchen überwältigen und hoffen, dass er schnell ein neues Versteck fände, ehe sie das Ufer schließen könnten. Wenn er sie nicht mit einem Schlag aus dem Weg gebracht haben sollte, wäre er so gut wie verloren – und das Mädchen sah kräftig aus, zumal Spioninnen sicher eine Nahkampfausbildung bekamen. In einem solchen Fall wäre falsche Rücksichtnahme tödlich.
 Das Mädchen schien seine Gedanken erraten zu haben: „Sie trauen mir nicht? Schauen’S, ich geh zuerst!“ Sie ging auf das Gebüsch zu und zeigte Georg den Rücken; entweder sie war ihrer Sache sicher oder naiv – egal, damit hätte er im Notfall eine realistische Chance.

Sie stieß einen Schrei aus wie ein Reiher, worauf die Zweige der Biberburg zur Seite geschoben wurden und das Gesicht eines Mannes zum Vorschein kam.
 „Alles klar?“, flüsterte das Mädchen. Der fremde Mann nickte.
 „Wenn’S dann mit uns kommen, Herr Direktor! – Bleiben’S hinter mir, sonst wird’s gefährlich. Man erkennt im Dunkeln die Wege schlecht vom Sumpf weg.“
 Der ‚Herr Direktor‘ trat aus dem Gebüsch, neben ihm ein elf- oder zwölfjähriger Junge. Der Mann ging in die Knie, streckte die Arme aus und als er wieder aufstand, trug er ein kleines Mädchen in den Händen. Als letzte kam eine Frau mit einem Baby im Arm aus dem Gebüsch.
„Ihr Fahrer ab jetzt!“, flüsterte das Mädchen der Frau zu. Sie ging den Pfad ins Schilf hinab. Wo immer sie herkam, sie kannte sich hier zweifellos aus, da sie kein einziges Mal den Boden testen musste. 
 Nach wenigen Minuten kam die kleine Gruppe zu einem Ruderboot. Das Mädchen winkte der Familie, einzusteigen und diese leistete sofort Folge. Anschließend bedeutete die Führerin Georg, ein paar Meter zur Seite zu kommen.
 „Ich weiß nicht, was der Franz dir gesagt hat: Dass du dich ned, dass Sie sich nicht erwischen lassen dürfen, wissen‘S selber. Wenn du wieder zurückwillst, musst du – müssen Sie, Entschuldigung –das bis morgen Abend geschafft haben, sonst holt wer anderer das Boot ab. – Und zünden’s drüben eine Kerze an für den Herrn Gendarm und die Frau Gendarmin. Gott segne Sie!“ Den letzten Satz sprach sie etwas lauter. Georg und die ‚Frau Gendarmin‘ bekreuzigten sich.
 „Gruß dem Franz! Und vielen Dank noch einmal!“

Georg stieg ins Boot und stieß sich ab. Die Strömung schien günstig, sodass er wenig rudern musste. Das war ein Vorteil, denn Ruder machten Geräusch.
Er hielt das Boot am äußeren Rand des Schilfgürtels, sodass man es vom Land aus schlecht sehen konnte. Auf dem See selbst waren keine Schiffe unterwegs.
 Der Sohn der Flüchtlingsfamilie fragte höflich, ob er beim Rudern helfen sollte. Georg lehnte dankend ab. Ansonsten sprachen die Insassen des Bootes kaum, teils aus Vorsicht, teils da Georg nicht wusste, was er den Fremden sagen sollte.

Seine Gedanken gingen zurück ins Dorf. Er hatte nicht gewusst, dass Franz eine Freundin, geschweige denn, dass er offenbar ernste Heiratsabsichten hatte. Umso mutiger, wenn die beiden gerade jetzt Juden bei der Flucht halfen. Georg versprach Gott, der Gottesmutter und dem heiligen Nikolaus verschiedene Opfergaben, damit Franz und das Mädchen, das ihn zum Boot geführt hatte, miteinander glücklich würden.

In einiger Entfernung legte das Motorboot der Grenzwache ab. Georg steuerte sein Boot ins Schilf und wartete, bis die Grenzer weit im See waren. Wenn nicht der Teufel selbst ihnen ein Zeichen geben sollte, hatten sie nun keine Chance mehr, ihn zu sehen. Natürlich gab es manchmal auch am Land Patrouillen, die ins Schilf gingen, doch denen konnte man im Boot leicht entkommen. Er ruderte nun etwas schneller und drückte dem Mann und dem Jungen je eines der weiteren Ruder in die Hand. Schon passierten sie die Grenze, wo Schilf und Auwald auf fast 100 Metern Breite abgemäht waren. Glücklicherweise stand hier niemand direkt am Ufer. Zehn, fünfzehn Schläge noch und Georg und seine Schützlinge waren außerhalb der Reichweite der Truppen des ‚Retters der Nation‘.

 Da, plötzlich: Eine starke Taschenlampe wurde am Ufer angeknipst. Zu allem Überfluss musste der Familienvater auch noch husten. Georg blieb das Herz stehen. Der Mann mit der Lampe leuchtete in den Sumpf hinein und löste ein lautes Froschkonzert aus. Auch verschiedene Wasservögel schrien. Das wiederum war ein Vorteil, da es am Ufer die Ruderschläge übertönen könnte.
 Endlich, Georg war schon mehrere Tode gestorben, erlosch die Taschenlampe an Land. Ein Ruderschlag, noch einer und ein dritter und rechts wuchs das Schilf wieder hoch.
 „Wir haben’s ge…“, setzte der Junge zu einem Jubelschrei an.
„Bist still!“, zischten seine Mutter und Georg gleichzeitig. „Wir haben’s noch lang nicht geschafft. Grenzsoldaten gibt’s auch hier.“

Trotzdem war auch Georg bedeutend wohler, als durch eine lichtere Stelle der Kirchturm von Sofies Dorf sichtbar wurde. Zwei Dinge standen fest: Er würde auf dieser Seite der Grenze bleiben und er würde Sofie heiraten, wenn er nur ankam. Alles weitere würde sich finden.
 Beinahe hätte er übersehen, dass das Boot der Grenzsoldaten kehrt machte und in seine Richtung fuhr. Er zuckte zusammen, als er den Scheinwerfer sah. Das Boot fuhr ein Stück in seine Richtung, doch dann drehte es wieder ab. Vor der Grenze hatten sie offenbar so etwas wie Respekt.

Wenig später stieß ein anderes Boot vor Georg und seinen Schützlingen aus dem Schilf. Es hielt genau auf sie zu.
„Runter!“, zischte Georg. „Bis auf Sie, mein Herr!“
 Die Frau beugte sich tief nach unten und drückte dem Baby, das aufgewacht war, mit Gewalt den Mund zu. Georg warf seine Jacke über den Bootsrand und zog sie zur Bootsspitze hin. Er hoffte, dass es von weitem so aussah, als wolle er ein Netz festmachen.
 „ Kik vagytok– wer seid ihr?“, rief ein Mann.
 „ Halászok– Fischer!“, antwortete Georg und drehte das Boot in Richtung See, wobei er sein „Netz“ auf der den Fremden abgewandten Seite hielt.
 Die Männer flüsterten etwas, was er aus der Entfernung nicht verstehen konnte. Abwechselnd wurde ihm heiß und kalt. Die Frau, die gleichzeitig noch verhindern musste, dass eines ihrer Kinder sie verriet, war am Rand des Nervenzusammenbruchs.

Endlich nahm das Grenzerboot Fahrt auf. Es hielt sich hart am Schilf, fuhr knapp an den Flüchtigen vorbei auf die Grenze zu, doch die Grenzsoldaten machten sich nicht die Mühe, zu kontrollieren. Gott sei Dank, sie waren nun schon anderthalb oder zwei Kilometer hinter der Grenze und die Wache hatte ihnen offenbar nicht die ganze Zeit zugesehen. Georg ließ das Boot noch einige Minuten in Richtung offenes Wasser treiben und drehte erst bei, als das Grenzerboot parallel zu ihnen fuhr.

Nun waren sie wirklich gerettet. Zwar war es sicher noch über eine Stunde bis zur Lände des Klosters, doch verglichen mit dem, was sie durchgestanden hatten, eine gemütliche Spazierfahrt. Mit Kontrollen war nicht mehr zu rechnen.
 Als es von der Turmuhr des Klosters zehn Uhr schlug, hörten es die Insassen des Bootes bereits, doch es wurde dreiviertel elf, bis sie an der Lände ankamen. Zweieinhalb Stunden hatten sie gebraucht. Georg war erschöpft, aber glücklich. Er warf das Tau über den Haken, sprang auf die Brücke und zog das Boot, bis es parallel zum Landungssteg war. Um diese Zeit brannte in den Häusern nirgends mehr Licht.

„Mein Herr, haben Sie Dank!“, sagte der Mann förmlich, als er ausstieg. „Aber gestatten Sie mir die Frage: Was werden Sie jetzt machen? Glauben Sie, Sie können zurück, ohne dass es auffällt?“
 „Ich will gar nicht zurück“, antwortete Georg.
 „Und wovon wollen Sie hier leben? Was sind Sie von Beruf?“
 „Na ja, Bauer halt, wie’s am Dorf so ist.“
„Hören Sie, ich möchte Ihnen ein Angebot machen: Entweder, Sie bekommen Ihr Geld – ich lege noch etwas darauf, denn mir ist auf der Fahrt umso klarer geworden, in welcher Gefahr wir geschwebt sind, und gebe Ihnen, sagen wir, 200 Kronen, oder…“
 „Ja, bitte?“
„Oder Sie kommen mit mir. Sie verstehen sicher etwas von verschiedenen Obst- und Gemüsearten und wissen, was sich zum Einwecken eignet?“
 „Ja, Herr Direktor.“ Georg erinnerte sich, wie Franz‘ Braut den Fremden angesprochen hatte.
 „Ich kann in der Firma meines Bruders, einem Lebensmittelgroßhandel, einsteigen, aber wir beide, mein Bruder und ich, verstehen nur wenig von Obst und Gemüse. Wenn Sie es möchten, können Sie mit mir kommen. Ihre 200 Kronen würde ich dann mit der Miete für ein Zimmer verrechnen, damit Sie dort wohnen können, während Sie Buchführung und kaufmännisches Rechnen lernen – oder können Sie das?“
 „In Rechnen war ich ganz gut, aber das andere, Buch…“
 „Ist Lernarbeit. Ich muss Ihnen natürlich gestehen, dass die erste Zeit für Sie kein Zuckerschlecken sein wird, da Sie einiges werden nachholen müssen. Ich werde mein Möglichstes tun, dass niemand Sie spüren lässt, dass Sie ein Bauernsohn und kein Bürger sind, aber dennoch werden Sie damit rechnen müssen. – Also: Wollen Sie das versuchen?“ 
 „Und wenn ich’s nicht schaffe?“
 „Dann müsste ich Sie wieder entlassen. Sie hätten dann zwar Ihr Geld verloren, aber ansonsten können Sie von 200 Kronen auch nicht ewig leben.“
 „Ich danke Ihnen, Herr Direktor!“
 „Ich habe zu danken. – Sagen Sie mir, ist es möglich, in dieser Stadt ein Nachtquartier zu finden? Der Zug, den wir nehmen müssen, fährt erst morgen früh.“
 „Einen Gasthof gibt es wohl, doch die werden um diese Zeit keine Freude mit uns haben. Aber das Gästehaus des Klosters ist, soviel ich weiß, die ganze Nacht offen. Das ist freilich sicher nicht, was der Herr Direktor und die gnädige Frau gewohnt sind…“
 „Für eine Nacht wird es wohl genug sein. Sehen Sie nur, auch Daniel schläft schon halb.“ Der Junge hatte sich an einen Baum gelehnt und hielt die Augen nur mit Mühe offen. Das kleine Mädchen hatte durchgeschlafen und auch das Baby schlummerte nun wieder.

Sie gingen zum Kloster und tatsächlich öffnete ihnen der Bruder, der Nachtwache hatte, bedeutete ihnen aber, leise zu sein und schnell zu Bett zu gehen.
 Georg konnte in der Nacht nicht schlafen. Wie würde es in der neuen Stadt sein und was würden Sofie und ihre Familie von einem Judenknecht halten, selbst wenn alles gutging?
 Er verwarf den Gedanken: Eine Verlobung war ein Versprechen, das gehalten werden musste, es sei denn, einer der Verlobten würde untreu oder beginge ein Verbrechen. Das hatte Georg wohl nach Ansicht der Anhänger des Retters der Nation getan, doch der alte Wabrosch war weder dessen Landsmann noch Anhänger. Georg hatte mit ihm noch nie über das Thema Juden gesprochen, doch er war sich ziemlich sicher, dass sein Schwiegervater in spe nicht mehr und nicht weniger gegen Juden hatte, als jeder andere, der hin und wieder schimpfte, aber doch mit dem jüdischen Händler Geschäfte machte und sich vom jüdischen Arzt behandeln ließ. Man lästerte ja auch über die Kirche und ging trotzdem jeden Sonntag zur Messe.

Beim ersten Tageslicht ging Georg hinaus in den Klosterhof. Einen Mönch, der zum Chorgebet ging, fragte er nach Papier und einem Stift. Der Mönch versprach beides, doch erst nach den Laudes, dem Morgengebet.
 Georg folgte ihm in die Kirche und kniete in einer Bank nieder. Den lateinischen Gesang verstand er nicht, doch dass er Gott zu danken und für die Zukunft zu bitten hatte, wusste er. ‚Wenn ich Geld habe, werde ich eine Tafel stiften‘, flüsterte er. Er sah das Bild, das er in Auftrag geben würde, vor Augen: Die Judenfamilie und er im Boot, das schwarze Grenzerboot im Hintergrund und der heilige Nikolaus über ihnen, als Beschützer.
 Er zündete fünf Kerzen an: Eine als Dank für die glückliche Fahrt, eine für Franz und seine Braut, deren Namen er nicht kannte, eine für Sofie, eine für seine Eltern, die wiederzusehen er nur hoffen konnte und eine für die Familie, die er hierher gebracht hatte. Mochten sie glauben, was sie wollten, eine Familie mit Kindern wollte Gott sicher nicht sterben lassen und der Herr Direktor wollte ja sogar für Georgs Zukunft vorsorgen.

Der Mönch hielt sein Versprechen und gab Georg Papier und eine Feder. Er schrieb einen langen Brief an Sofie, in dem er ihr erzählte, was geschehen war und seine Liebe zu ihr bekannte. ‚Sei mir versichert, mein Schatz!‘ – Seit wann schrieb er denn so förmlich? – ‚Ich werde bald zurück-kommen und dann werden wir heiraten und unsere Kinder werden glücklich unter dem Himmel aufwachsen, der über allen Völkern aufgeht. Ich vermisse dich sehr und zähle selbst die Tage, doch es wird alles gut werden. Gott segne dich, deine Eltern und deine Geschwister. Ich liebe dich, heute und ewig, Dein Schorsch.“

Sie frühstückten, der Herr Direktor zahlte dem Rentmeister eine größere Summe, die dieser mit einem gleichmütigen ‚Vergelt’s Gott!‘ entgegen nahm – einen festen Preis gab es nicht – und sie machten sich anschließend zum Bahnhof auf. Der Zug verließ die Klosterstadt pünktlich.
 Im Zug konnte Georg ohne Sorge mit der Familie sprechen. Sie waren tatsächlich Juden, wenn auch der Vater getauft war. Sie schrieben sich Grünbaum, der Vater war in der Kaiserstadt kaufmännischer Direktor bei einer Werkzeugfabrik gewesen. Der Sohn hieß, wie Georg schon am Vortag erfahren hatte, Daniel und ging im ersten Jahr aufs Gymnasium. Das Mädchen hieß Ester und war fünf Jahre alt. Im Gegensatz zum Vortag war sie heute putzmunter und beschäftigte Eltern und Bruder ständig, ebenso wie Lea, das Baby.

Gegen Mittag erreichte der Zug eine große Stadt. Georg fand es unmöglich, sich dort zurechtzufinden, doch Direktor Grünbaum schien sich auszukennen. Er schritt auf ein Taxi zu, nannte dem Fahrer eine Adresse und stieg mit Georg und Ester ein, während seine Frau, Daniel und das Baby ein weiteres Taxi nahmen.
 Vor einem größeren Bürogebäude blieben die Taxen stehen. Direktor Grünbaum nannte dem Pförtner seinen Namen und wurde anstandslos hineingelassen.
 Über eine breite Marmortreppe gingen sie zu einem komfortablen Büro mit einem riesigen Schreibtisch und einem weiteren Tisch aus dunklem Holz.

Ein älterer Mann im Anzug stand vom Schreibtisch auf, ging auf Direktor Grünbaum zu und umarmte ihn. „Gelobt sei der Herr, dass alles gutgegangen ist!“, rief er. Er begrüßte Frau Grünbaum mit einem Kuss auf die Wangen und drückte die Kinder nacheinander an sich. „Aber sag, wer ist dieser Mann?“
 „Er hat uns über den See gebracht, an den Booten der Grenzsoldaten vorbei. Ein Held ist er, so wie die junge Frau, die uns zwei Tage lang ein Versteck im Auwald gewiesen und uns versorgt hat und der ich mich leider viel zu wenig habe erkenntlich zeigen können. Ich habe vor, diesen Mann, einen Bauernsohn aus dem Seewinkel, zum Einkäufer ausbilden zu lassen und ihn in seine Heimat zurückzuschicken.“
 „Keine schlechte Idee. Zu ihresgleichen sind die Bauern ehrlicher. Außerdem wird er gute Ware erkennen. Und einen Helden müssen wir entsprechend ehren, das stimmt.“
 Als Held fühlte Georg sich nicht. In dieser Umgebung, in der Großstadt, in einem Direktorenbüro, kam er sich zudem fremd vor, doch das Heimatdorf war für immer verloren.
 Er wollte sich jedenfalls anstrengen, damit er dem Vertrauen des Herrn Direktors gerecht würde. Dann würde es zwar nicht wieder werden wie einst, doch er könnte in die Heimat zurückkehren und Sofie heiraten. Seine Kinder würden die Sonne im See unter- statt aufgehen sehen, doch sie würden in der Heimat aufwachsen, wo die Sprache die Menschen nicht voneinander trennte. Die Grenze verschwand aus seinem Bewusstsein. Kaiser oder Führer oder – wie nannte sich der Herrscher des Landes auf der Ostseite des Sees eigentlich? Der Kaiser hatte zwar noch den Königstitel, aber keine Macht mehr – kamen und gingen, doch der Seewinkel blieb seine Heimat und in dieser Stadt würde er ein Fremder bleiben, egal, wie freundlich Direktor Grünbaum sein mochte.

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Tag der Veröffentlichung: 25.03.2013

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