Cover

Leseprobe

Metainformationen zum Buch

Lena läßt im Park ihren Spielzeugdrachen steigen, übersieht dabei jedoch einen aufziehenden Sturm. Marie hilft ihr, ihren Drachen wieder sicher einzufangen und bringt sie heim. Weil Lena ihre Schlüssel vergessen hat, ziehen sich beide auf den Dachboden des Mietshauses zurück und Marie erzählt mit Lenas Hilfe das Märchen vom Drachen-Mädchen Remia, Tochter vom finsteren und mächtigen Drachen Atrev. Remia findet in der Katze Mütze eine Freundin, mit welcher sie sich immer wieder gegen Atrev behaupten muß, um sich sowie Mütze leben zu lassen, bis der Konflikt eskaliert.

Einige Charakteristika dieses Buches:

  • Zeichenanzahl: 380471
  • Wortanzahl (Token, Wörter): 57353
  • Wortumfang (Worttypen, verschiedene Wörter): 7734
  • Variabilität (Type-Token-Verhältnis): 0.135
  • Guiraud-Index: 32.3
  • Informationsgehalt (Wortebene): 9.84 Shannon
  • Satzanzahl: 3477
  • Graphiken: 54
  • Alternative Stilvorlagen: 9

Marie: Drachen

Inhaltsverzeichnis

  1. Titelei
    1. Antiporta (Schutztitel; eingebettete Vektorgraphik)
    2. Metainformationen (Impressum, sonstige bibliographische Informationen zum Buch)
    3. Epigraph
    4. Vorwort
      1. Zum Inhalt
      2. Technisches
  2. Erzählung
    1. Ein kleiner Drachen im Sturm
    2. Auf dem Dachboden
    3. Das Märchen vom Drachen-Mädchen Remia
      1. Über Drachen allgemein
      2. Remia, das Drachen-Mädchen
      3. Ausflug mit Atrev
      4. Fabelhafte Belehrung
        1. Fabel von Schlange und Krähe
        2. Fabel von Krähe und Schlange
        3. Fabel von Drachen, Krähe und Schlange
      5. Das Kätzchen
      6. Konsequenzen
      7. Am Zaun
      8. Drachenkrautlichtung
      9. Jungs
      10. Der Kampf
      11. Erwachen
      12. Suche
      13. Das Erbe
      14. Danach
    4. Nach dem Sturm
    5. Lenas Mutter
    6. Abschied
  3. Buchende
    1. Epilog
    2. Titelseite (Vektorgraphik)

Abbildungen

Portraits, Protagonisten

  1. Lena zerzaust im Sturm
  2. Remia
  3. Kätzchen guckt (Mütze, jung)
  4. Atrev
  5. Mütze
  6. Remia schaut düster und konzentriert (Remias Augen)
  7. Lena ist nachdenklich
  8. Lenas Mutter
  9. Marie

Spielzeugdrachen

  1. Abstraktion eines prächtigen Spielzeugdrachen (1)
  2. Abstraktion eines prächtigen Spielzeugdrachen (2)

Drachen

  1. Antiporta (Schutztitel; eingebettete Vektorgraphik)
  2. Titelseite (Vektorgraphik)
  3. Piktogramm eines Drachen (1)
  4. Piktogramm eines Drachen (2)
  5. Piktogramm eines Drachen (3)
  6. Piktogramm eines Drachen (4)
  7. Abstrahiertes Portrait eines wilden Drachen
  8. Piktogramm eines Drachen (5)
  9. Drachen-Zeichnung
  10. Drachen im Jugendstil
  11. Piktogramm eines Drachen (6)
  12. Abstrahierte Variation zu einem Drachenbild von Albrecht Dürer
  13. Piktogramm eines Drachen (7)
  14. Piktogramm eines Drachen (8)
  15. Remia als kleiner Drachen
  16. Auffliegender Drachen
  17. Drachen über der Stadt
  18. Zwei Drachen im Kampf
  19. Piktogramm eines Drachen (9)
  20. Atrev ist erzürnt: Brüllender Drachenkopf
  21. Metamorphose von Frau zu Drachen oder umgedreht
  22. Drachen entfaltet Flügel
  23. Silhouette eines unheilsbringenden Drachen
  24. Silhouette eines Drachen
  25. Piktogramm eines Drachenkopfes
  26. Portrait eines sehr wütenden Drachen
  27. Piktogramm eines fliegenden Drachen
  28. Piktogramm eines Drachen (10)
  29. Stolzer Drachen
  30. Drachenkopf als Piktogramm
  31. Drachen in Angriffsposition
  32. Piktogramm eines Drachenkopfes
  33. Piktogramm eines Drachen (11)
  34. Schlafender Drachen (1)
  35. Schlafender Drachen (2)

Sonstige Abbildungen

  1. Schlange
  2. Krähe
  3. Bücherstapel
  4. Drachenkraut, Estragon (Artemisia dracunculus)
  5. Zweig eines Busches Drachenkraut, Estragon (Artemisia dracunculus)
  6. Lotoseffekt
  7. Bücher
  8. Grüßende Hand

Epigraph

… Bekanntlich gibt es keine Drachen. Einem simplen Verstand mag diese primitive Feststellung vielleicht genügen, nicht aber der Wissenschaft, denn die Neantische Hochschule befaßt sich überhaupt nicht mit dem, was existiert; die Banalität der Existenz ist bereits zu lange erwiesen, als daß man auch nur ein Wort darüber verlieren sollte. So entdeckte der geniale Kerebron, der mit exakten Methoden dem Problem zu Leibe ging, drei Arten von Drachen: Nulldrachen, imaginäre und negative Drachen. Es existieren, wie gesagt, alle nicht, aber jede Gattung auf eine besondere und grundverschiedene Weise. …

Aus Die dritte Reise oder Von den Drachen der Wahrscheinlichkeit von Stanisław Lem

Eines Tages sagte Unmon zu seinen Schülern:
‚Dieser mein Stab hat sich in einen Drachen verwandelt und hat das Universum verschlungen. Oh, wo sind die Flüsse und die Berge und die große Erde?‘

Zen-Kōan

Oft sehn wir eine Wolke, drachenhaft, oft Dunstgestalten gleich dem Leu, dem Bär, der hochgetürmten Burg, dem Felsenhang, gezackter Klipp’ und blauem Vorgebirg, mit Bäumen drauf, die nicken auf die Welt, mit Luft die Augen täuschend.

William Shakespeare

Nicht hoffe, wer des Drachen Zähne sät, Erfreuliches zu ernten.

Friedrich Schiller

Aus: Monster von Judith Holofernes (Wir Sind Helden)

Drachen - das Abgründige, Bedrohliche, Unheimliche, Wilde, Ungezähmte tief in uns allen!

Bertine-Isolde Freifrau von Brockelstedt

Drachen - die Phantasie, das Grauen, die Alpträume tief in uns fliegen lassen.

Balthasar Maria Bernhard Freiherr von Brockelstedt

Vorwort

Zum Inhalt

Diese Erzählung knüpft an ein Erlebnis der Autorin Marie an, gleichwohl ist die Angelegenheit nicht so simpel, daß man den Inhalt einfach biographisch verstehen könnte. Marie besteht auf Distanz zwischen ihren eventuellen Erlebnissen und ihrem Hier und Jetzt. Es steht ein Konjunktiv im Raum, das Erlebnis kann nahezu so stattgefunden haben, es kann auch künstlerisch verdichtet sein.

Marie bewahrt die Distanz ebenso, indem sie auf eine Ich-Erzählung verzichtet, der Erzähler bleibt abstrakter und hat Einblick in verschiedene Gedankenwelten, wie sie Marie als Autorin leicht haben mag, Marie als Protagonistin müßte hingegen sehr scharfsinnig sein, um immer zu ahnen, was genau in den Köpfen der Menschen vorgeht, mit denen sie es zu tun hat – oft ist das zum Zeitpunkt des Erlebens auch von untergeordneter Bedeutung. Marie würde sich da schriftlich nie so genau festlegen.

Die Namen anderer Beteiligter wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre natürlich verändert, entsprechend und analog ein gegebenenfalls verwendetes Portrait.

Das Buch gehört zur Serie ‚Marie‘. Die Bücher dieser Serie können unabhängig voneinander gelesen werden. Zeitlich liegen die Ereignisse von ‚Marie: Der Atelierbesuch‘ einen unbestimmten Zeitraum hinter jenen von ‚Marie: Drachen‘, wobei letztere Erzählung etwas später geschrieben wurde. Chronologisch folgt wiederum mit einem unbestimmten Zeitabstand nach diesem Atelierbesuch ‚Marie: Die Gruft‘, kurz darauf folgt ‚Marie: Der Überfall‘. Ein paar Details in diesem Buch stehen in Zusammenhang mit Vorkommnissen in den anderen, insofern können sich aus den anderen Büchern eventuell ein paar mehr Aspekte erschließen, sofern diese Interesse erwecken sollten.

Technisches

Die skalierbaren Vektor-Graphiken im Buch haben eher dekorativen Charakter. Zum einen sind es abstrahierte Portraits der Hauptprotagonisten, zum anderen aber auch Graphiken von Drachen oder Spielzeugdrachen.
Sofern nicht aus eigener Produktion stammend, stammen Vorlagen für Vektorgraphiken von openclipart.org und sind damit gemeinfrei. Trotzdem ist jeweils im Quelltext der Graphik die Quelle als Metainformation angegeben. Die Vorlagen sind zum großen Teil inhaltlich nachbearbeitet sowie technisch optimiert.
Einige andere Vorlagen stammen von pixabay.com und sind damit ebenfalls gemeinfrei. Entsprechend sind ebenso alle Vorlagen, welche von commons.wikimedia.org stammen, als gemeinfrei gekennzeichnet.
Sofern davon auszugehen ist, daß die Vektorisierung nicht zu einem eigenständigen, unabhängigen Werk geführt hat, ist ähnlich wie bei dem Vektorgraphiken die Quelle als Metainformation angegeben.

Technisch wurden bei diesem EPUB einige Hilfen integriert, um dem Publikum besseren Zugang zum Inhalt zu ermöglichen. Es gibt etwa verschiedene Stilvorlagen, zwischen denen gewählt werden kann. Bei einem Darstellungsprogramm, welches EPUB komplett interpretieren kann, wird es eine solche Auswahlmöglichkeit geben. Von daher kann damit leicht zwischen heller Schrift auf dunklem Grund sowie einer dunklen Schrift auf hellem Grund gewechselt werden. Für eigene Einstellungen eignet sich der ebenfalls alternativ verfügbare einfache Stil, welcher lediglich einige Strukturen hervorhebt oder anordnet.

Verfügbare alternative Stilvorlagen:

  • hell auf dunkel: Hellgraue Schrift auf dunkelgrauem Hintergrund, Voreinstellung
  • dunkel auf hell: Dunkelgraue Schrift auf hellgrauem Hintergrund
  • dunkel auf hell: Dunkelgraue Schrift auf hellgrauem Hintergrund (ohne Bilddarstellung)
  • hell auf dunkel: Hellgraue Schrift auf dunkelgrauem Hintergrund (ohne Bilddarstellung)
  • finster: Helle Schrift auf dunklem Hintergrund, farbige Variante
  • vergilbt: Dunkle Schrift auf hellem Hintergrund, farbige Variante
  • Pogo: Stil im blau-violetten Bereich mit Farbverlauf als Hintergrund – wie der Name schon andeutet hinsichtlich des Lesevergnügens etwas aggressiver sowie fordernder
  • blau: Blauer Stil, dunkle Schrift auf hellem Grund
  • einfach: Einfacher Stil ohne Farbangaben, besonders geeignet zur Kombination mit eigenen Vorgaben

Autorin sowie Mitarbeiter dieses Buches haben keinerlei Einfluß auf Mängel, Fehler, Lücken in der Interpretation von EPUB durch das jeweils verwendete Darstellungsprogramm. Bei Darstellungsproblemen sollten diese zunächst analysiert, lokalisiert werden. Dazu kann es unter anderem als erster Schritt helfen, mit verschiedenen Programmen auf Reproduzierbarkeit zu prüfen oder auch mit speziellen Prüfprogrammen zu verifizieren, daß insbesondere im Buch selbst wirklich kein Fehler vorliegt.
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Ein kleiner Drachen im Sturm

Lena war aufgeregt und zog ihren Flugdrachen gegen den Wind hoch, ließ ihn steigen, hinauf in die Luft und zog recht geschickt, ließ mehr Leine, um ihn allmählich höhersteigen zu lassen. Das machte Spaß und sie konzentrierte sich ganz auf ihr schönes, selbstgebautes Spielzeug, welches seine Bahn lustig am Himmel zog, dazu prächtig sowie figürlich, fabelhaft bunt bemalt war. Lena war glücklich, giggelte fröhlich bei dem heiteren Spiel im Park. Ihr Drachen zuckelte beinahe wie lebendig am Himmel. Dessen Bemalung war auf einer transparenten Folie aufgebracht, so daß man von weitem praktisch nur das Bild des wilden Fabeltiers darauf sah, welches sich schlängelte, wand und hoch am Himmel tummelte. Dieser Eindruck wurde auch noch dadurch verstärkt, daß sein Schwanz an einer Schnur aus weiteren kleinen Flugkörpern bestand, welche im Wind in kleinem Umfange ein zappelndes Eigenleben führten.

Auf einer Bank saß im Park eine dunkel gekleidete Frau ganz bewegungslos. Sie saß sehr gerade, mit akkurat gesetzten Beinen, ihre Füße präzise nebeneinander, ihre Unterschenkel ganz gerade nach unten, wie auch ihr Rücken ganz gerade ausgerichtet war und sie sich nicht anlehnte. Ihre Hände hatte sie auf ihren Oberschenkeln plaziert.
Beobachtete diese Frau Lena bei ihrem Spiel?
Oder sah diese Frau nur bewegungslos in die Leere?
Wenn sie etwas beobachtete, wäre es dann nicht das prächtig sowie mächtig am Himmel flatternde und zuckelnde Fabeltier?
Aber ihr Kopf bewegte sich mitnichten, still und starr saß sie, ließ dabei all dies an sich vorbeifließen wie ein mächtiger Granitblock in einem kleinen Bach, den scheinbar nichts anging, was sonst im reißenden Wasser so vor sich ging, welches seinerseits unbeeindruckt am Steinblock vorbeiströmte, dabei lediglich unbedeutenderes Zeug mitreißen konnte.
Natürlich zauselte trotzdem der Wind in ihrem langen, dunklen Haar und zeigte so bereits, daß sie doch irgendwie in diese Welt gehörte, aber jene Frau beeindruckte dies Gezausel nicht, sie trotzte einfach entspannt diesem alltäglichen Sein, hatte sich in sich zurückgezogen, ohne aber auch nur im Geringsten aus dem Blick zu verlieren, was um sie herum passierte, sie ließ es lediglich von sich abperlen wie die Tropfen eines milden Sommerregens auf dem Blatt einer Lotosblume.

Lena hatte jene fremde, düster wirkende Frau erst gar nicht bemerkt, weil sie so sehr mit der Steuerung ihres Prachtstückes am Himmel beschäftigt war, denn oben war der Wind stärker, deshalb zog ihr kurzweiliges Spielzeug bald heftig sowie kräftig an der Schnur, daß Lena die Haspel bald schon mit ihren beiden kleinen Händen halten mußte.
Aber dieses Spiel der Naturkräfte machte gerade noch mehr Spaß, wenn ihr wundervolles Spielzeug so lebendig an der Leine zerrte sowie riß und sie mehr und mehr mit seiner Wildheit forderte – so muß ein Drachen sein, so ist seine Natur. Daher spürte sie die Macht sowie die Kraft auch des Windes; sie erfreute sich jauchzend an dem wilden Spiel aller Kräfte. Dermaßen könnte es den ganzen Tag gehen, dachte sie, hoffte sie, ja so war es gut, sie war ganz wach und lebendig. Das war etwas anderes als daheim vor dem Fernseher oder dem Rechner zu sitzen und nur zu schauen oder herumzudaddeln. Hier passierte wirklich etwas, was man nicht einfach mit einem Knopfdruck abschalten konnte, was nie ganz unter Kontrolle war, sich gerade darum als besonders spannend sowie interessant anfühlte. Hier blies ihr der Wind um die Nase, zerrte heftig am Flugdrachen, dieser wiederum unnachgiebig an der Leine in ihrer Hand. Insgesamt war alles ein prickelndes, aufregendes Spiel, welches Lena gänzlich fesselte sowie in seinen Bann zog.

Zufällig nur bemerkte Lena dann doch in ihrem Spiel die dunkel gekleidete Frau. Ja, die Frau war keineswegs bloß dunkel gekleidet, sie war einfach dunkel sowie finster, als ob selbst das Licht sie zum größten Teil meiden würde. Diese eigenartige Aura machte schon Eindruck und wirkte etwas beunruhigend.
Beobachtete diese eigenartige Frau sie?
Lena war sich nicht sicher, der Blick folgte ihr keineswegs direkt, wenn sie einige Meter zur Seite ging, aber dieser Blick war doch irgendwie grob in ihre Richtung gerichtet, daß sie verunsichert war. Diese Verunsicherung, das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, lenkte sie etwas ab. Ablenkung konnte sie indes eigentlich gar nicht gebrauchen, denn der Wind wurde stärker und ihr prächtiger Begleiter am Himmel zog mächtig an ihr, zudem noch ungefähr in Richtung auf diese etwas unheimliche Frau zu. Deshalb blieb ihr allerdings auch nicht viel Zeit, sich Gedanken zu machen, der stärkere, böige Wind verstärkte auch das Eigenleben des ruckend fordernden Fabeltiers dort oben, daß sie reichlich zu tun hatte, um es richtig zu halten. Ihr Schmuckstück dort oben schien beinahe lebendig zu werden, zerrte kräftig an der Leine, welche ihn noch mit Lena verband und von seiner Freiheit trennte. Beharrlich ruckte und riß dieser immer wieder frech an seiner Fessel. Lena hatte schon etwas Erfahrung, aber dieses wilde Spiel war nun doch eine Herausforderung. Sie wollte ihren prächtigen Schatz heile wiederhaben, dieser ließ sich jedoch bei den Kräften gar nicht mehr so einfach einholen. Langsam begriff Lena, es konnte heikel werden, aber ihr Prachtstück würde sie niemals hergeben wollen, sie würde kämpfen, um ihn zu halten. Etwas mulmig war ihr schon geworden, aber so leicht gab sie nicht auf, ja, eigentlich nahm sie es wie ein herbes, wildes Abenteuer und stürzte sich mutig hinein. Sie zagte und zauderte keineswegs so leicht, jedenfalls nicht, wenn es um ihren so innig geliebten Himmelsbegleiter ging, wenn es um etwas ging, an dem sie so sehr hing, was jetzt sogar wortwörtlich zu nehmen war.

Lena hatte den wild zuckelnden Flugdrachen längst nicht mehr voll im Griff, dieser zog sie gar zu mächtig über die Wiese, stolpernd mußte sie nun folgen. Beinahe sah es aus, als würde er mit ihr an der Leine durch die Gegend ziehen und nicht umgekehrt. Eine kräftige Böe zog sehr heftig an ihm, ließ Lena einen großen Satz machen. Die Leine zerriß mitnichten, aber kurz hielt Lena ihre Haspel nur noch in der linken Hand und war gerade mitten ins Blickfeld jener fremden Frau geraten, daß sie ganz erschrocken war, weil diese etwas unheimlich wirkte und bis in ihr Innerstes zu schauen schien.
Schüchtern winkte sie kurz mit der nun freien Hand, welche allerdings gleich wieder eilig zur Haspel griff, der Wind sollte ihr ihren Schatz keinesfalls entreißen. Das war jetzt wichtiger als alles andere. Sie hatte sich so viel Mühe mit ihm gegeben, er war so gut geworden, sah prachtvoll aus und funktionierte phantastisch, sie mußte ihn um jeden Preis halten.

Ohne weitere Bewegung hob jene Frau lediglich kurz die eine Hand von ihrem Oberschenkel und winkte gerade so eben zurück. Lena hatte kaum Zeit, darauf zu achten, denn wieder zog der Wind mächtig am zappelnden Fluggerät mitten darin und sie mußte hinterher, stolperte, machte gar einen größeren Satz, als er sie glatt vom Boden weg in die Luft zu zerren drohte. So schlitterte sie über den Rasen, fand keinen Halt, schlitterte an der Frau vorbei, welche immer noch jenseits von Rasen und Weg auf ihrer Bank saß. Die Frau regte sich kein bißchen, selbst bei dem Drama, welches so gerade vor ihr vorbeizog. Die Frau war eine Insel der Ruhe sowie Stille in diesem aufkommenden Sturm.

Allmählich wurde es Lena doch unheimlich, wie kräftig der Wind geworden war, wie stürmisch dieser an ihrem Schatz zerrte, um ihn ihr skrupellos zu entreißen. Einerseits war sie stolz auf ihr mächtiges, so lebendiges Fluggerät, andererseits wurde ihr auch schon bang und bänger, daß die Angelegenheit ihr nun über den Kopf wuchs, sich ihr Prachtstück einfach losriß – oder ähnlich arg, sie gar mit sich fort in die düsteren Wolken riß. Lena hatte komplett die Kontrolle verloren, schlitterte über den rutschigen Rasen des Parks, weiter und weiter; der immer heftiger werdende Wind zerrte sie weg, ferner immer wieder beinahe hinauf, daß sie immer verzweifelter sowie ratloser wurde, nur noch große Sätze machte, schon leise sowie ratlos quiekte, doch ihren schönen Schatz wollte sie niemals lassen, konnte ihn allerdings auch nicht einziehen.
Tränen schossen ihr in die Augen – oder waren das doch bereits Regentropfen des aufkommenden Sturms?
Sie stolperte über ein Wühlmausloch oder dergleichen, konnte sich nicht mehr halten, die Haspel löste sich schon von ihren Händen.
Es schien alles verloren.
Ein grauenhafter Moment.
Es durchzuckte Lena beinahe wie ein körperlicher Schmerz.

Lena war entsetzt, ihr Herz setzte aus, der Moment schien zu gefrieren und gleichzeitig schien doch die Zeit zu rasen. Ihr Blick fokussierte sich auf ihre Hand und die engleitende Haspel. Doch im selben Moment war kurz ein sirrendes Geräusch der Schnur über Haut zu hören, dann hatte eine Hand die Haspel ergriffen, hielt diese, während eine andere Lena am Mantelkragen gepackt hatte, damit sie nicht fiel.
Lena schaute, es war jene fremde, unheimliche Frau, welche immer noch ernst sowie abwesend zu sein schien, während sie sich der Kraft des am Fluggerät reißenden Sturms entgegenstemmte, gleichzeitig Lena gerade hinstellte und sie zum Weg hin drängte, wohl gleichfalls, um selbst besseren Halt auf dem Weg zu bekommen.
Dem entschiedenen Vorgehen der Frau war nichts entgegenzusetzen, aber was hätte Lena tun können, sie war erstarrt im Schrecken sowie im Erstaunen über das, was vorging, erst der furchtbare Moment des Verlustes, im Anschluß das überraschende Eingreifen der fremden Frau, in deren Hand nun das Schicksal ihres wilden Schatzes lag. Lenas Herz versuchte, den vorherigen Aussetzer auszugleichen, indem es nun raste, Lena atmete mit offenem Mund, schaute mit aufgerissenen Augen verblüfft sowie eingeschüchtert, was jene Frau tat und noch tun würde. Alles hing in windiger Schwebe.

Lena war noch immer erschrocken und schaute nur noch, derzeit unfähig zu weiteren Reaktionen. Die Hand der Frau, welche so kühn gerade im letzten Moment in die Leine gegriffen hatte, war etwas blutig, hielt allerdings die Haspel sicher sowie fest. Die Frau war offenbar gar nicht so vertraut mit Spielzeugdrachen, daß sie in dieser Weise in die Leine gegriffen hatte, lernte jedoch offenkundig schnell, denn schnell spannte und entspannte sie die stark zerrende Leine, folgte dabei den Weg entlang, wie das Fluggerät ungefähr auch zog und zerrte, um die Leine weiter zu entspannen und begann langsam, die Leine auf der Haspel wieder aufzuwickeln, um den wild zerrenden Flugdrachen allmählich vom Himmel zu holen. Dieser wehrte sich ganz offenbar mit allen Kräften, fand dabei im stürmischen Wind einen eifrigen Verbündeten, welcher es der Frau ebenfalls schwer machte, das reißende und zuckelnde Fabeltier komplett unter ihre Kontrolle zu bekommen. Widerwillig und langsam nur mußte der Spielzeugdrachen doch immer wieder etwas nachgeben, sich unterordnen, wehrte sich jedoch dabei nichtsdestotrotz weiter mit allen Kräften, Böen trieben ihn ruckartig über den Himmel, ihm zu helfen, einen Weg zu finden, ihn aus der verletzten Hand der Frau zu zuckeln. Diese beeindruckte dies indes wenig. Sie hielt einfach stur entschlossen an ihrem Plan fest, holte langsam sowie geduldig den Flugdrachen Haspelumdrehung für Haspelumdrehung näher zu sich heran. Ja, vielleicht genoß sie gar dieses Spiel mit dem widerspenstigen Gegner und ließ doch keinen Zweifel daran, daß sie ihm keine Wahl lassen würde, entweder er mußte herunter oder die Schnur müßte reißen. Doch jedes Mal, wenn der Flugdrachen mächtig ruckte, die Schnur entweder zerreißen wollte oder die Haspel aus der Hand zerren wollte, gab die Frau wieder etwas nach, folgte entsprechend schneller, entspannte so die Schnur wieder etwas, deshalb blieb ihm kein Ausweg, als weiter herunterzukommen, wenn sie kurz darauf beim Nachlassen der Böe zügig wieder ein paar Haspelumdrehungen aufwickelte.

Der Himmel war recht dunkel geworden, ein Unwetter, ein Sturm drohte, längst hörte man in der Ferne Donnergrollen; in der Ferne blitzte es wohl auch schon dumpf in den Wolken. Regnen tat es hier noch nicht. Lena folgte der Frau den Weg entlang, welcher es gelang, immer mehr von der Leine wieder einzuholen. Besonders wild und lebendig wirkte das prächtige Fabeltier vor der mächtigen Wolkenkulisse, wie er heftig zuckte und zerrte, sich damit einreihte in das Zucken sowie das grollende Wetterleuchten in den Wolken, die offenkundig neugierig oder auch nur gierig auf ihren wilden Schatz zu heranrückten, als wollten sie ihn mit einem Haps verschlingen. Und da wirkte er schon so klein, stellte sich allerdings tapfer den Naturgewalten, trotzte frech dieser unheimlichen Kulisse.

Immerhin, der Park war lang, der Weg recht gerade und so ging es eine ganze Weile weiter, der Sturm zog zügig auf, Lena folgte weiter eilig, erschrocken sowie wortlos der Frau, welcher es weiterhin gelang, trotz aller Widrigkeiten das Fluggerät in recht gleichmäßigem Tempo herunterzuwickeln. Ob sie es geplant hatte oder ob es Zufall war, kurz bevor am Ende des Parks Bäume den weiteren Weg verhindert hätten, war der dramatische Kampf ebenfalls zu Ende und der Flugdrachen mußte sich geschlagen geben, sie zog ihn in einem Bogen und dieser fuhr zornig herab, schlug letztlich beinahe auf den Rasen. Verblüffend geschickt agierte nun die Frau mit der Schnur. Lena hatte längst den Atem angehalten, fürchtete sie doch, ihren so mühevoll selbstgebastelten Schatz nun unrettbar am Boden zerschellen zu sehen. Noch einmal schaffte ihr wendiges Prachtstück eine enge Kurve, zog einige Meter nach oben, weil eine weitere Windböe ihn erfaßt hatte, dann war es unten, ging im eleganten Bogen endgültig auf dem Rasen nieder, landete fast schon sanft, zitterte bloß noch im Wind. Lena seufzte erleichtert, ihn nicht zerstört zu sehen.
Das war gerade noch einmal gutgegangen!

Zum näherkommenden Donnern und den bedrohlich in den Wolken zuckenden Blitzen, welche sich noch nicht so recht hervortrauten, kamen nun die ersten Tropfen vom Himmel. Lena eilte mit der fremden Frau zum auf dem Rasen zuckenden Spielgerät, der bei dem Wind gern wieder aufsteigen wollte, doch die Frau wickelte geduldig die Leine immer kürzer, daß Lenas prächtiges Spielzeug keine Chance auf eine Flucht mehr hatte. Sie erreichten es letztendlich, woraufhin die Frau Lena half, die Konstruktion eilig zu zerlegen sowie in den flexiblen Schutzköcher zu stecken, welchen Lena noch immer auf ihrem Rücken getragen hatte und erst jetzt zu diesem Zwecke abgenommen hatte.
Lena atmete erst einmal erleichtert durch und auf, als ihr farbenfroher Schatz wieder heile und sicher verstaut war. Sie drückte sich den Köcher an den Leib, glücklich darüber, ihn wieder sicher bei sich zu haben. Dies Drama jedenfalls war erst einmal überstanden; Lena war der unheimlichen Frau dankbar für ihre Hilfe, traute sich allerdings gleichzeitig kaum, diese anzuschauen.

Bislang hatten sie kein Wort gewechselt.
Nun aber sprach die fremde Frau: „Es ist ein wenig stürmisch, um solch Fluggeräte steigenzulassen, besonders für kleine, zierliche Mädchen, welche ohne kräftige Hilfe unterwegs sind.
Hast du nicht zuvor in den Wetterbericht geguckt?“
Lena schüttelte schüchtern den Kopf, hatte sie unterlassen, sie war zwar recht aufgeweckt für ihr Alter, wie ihre Mutter immer meinte, aber das hatte sie nicht getan, hätte sie sollen?
Besser wäre es wohl gewesen, aber daran hatte sie gar nicht gedacht, sie hatte lediglich bemerkt, daß der Wind günstig war und war losgezogen, zumal ihre Mutter gerade zum Einkaufen gefahren war. An Sturm hatte sie mitnichten gedacht.
Die fremde Frau nickte erst nur, legte den Kopf leicht schräg zur Seite, fragte aber kurz darauf weiter: „Wie heißt du denn?
Mein Name ist Marie!“
Lena schaute sie scheu an, entgegnete mit eher leiser, schüchterner Stimme: „Lena ist mein Name …“
Marie nickte ihr respektvoll zu: „Sehr erfreut, dich kennenzulernen, Lena!“
Lena fiel irgendwie auf, Marie benahm sich ihr gegenüber gar nicht wie die anderen Erwachsenen, sie nahm sie irgendwie ernst oder für voll, obwohl sie sie als kleines, zierliches Mädchen bezeichnet hatte, was sie allerdings wohl nur auf ihre körperlichen Möglichkeiten bezog. Sie tat jedenfalls nicht so albern kindisch, um sich einzuschmeicheln oder sonstwie zu verhalten, um zu zeigen, daß Lena lediglich ein Kind war, was keine Ahnung hatte. Diese Einstellung ihr gegenüber gefiel Lena ganz gut an Marie, obwohl sie noch immer ein wenig unheimlich wirkte. Auch der Tonfall bei der Frage nach dem Wetterbericht hatte nicht einmal belehrend geklungen, auch falls die Frage so gemeint gewesen sein sollte.

Sie waren mit dem Einpacken fertig, Marie half Lena, das im Köcher verpackte Fluggerät auf den Rücken zu schnallen, beide gingen zurück den Weg entlang durch den Park, eilig, denn den einzelnen Regentropfen hatten sich inzwischen einige angeschlossen, das Gewitter zog nunmehr schnell heran.
Lenas Herz klopfte schneller, während sie schon eine heftige Windböe den Weg beinahe wieder zurücktrieb, heftig an ihr zerrte, daß sie stolperte und beinahe erneut gefallen wäre. Wieder hielt sie die Frau, diesmal am Arm. Auf die Wunde ihrer anderen Hand hatte diese ein Taschentuch gedrückt. Sie eilten weiter, keine Zeit für weitere Stolperer.

Marie stellte fest: „Das Gewitter ist bald hier, der Wind pustet dich beinahe um, ich begleite dich heim, wir müssen uns beeilen!“
Lena nickte, dieser Vorschlag war ihr recht, bei dem drohenden Gewitter war ihr schon ziemlich unheimlich, sie wollte nun wirklich heim und war nun ganz froh, daß Marie, die Retterin ihres mächtigen Schatzes, sie begleiten wollte.
Auch weil das Wetter sie nun doch ziemlich erschreckte, der Wind ihr beinahe den Atem nahm, war ihr die Begleitung sehr recht. Sie drehte den Kopf, hob schützend ihre Hand vor das Gesicht – das war alles plötzlich sehr heftig geworden, aber trotzdem bedachte sie doch jene Aktion mit der Rettung ihres Flugdrachens, welche sich nun schon beinahe zu einer Aktion entwickelte, wo sie vor dem Sturm gerettet wurde.
Lena hatte nun deutlich mehr Mut gefaßt fragte, brüllte beinahe gegen den Wind, welcher ihr den Atem nahm, die Worte von den Lippen riß: „Ist es schlimm mit der Hand?
Es tut mir leid …“
Marie antwortete, dem Wind recht gelassen trotzend: „Muß es nicht, ist nicht so schlimm, ist in ein oder zwei Wochen wieder so gut wie neu!“

Lena schaute erschrocken nach den arg flackernden Wolken, welche dumpf grummelten und drohten, Blitze schienen sich in diesen dunklen Wolken zu entladen, jedenfalls sah man von hier aus nur ihr Flackern und hörte das Grollen. Beinahe schien es, als sei der Sturm nun richtig sauer geworden, weil der Flugdrachen doch noch seinen Klauen entrissen worden war.
Sie stieß hervor: „Das sieht so unheimlich aus, ich habe Angst vor Gewitter!“
Marie meinte lediglich: „Ein unheimlicher, märchenhafter Gedanke für dich: Wenn es so in den düsteren Wolken flackert sowie grummelt, sind Drachen aufeinander wütend und kämpfen miteinander.
Sie sind wild, unbändig sowie hinterlistig, es war schon ganz wichtig, daß wir deinen nicht haben entkommen lassen, sonst hätten sie ihn nur in ihren Streit sowie ihre Finsternis mit hineingezogen!
Sie hätten den kleinen gnadenlos zernichtet, ferner dich am Ende der Leine gleich mit!
Derlei Unheil, Schabernack, Leid anderer macht ihnen Spaß; andere in ihre Finsternis zu ziehen und darin zu zermalmen, zu zerschmettern, zu zernichten, sie im Blitz zu rösten sowie sie mit einem Donnerschlag zerplatzen zu lassen, ist ihr schönstes Pläsier!“

Lena erschauerte bei dem Gedanken. Sie malte sich aus, wie da in der finsteren Wolke zwei oder mehr gewaltige Drachen herumrumpelten, sich gegenseitig belauerten, überdies nur darauf warteten, daß sie einander eins auswischen konnten, alles versuchten, hier und da Blitze auslösten, um den anderen zu treffen sowie vom Himmel zu holen. Grauenhaft gewaltige sowie mächtige Wesen mußten es sein, welche da in den Wolken stritten. Ja, dabei hätte ihr kleiner Spielzeugdrachen natürlich gar keine Chance gehabt. Diese furchtbaren und rücksichtslosen Monster im Sturm hätten ihn zerfetzt, wie eine Schneeflocke vom Himmel geschmolzen, sie an der Leine zu sich heraufgezerrt, um sie am Stück zu verschlingen. Deshalb war sie ganz froh, daß Marie ihr beistand, diese zeigte gar keine Furcht oder Beunruhigung, drängte allerdings dennoch energisch zur Eile. Marie schien vertraut zu sein mit dem Verhalten der scheußlichen Schreckenswesen in den Gewitterwolken.

Beide eilten weiter, wer jetzt noch unterwegs war, lief eiligst seinen Weg, niemand wollte schließlich noch unter freiem Himmel sein, wenn die Blitze zucken würden. Lena zeigte, welchen Parkausgang sie wählen mußten, danach über die Straßen, weiter durch die Wohngegend. Inzwischen prasselte der Regen schon merklich auf Kopf sowie Kleidung, das Gewitter drohte heftig, der Abstand zwischen Donner und Blitz wurde schon kurz. Beinahe schien es, also wollten die Drachen dort oben in den Wolken sie doch nicht so einfach entkommen lassen, diese schienen sie zu verfolgen sowie mit kaltem Regen zu plagen. Offenkundig jedoch vermochten sie nicht so schnell die Wolken bewegen zu können oder gut mit den Blitzen zielen zu können, denn noch schlugen sie keineswegs direkt bei ihnen ein, etwas Zeit hatten sie wohl noch, sich und ihren prächtigen kleinen Schatz in Sicherheit zu bringen.

Ohne weitere Unterhaltung und schon durchnäßt erreichten sie schließlich eines der Wohnhäuser, zu dessen Haustür Lena eilig abbog. Sie suchte in ihren Taschen herum, während sie sich mit Marie unter die knappe Überdachung vor der Tür drängte.
Erschrocken stellte Lena letztlich fest: „Ich habe meine Schlüssel vergessen!“
Sie zitterte, nicht nur wegen des kalten Regens, Marie schaute sie indes ob dieser Nachricht ernst an.
Lena hatte nun Angst und wollte nicht länger draußen sein, aber wie dumm war sie gewesen, im Spieleifer einfach ihren Schlüssel zu vergessen?
Lena wußte nicht weiter; das Gewitter ließ es inzwischen heftig krachen; das Wasser goß nur so herunter, Lena zuckte bei jedem Donner, jedem Blitz ängstlich zusammen. Die Lage wurde schnell recht brenzlig, wenn sie auch noch die Blitze selbst nicht riechen konnte. Vielleicht lernten jene Drachen dort oben dazu, übten noch, spielten mit ihnen oder waren nähergekommen, jedenfalls kamen die Treffer schon deutlich näher.
Marie war ganz ruhig und gelassen, ließ alles an sich abperlen, wie den Regen an Haaren sowie Jacke.
Sie schlug vor, was naheliegend war: „Klingeln?“
Lena versuchte es, doch offenbar war ihre Mutter vom Einkaufen noch nicht wieder daheim, sie gab diese Vermutung schüchtern kund. Diese nun ersehnte Anwesenheit der Mutter war auch nicht zu erwarten; wenn ihre Mutter erst einmal von einem Einkaufszentrum verschlungen war, ließ sie sich nicht so schnell wieder ausspucken.

Marie, welche ohnehin vor der Eingangstür stand, drückte versuchsweise dagegen – und wirklich! Sie hatten Glück!
Es klickte und die Tür ging auf, diese war unverschlossen, jemand hatte offenkundig den kleinen Mechanismus im Schloß umgestellt, daß man die Tür derzeit einfach aufdrücken konnte. Eilig traten sie ein in den Schutz des Hauses. Lena zitterte, von beiden tropfte reichlich Wasser herab.
Marie fragte nach: „Und nun?
Warten?“
Lena war unsicher, hatte wegen des Gewitters große Angst, zuckte noch immer bei jedem Blitz und Donner, obwohl beide hier im Treppenhaus geschützt waren.
Sie fragte bittend: „Kannst du noch etwas bleiben?
Bis Mutter wieder da ist oder dieses furchtbare Gewitter vorbei?“
Marie nickte zustimmend, bei dem Wetter hatte sie ohnehin keinen Bedarf nach einem sofortigen Spaziergang, Lena wiederum konnte ihren Beistand gerade wohl brauchen. Angst konnte Marie schlecht nachvollziehen. Sie hatte früh schmerzlich gelernt, daß Angst keinen Sinn ergibt, wenn man nichts gegen das tun kann, wovor man Angst haben könnte. Obgleich es ja nicht so angenehm war, bei Regen herumzulaufen oder gar ein Gewitter zu durchqueren, blieb sie sichtlich gelassen, was auf Lena Eindruck machte. An Marie schien jedwede Bedrohung abzuperlen. Auch ihr Haar, ihre Kleidung waren zwar naß, aber bei Marie hatte dies keinerlei Bedeutung, da konnte nichts weiter beeindrucken.

Auf dem Dachboden

Lena war etwas zur Besinnung gekommen, Marie würde noch ein wenig bleiben. Inzwischen fühlte sie sich bei Marie recht sicher. Diese zuckte nicht einmal, wenn es donnerte, es war gerade so, als ob es Marie gar nichts anginge, daß draußen gerade die Welt unterzugehen schien, jedenfalls das Stadtviertel in einem Sturzbach aus den Wolken fortgespült sowie vom Sturm weggeweht zu werden drohte. Ihre ruhige Art schaffte irgendwie eine Atmosphäre von Sicherheit und Geborgenheit, obwohl sich Lena noch nicht traute, sich an diese dunkle Gestalt anzuschmiegen, in ihrer Nähe gänzlich Schutz zu suchen.
Nichtsdestotrotz hatte Lena kurz darauf eine Idee: „Meist ist der Dachboden nicht abgeschlossen, ich bin ab und zu mal oben, wir könnten uns da setzen.“
Marie nickte und so gingen sie die Treppen des mehrgeschössigen Hauses mit Mietwohnungen hoch.
Auf jeder Etage gab es drei Wohnungstüren und zur von den Türen abgewandten Seite hin hatte das Treppenhaus Fenster. So konnten sie auf dem ganzen Weg genau sehen, wie sehr es sich draußen verfinstert und verflüssigt hatte. Verglichen mit dem Anblick, als Lena losgezogen war, war dies eine komplett andere Welt, welche sich da gerade draußen vor den Fenstern austobte. Das war ein Inferno, welchem Lena bislang noch nie so nahe gekommen war. Es war gerade noch so hell genug, daß sie die Stufen der Treppen erkennen konnten, deshalb machten sie nicht einmal Licht, stiegen einfach so hinauf. Dabei hatte es Marie nicht einmal eilig, so lief Lena immer bis zum nächsten Absatz voran, drehte sich, wartete kurz, bis Marie den Absatz erreicht hatte und eilte im Anschluß weiter, um sich vom nächsten Absatz aus sogleich wieder umzudrehen. Dabei zuckte sie bei jedem Donner und auch bei jedem Blitz ängstlich zusammen. Einmal war es so arg, daß sie zurücklief und sich trotz ihrer Bedenken eng bei Marie barg, in ihrer Zone der Ruhe Schutz suchte und fand. Sie wagte es und faßte Maries Hand, diese zog sie dicht zu sich und hielt sie fest. Dadurch ging es wieder besser und sie gingen weiter.

So erreichten sie irgendwann oben die Tür zum Dachboden. Lena hatte Recht, die Tür war wirklich auf, beide traten ein. Natürlich, hier unter dem Dach prasselte der Regen laut, ja beinahe dröhnend, es zog wohl ebenfalls etwas, jedoch weniger als im Treppenhaus, nachdem sie die Tür geschlossen hatten. Allerdings leuchteten die Blitze direkt, kurz und hell durch die kleinen Dachfenster, es krachte und knallte jedes Mal recht gewaltig, wenn ein Blitz offenbar in der Nähe einschlug. Aber auch diese Bedrohung beeindruckte Marie nicht im geringsten, sie sah sich ruhig um, als sei draußen ein frischer, heller Sommertag.

Hinten hing etwas Wäsche und die einzelnen Plätze der Mieter waren ansonsten einfach mit Drahtzaun voneinander abgetrennt. Diese kleinen, nach oben gar offenen Käfige beherbergten allerhand Gerümpel der Mieter, meist altes Zeug, Kartons, Trödel, es gab sogar einen alten Schrank mit offenbar auch schon alten Büchern darin, hinter dem Drahtzaun allerdings leider unerreichbar für abenteuerlustige oder auch lesefreudige, neugierige Kinder.
Lena nahm Marie vertrauensvoll an der Hand, führte sie durch den Dachboden; ganz hinten fand sich ein recht einladend wirkender alter, knorriger, geflochtener Sessel mit einer Decke drauf, auf den Lena zusteuern wollte. Es mußte einiges an Arbeit gekostet haben, dieses Biest ganz nach oben zu tragen – aber vermutlich war das für irgendeinen Mieter immer noch günstiger gewesen, als jenen Korbsessel als Müll zu entsorgen, nachdem es offenkundig in der Wohnung nicht mehr gebraucht wurde. Offensichtlich hatte man keinen Bedarf gesehen, den Stuhl als Eigentum in einen der Käfige zu schließen, so schien er sozialisiert sowie ohne Eigentümer zu sein, eine Allmende auf dem Boden des Hauses wie auch die Zone zum Wäschentrocknen. Die Rückenlehne war weit hochgezogen, ebenso wirkten seine Armlehnen eher wie ein Schutzwall vor der Welt als wirklich gemütlich zum Auflegen für die Arme, so jedenfalls lud das alte Stück dazu ein, sich hineinfallen zu lassen und von der Welt ein gutes Stück Abstand zu nehmen. Eine solche implizite Einladung gefiel Marie recht gut, sie fand den Sessel gleich auf den ersten Blick ganz sympathisch, auch wie er leise im leichten Durchzug knisterte sowie knasterte, damit eine Lebendigkeit vortäuschte, welche jedenfalls in seinen organischen Bestandteilen schon seit Jahrzehnten nicht mehr stecken konnte. Somit schätzte Marie den Stuhl deutlich älter ein als sich selbst – darin könnte schon Lenas Großmutter Zuflucht gesucht haben, aber diese hatte sicherlich hier noch nicht gewohnt.

Marie hatte allerdings erst einmal ganz praktisch nebenbei sowie im Vorbeigehen die Wäsche gefühlt, hielt an, nahm ein schon ziemlich trockenes Tuch ab, wuschelte damit sorglich Lenas Haare trocken, anschließend ihre eigenen, daß beide eine recht wilde Frisur hatten.
Lena mußte lachen, selbst Marie schmunzelte ein wenig und fragte: „Wie sieht es sonst aus?
Was ist bei dir sonst noch naß geworden?“
Lenas Mantel war noch recht gut und auch lang, so daß es darunter trocken war. Unten hatte ihre Hose allerdings etwas abbekommen und auch Socken und Schuhe waren feucht. Sie teilte den Befund mit.
Marie fragte: „Ist das zufällig eure Wäsche?“
Lena schaute erst und nickte daraufhin, das war wohl ein Glücksfall.

Marie suchte halbwegs trockene Socken heraus, ebenso eine Hose, welche von der Größe her wohl auch Lenas war. Lena wiederum hatte den Köcher mit dem Flugdrachen an die Wand gestellt, in die Nähe des Sessels. Marie half ihr daraufhin, ihre feuchten Sachen auszuziehen, rubbelte sie trocken, daß sie sich wieder anziehen konnte, was sie auch schleunigst tat, denn der Durchzug ließ es doch recht kühl werden, selbst ohne nasse Kleidung. Marie hängte die feuchten Sachen auf, selbst zog sie lediglich ihre Jacke aus, hängte auch diese auf. Sie wies zu dem Sessel, wollte Lena in die Decke einpacken. Diese allerdings bestand darauf, daß Marie sich setzen sollte.

Marie nahm also die Decke, setzte sich in das knarrende sowie knatschende Geflecht, das Ungetüm von Sessel schien ein Eigenleben zu entwickeln, verzog sich etwas und protestierte ein wenig gegen die unverhoffte Last, aber darauf gab Marie nichts, wackelte nur versuchsweise etwas hin und her, um die Stabilität zu prüfen, war offenkundig mit dem Ergebnis ganz zufrieden, hielt Lena daraufhin die Decke hin. Diese wickelte sich gleich ohne Umstände ein, setzte sich vertrauensvoll auf Maries Schoß. Wieder protestierte der Sessel gegen das zusätzliche Gewicht, arrangierte sich allerdings dann doch schnell, knisterte nur noch leise, wie jemand, welcher zwar noch unzufrieden war, jedoch nicht mehr lauthals zu protestieren wagte, sich mit neuer Belastung abfinden mußte.

Zögernd zog Marie Lena an sich, legte ihre Arme um das Bündel von Kind und Decke, zog beides an sich.
Das war ihr eigentlich nicht recht, aber was sollte sie tun?
Das Kind zuckte noch immer bei jedem Blitz und fühlte sich offenbar bei ihr sicher und wohl. In die warme Decke gekuschelt, auf ihrem Schoß fühlte sie sich offenkundig erst einmal gut aufgehoben. Marie mußte diesen Umstand sowie ihre Nähe, Vertrautheit dulden.
Eigentlich konnte sie nicht so richtig mit Kindern, aber als sie sich entschlossen hatte einzugreifen und Lena die Leine ihres wildgewordenen Flugspielzeuges zu halten sowie zu retten, hatte sie offenbar Verantwortung übernommen, unsicher und auch etwas hilflos stellte sie sich nun dieser ungeplanten Herausforderung.
Und im Grunde – so geschieht es ja oft, daß man unfreiwillig in eine Aufgabe gerät, welche man freiwillig gar nicht gesucht hätte, aber so ist das Leben wohl, rücksichtslos sich aufdrängend, einem keine rechte Wahl lassend. Plötzlich, noch bevor man sich bewußt dafür hätte entscheiden können, ist man schon mittendrin und kann sich bewähren oder sich doch wenigstens mühen, das Schlimmste zu vermeiden.
Ständig hält das Leben Überraschungen bereit, welche man nicht alle ignorieren kann. So manche Aufgabe muß man einfach annehmen und kann oder sollte sie mitnichten abweisen. Wie knifflig es auch sei, im Grunde besteht das Leben darin, solche Rätsel und Aufgaben zu lösen, auch ohne einen großen Sinn darin zu erkennen. Ferner ist es spannend, sich an den Aufgaben zu messen, diese mit den eigenen Möglichkeiten irgendwie zu bestehen.

Es war nun nicht mehr zu ändern, Marie war bereits wieder einmal mittendrin, sie konnte Lena ja jetzt nicht einfach alleine lassen, derlei Verhalten wäre unhöflich sowie unangemessen gewesen. Obgleich sie dieses Gefühl keineswegs wirklich empfand, setzte sie diese Schlußfolgerung doch recht zielsicher in ihrem Kopf zusammen, ließ sich eigentlich widerwillig darauf ein. Eigentlich wollte sie ja ursprünglich lediglich frische Luft im Park genießen und einfach rechtzeitig aufbrechen, bevor der vorhersehbare Sturm samt Gewitter einsetzen würden, aber sie hatte gezögert, als sie die fröhlich spielende Lena im Park sah; sie schaute dabei schon ein wenig voraus, hatte bereits ungefähre Bilder im Kopf, wie es Lena kurz darauf mit ihrem Flugdrachen gehen würde. Ein guter Spielzeugdrachen, schade eigentlich, dachte sie da noch, aber blieb gleichgültig, beobachtete allerdings doch mit mäßigem Interesse weiter, wie Lena spielte. Warum sie endlich doch eingegriffen hatte und Lena nicht einfach ihrem Schicksal überlassen hatte, hätte sie auch nicht zu sagen vermocht. Vielleicht war die Bastelarbeit mit dem farbenfrohen Konterfei des Fabeltiers zu gut gelungen oder das Kind wirkte zu gutmütig und fröhlich oder einfach von allem etwas oder eine Sehnsucht, welche im Raum stand, weil sie als Kind nie einen Flugdrachen hatte steigenlassen dürfen. Sie hatte gar kein Spielzeug haben oder nutzen dürfen.
Aber warum eingreifen, warum helfen?
Was ging sie das Schicksal dieses Kindes oder Flugdrachens an?
Sollte sich das Kind doch mit dem Flugdrachen in den Sturm reißen lassen und letztendlich irgendwann fallen und am Boden zerschmettern – nicht ihr Problem, solange es nicht gerade auf sie niederprasselte sowie zerschellte. Sollte das Fluggerät doch vom Blitz getroffen werden und das Kind geröstet werden.
Das ging sie doch nichts an!
Sie wußte es noch immer nicht zu sagen, warum sie eingegriffen hatte. Dennoch hatte sie sich gekümmert und doch war sie nun hier mit diesem Bündel Kind, bei dem sie nicht recht wußte, was damit angestellt zu werden pflegte, wenn es sich bei Sturm und Gewitter auf dem Schoß zusammenrollte wie eine kleine Katze.
Das hatte sie sich wohl nun selbst eingebrockt. Das Kind war nicht vom Blitz geröstet, sondern klebte ihr ganz lebendig an der Backe oder kauerte sich jedenfalls auf ihrem Schoß zusammen, als sei es darin sowie im großen Korbsessel vor sämtlichem Unheil der Welt geschützt, welches einfach draußen bleiben sollte. Marie war sich da nie ganz so sicher, daß derlei so einfach zu bewerkstelligen war.
Was hatte sie in ihrer Kindheit schon für Elend sowie Leid in der scheinbaren Geborgenheit eines nicht zugigen und beheizten Hauses erlebt?
Vielleicht aber würde sie gerade deshalb nun Lena gewiß nicht im Stich lassen, weil diese anscheinend ihre Nähe dringend brauchte, um die nächste Zeit zu überstehen.
Marie blieb demonstrativ ruhig, hatte jedoch nicht wirklich Ahnung, wie mit Lena umzugehen wäre, wenn die Lage kritischer werden sollte, Lena ernsthaft nervös oder ängstlich.

Lena war allerdings recht friedlich und ruhig, deshalb blieb ihre Lage derweil gut überschaubar. Das Gewitter tobte sich aus und wenn Lenas Mutter klug war, so dehnte sie ihren Einkaufsbummel etwas aus, bis das Unwetter vorbei war.
Marie wollte von Lena wissen: „Weiß deine Mutter, daß du mit dem Flugdrachen im Park warst?“
Lena druckste erst herum, gab nach einer weiteren Nachfrage dann aber zu, daß sie nur darauf gewartet hatte, bis ihre Mutter aus der Tür war, um sich anschließend den selbstgebastelten Flugdrachen zu schnappen sowie loszuziehen, während sie eigentlich Zuhause bleiben sollte und Hausaufgaben machen, diese hatte sie allerdings bereits fertig, so fügte sie besänftigend hinzu.
Marie schloß daraus, daß Lenas Mutter folglich wohl keinen besonderen Grund zur Sorge oder Eile hatte, es konnte also dauern. Wie sich dieses Unwetter zudem entwickelte, war es nicht so wahrscheinlich, daß dabei jemand zum Spaß draußen unterwegs war. Marie fragte nach und bekam zur Antwort, daß Lenas Mutter mit dem Rad in die Innenstadt gefahren war, also doch einige Kilometer mit dem Rad, nicht schön oder ratsam bei Gewitter, gerade jetzt zurückzukehren, derartige Aktivitäten wären ziemlich unvernünftig.
Verhielten sich Menschen mit Kindern immer vernünftig?
Oder mehr oder weniger vernünftig als jene ohne?
Marie hatte ihre Zweifel.
Und eine statistische Auskunft darüber hätte ja in ihrem konkreten Einzelfall hier auch mitnichten weitergeholfen.

Schon um etwas Konversation zu betreiben sowie um Lena etwas vom Gewitter abzulenken, fragte Marie ihre neue Bekanntschaft nach den sonstigen Lebensumständen und bekam so heraus, daß Lena mit ihrer Mutter allein lebte, einen Mann hatte diese nicht mehr, ein Freund war ihr ebenfalls abhanden gekommen, welcher Lena allerindgs offenkundig schon insofern Unbehagen bereitet hatte, als sie selbst jetzt nicht gern über ihn sprach. Marie hatte eine Gespür für so etwas, hakte deshalb bloß sehr vorsichtig nach. Denn sie hatte andererseits eindeutig eine Neigung dazu, in wunden Punkten herumzupuhlen, um hervorzubringen, was Unbehagen bereitete. Diese Vorliebe hatte sie spätestens als Jugendliche von gelerntem Fachpersonal abgeschaut, welche ein beachtliches Geschick sowie erheblich Ausdauer an den Tag legen, um genüßlich in den wunden Punkten anderer Menschen herumzustochern. Marie konnte solches Interesse recht gut nachvollziehen, hatte jedoch selbst schnell Mechanismen sowie Methoden parat, um dies jedenfalls auf sie selbst angewendet zu frustrieren, indem sie jene Quälgeister scheinbar befriedigte, indem sie auf diese Behrlichkeiten in gewünschter Weise einging, wobei das Kunststück immer ist, solcherlei Wünsche derart zu lesen, daß eine Erfüllung einem selbst nicht größeren Schaden zufügt als eine Versagung der Erfüllung. Allerdings lernte sie so nützliche Dinge, für ihr eigenes Interesse an wunden Punkten anderer Personen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist dabei, daß wenn man selbst kompetent wirkt und an den wunden Punkten anderer Menschen herumstochert, so ist man wenigstens in einer Position, wo nicht in eigenen Wunden gerührt wird.

Tatsächlich hatte sich Lena mit diesem Herrn eher schlecht verstanden. Weil Lena nicht seine Tochter war, hatte dieser sie offenbar abgelehnt, ihre Mutter hatte diese Konstellation nicht so ernst genommen, Lena hatte zu dulden, aber er war wohl nicht übergriffig geworden, sondern allenfalls streng oder gleichgültig, hatte keinen Draht zu Lena gefunden, lehnte diese wohl ab, jedenfalls hatte Lena ihn als eher bedrohlich empfunden, als würde er sich zwischen sie und ihre Mutter drängen. Marie zog ihre Schlüsse, nicht schön, jedoch auch nicht besonders schlimm; offenkundig hatte ihre Mutter den Konflikt nicht erkannt oder verdrängt im Glück über den neuen Partner, so kann sich ebenfalls allerhand in einem Kind aufstauen. Nun waren sie offenbar wieder zu zweit und es lief besser. Marie hätte ihre eigene Mutter gerne gekannt, vielleicht, vermutlich, bestimmt wäre es mit ihr gleichfalls besser gelaufen. Lenas wunder Punkt schien jedenfalls nicht so ergiebig, daß sie Lust hatte, darin weiter intensiv herumzustochern.
Zumal, bei dem Regen, was würde es ihr da bringen, dieses Kind auf die Palme zu bringen?
Im schlimmsten Falle gäbe es Radau, worauf sie besser dieses Haus schleunigst verlassen sollte – bei dem Regen keine gute Idee, also besser friedlich sowie freundlich bleiben, Provokationen vermeiden.
Auch die zahlreichen Sitzungen sowie unangenehmen Befragungen in ihrer Jugend zu ihrer Kindheit dämmerten kurz in ihrer Erinnerung hoch und sie war sich augenblicklich sehr sicher, daß sie Lena diese bedrückenden Empfindungen ersparen wollte. Mit Kindern spielt man so etwas nicht, worauf man bei ihr selbst keine Rücksicht genommen hatte. Daher sollte sie es wohl jetzt besser machen und nicht nachäffen, damit solch ein kleines, harmloses, argloses Wesen einer peinlichen Befragung unterziehen, um alles hervorzupuhlen, was darin gären mochte. Mit Unterstützung des Gewitters wäre derlei zweifellos sehr eindringlich für Lena gewesen. Das war schon ein Aspekt, aber Marie fühlte sich nun gleichfalls verantwortlich, hatte plötzlich das Bedürfnis, es besser zu machen, als man es ihr angetan hatte. Keine Quälerei heute also, jenes Gewitter war mehr als genug Pein für das kleine Mädchen auf ihrem Schoß.

Draußen beherrschte noch immer der Sturm die Stadt und er riß und klapperte bedenklich am Dach, trommelte beharrlich sowie bedrohlich, dramatisch mit dem Regen auf den Dachziegeln, dazu krachten und donnerten noch immer die Blitze ihren irren Tanz in den Wolken und bis herab, alles so nah, daß man meinte, der nächste müsse unbedingt in dieses Haus einschlagen, unter dessen Dach beide gerade saßen, also da, wo sich solch ein Blitz ganz nah in einen Blitzableiter entladen würde.
Marie schätzte jedenfalls ruhig ab, daß das Haus wohl einen Blitzableiter haben würde, wollte Lena schon fragen, als ihr in den Sinn kam, daß diese Frage vielleicht nicht sonderlich klug wäre, wo ihre neue Bekanntschaft ja ohnehin schon bei jedem Blitz mitzuckte, als würde er direkt bei ihr einschlagen.
Dabei schmiegte sich Lena eng an sie sowie in die Decke, seufzte leise bei jedem Donnern und Zucken, erschauerte, wenn der Sturm heftig am Dach knarrte. Gerade war es so heftig, daß sogar der Drachenköcher von der Wand rutschte und klappernd zu Boden fiel. Lena war nun wirklich erschrocken, brauchte dringend Ablenkung; Marie fiel jedoch nicht so viel ein, sie war ebenso etwas überfordert mit dem Kinde, aber sie mußte das wohl nun dulden wie Lena den Sturm und das Unwetter.

Lena hauchte dann auch schüchtern: „Ich habe Angst!“
Marie ahnte, dem war mit profaner Logik sowie schlichter naturwissenschaftlicher Erklärung mitnichten beizukommen, derlei hätte sie indes schon in voller Breite bieten können – ob pädagogisch sowie kindgerecht akkurat aufbereitet, wäre dabei noch eine andere Frage gewesen.
Sie hatte aber auch nicht so richtig den Zugang zur Denkweise normaler Kinder, hatte sie etwa selbst je wirklich Kind sein dürfen, hatte sie selbst wirklich normal sein dürfen?
Sie erwiderte so nur in Gedanken, was Lena nicht wirklich etwas nutzen konnte: „Brauchst du nicht, ist ja doch nicht zu ändern.
Wir haben ja keinen Einfluß darauf, wo ein solcher Blitz einschlägt!“
Wirklich, offenkundig machte das Lena noch deutlich mehr Angst, weil sie vermutlich die statistische Implikation der Aussage falsch einordnete. Lena kuschelte sich jedenfalls sogleich lediglich heftig an Marie, welche deshalb ihre Arme etwas fester um sie legte, auch um anzudeuten, daß Lena sicher geborgen sei – hinsichtlich des Gewitters hatte Marie da auch gar keine Bedenken, ob sie selbst allerdings nun gerade der richtige Umgang für Lena sei, daran hegte sie Zweifel, aber sie war bereit, sich dieser Aufgabe zu stellen und sie zu bestehen.
Wie zur Beruhigung stellte sie trotz vorheriger Bedenken doch mehr eine rhetorisch gemeinte Frage: „Das Haus hat doch sicher einen Blitzableiter?
Wenn dem so ist, brauchst du dir keine Sorgen zu machen, rummst allenfalls mal ordentlich.“
Die Kombination war jedenfalls geeignet, um Lena unruhig werden zu lassen, offenbar war sie keinesfalls so sicher, ob das Haus einen Blitzableiter hatte: „Blitzableiter?
Ich weiß nicht!
Und wie rummst es, wenn das Haus keinen hat?“
Marie zuckte mit den Schultern: „Jedenfalls deutlich stärker, mag allerdings sein, daß wir davon hier unter dem Dach dann nicht mehr viel mitbekämen. Rumms! Peng! und aus – du verstehst, der Donner könnte das letzte Sekündlein einläuten, der Blitz deine letzte Erleuchtung sein.
Danach wird es vielleicht brandig, bis die Feuerwehr dies Drama wieder im Griff hätte – ob man von uns noch mehr finden würde als verbrannte Knochen? Wer weiß …“
Marie hatte sich zu Spekulationen hinreißen lassen, schwelgte schon in Bildern der Vernichtung, da besann sie sich, mit wem sie es zu tun hatte und schwieg …
Offenkundig war das auch nicht gerade die von Lena erhoffte Antwort, welche sich noch tiefer in die Decke zu vergraben versuchte, jedoch schon längst unten auf Maries Schoß angekommen war. Tiefer ging nicht mehr, ohne direkt in sie hineinzukriechen.

Um sie abzulenken, fragte Marie zunächst nach Lenas Prachtstück: „Wo kommt dein Flugdrachen her?
Selbstgemacht?“
Lena bestätigte merklich stolz, allerdings etwas dumpf unter der Decke her: „Ja, in der Schule, wir haben einige Varianten probiert, damit sie besser fliegen, das leichte Material war wichtig, aber natürlich auch die Bemalung und daß der Schwanz lustig sowie leicht im Wind wackelt und doch ihn nicht nach unten zieht.“
Lena war durch dies Thema etwas von dem Unwetter abgelenkt, deshalb stieg Marie etwas weiter in das Thema ein: „Klar, wer will schon von seinem Schwanz nach unten gezogen werden – ein stolzer Drachen ganz sicher nicht, deswegen ist es einleuchtend, daß Sorgfalt geboten ist.
Dein Flugdrachen sieht sehr gut aus, fliegt auch sehr gut, liegt stabil in der Luft, den hast du sehr gut hinbekommen.
Ganz offenbar ist es ein recht freundlicher Geselle?“
Lena freute sich über das Lob und nickte: „Ja, es ist ein sehr netter, freundlicher Drachen, obwohl er dann doch etwas wild geworden ist bei dem heftigen Wind. Er hat sich wohl nur etwas verführen lassen durch das Unwetter.
Er hat ja auch fröhliche Farben, einen schönen, bunten Schwanz sowie ein breites Lächeln, deshalb muß es wohl ein freundlicher Kamerad sein!“
Marie stellte fest: „Da kann ich wohl verstehen, daß du stolz drauf bist. ihn nicht loslassen willst, so sehr der Sturm auch an ihm zerrt!“
Lena bestätigte: „Es wäre eine Katastrophe, wenn er sich losgerissen hätte oder gar etwa in den Bäumen zerschmettert worden wäre, oder auch am Ende am Boden.
Da hast du gerade noch einmal die Kurve gekriegt!
Ich bin dir sehr dankbar, daß du mir geholfen hast, ihn wieder heil herunterzubekommen.“
Marie lächelte nun sogar etwas: „Ehrensache!
Ein solch wildes und mächtiges Wesen zu bändigen sowie überdies an der Leine zu halten, das ist nicht immer leicht und einfach. Derlei Unterfangen kann knifflig sein, kann indes selbst die Stärksten und Robustesten glatt einmal überfordern. Jedem kann eine derartige Herausforderung einmal zuviel werden. Und wenn man dann alleine dasteht, diese Urgewalt gar zu mächtig wird, dann kann das schon sehr gefährlich werden.
Daher ist es gut, in der Not Hilfe zu bekommen, deshalb ist es auch wichtig, nicht beiseite zu stehen, sondern Hilfe zu gewähren.
Du bist zudem ja noch gar nicht so stark, deswegen ist es nicht leicht, sein eigenes Ungeheuer zu halten, besonders bei Sturm sowie in der ärgsten Krise im Leben, wenn es ganz wild wird und so an der Leine reißt, daß es einen schier wegreißen, mit in die Luft, gar aus dem Leben zerren kann. Ja, diese Ungeheuer suchen die Gelegenheit, den Moment der Schwäche, um auszubrechen sowie Unheil über die Welt zu bringen, das ist dann der kritische Moment, in welchem es gilt, in welchem alles in einem einzigen Augenblick entschieden werden muß, um das eigene Monster friedlich sowie freundlich an der Leine zu halten, damit es seine wahre innere Natur und Gestalt nicht zeigen kann. Dabei kann man jede Hilfe gebrauchen, um nicht die Kontrolle zu verlieren.
Ist solch ein gewaltiges Monster erst los, kann es alles zermalmen oder muß selbst zerschmettert werden, dann steht einfach alles auf der Kippe und alles kann sich so oder so entscheiden, ein Zurück gibt es an solchen Wendepunkten des Schicksals nicht mehr.“

Lena schauerte bei dem Gedanken, sie wußte gar nicht so genau, ob Marie noch von ihrem freundlichen Spielkameraden redete oder schon viel furchtbarere Wesen im Sinn hatte, mit denen sie offenkundig vertraut war, eventuell von jenen Drachen sprach, welche droben im Gewitter stritten, Unheil trieben?
Ihr wurde unheimlich dabei und sie wollte das Gespräch lieber in eine etwas andere Richtung lenken.
Sie hatte auch noch im Sinn, daß Marie sich bei der Hilfe verletzt hatte: „Ist das mit deiner Hand schon besser?“
Marie zeigte die Hand, in welcher sie noch immer das Taschentuch hielt. Als sie die Hand öffnete und die Innenfläche zeigte, war das Taschentuch jedenfalls etwas blutig. Als Marie das Taschentuch mit der anderen Hand entfernte, zeigte sich, wie sich die Leine nicht allzu tief, aber doch merklich in die Hand gegraben hatte. Eine lange, schmale, frische Wunde war deutlich zu erkennen.
Marie aber zeigte sich gänzlich unbeeindruckt und meinte: „Siehst du, alles nicht so schlimm!“
Lena hätte es schon schlimm gefunden, solch eine Wunde zu haben, aber Marie wollte sie nicht weiter damit irritieren, wickelte das Taschentuch wieder über die Wunde und drückte die Hand wieder zu, legte die Arme um Lena.

Lena dachte nach, zögerte, war letztlich aber doch zu neugierig durch Maries vorherige Andeutungen und fragte trotz eines etwas mulmigen Gefühls nach: „Hast du etwa auch einen eigenen Drachen?“
Marie neigte abwägend und zögerlich den Kopf von einer zur anderen Seite, antwortete dann: „Ja, in gewisser Weise schon, meiner ist allerdings sehr gefährlich, deshalb muß ich sehr drauf aufpassen. Wenn der entkäme, würde er sehr viel Unheil über die Welt sowie andere Menschen bringen.
Natürlich muß auch der ab und an mal etwas raus an die frische Luft, aber ich muß ihn eng an der Leine halten, denn er ist wild und zerrt daran, um zu entkommen und Schlimmes anzurichten!
Er ist natürlich längst nicht so prächtig wie dein Spielzeugdrachen, ist nicht so ein fröhlich sowie freundlich lächelnder Typ, sondern sehr mächtig, finster und unheimlich, daß man sich mehr als sorgen muß, wenn er einmal zum Vorschein kommt.“
Lena schauerte: „Damit hast du viel Verantwortung.
Und du kannst ihn nirgends abgeben, sicher wegsperren, wenn er so gefährlich ist?“
Marie schüttelte den Kopf: „Nein das geht leider nicht. Es ist mein Drachen, dieser ist auf immer mit mir verbunden und ich kann ihn nicht weggeben, muß selber drauf aufpassen, gedanklich wegsperren durchaus, jedoch eben selber. Es ist eine der Aufgaben, welche man auferlegt bekommt oder erbt, eine Aufgabe, welche einem ohne eigenes Zutun angedreht wird. Man muß sich drum kümmern und irgendwie alles unter Kontrolle behalten, um die anderen davor zu bewahren. Wir können letztlich nicht vollständig wählen, wer wir sind und welches Erbe wir antreten müssen. Wenn es zu einem gehört, kann man es nicht einfach so ablehnen und ganz frei entscheiden, jemand vollständig anderes zu sein.
Man kann sich mühen sowie versuchen, das Richtige daraus zu machen oder wenigstens das Schlimmste zu verhüten, aber ganz davon befreien kann man sich keinesfalls, kann nicht jede Verantwortung auf andere abwälzen. Es gehört auch dazu, erwachsen zu werden, daß man sich seinen Aufgaben stellt. Längst nicht alles sind wirklich die eigenen Aufgaben und bei vielen kann man ziemlich frei wählen, einige indes sind auch untrennbar mit einem verknüpft, diese kann einem niemand abnehmen, diese kann man nicht ablegen, delegieren, abwälzen oder sonstwie loswerden.“

Sie schwiegen einen Moment, dieses Thema schien erschöpft zu sein. Lena hatte irgendwie das Gefühl, sie sollte bei dem unheimlichen, drückend bedrohlichen Ungeheuer von Marie besser nicht nach Details fragen, aber sie traute ihr schon zu, solch ein wildes Monster unter Kontrolle zu halten, ihren hatte sie ja sogar im aufziehenden Sturm hartnäckig gehalten, zudem trotz der stolzen Kraft schließlich heil vom Himmel geholt. Allerdings war ihr Drachen wohl ziemlich klein im Vergleich mit dem, den Marie andeutete.
Der Sturm draußen ängstigte Lena. Obwohl sie sicher und geborgen in Maries Armen lag, hatte sie doch Furcht.
Doch was konnte ihr passieren, wenn Marie sie barg und behütete, welche sogar solch einen wilden Drachen wie den ihren bändigen konnte, was konnte ihnen da solch ein Gewitter anhaben?

Dennoch wußte sie, es würde besser gehen, wenn sie nicht schwiegen.
Daher ließ Lena nicht wirklich lange locker, hakte bald schon nach: „Erzählst du eine Geschichte?
Ein Märchen?
Meine Mutter liest gerne einmal ein Märchen vor, wenn ich Angst habe und in einer stürmischen Nacht nicht schlafen kann.“
Das hatte Marie gerade noch gefehlt, ein Märchen?
Zwar hatte sie viel gelesen, kannte allerhand Geschichten, als Märchentante fühlte sie sich jedoch mitnichten gerade.
Trotzdem erwiderte sie: „Hmmmm, weiß nicht recht, was denn?
Märchen sind ja oft ebenfalls unheimlich, ob dir das guttut, gerade jetzt?“
Lena gab sich jedoch tapfer, meinte lediglich: „Das macht nichts, paßt ja zur Stimmung, wenn es etwas düster sowie unheimlich ist.“

Das Märchen vom Drachen-Mädchen Remia

Marie hätte wohl aus der Erinnerung heraus ein Märchen erzählen können, einige von den Brüdern Grimm hatte sie im Kopf, fand einige davon aber sehr wenig für Kinder geeignet, weil sich darin, wenn auch auf den ersten Blick nett verschlüsselt, grauenhafte Abgründe der menschlichen Existenz auftaten. Ein paar Märchen und Geschichten von Wilhelm Busch kannte sie ebenfalls, aber hier auf dem Dachboden fehlten die Bilder, nicht bei allen, aber die ohne Bilder waren oft auf plattdeutsch und sie hätte erst nachdenken müssen, wie diese zu erzählen seien.
Kunstmärchen wären auch möglich gewesen, aber vielleicht sollte sie einfach selbst eine Geschichte beginnen, in die Lena bei Bedarf eingreifen konnte?
Die Idee schien ihr gar nicht einmal so schlecht zu sein.
Nur was?
Ach, ihr würde schon etwas einfallen.
Geschichten zu erfinden und auch zu erzählen fiel ihr gar nicht so schwer.

Es ist ja die Art des Menschen, Geschichten zu erzählen, das ist eines seiner charakteristischen Merkmale. Jedenfalls in der Komplexität der Geschichten und der Erzählungen ist der Mensch damit einzig unter den Tieren. Letztlich muß für Menschen alles irgendwie eine mehr oder weniger schlüssige Geschichte haben, um relevant oder glaubhaft zu sein. Für viele Menschen ist es dann auch egal, wie glaubhaft die Geschichte inhaltlich selbst ist, die Fakten werden erst glaubhaft durch irgendeine Geschichte, welche sie miteinander verknüpft und an das Leben und Sein der Menschen anknüpft. Ohne solche Bezüge bleiben die meisten Menschen gleichgültig auch bei den wichtigsten Fakten, welche direkt ihr Leben betreffen mögen. In eine spannende Geschichte verpackt hingegen glauben sie jeden Schabernack, gehen jedem Gaukler oder gar Betrüger auf den Leim, wenn der die richtigen Worte findet, um sie zu faszinieren, die eigene lahme Phantasie zu beleben, sie sich wichtig fühlen zu lassen oder jedenfalls lebendig in der erzählten Geschichte. Und wenn eine Person das geschickt anstellen kann, hat sie Macht über jene, die ihr sowie ihren Geschichten zuhören und daran glauben. Wenn eine Person hier überzeugend ist und die Meinungshoheit erringt, sich in die Gefühle, die Herzen und Köpfe der Menschen mit ihren Geschichten eingräbt, so ist sie daraus nicht so einfach wieder zu vertreiben, allenfalls mit noch fesselnderen, faszinierenderen Geschichten, welche die Menschen noch begeisterter aufnehmen und sich zu eigen machen. Es kommt letztendlich gar nicht so sehr auf die tatsächlichen Fakten an, wenn eine Person erst einmal mit ihren Geschichten Zugang zu den Gedankengängen der Menschen gefunden hat. Das kann auch gezielt ausgenutzt werden, um Menschen zu manipulieren sowie für eigene Zwecke zu gewinnen. So bekommt man Macht, mit gut erzählten Geschichten. Gut erzählte Geschichten können so gefährlich sein, wenn sie mit der falschen Absicht, dem falschen Ziel erzählt werden, wenn sie das Publikum manipulieren sollen, statt zum eigenen Denken anzuregen.
Das wußte Marie alles natürlich ganz genau.
Ob sie selbst Geschichten in diesem Sinne der Manipulation des Publikums erzählen konnte?
Sicherlich könnte sie.
Wollte sie es auch?
Da war sie sich keineswegs so sicher.
Es gibt auch eine Verantwortung und sie wollte nicht verantwortungslos sein, also sollten ihre Geschichten auch nicht allzu manipulativ sein oder wenigstens die Fakten nicht gezielt falsch auslegen. Natürlich würde sie aber auch nicht alle Trümpfe einfach so aus der Hand legen, wenn es Geschichten über sie selbst betraf. Dabei war ihr schon sehr daran gelegen, die Meinungshoheit über ihre eigene Geschichte zu behalten.

Nun mußte sie nur noch einen Anfang finden.
Da lag die zarte Lena auf ihrem Schoß, dieses arglose Mädchen mit Phantasie und durchaus auch mit einem gewissen Mut. Mutig war sie selbst wohl auch ein wenig gewesen, jedoch mitnichten so behütet und sorglos. Nie so sorglos und behütet.
Der Flugdrachen lag stumm auf dem Boden neben der Wand und sie erinnerte sich daran, mit welch prächtigem Fabeltier er verziert ist, eine wirkliche Pracht, welch schöne, farbenfrohe Phantasie. Solch einen Spielkameraden hätte sie auch sehr gerne gehabt. Aber sie hatte nur ihren eigenen finsteren, düsteren, gefährlichen Drachen, welcher tief in ihr grollte und rasselte.
So kam Marie jedenfalls zu einem Anfang, von dem sie noch nicht wußte, wohin er sie führen würde. Natürlich war ihr das bewußt noch nicht so ganz klar, aber ein Zufall war es sicher auch nicht, was ihr da gerade eingefallen war.
Sie fragte Lena: „Wir könnten uns mit dem jungen Drachen-Mädchen Remia beschäftigen, was hältst du davon?“
Natürlich wollte Lena über Remia etwas wissen und war gleich einverstanden, deshalb mußte sich Marie also etwas einfallen lassen.

Über Drachen allgemein

Marie begann also: „Ich sollte vielleicht voranschicken, einmal abgesehen von solchen Spielzeugdrachen und ähnlichem technischen Fluggerät“ – dabei wies sie auf Lenas Prachtstück auf dem Boden – „gibt es natürlich in der heutigen Zeit gar keine lebendigen Drachen mehr, jedenfalls wie man sie sich so landläufig vorstellt. Schon in der alten Zeit in der Welt der Märchen und Mythen waren diese Wesen ganz anders als man sie sich vorstellt.

Drachen wurden in diesen Welten ja immer schon von den dortigen Menschen verfolgt und auch daher treten sie heute gar nicht mehr auf. Daß die Menschen in der alten Zeit, als man solche Wesen noch in ihrer ursprünglichen Form sehen konnte, so schlecht auf sie zu sprechen waren, lag zum guten Teil genauso daran, daß Drachen die Neigung hatten, Felder abzubrennen, Vieh zu verspeisen sowie Dörfer, Häuser zu verbrennen und zu zernichten. Drachen haben eine Freude daran, andere zu quälen und sie leiden zu sehen. Drachen sind von finsterem Gemüt. Es erheitert sie nicht einmal, wenn sie etwas zerstört haben, in ihnen ist kein Gefühl, trotz ihres heißen Feuers bleiben sie selbst ganz kalt und gleichgültig. Und weiden sie sich auch am Leid ihrer Opfer, ahnen darin das Gefühl der anderen, ohne es selbst zu erleben, so zeigt sich doch gerade in ihrer Neigung zu Qual und Verfolgung, in ihrem Willen zur unbedingten Dominanz ihre tiefe Sehnsucht nach dem Gefühl, welches sie nicht selbst erlangen können. Sie bewundern die Menschen und andere Wesen um ihre Leidenschaft, ihre Gefühle und trachten daher, diese Gefühle bis ins Extrem auszuquetschen, ja um nur irgendwie daran teilzuhaben. Gleichzeitig verachten sie sie jedoch ebenso aus den gleichen Gründen, denn Gefühle machen auch schwach und beeinflußbar. Aber alles, was sie tun, um dem Wesen des Menschen näherzukommen, ist immer vergeblich, zwar ist das Leid da, aber auch dieses verfliegt aus ihrem Verstand, sobald sie sich abwenden und die Sehnsucht und Wut, der Zorn brennen nur um so heißer in ihnen. Der Neid auf das, was sie nie erlangen können, sitzt ganz tief und macht sie zu den finsteren Zerstörern, welche weit gefürchtet sind, obwohl sie wohl auch Mitleid verdient hätten für das, was ihnen immer fehlen wird und was sie sich durch keinen Raubzug, keine Brandschatzung, keine Missetat jemals verschaffen können. Sie können allenfalls Gold, Edelsteine und andere materielle Besitztümer anhäufen, das Gefühl, selbst die Freude daran bleibt aus, sie sammeln nur kalt und häufen an, können damit allerdings doch nicht das Loch in sich stopfen und füllen, werden nicht satt, bleiben durstig, was auch immer sie tun.

Menschen sahen Drachen mehr oder weniger als Feinde an, als furchtbare Monster, grauenhafte Ungeheuer, welche es zu vernichten galt.
Drachen sahen Menschen – einmal abgesehen vom tief sitzenden Neid auf die Gefühle – wiederum mehrheitlich als nichtiges Ungeziefer an, welches man bei Bedarf einfach zertreten konnte oder sich mit ihnen die Zeit vertreiben konnte, indem man sie quälte. Manche folgten einfach ihren Impulsen zur Zerstörung, einige andere planten auch. Wer länger überlebte, lernte jedoch gleichfalls recht schnell, wie vorzugehen ist, um nicht gleich erwischt zu werden. Sie lernten, Menschen zu täuschen, sich manches Mal gar einzuschmeicheln.

Nun gab es schon immer viel mehr Menschen als Drachen, weswegen trotz der Überlegenheit eines Drachens gegenüber einzelnen Menschen es sich doch recht nachteilig für diese Wesen entwickelte, weil sie Individualisten waren, also Einzelgänger, welche nicht so recht etwas miteinander zu tun haben wollten, sich gar noch gegenseitig bekämpften, wenn sie in Streit gerieten, was recht einfach zu bewerkstelligen war. Währenddessen schlossen sich die Menschen besonders in der Not zusammen, um etwas zu erreichen oder sich gegen gemeinsame Feinde zu behaupten. Deshalb wurden Drachen als Ungeheuer und Monster doch letztlich ziemlich erfolgreich verfolgt und die dummen oder auffälligen unter ihnen gab es bald nicht mehr. Wer sich nicht anzupassen vermochte, wurde gestellt und getötet. Der Haß wurde groß unter den Menschen – und so hatten sich doch auch diese Drachen letztlich mit ihrem Gift der Zerstörung auf immer in den Köpfen aller Menschen festgesetzt.

Heute würde man sagen, es gab einen enormen Evolutionsdruck auf die Drachen durch die Verfolgung durch die Menschen. Solche von ihnen mit besonderen Fähigkeiten, welche sich zu verbergen vermochten oder Menschen zu täuschen in der Lage waren, hatten klare Vorteile. Noch größer aber waren die Vorteile für jene, welche dazu fähig waren, Menschen zu manipulieren und sie sowie ihre Aktivitäten für eigene Zwecke zu gebrauchen.
Deshalb gab es bald gar keine einfachen von ihrer Art mehr. Stattdessen hatte sich eine Art durchgesetzt, welche gerade so wie Menschen auftreten konnten, welche sich von diesen vom Aussehen, nicht vom Denken her ununterscheidbar machen konnten. Nur wenn sie Lust dazu hatten oder in arge Bedrängnis gerieten, nahmen sie ihre alte Gestalt an, wuchsen, bildeten Flügel aus, konnten Feuer speien und all die grauenhaften Dinge tun, welche man als Drachen eben zu tun pflegte, wenn man richtig sauer war – oder auch nur Lust dazu hatte. Diese Menschen-Drachen lebten bevorzugt Abseits der Menschensiedlungen einzeln und für sich, wie es ihre einzelgängerische Art war und konnten so unerkannt überleben. Gern aber lebten sie ihre Neigungen auch aus, indem sie nach Einfluß bei den Menschen trachteten, gar Führungspositionen einnahmen, um so ganz bequem ihre Untertanen quälen zu können – oder noch besser durch Befehl oder Intrige sich gegenseitig quälen und vernichten zu lassen. Diesen Drachen war es ein besonderer Genuß, wenn es ihnen gelang, andere Menschen dazu zu bringen, sich selbst oder auch gegenseitig zu quälen sowie zu verfolgen oder zu zernichten. Diesen Drachen war es ein besonderer Genuß, den Menschen ihre eigene Art aufzuprägen, sie zu manipulieren sowie in Rituale und Religion zu verführen, um sie irre zu machen und auf wahnsinnige Wege zu führen.

Selten nur machte einer einen dummen Fehler, enttarnte sich so und wurde von Menschen als Ungeheuer und Monströsität oder auch als Unmensch verfolgt, erschlagen oder sonstwie vernichtet. Die anderen lebten ihr Leben und zogen nur noch selten über das Land, um zu verwüsten und Grausamkeiten zu begehen, welche alsdann allerdings umso grauenhafter und scheußlicher waren. Dabei verstanden sie es zunehmend, diese Zerstörungen als Naturkatastrophen erscheinen zu lassen, um ihre Beteiligung daran zu verschleiern.“

An dieser Stelle unterbrach Lena: „Aber wenn die Drachen wie Menschen erscheinen, so mögen sie sich vielleicht bis heute verborgen halten?“
Marie nickte bei dem Einwand und meinte: „Man kann nie wissen, aber man sieht jedenfalls heute keinen mehr, welcher über das Land fliegt und Felder verwüstet, das Vieh von der Weide verspeist, Dörfer niederbrennt. Wenn diese noch heute da sind, so gehen sie unauffälliger, menschlicher vor und verbergen besser, wer sie sind.“

Lena wollte wissen: „Können sich diese Drachen auch in andere Lebewesen verwandeln oder nur in Menschen?“
Marie nickte, überlegte aber nur kurz, erwiderte darauf: „Solch eine Verwandlung ist in mancherlei Hinsicht nicht so einfach. Drachen sind ja recht groß, aber auch recht leicht für ihre Größe, schon damit sie fliegen können. Bei einer Verwandlung müssen ihr Fleisch und ihre Knochen ja irgendwo hin. Der Körper baut sich in der Tat komplett um, daher können sie in Menschenform auch kein Feuer spucken, sind auch deswegen recht schlecht drauf, weil das Feuer somit heiß in ihnen verborgen brennen muß. Aber sie sind einfach zu groß, um sich etwa in eine Maus oder auch in ein Huhn zu verwandeln, es gibt also Grenzen. Ein Elefant etwa würde gehen, aber ein solcher wäre ja selbst in einem Porzellan-Laden nicht besonders unauffällig. Es ist also zweckmäßiger, wie ein Mensch zu erscheinen. Menschen sind häufig, haben oft Macht in irgendeiner Form – keineswegs jeder, aber doch generell mehr Potential zur Macht als etwa einen Stubenfliege.“

Das sah Lena ein, Drachen konnten also offenkundig keineswegs alles sein, keinesfalls alles machen, selbst ihre Macht hatte Grenzen.
Nun wollte sie aber auch noch wissen: „Und in ihrer Drachengestalt – wie sehen sie da aus?“
Hier zögerte Marie nicht und meinte dazu: „Oh, auch dabei sind sie recht flexibel, wie es ihnen gerade gefällt. Es gibt ja von Menschen viele, recht verschiedene Abbildungen. So ungefähr können sie auch aussehen, aber dabei muß man gleichfalls bedenken, daß die Menschen, welche sie so gesehen haben, sich gar nicht getraut haben, genau zu gucken sowie zu untersuchen, so daß wir nicht davon ausgehen können, ein genaues Bild von ihrer Gestalt zu haben. Wenn die Menschen einen erwischt haben, waren sie immer bemüht, diesen schnell komplett zu vernichten, schon um ganz sicher zu gehen, daß er nicht doch noch lebte. So sind die Erinnerungen an ihre Gestalt recht diffus und man hat lediglich grobe Vorstellungen, von denen manche auch schiere Phantasie sein mögen, denn viele der dargestellten Wesen könnten so sicher gar nicht fliegen oder existieren. Man nehme etwa nur jene armen Burschen, welche mit mehreren Köpfen dargestellt werden, wenn es solche überhaupt gab, waren das sicherlich bedauernswerte Mißbildungen, welche auch in Menschengestalt so aufgefallen wären. Drachen sind Individualisten und mehrere davon in Köpfen, durch einen gemeinsamen Körper zur Kooperation gezwungen, da ist Streit und Haß untereinander vorprogrammiert – sie würden sich gegenseitig die Köpfe abbeißen, ohne Rücksicht darauf, sich damit selbst zugrundezurichten.
Aber ansonsten hat man es so oder so verstanden, die Sinne und Erinnerungen der Menschen zu verwirren. Auch in dieser Hinsicht ist es den Drachen also letztlich recht gut gelungen, die Menschen über ihre wahre Gestalt zu täuschen.“
Lena nickte, das sah sie ein, da konnte man nichts Genaues wissen.
Marie schloß so diesen Teil der Diskussion: „Aber wir wollten uns ja der alten Zeit widmen und wie das Schicksal von Remia, dem Drachen-Mädchen, war.“
Lena nickte eifrig; nachdem sie nun etwas über die Drachen gelernt hatte und wie sie wirklich waren, wollte sie gerne mehr darüber erfahren, wie das kleine Drachen-Mädchen war, ob sie gleichfalls so grauenhafte Dinge anstellte und wie sie lebte, was sie bewegte.
Waren wirklich alle Drachen so schlecht?
Waren es wirklich alles Ungeheuer und Monster ohne Gefühl sowie Einsicht?
Waren sie wirklich lediglich auf Zernichtung und Verwüstung aus?
Es gab ja auch schlechte und weniger schlechte Menschen sowie ebenso einige, welche wirklich als Vorbild ihrer Art dienen könnten, andere, welche man nur als abschreckendes Beispiel werten konnte.
Warum sollte es bei den Drachen gänzlich anders sein?

Remia, das Drachen-Mädchen

Draußen schüttete, stürmte und donnerte es noch immer heftig, als würden Drachen in den Wolken ihr Unwesen treiben, um nun über die Menschen zu richten, welche sie in der alten Zeit beinahe vernichtet hätten.
Lena kuschelte sich tief in die alte Decke auf Maries Schoß, diese wiederum fuhr fort: „Also gut, Remia war noch jung, so jung, daß sie nicht einmal Feuer spucken konnte. Sie hatte gar keine Mutter mehr, welche sie gar nicht gekannt hatte, weil ihre Mutter früh verstorben war. Sie war die Tochter eines mächtigen sowie besonders finsteren und niederträchtigen Drachen namens Atrev, welcher voller Wut und Gemeinheit war und sie mit mehr als nur strenger Hand erzog. Er quälte sie nach Lust und Laune – und davon hatte er zum Quälen reichlich. Atrev betrachtete es gleichfalls als seine Erziehung für seine Tochter, grausam zu ihr zu sein sowie ihr zu zeigen, daß die Welt hart und ungerecht war, man deshalb entweder dulden mußte oder aber zernichten sowie zermalmen. Es gibt kein Paradies – war eine seiner Devisen – und für Remia ganz bestimmt nicht, welche immer sein Opfer war, insbesondere weil Atrev in ihr den Grund sah, warum Remias Mutter verstorben war, was er ihr allerdings nie offenbarte. Dies blieb im Dunkeln, mehr noch, er quälte sie gerne damit, sie nach Erinnerungen an die Mutter auszufragen, doch Remia konnte sich niemals erinnern, mußte daraufhin jedes Mal so grauenhafte Strafen erdulden.

Aber selbst Atrev mußte vorsichtig sowie umsichtig sein, obwohl er jede Schliche, jeden Greuel, jeden Trick zu kennen schien, jede Gemeinheit ohne Zögern und Hemmungen umsetzen konnte, wenn er Lust darauf hatte.
So ging es Remia nicht gut bei ihm, war sie doch selbst oft Opfer seiner gemeinen Art und seiner spontanen Einfälle.
Aber Atrev legte auch viel Wert darauf, daß Remia fleißig lernte, sich disziplinierte sowie unauffällig unter die Menschen gehen konnte. Er hatte sich vorgenommen, daß seine Brut selbst ihn irgendwann übertrumpfen sollte an Skrupellosigkeit sowie Macht, daß die Greueltaten seiner Brut eines Tages alles überbieten sollten, was jemals gewagt und getan worden war. Seine Brut oder wenigstens dessen sollte eines Tages die ganze Welt in Brand setzen, um sich am Feuer der Zernichtung das kalte Ich ein wenig zu erwärmen.
Remia sollte nicht nur lernen, was die Menschen über die Welt herausgefunden hatten, sie sollte überdies genau beobachten, wie sie sich verhielten und agierten, um ihre Art vortäuschen zu können, um unter ihnen nicht aufzufallen.
Und Menschen waren natürlich schon sehr eigenartig, bizarr, irrational. Sie hatten auch bereits viel von den manipulativen Drachen angenommen, ohne diese Übertragung jedoch im Grunde zu verstehen. Sie folgten Ritualen, Konventionen sowie Gesetzen, von Drachen beeinflußt. Menschen vollzogen deshalb Dinge, welche den Ungeheuern dienten oder deren Art imitierte. Das führte unweigerlich zu albernen Widersprüchen, inneren sowie äußeren Konflikten unter den Menschen. All das mußte verstanden sein, um genutzt werden zu können, um Menschen zu benutzen. Denn eines war ja immer ganz klar, wenn die Drachen schon unter die Menschen gingen, war ihre Position in deren Ordnung sicher jene an ihrer Spitze oder in einflußreichen Positionen, wo sie manipulieren konnten und die Menschen für ihre eigenen Zwecke, Bedürfnisse und Neigungen führen sowie gebrauchen konnten, wo sie Menschen dazu brachten, für sie zu arbeiten und für sie sich gegenseitig und selbst zu quälen, um die Drachen damit zu erfreuen.
All das ist jedoch für einen Drachen nur zu erreichen, wenn er möglichst genau versteht, wie Menschen als einzelne und mehr noch in der Gruppe funktionieren sowie agieren. Daher mußte Remia von Menschen sowie über Menschen lernen, sich Wissen und Erfahrung aneignen, um nicht nur bestehen zu können, sondern um zu dominieren, wie es einem stolzen Drachen zukommt.

Dazu mußte Remia also viel wissen, die Menschen sowie ihre Schlichen und Schwächen kennen. Deswegen durfte sie bei den Menschen zur Schule gehen, um ihre Art zu studieren, aber natürlich genauso, damit sie nicht auffielen. Daheim aber mußte sie still sowie konzentriert den ganze Tag am Tisch sitzen, noch mehr lernen und überdies üben, ruhig zu sitzen und still zu sein, um Atrev nicht zu stören und dessen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, was immer eine schlechte Wahl gewesen wäre, denn er neigte jedes Mal dazu, die ungeheure Wut und den Zorn auf denjenigen zu lenken, auf den seine Aufmerksamkeit gefallen war. Daheim war dies zwangsläufig Remia, daher suchte diese nach Möglichkeit zu vermeiden, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, was allerdings natürlich und leider nicht immer gelingen konnte. Hatte sie jedoch seine volle Aufmerksamkeit, so mußte sie unweigerlich dulden und leiden unter seinen fiesen Attacken, mit denen er sie aufrieb, wortwörtlich bis aufs Blut reizte, ihr aufs Schmerzhafteste unter die Haut sowie in den Leib fuhr, sie innerlich aufkochen ließ, sie quälte und peinigte, um das Feuer in ihr zu schüren, sich an ihrem Leid, ihrer Qual, ihrer Pein zu erfreuen.

Zu sitzen fiel Remia nicht schwer, das tat sie mit Leidenschaft. Ganz gerade saß sie auf ihrem harten Stuhl, ohne sich an der Rückenlehne abzustützen, die Beine geschlossen, die Füße ganz gerade und präzise nebeneinander unter dem Tisch, so daß die Unterschenkel senkrecht zum Boden standen, die Oberschenkel horizontal und so weit überstehend, daß die leicht abgerundete Kante der Sitzfläche frei blieb. Die Hände gehörten auf den Tisch oder ohne Tisch präzise auf die Oberschenkel gelegt. Derart konnte sie über Stunden sitzen und lernen, schreiben, lesen, denken oder nur sein. Sie konnte sitzen, bis selbst abends die Sonne schon müde geworden war sowie längst untergegangen, um neue Kraft für den Tag zu sammeln. Remia konnte sich zurückziehen, ganz in sich hinein, daß selbst die Zeit verblüfft stockte und um sie einen Bogen zu machen schien, so lief sie nur noch ganz zäh in ihrer Nähe, erst wie Honig, bald nur noch wie Pech, endlich wie Glas oder Eis und Remia schien um sich herum die Zeit beinahe zum Stillstand gebracht zu haben.
Ihr Verhältnis zur Zeit sowie zum Raum war eigenartig. Damals hatten die Menschen noch gar nicht so viel über Raum und Zeit verstanden, wie das heute der Fall ist, Remia hatte allerdings ein guten intuitiven Draht dazu, sie ahnte, spürte, wie Raum und Zeit eine Einheit waren und wie darin alles geschah, wie in einem Fluß, welcher sich ständig ändert, zerfasert, erneut zusammenfließt, doch in seinem Bett letztlich immer gleich zu sein scheint, als ob er nicht ständig fließen würde und so ständig ein anderer wäre. Remia konnte in diesem Strom aus Raum und Zeit ein harter Felsblock sein, an den das Wasser brandete, aber sich letztlich doch widerwillig einen Weg um dieses Hindernis bahnte, es zu respektieren lernen mußte. In ihrem kleinen Bereich formte Remia den Verlauf des Flusses, aber der Fluß formte auch immer sie, eine gegenseitige, direkte Beeinflussung.
Aber meist hatte sie auch reichlich zu tun, denn es gab viel zu lernen, zu lesen, zu studieren. Sie verschlang, was zu kriegen war, denn sie durfte ja sonst nichts.

So war Remia recht brav, still und diszipliniert, lernte viel und merkte sich fast ebensoviel. Wissen oder vermeintliches Wissen aufzusaugen, war fast eine Leidenschaft für sie, eine Passion, durchaus im doppeldeutigen Sinne, denn Atrev fragte sie gerne in einer peinlichen Sitzung darüber aus, was sie heute wieder gelernt hatte. Deshalb war es besser, ihn mit neuen, relevanten Kenntnissen zufriedenzustellen, sonst wurde schnell aus der Sitzung ein einziges Leiden, eigentlich wurde es das immer, denn Atrev fand schon seinen Grund, die passende Frage, um die peinliche Befragung in die für ihn richtige Richtung zu bringen, wo Remia mit all ihrem frischen Wissen letztendlich auch keinen Ausweg, keine passende Antwort mehr fand. Bis dahin jedenfalls war es ein Spießrutenlauf, um das Leiden wenigstens hinauszuzögern mit geschickten Antworten.
Letztlich belohnte sich Atrev für sein Geschick, die passende Frage gefunden zu haben, damit, Remia zu quälen sowie zu peinigen. Aber je mehr Remia sich merken konnte, je mehr sie wußte, desto schwerer wurde es, desto länger dauerte es bis zum von Atrev gewünschten Ergebnis; war dieser wiederum bereits durch den langen Kurs ermüdet, war die Bestrafung erträglicher, lustloser durchgeführt. Daher hatte Remia insgesamt doch einen erheblichen Ansporn, eines Tages doch einmal so viel zu wissen, daß Atrev erschöpft den Disput aufgab und sie davonkommen würde. Deshalb merkte sie ich einfach alles, benutzte es zunehmend geschickt in ihrer wörtlichen Verteidigung und Erwiderung.

Manchmal nahm Atrev Remia auch mit und lehrte sie in Wald und Flur, an Tieren im Kleinen, was es heißt, ein wilder, grauenhafter Drachen zu sein. Die Gemeinheit übt und schult sich gleichfalls im Detail. Die Gewohnheit gibt den Rahmen vor, was man so für normal sowie praktikabel oder gar erfreulich hält. Wer einen Frosch zerquetschen, einen zappelnden Hasen schlitzen, einem gackernden Huhn den Kopf abreißen, ein Rehlein mit einem Strick erdrosseln kann, der ist irgendwann auch in der Lage, die Welt in Brand zu stecken, so spekulierte er. Es war lediglich eine Vorbereitung, Schule für das Kind, noch nicht das wirkliche Leben, bloß Vorgeplänkel, ebenso Zeitvertreib, um routiniert einzuüben, wie es im Prinzip zu machen ist.

Remia hatte keine Hemmungen oder Skrupel, grausam zu den Tieren zu sein, aber sie äußerte trotzdem Bedenken, denn sie sah nicht wirklich ein, warum es so erstrebenswert sein sollte, sich am Leid anderer zu vergnügen. Tief in sich spürte sie schon etwas dabei, eine tiefsitzende Lust an der Qual und Pein anderer, aber sie zauderte, diesen Neigungen einfach so freien Lauf zu lassen. Das schien nicht richtig zu sein und auch gar nicht zu dem zu passen, was in der Schule unterrichtet wurde, wie man sich angemessen verhalten sollte.
Atrev scholt sie, sie sollte nicht die naiven sowie albernen Vorstellungen der Menschen annehmen. So schlitzte er einen aufgeknüpften, zappelnden Hasen, daß das Blut langsam aus diesem floß und seine Bewegungen immer langsamer wurden, je mehr der Lebenssaft aus diesem entwich. Mit der bloßen Hand wühlte er leidenschaftlich im Gedärm des noch zappelnden Tieres. Er drang darauf, daß Remia dasselbe tun sollte. Sie folgte gehorsam, aber doch mit erheblichen Skrupeln im eigenen Kopf.
Ein in letzten Lebenszügen zappelnder, zuckender Hase – ernsthaft ein Lustgewinn für stolze Drachen?
Selbst bei einem jammernden, kreischenden Menschen wäre es im Grunde nicht viel anders, wozu also lustlos im Hasen stochern?

Atrev fragte, ob sie denn gar nicht spüre, welch ein großes Gefühl es sei, Macht über Leben und Tod zu haben sowie mit einem kleinen Schlitz Leben zu nehmen, nur so zum Spaß, wie köstlich es sei, das Wesen in seinen letzten Zuckungen zu beobachten, dessen Panik in sich aufzunehmen, wenn dem Wesen klar werde, daß es nun zu Ende sei, wie es letztlich irgendwann aufgibt und ermattet. Die Tat sei endgültig sowie unumkehrbar, eine Entscheidung über das Leben habe unumkehrbare Konsequenzen, welche einem niemand mehr nehmen könne, welche nicht mehr rückgängig zu machen seien.
Das sei schiere Macht.
Die Entscheidung sei nicht mehr anfechtbar, revidierbar, wenn es erst einmal durchgeführt sei.
Remia nahm all dies wahr, scheute jedoch davor zurück, in dieses Gefühl einzutauchen, darin zu schwelgen und sich treiben zu lassen. Sie sah nicht wirklich einen Vorteil für sich darin, im Elend und Leid anderer Wesen zu schwelgen, in deren Blut zu schwimmen sowie sich damit zu vergnügen, Kurzweil damit zu haben, aufmerksam ein letztes Zappeln zu observieren. Es schien ihr im Grunde überflüssig sowie sinnlos zu sein, solchen Neigungen zu folgen und nur deswegen anderen zu schaden.
Es gab diesen Impuls auch in ihr, ja er kochte und lockte schon sehr, aber sie hinterfragte das ebenfalls kritisch und überlegte: ‚Wozu?‘ und ‚Wohin führt das, wenn alle so handeln würden?‘

Atrev erläuterte, daß auch viele Menschen ihre Freude daran hätten, Tiere in ähnlicher Weise zu quälen, zu peinigen und zuzusehen, wie diese langsam sowie zappelnd ihr Leben verlören. Dies würde Schächten genannt und später könne er das auf der Jagd erbeutete Fleisch so unterdessen problemlos an solche Leute verkaufen, welche zwar derart gepeinigte Fleisch verzehren wollen, jedoch nicht selbst Tiere sticheln, schlitzen mögen – verachtenswerte Gestalten im Grunde. Diesen reiche es oftmals schon zu wissen, daß diese Tiere derart grausam verstorben seien, um die so gequälten sodann mit größtem Vergnügen zu verspeisen, in dem Bewußtsein, daß die Tiere letztlich nur für sie über Minuten gelitten hätten bis zum letzten Tropfen ihres Blutes.
Hier seien die Menschen den Drachen eindeutig gefolgt, das Vergnügen an unnötiger Qual, am Leid hätten sie entweder ritualisiert oder zu ihrem eigenen Vergnügen gemacht. Die Lehre der Drachen hätte hier wunderbare Früchte getragen. Ja, diesen Gruppen hätten sie überdies Religion beigebracht. Um den Neigungen der Drachen zudem zu huldigen, hätten sie ihnen gar beigebracht, ihre eigenen geliebten Kinder zu peinigen und zu verstümmeln, sie würden sie beschneiden und sich daran weiden, wie die kleinen Kinder darunter leiden. Die so traumatisierten und verunsicherten Kinder seien daraufhin ein großartiger Nährboden für weitere Manipulation sowie Einflößung weiteren religiösen Blödsinns, um weiter den Neigungen der Drachen zu huldigen. Ist der Widerspruch, der Wahn, das Leid sowie die Qual, die Mißhandlung unter Duldung der eigenen Sippe erst einmal in die Köpfe gesät, so sei einem eine reiche Ernte auf dem Acker der Religion schon so gut wie sicher. Wo keine Logik mehr sei, seien Menschen so leicht manipulierbar und steuerbar, daß es eine Lust sei, ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich selbst abhängig sowie zu Idioten machten, indem sie widersprüchlichen und unsinnigen Regeln und Ritualen folgten, teils auch nur, um vor der komplexen Welt Trost und Zuflucht zu suchen, weil sie zu dumm seien, diese zu verstehen, gleichzeitig aber den ewigen Hunger nach Erklärungen und Geschichten über die Welt hätten. Das führe unweigerlich zum religiösen Wahn, dieses sei der Hebel, um den Verstand der Menschen genüßlich aus den Angeln zu heben sowie zu verwirren, zu verführen und zu verderben.
Sie seien verblüffend kreativ darin, sich gegenseitig in Grausamkeit und Brutalität zu überbieten. Dabei sei es noch eine Kleinigkeit, einen Menschen lebendig zu pfählen, also von unten her einen angespitzten Pfahl durchs Gedärm zu treiben sowie den Körper danach über Tage darauf sacken zu lassen. Dabei sei es ein allgemeines Gejohle, wenn sie einen festgebunden hätten, um ihn zu strecken, also seinen Leib immer weiter in die Länge zu ziehen, bis zum Zerreißen nach vielen peinlichen Stunden. Dabei sei es ihr großes Vergnügen, Körperteile zu quetschen sowie zu schlitzen, gleichfalls ein Stück vom Darm auf eine Kurbel zu heften und anschließend vor den Augen des Opfers dessen Darm langsam und geduldig über Stunden aus dem Leib zu wickeln. Viel von diesen Vergnüglichkeiten für das Publikum sei allein der Kreativität der Menschen zu verdanken. Dankbar und mit größtem Vergnügen müßten die Drachen dabei nur noch zuschauen, wie sich die Menschen selbst zerfleischen sowie gegenseitig zu immer unglaublicheren Peinlichkeiten anstacheln. Gifte können den Verstand aufkochen lassen, absichtlich übertragene Krankheiten Körper über Monate allmählich auflösen. Menschen hätten Finesse darin, immer neue Möglichkeiten der Pein zu erfinden.

Atrev nagelte einen weiteren gefangenen Hasen an einen Baum, schlitzte ihn etwas und erläuterte dazu, eine andere Religion sei erfunden worden, welche sich die Marter und Qual geradezu zum Symbol gemacht habe. Bei dieser Geschmacksrichtung sei ihr Gott und Erlöser gar ähnlich wie dieser Hase an ein Kreuz genagelt worden. Durch seine Qual, sein Leid, seinen Schmerz erhofften sie sich Erlösung vom eigenen Schmerz. Diese absurden Vorstellungen seien natürlich die größte Huldigung der Neigungen der Drachen überhaupt, wenn diese gar bereit seien, ihren eigenen Gott für die Qual und den Schmerz, die Pein und das Leid zu opfern sowie anzunageln, ihn langsam ausbluten sowie sterben zu lassen. Das sei ein wunderbarer Trick der Drachen gewesen, ihnen solch eine brutale und gnadenlose Religion zu geben.
Und das beste daran, die zentrale Botschaft des Genagelten an die Menschen sei: ‚Seid nett zueinander!‘
Welch Lust, welch Vergnügen, den Typen dafür ans Kreuz genagelt zu sehen. Deshalb kann es ja auch nicht wundern, wie phantastisch verrückt die Anhänger dieser Religion gerne würden, hatte man sie doch schon mehrfach dazu verführt, gegen andere Menschen loszuziehen und unter dem Vorwand dieser Botschaft systematisch Krieg zu führen und zu morden und zu vernichten. Zudem würden manche von ihnen auch keineswegs davor zurückschrecken, sich selbst wie Glaubensgenossen zu kasteien, zu foltern, mit sogenannten Inquisitionen zu peinigen.

Atrev führte weiter aus: Menschen seien irre und so leicht beeinflußbar.
Währenddessen zappelten die Hasen schon nicht mehr und waren schon nahezu ausgeblutet.
Er fuhr fort: Man könne ihnen irgendein Leitmotiv geben und sie darunter gleichzeitig gerade zum Gegenteil bewegen, um andere Menschen zu vernichten, um Unheil zu stiften.
Ein weiterer Hohn, ein sehr gelungener Scherz sei es gewesen, den Anführer einer Raubmörderbande zu einem weiteren Religionsführer, zu einem Propheten einer Religion zu machen, welcher angeblich göttliche Botschaften empfangen habe, tatsächlich aber wohl bloß im Drogenrausch unsinnig phantasiert habe. Weiteren religiösen Unfug mit ähnlicher Geschmacksrichtung habe man den verbreiten lassen und das habe man zum Vorwand genommen, um Menschen eines ganzen Landstriches ins Unglück zu stürzen, denn dieser hat seine Anhänger dazu veranlaßt, alle zu vernichten, welche nicht bereit waren, sich seinen irren Ansichten anzuschließen.
Dieser wird noch heute als großer Prophet verehrt und noch immer gibt es reichlich seiner Anhänger, welche die Welt in Brand setzen, um mit seinen irren Ideen in seinem Namen zu missionieren oder zu zernichten, was nicht folgen will, was nicht dazu paßt.
Solche Menschengruppen, Sekten und Religionen seien einfach Selbstläufer. Bei Bedarf splittert man sie in zwei oder mehr Untergruppen auf, welche sich im Anschluß gegenseitig bekriegen, dabei geht es dann nur noch um die Auslegung der ursprünglichen Religion, gleichfalls um historische Meinungsverschiedenheiten, persönlichen Streit, was aufgebauscht dann für immer weitere Massaker über alle folgenden Generationen ausreiche. Egal was der eigentlich Religionsstifter einmal für Intentionen gehabt haben mag, seine Propheten und Interpreten verkehren es sowieso schnell gerade in Abgründiges, Zerstörerisches, in das Vergnügliche für uns Drachen. Die Drachen müßten kaum noch etwas tun: Ist eine finstere Idee erst einmal in die Köpfe der Idioten gepflanzt, sorgten diese schon selbst für die Verbreitung, für Verwüstung sowie Vernichtung, für ein grandioses Schauspiel eines gewaltigen Blutrausches. Die Drachen können sich danach gemütlich zurücklehnen oder in diesem Strom des Blutes der Menschen mitschwimmen und schwelgen, einfach nur genießen, wie ihre finstere Neigung in den Köpfen der Menschen vervielfacht werde, um ihnen zu huldigen.

Und Menschen seien ja so wunderbar widersprüchlich. Einerseits lehren sie ja und setzen sich gegenseitig etwa zum Gesetz, daß man keine anderen Menschen töten solle. Menschen, welche jedoch gegen Gesetze verstoßen haben, verurteilen sie allerdings und richten sie zum Tode.
Wer jedoch verurteilt und richtet alsdann wiederum diese Richter sowie Henker?
Ferner der Krieg – dabei darf man nicht nur, dabei muß man als Mensch morden, töten, brandschatzen, vergewaltigen, vernichten, alle Werte werden invertiert, man definiert einfach, bei welchen Menschen morden, töten, foltern sowie quälen richtig ist und anschließend geht die Hatz auch schon los.
Deshalb brauchen Drachen auch nur wenig zu manipulieren sowie zu provozieren, zu täuschen, zu lügen – schon sind die Menschen begeistert dabei, lassen sich gegeneinander aufhetzen und schlagen sich gegenseitig den Schädel ein. Ein subtiler Schubser, ein inszenierter Anlaß reicht bisweilen bereits aus, um ein Massaker auszulösen.
Menschen und Drachen – welch großartige Symbiose sei das!

Atrev hatte sich richtig in Rage geredet und Remia schaute erstaunt sowie verblüfft, verstand in der Folge jedoch gleichfalls Drachen und Menschen besser als zuvor. Menschen waren bizarr und irre, sich so auf den Blödsinn, diese Verführung durch die Drachen einzulassen, daß sie so einfach dazu zu bewegen waren, aufeinander loszugehen und so zum Gefallen der Drachen deren Spiel aufführten.
Die Lehrstunde war bald beendet und Atrev zog wirklich los, um einiges Fleisch zu verkaufen, obwohl er derlei kleinen Handel gar nicht nötig hatte, es machte ihm Spaß, mit dem toten Getier sowie der Art ihrer Hinrichtung noch mehr Gift unter den Menschen zu verteilen.

Remia war eigentlich gern unterwegs, draußen in der Natur war alles gut, aber eigentlich lag ihr nicht so viel daran, ein wilder, grauenhafter Drachen zu sein, sie hätte sich auch gern einmal einfach nur an den Dingen der Welt erfreut, statt nur darauf zu sinnen, wie man sie am besten zerstören kann, wie am besten Leid und Greuel zu verbreiten seien. Sie empfand nichts beim Töten der Tiere. Aber mit dem Verstande bekam sie wohl mit, daß diese Wesen sich keinesfalls an diesem Tun erfreuten. Daher wurde ihr schnell klar, ohne Not Wesen zu töten oder nur so zu quälen, das war nicht ihr Ding, das war letztlich nicht korrekt und paßte nicht zu dem, was man in der Schule lernte, wie man mit anderen gut klarkam. Gut, die Regeln der Menschen, die in der Schule vermittelten Regeln waren nicht unreflektiert ihr Maßstab, aber viel davon war schon logisch, wenn man es nur aus der Perspektive verschiedener, ungefähr gleichrangiger Wesen betrachtete. Schon deshalb leuchtete es ihr nicht recht ein, warum man alles zerstören sollte, wenn die Leute das meist gar nicht wollten oder jedenfalls nicht alle. Zudem erschient ihr das Erschaffen, Konstruieren, Verstehen viel interessanter, weil nicht so einfach wie das Zerstören. Man hatte sicher schlicht weniger Probleme, wenn man den Leuten einfach ließ, woran sie offensichtlich hingen. Insbesondere hingen sie offenkundig an ihrem Leben, ihren Freunden sowie Verwandten, an ihrem Hab und Gut.“

Lena unterbrach hier: „Dann ist Remia vielleicht gar nicht so ein grauenhafter Drachen, sondern vielleicht eigentlich ganz nett?“
Marie sann einen Augenblick nach: „Nun, du entscheidest, soll sie eher eigentlich ganz nett sein oder so wie die anderen ihrer Art?“
Lena war sich hinsichtlich dieser Frage ganz sicher, Remia sollte nett sein und nicht so wie die anderen fiesen Ungeheuer, sie sollte keine Menschen vernichten und sie sollte alle verachten, welche dies taten. Was Marie über Atrev erzählt hatte und wie grausam dieser gewesen war, das hatte ihr Angst bereitet und sie hatte ein sehr mulmiges Gefühl dabei bekommen, wie dieser dachte, all das schien ihr vollkommen fremd und falsch zu sein. Atrev schien viel schlimmer als nur ein abschreckendes Beispiel zu sein, er war einfach ein widerlicher Mistkerl, wobei dieser mit der Bezeichnung noch viel zu gut wegkam. Er war wirklich ein übles Monster, daß sie erschauerte und sich furchtsam verkrampfte.
Aber auch das, was er über Menschen sowie ihr Verhalten berichtet hatte, ließ diese im widerlichsten Licht erscheinen.
Sind Menschen wirklich so?
Tun sie solche Dinge ihren Mitmenschen wirklich an?
Wenn ja, warum nur?
Niemand will doch, daß einem derlei selbst widerfährt, warum es dann anderen antun?
Lena sprach also entschieden: „Remia soll nett sein und nicht so wie die anderen, sie soll ganz nett und lieb sein.“
Marie indes brachte einen Einwand vor: „Nun, sie ist immerhin ein Drachen, auch wenn sie ihre äußere Gestalt verwandeln kann, tief drin ist sie doch immer noch ein Drachen, selbst wenn sie noch kein Feuer spucken kann, sondern allenfalls Rauchwölkchen husten, so ist es doch in ihr. Sie ist, was sie ist, vielleicht anders als Atrev, sie hat andere Gedanken und vollzieht wenigstens mit ihrem Verstand nach, wie andere denken und auch fühlen mögen, aber sie ist ebenfalls von seiner Art, gar seiner Brut.“
Lena jedoch war entschlossen, für Remia einzutreten: „Remia kann sein, was sie will, sie kann sich frei entscheiden und sie will nett sein!“
Marie nickte: „Na gut, aber dir ist schon klar, es ist nicht so leicht für sie, anders zu sein als ihre Art, sie muß hart kämpfen und sich viel Mühe geben.“
Damit war Lena einverstanden: „Ja, das mag sein, aber sie ist auch schlau und du hast gesagt, sie ist brav sowie diszipliniert, sie kann viel lernen, sie kann erreichen, was sie will.“
Marie war innerlich recht amüsiert, wenn es in dieser Welt nur darauf ankäme, brav sowie diszipliniert zu sein, etwas zu lernen sowie zu wissen, um etwas zu erreichen, würde die Kultur der Menschen aber doch ganz anders aussehen.
Sie meinte indessen nur daraufhin: „Du bist schon sehr auf ihrer Seite, was?“
Lena erwiderte nur: „Ja!“

Marie hatte noch einen Einwand: „Wenn Remia allerdings ganz nett ist, was soll unser Märchen spannend, aufregend sowie unheimlich machen?
Wie bekommen wir da eine Handlung zusammen, wie soll eine brave sowie disziplinierte Remia Abenteuer erleben?“
Auch in dieser Hinsicht hatte Lena weniger Bedenken: „Das geht auch so, da habe ich gar keine Zweifel.“
Marie nickte nachdenklich und meinte letztlich: „Gut, aber wir brauchen für eine Geschichte ja einen Konflikt, etwas, was Remia fordert, auch wenn sie brav ist. Sie muß sich trotzdem entwickeln, bewähren sowie Gefahren trotzen, auch wenn sie nett ist. Aber vielleicht ist es gerade ihre Bewährungsprobe, nett zu sein und auch zu bleiben.
Wird sie es schaffen und triumphieren oder scheitern und dulden?
Wir werden es miterleben!“

So war dieser Aspekt der Geschichte entschieden und Marie erzählte weiter: „Also gut, so sei es. Remia gefiel ja unterdessen wirklich nicht, wie Atrev alles behandelte, alles schlecht machte, aber sie war noch klein, was sollte sie tun, um nicht seinen Zorn auf sich zu ziehen, also mußte sie dulden, wachsen und abwarten.
Atrev allerdings war entschlossen und lehrte sie, ein Drachen zu sein, ließ sie Untaten, denken, planen, verüben.
Das Spannungsfeld zwischen Atrevs Wertmaßstäben und denen der Menschen, wie sie in der Schule gelehrt wurden, belastete sie allerdings sehr, es schien sie allmählich innerlich zu zerreißen. Und Atrevs Einfluß war, wie er selbst, mächtig.

Atrevs Ausführungen hatten Remia überdies aufmerksamer gemacht, sie beobachtete genauer, was die Menschen lehrten, was sie alsdann wirklich taten – und da sah sie schon große Unterschiede.
War das wirklich alles darauf zurückzuführen, daß die Menschen von den Drachen manipuliert und verführt wurden?
Oder war es doch nicht eher so, daß die Drachen allenfalls Feuer anboten, die Menschen aber schon ganz gut allein an ihrem Elend zündelten?
Waren sie einfach zu blöd, den dunklen, finsteren, unheilvollen Einfluß dieser skrupellosen Monster zu erkennen?
Oder verstärkten jene Drachen allenfalls, was ohnehin an finsteren Neigungen und Wünschen tief in den Menschen schlummerte?
Remia war sich unsicher und wußte darüber nicht zu entscheiden. Es schien ihr allerdings gänzlich unwahrscheinlich, daß die Drachen so tief in die Gedanken der Menschen hatten vordringen können, daß sie sie ganz hatten durchdringen können. Die Ungeheuer hatten das in den Köpfen der Menschen keinesfalls erst erschaffen, sie hatten wohl einfach nur Talent dazu, es zu erwecken sowie zu nähren, zu fördern, was ohnehin vorhanden war.

Allerdings, so muß man sagen, noch immer hustete Remia nur kleine Rauchwölkchen, obwohl sie es mit jedem Jahr mehr in sich brennen fühlte. Überdies war klar, wenn sie Feuer speien konnte und es auch tat, alle Wut sowie all diese Macht aus sich herauslassen könnte, erst dann wäre sie ein Drachen wie all die anderen mit der ganzen Macht samt Rücksichtslosigkeit, welche einer ihrer Art so zu bieten hat. Atrev spornte sie an, Feuer zu speien, reizte sie, um sie zu einem Ausbruch zu bringen, Remia indes hielt sich zurück, denn sie hatte sich vorgenommen, ganz nett zu sein.

Atrev erlaubte kein Spielzeug, keine weitere eigenständige Ablenkung, da gab es nur ihn und seine Einfälle und Gemeinheiten; Remia mußte dulden und durfte nur lernen. Remia hatte zwar viel Phantasie, aber Spiele blieben ihr weitgehend fremd, es sei denn, in der Schule beobachtete sie Kinder dabei und dachte sich, das könnte bestimmt interessant sein. Wenn es ferner im Unterricht in seltenen Fällen etwas gab, was einem Spiel glich, war das wirklich interessant. Atrev aber war das alles sehr fremd und von daher gab es Daheim kein Spiel und keine Unterhaltung nur der Unterhaltung wegen.
Seine ‚Spiele‘ waren immer grausam sowie qualvoll, peinigend. Von solchen Spielen kannte er reichlich, welche ausschließlich seinem Vergnügen dienten. Da war nicht nur die Hatz sowie das Schlitzen der Tiere im Wald, da gab es viel mehr. Da gab es ebenfalls reichlich, was er Remia antat, um sich an ihrem Leid zu erfreuen, sich daran zu ergötzen, sie so zu erziehen, wie er meinte.

Wie gut war es dagegen in der Schule, Remia lernte dort viel über die Menschen und auch von den Menschen, das war eine gute Zeit, obwohl sie nie ganz dazugehörte, denn Atrev bestand darauf, daß sie gleich nach der Schule zurückkehrte. Erzählen durfte sie Mitschülern oder Lehrern natürlich auch gar nichts, schon gar nichts darüber, was Atrev mit ihr anstellte und was er sie lehrte, all dies war ihr kleines Geheimnis, welches niemals ausgeplaudert werden durfte.

So fand sie keine Freunde und war ganz allein. Es gab wohl auch welche, die sie ärgerten, als Außenseiterin war sie eine gute Zielscheibe. Aber sie konnte sich schon wehren, konnte schon gemein sein, wenn es notwendig war, um sich zu wehren. Wenn sie mit ihren Augen schaute, hatten ohnehin die meisten Respekt. Nachdem es einmal einer versucht hatte, sie anzugreifen, hatte dieser zu lernen sowie zu dulden. Denn selbst ein kleines Drachen-Mädchen wie Remia war immer noch viel stärker als ein Menschen-Bursche und sei er auch körperlich deutlich größer als sie. Denn Remia war ebenso schnell sowie beweglich, flexibel. Sie hatte überdies von Atrev so manche Schliche abgeguckt und gelernt. So erging es dem Burschen sehr schlecht nach seinem Übergriff. Aber da Remia nicht wirklich gemein und scheußlich sein wollte, ließ sie rechtzeitig wieder von ihm ab, war wieder diszipliniert sowie harmlos. Nicht nur der Bursche hatte seine Lektion gelernt und hielt sich von ihr fern, nachdem er wenige Wochen später wieder gesund genug war und auch gerade nicht mehr so viel Angst hatte, wieder in die Schule gehen zu können. Auch die anderen Kinder hatten Respekt und hielten sich zurück.
Dies war gut, so hatte Remia Ruhe vor den Nervensägen, Freunde konnte sie so allerdings auch nicht gewinnen.

Atrev hatte es auch geschafft, in seiner Menschengestalt für die Menschen wichtig zu sein und war respektiert. Die religiöse Schiene lag ihm allerdings nicht so, derlei hielt der dann doch für zu albernen Firlefanz, um sich damit abzugeben und die Menschen damit zu manipulieren. Er hatte es auch so geschafft, die Menschen zu quälen und ihnen Sorgen zu bereiten, denn er machte sehr erfolgreiche Geldgeschäfte und hatte damit reichlich Einfluß. Eigentlich hätte er es gar nicht nötig gehabt, als Drachen weiteres Unheil zu stiften, so gut war er in seiner Menschenrolle sowie im Geschäft, aber er setzte seine Drachenkräfte wohl manchmal auch gezielt ein, um durch Zerstörung in der Nacht jemanden in Bedrängnis zu bringen, um ihn anschließend tagsüber über das geliehene Geld unter Kontrolle zu bringen sowie unter sein Joch zu zwingen. Das kam recht harmlos mit Schuldscheinen und dergleichen daher, das bereitete den Menschen jedoch keineswegs weniger schlaflose Nächte als ein Drachen, welcher ein Feld verwüsten konnte. Atrev verstand es sehr gut, Qual, Grauen und Angst in ihre Köpfe zu pflanzen, noch ohne ihnen den geringsten körperlichen Schaden zuzufügen.

Jedenfalls nutzte Atrev geschickt seinen Einfluß genauso in der Angelegenheit, wo Remia sich in der Schule Respekt verschafft hatte. Er erkannte daran, daß sie Fortschritte machte und sich von den Menschen nicht alles gefallen ließ. Derlei erfreute ihn, deshalb setzte er sich gerne für sie ein.
Daher war natürlich ein jeder einsichtig, daß Remia gar nichts falsch gemacht hatte und der Bursche einfach bloß Opfer eines tragischen Unfalls geworden war – und dieser wagte dem nicht zu widersprechen, selbst nicht, als er wieder richtig sprechen konnte. Vielmehr muß man wohl sagen, er stotterte, besonders wenn Remia in der Nähe war, wagte jedoch nie, sie anzuklagen.

So war die Zeit in der Schule insgesamt doch eine gute. Und wagten es drei oder vier in der Gruppe, Pläne zu schmieden, um sie zu ärgern, so traf sie doch schnell ihr zorniger, finsterer Blick und sie ließen von ihren Plänen schnell wieder ab, an den Burschen gedenkend, welcher immer noch solche Angst vor ihr hatte, durch sie das Stottern gelernt hatte.
Lehrer waren hingegen insofern immer angenehm, als sie korrekt waren, schon um keine Probleme mit Atrev zu bekommen, aber auch weil Remia sowieso die beste Schülerin war, welche sie je hatten, dazu kein bißchen vorlaut, bescheiden, angenehm im Umgang, diszipliniert, stets aufmerksam im Unterricht. Die meisten schätzten und förderten das. Und jene, welche darauf eifersüchtig waren, hielten sich jedenfalls zurück, denn sie wollten keinen Konflikt mit Atrev riskieren.“

Ausflug mit Atrev

Marie machte nur eine kurzer Pause, welche das Unwetter draußen gleich nutzte, um sich in den Vordergrund zu schieben, deshalb setzte Marie die Erzählung schnell fort: „Remia fand es interessant in der Natur und der Landschaft, fand Tiere und Pflanzen sehr interessant. Aber Atrev ließ ihr wenig Gelegenheit für nähere Betrachtungen und Beschäftigung direkt darin, Ausnahmen waren jeweils der Schulweg, Atrevs sadistische Lektionen draußen und ab und an mal ein Ausflug in Drachengestalt.
Aus Atrevs Lektionen lernte sie primär etwas über Tiere, auch wie sie im Inneren aussahen und funktionierten. Atrev hatte ihr Interesse an der Natur bemerkt und nutzte dies geschickt, um sie Tiere im Detail studieren zu lassen. Remia mochte sie lieber lebendig als zerlegt, hätte auch lieber beobachtet, wie sie sich unter normalen Umständen verhielten, nicht wenn sie gejagt wurden, wenn sie in Panik und auf der Flucht waren oder gefangen in einer Falle, mit einer Schlinge um den Hals oder einer zugeschnappten Falle am Fuß. Atrev vermochte zwar auch hier einiges zu erläutern, was zeigte, daß auch Tiere Charakter haben und unterschiedlich reagieren, Erfahrungen haben oder eben auch nicht, mutig, draufgängerisch sind oder auch listig, vorsichtig, umsichtig, aufmerksam, gleichfalls ungeschickt sowie tolpatschig. Es gab die komplette Bandbreite zu beobachten. Vieles war nicht so einfach zu verstehen, aber sie konnte es teilweise nachlesen, teils das Gelesene bei einem Ausflug wirklich beobachten oder aber auch anhand eigener Beobachtungen bezweifeln, was geschrieben stand.
Auf den Schulwegen war sie etwas ungestörter und konnte sich auch mehr Pflanzen zuwenden, welche sie entdeckte, aber sie war eigentlich immer in Eile, denn Atrev legte Wert darauf, daß sie nicht trödelte, sondern zügig wieder heimkehrte. Manchmal nahm sie nur kleine Proben mit und verglich sie mit dem, was in Büchern zu finden war. Sie lernte.
Die Drachenausflüge waren noch einmal anders. Sie flogen und sie lernte weitere Landstriche in der Übersicht kennen, bekam so auch einen ungefähren Eindruck davon, wie die Dinge zusammenhingen.

Einiges an Abwechslung schien sich zu ergeben, als Atrev eines Tags an einem Wochenende ankündigte, sie würden einen kleinen Ausflug zu Verwandten machen, dabei handelte es sich um so etwas wie einen Halb-Cousin von ihm, samt Frau und Brut. Atrev verschwieg den Grund seines plötzlichen Interesses an der Verwandtschaft und Remia vermutete erst einmal keine finstere Sache dahinter, eher etwas Abwechslung mit den anderen Drachen-Kindern, von daher war sie also ziemlich gespannt.

So flogen sie also los und sie flogen recht hoch, jedenfalls über den Wolken – und selbst, wenn keine da waren, so hoch, daß sie von unten, von der Erde aus wohl nicht mehr als Drachen erkennbar waren, auch schon, damit sie niemandem auffielen, denn offenkundig wollte sich Atrev unterwegs nicht weiter aufhalten und steuerte ohne weitere Umwege oder Ablenkungen auf sein Ziel los, allerdings wohl den Wind geschickt nutzend, um Energie zu sparen. Es dauerte eine ganze Weile, so wurde Remia klar, daß die Verwandtschaft recht weit weg wohnte. Atrev aber kannte sich offenbar gut aus und war auf dem Laufenden, was wo geschah, schon von daher verlief die Reise ohne weitere Überraschungen.

Die Reise verlief auch ohne weiteres Gespräch, Atrev wollte diesmal keine Weisheiten von sich geben, wirkte irgendwie angespannt und neben seinem ganz gewöhnlichen Zorn war da noch mehr zu spüren, was Remia allerdings nicht genau zuordnen konnte, jedoch jedenfalls darauf hindeutete, daß für irgendwelche Leute wohl noch Unheil drohte. Nicht umsonst wohl hatte er sie mitgenommen, üblicherweise verband Atrev das immer mit einer Lektion in Gemeinheit sowie der Kunst, Unheil und Leid über irgendwelche anderen Lebewesen zu bringen.

Remia hatte nicht einmal gefragt, was auch nicht so hilfreich gegenüber Atrev gewesen wäre, als dieser schließlich in einer ziemlich trüb-grauen Wetter-Region ankündigte, sie wären bald da, obwohl man nun wirklich kaum erkennen konnte, wo man eigentlich war. Aber Drachen haben einen sehr guten Orientierungssinn, auch ohne Sicht auf die Landschaft wissen sie gemeinhin zumeist ganz gut, wo sie ungefähr sind.

So gingen sie runter unter die Wolkendecke und waren über einem bewaldeten Hügelzug, in welchem sich immer wieder auch Bereiche mit schroffen Felsen zeigten. In der Ferne stieg Rauch auf und in Remias Nase war ein eigenartiger Geruch, den sie so noch nicht kannte, welcher jedoch eine gewisse diffuse Beunruhigung in ihr auslöste. Warum, erkannte sie erst, also sie ganz in der Nähe des Rauches angekommen waren, auf den Atrev zielsicher zugesteuert war. Unten fand sich eine Lichtung in der waldigen und gebirgigen Gegend. Darauf stand ein größeres Haus neben einer stattlichen Höhle und brannte. Was sonst noch brannte, erkannte Remia zunächst nicht gleich, konnte kurz darauf allerdings mit Schrecken sowie Grausen die Kadaver von zwei großen Drachen und zwei kleinen erkennen, um die Holz und Reisig zu Scheiterhaufen aufgeschichtet waren, welche angezündet waren. Überall sah man zerstörte Speere sowie andere Waffen von Menschen, ein paar Erdhügel als Gräber für Menschen waren gleichfalls zu erkennen. Auch einige Büsche und Bäume waren verkohlt, an einigen Stellen gab es weitere Brandspuren am Boden, darin waren teils auch Umrisse von Menschen erkennbar – offenbar hatten die Menschen die Drachenfamilie an ihrem Wohnort angegriffen. Offensichtlich hatten sich die Drachen wiederum gewehrt, hatten dabei einige Menschen mit Feuerstößen beseitigt. Weil die Scheiterhaufen noch brannten und die darin erhitzten Drachen-Leiber schmorten sowie verbrannten, konnte das Massaker hier noch nicht so lange her sein. Der Geruch, den Remia schon aus weiterer Entfernung wahrgenommen hatte, war der von schmorendem sowie verbrennendem Drachen-Fleisch. Das war es dann wohl auch, was die Beunruhigung in ihr ausgelöst hatte. Nun, wo das klar war, beobachtete und rekonstruierte Remia ganz ruhig, ließ sich durch das Grauen nicht beeindrucken.

Atrev war keineswegs überrascht und blieb bei dem Anblick ebenfalls völlig ruhig, daß Remia schnell klar war, daß er von dem Massaker bereits gewußt hatte und ihr die Szene nur zeigen wollte, um ihr eine Lektion zu erteilen.
So begann er auch wirklich zu dozieren: ‚Siehst du, das war mein Halb-Cousin und seine Familie. Sie waren weder besonders gut darin, sich als Menschen zu tarnen, noch mit besonderer Grausamkeit oder Gemeinheit gesegnet, um in der heutigen Zeit gut bestehen zu können. Sie waren einfach als Drachen zu harmlos und gutmütig für diese Welt – und daß sie sich zurückzogen, hat sie letztlich auch nicht gerettet. Wie ich erfahren habe, wurden sie gar von einem mir bekannten anderen mächtigen Drachen verraten, dem es gelungen war, ihnen die eigenen Taten unterzuschieben und so die Menschen gegen sie aufzubringen, wobei er diesen auch noch verriet, wo sie zu finden seien. Daraufhin zogen die Menschen nach hier und das Massaker begann. Gegen den Verrat und die Überzahl hatte die Familie keine Chance, auch weil sie viel zu harmlos waren. Das soll für heute deine erste Lektion sein: Harmlose, gutmütige Drachen werden verraten, verfolgt und niedergemetzelt. Menschen hassen Drachen und fallen zudem auf jede blöde Intrige herein. Wir können uns mit den Menschen nicht arrangieren, nur die besten können sie austricksen und gezielt für ihre Zwecke einsetzen und steuern.
Mein Halb-Cousin, der harmlose Dummkopf, und seine Familie haben es sich auch selbst zuzuschreiben, was passiert ist.
Aber es gibt noch eine weitere Tradition, welche deine zweite Lektion für heute sein soll: Rache für alles, was der Verwandtschaft angetan wurde. Die Menschen der hauptsächlich hier aktiv gewesenen Dorfgemeinschaft bekommen als erstes Besuch von mir, sie bekommen jedoch lediglich eine milde Strafe. Im Anschluß allerdings suchen wir den verräterischen Drachen auf, welcher dies verursacht hat.‘

Remia war etwas bedrückt und ahnte bereits ungefähr, was für die Dorfbewohner folgen würde, so folgte sie schweigend, als Atrev vom Ort der Verwüstung weiterzog, ohne sich weiter hier aufzuhalten.
Es gab keine Trauer für die Verwandten, was hätte ihre Trauer diesen genutzt, was hätte es ihnen gebracht?
Tot ist aus und vorbei, es gibt für das verstorbene Wesen kein Danach, danach gibt es nur noch totes Fleisch sowie eine Zukunft für die Überlebenden. Die Toten haben es hinter sich, haben es überstanden, ihnen war jedoch gleichfalls die Möglichkeit genommen, Neues zu erleben und zu erfahren oder aber auch nur über bereits Erlebtes zu reflektieren. Mit jedem Toten sind auch dessen Erinnerungen, Erfahrungen, Ideen verloren. Die Lücke fällt nicht einmal auf, wenn man die verstorbene Person nicht kennt. Der Verlust besteht gerade in dem, was man nicht weiß, was der verstorbenen Person ganz eigen war.

Remia kannte die toten Verwandten nicht einmal, Atrev mochte sie unverkennbar nicht, vermutlich auch, weil er sie für schwach ansah und als eine Schande für die Familie, vielleicht gar die ganze Drachenart. So wollte er ihr zweifellos vorführen, daß es nichts brachte, als Drachen harmlos sowie nett zu sein. Man mußte wissen, wie man durchkam, sich wehrte und sich wie ein Drachen verhielt, um nicht in die Pfanne, oder hier eher in den Scheiterhaufen gehauen zu werden.

Nicht weit weg, begann Atrev in der Ebene am Fuße des Hügels bereits erntereife, recht trockene Felder abzuflämmen. Er tat das recht lustlos und mit wenig Interesse, vertraute augenscheinlich darauf, daß wenige Feuerstöße ausreichen würden und sich das Feuer danach von alleine in den trockenen Feldern ausbreiten würde. Brannte genug, drohte den Menschen im Winter Hunger. Versengte ein Drachen einen ganzen Landstrich, gab es auch keine Solidarität mehr, die Menschen würden sich gegenseitig zerfleischen, um zu überleben, würden fliehen und so weiteres Unheil über die Nachbarn bringen, welche vermutlich auch nicht viel mehr hatten, als sie für das eigene Leben brauchten. Ja, leicht konnte es passieren, daß der Strom der Hilfsbedürftigen auch die Nachbarn noch entzweite – ein Riß ging schnell durch solche Gemeinschaften, zwischen denen, welche weitblickend, uneigennützig sowie gutmütig helfen wollten und jenen, welche ängstlich und habgierig ihren Besitz nicht teilen wollten, ihre Gemeinschaft vor den Hilfsbedürftigen abschotten wollten, um das Elend nicht zu sehen oder um sich auf nichts Fremdes einlassen zu müssen, in der Annahme, daß ihnen selbst niemals eine Katastrophe widerfahren können, aufgrund derer sie auf Hilfe angewiesen sein könnten. Was in aller Ruhe und mit Bedacht noch zu bewältigen gewesen wäre, eskalierte dadurch schnell zu Chaos und blindem Haß. So konnte eine mittelgroße Feuersbrunst bereits eine Kettenreaktion in Gang setzen, um eine ganze Region ins Chaos zu stürzen.
Ein ethisches Dilemma, also einen unmöglich sauber zu lösenden inneren Gewissenskonflikt zu provozieren, ist aber auch eine gute Strategie, um bei einigen scheinbar bislang gutmütigen, harmlosen Menschen ganz andere Seiten ihrer Persönlichkeiten aufblühen zu lassen, sie zu Berserkern zu machen, zu erbarmungslosen Monstern im eigenen Umfeld, zu gnadenlosen Schlächtern unter hilfsbedürftigen Fremden, zu skrupellosen Eroberern aus eigener Not heraus.
Im Anschluß zog Atrev ebenfalls über Weiden und Wiesen hinweg, brannte einiges weidendes Vieh einfach weg, schnappte sich auch mal etwas, hieß Remia es im gleichzutun. So flogen sie hoch mit dem gegriffenen Vieh und ließen es von weit oben auf einzelne Bauernhäuser fallen, daß die armen Tiere den armen Menschen durchs Dach schmetterten. Remia hatte ihre Tiere immerhin vorher schnell und nahezu ohne Schmerz getötet. Atrev erfreute sich natürlich gerade an ihrem Elend in der Höhe sowie im freien Fall in den Tod.
Aber das war noch nicht genug.
Nun allerdings sollte Remia bloß noch schauen und Atrev raste mit Höchstgeschwindigkeit auf ein Dorf zu und zündelte heftig an den Häusern, brannte auch nebenbei diesen oder jenen Passanten von der Straße, wenn dieser es nicht geschafft hatte, rechtzeitig unter irgendeinen Schutz zu springen. Deswegen roch es auch hier bald brandig nach zerstörter Siedlung sowie verbranntem Fleisch. Mehr noch aber erfreute sich Atrev daran, wenn die getroffenen Passanten nur unrettbar knusprig angesengt waren und noch im Verzweiflungskampf und vergeblich ihre letzten Stunden mit grauenhaftem Schreien und Kreischen verbringen konnten.
Atrev hatte die Kettenreaktion zu Chaos und Gewalt angestoßen. Diese Zerstörung, dieser Schaden war wohl groß genug, um in der Region größere Unruhen auszulösen und die Menschen in ihrer Existenznot gegeneinander aufzubringen. Seine Saat der Pein war ausgebracht und es war nur eine Frage eines kurzen Zeitraums, bis sie aufging und üppig in den Köpfen der Überlebenden gedieh sowie prächtig aufblühte in einer Orgie von Konkurrenz, Mißtrauen, Zwietracht, Haß und Gewalt. Im Grunde huldigten die Menschen damit ihrem Peiniger Atrev, machten sich zum Werkzeug seiner Rache, indem sie beginnen würden, sich gegenseitig fertigzumachen.

Wieder oben hoch in der Luft, lachte Atrev erfreut über sein zerstörerisches Werk und hielt unübersehbar Ausschau. Wirklich näherte sich von Weitem durch die Luft etwas und Atrev forderte Remia auf, sich unten zu verbergen sowie zu beobachten, denn das sei zweifellos jener verräterische Drachen, herbeigerufen durch das Chaos in seinem Territorium. Es würde zum Kampf kommen.

Remia entfernte sich schnell und landete, verbarg sich, aber doch so, daß sie neugierig beobachten konnte.
Sie wußte in dieser Situation nicht, zu wem sie hätte halten können oder sollen, hatten es nicht beide verdient, wenn sie sich gegenseitig zerfleischten und für immer vom Himmel holten?
Oder mußte sie aus verwandtschaftlicher Verpflichtung zu Atrev halten?
Oder gerade wegen all dem, was dieser ihr schon angetan hatte, eher gegen ihn sein sowie froh sein, wenn sie nun von ihm befreit würde?
Aber was würde sie allein tun, wie würde es ohne Atrev weitergehen?
Irgendwie sicherlich, wenn der verräterischen Drachen sie dann nicht gleichfalls entdeckte und beseitigte. Sie schaute gespannt, wie sich die Dinge entwickeln mochten. Im Grunde ging es sie nicht besonders viel an, denn was auch immer passierte, darin schien für sie kaum eine wirklich dramatische Verbesserung stecken zu können.
Es schien ihr alles so sinnlos zu sein.
Menschen fielen über Drachen her, um sie zu vernichten, Atrev kommt, rächt diese, indem er eine Region in Brand setzt, ein verräterischer Drachen kommt und sie kämpfen gegeneinander – um was?
Um die Region?
Um die Ehre?
Wegen der Tradition sowie alter Regeln und Gepflogenheiten?
Zum Vergnügen am Kampf und am Tod?
Letztlich war das doch alles egal, es ging immer nur um Zerstörung, Vernichtung, Tod. Spannend war das schon, aber Zernichtung ist nichts, was einen für die Zukunft wirklich weiterbringt. Es bringt niemanden weiter, nicht einmal die Zerstörer selbst, es bringt einfach nur noch mehr Elend sowie Leid, ein zweifelhaftes Vergnügen lediglich für jene, welche sich gerade daran laben können.

Wirklich war der andere Drachen bald heran und es entspann sie am Himmel ein grollender Streit in der Art und Sprache der Drachen. In der Tat war es der verräterische Drachen, welcher hier sein Revier geltend machte sowie seinen guten Vorteil daraus zog, mit den hiesigen Menschen zu kooperieren, was jedoch nur klappte, solange keine anderen Drachen die Region verwüsteten. Den harmlosen Halb-Cousin von Atrev hatte er vermutlich verraten, um ihn so aus seiner Einflußzone zu haben und damit die eigene zu erweitern. Das war eine Intrige, eine Hinterlist gewesen, bei welcher jener Artgenosse eventuell übersehen hatte, daß Atrev zur Verwandtschaft gehörte.
Oder sollte dieser damit absichtlich provoziert werden?

Und dann begann der Kampf. Das Vorgeplänkel der beiden vor dem Streit hatte schon düstere Wolken zusammenziehen lassen. Nun brach mit dem Kampf ein gewaltiges Unwetter los, daß Blitze nur so zuckten, es in den Wolken nur so grollte und donnerte unter dem mächtigen, gnadenlosen Kampf der Drachen. Immer größer wurde die Unwetterzone, welche die gesamte Gegend heimsuchte und so noch viel mehr Verwüstung über einen deutlich größeren Bereich herbeiführte. Die beiden kämpfenden Drachen kümmerten sich nicht darum, ihr Kampf wurde im Gegenteil immer heftiger und eskalierte. Aufgrund der Wolken blieben Details allerdings Remia verborgen und erst recht anderen möglichen Beobachtern, die allerdings allesamt genug damit zu tun hatten, sich vor dem aus heiterem Himmel aufgetretenen Unwetter in Sicherheit zu bringen, was natürlich um so schwieriger war, als zahlreiche Behausungen von Atrev und Remia komplett zerstört worden waren. Zudem mußte man sich auch noch um die zahlreichen Verletzten und Todgeweihten kümmern, ebenso um bereits Tote, um mit der nassen Flut des Unwetters nicht auch noch Seuchen Vorschub zu leisten.

Der Kampf ging stundenlang unvermindert, eher immer heftiger weiter, die beiden schienen nicht zu erschöpfen. Dann aber war es womöglich entschieden und die Angelegenheit ging dem Ende entgegen. Atrev würde siegen. Ziemlich in der Nähe von Remias Aufenthaltsort kamen sie herunter. Beide waren verletzt, doch der fremde, verräterische Drachen war mehrfach schwer angeschlagen sowie getroffen. Stark geschwächt versuchte er sein Glück in der Flucht durch den dichten Wald, nun in Menschengestalt. Atrev würde es so in Drachengestalt schwerfallen, ihm zu folgen. Aber die Strategie war nicht besonders gut, denn Atrev scheuchte ihn immer wieder mit kleinen Feuerstößen in eine Richtung fort, nicht einmal besonders eifrig, als wolle er sein Opfer gar nicht erwischen, sondern lediglich jagen wie eine Katze die Maus.

Remia folgte neugierig und ebenso gespannt. Atrev hatte sein Opfer auf eine Wiese vor einem kleinen Tümpel zugetrieben, stürzte sich nun auf den verletzten sowie erschöpften Gegner, erwischte blitzschnell dessen Menschengestalt, hob sie ein ganzes Stück empor und schleuderte den Gegner noch ein wenig weiter empor. Anschließend fiel das Opfer aus der Höhe auf den See zu. Das noch immer tobende Gewitter ließ einen Blitz ganz in der Nähe niederfahren, als das Opfer auf einen Steg am Rand des Tümpels krachte und darauf weiter kroch. Atrev kam nun völlig ruhig hinzu und gab seinem Opfer den Rest, indem er diesem einfach das Genick brach und in den See warf.

Atrev hatte nur leichte Verletzungen, kam auf Remia zu und meinte nur zynisch lachend: ‚Man wird sich unter den Menschen schnell einig sein, daß er hier am See war, erschrocken stürzte, als in der Nähe ein Blitz einschlug …‘ – dabei wies er auf einen dampfenden Baum in der Nähe, in welchen wirklich der Blitz mit gewaltigem Krachen gefahren war – ‚dabei krachte er unglücklich auf den Steg. An einem blutigen Pfahl sieht man ja noch Spuren sowie frische Absplitterungen. Dabei hat er sich das Genick gebrochen und ist ins Wasser gefallen – und war er nicht bereits tot, so ist er dort ersoffen, so werden die Menschen alles feststellen und keine weiteren Dinge hinterfragen. Unsere Mission hier ist abgeschlossen, der Verräter ist erledigt, du hast deine Lektionen bekommen, wir kehren heim.
Zudem hast du nun gelernt, warum man von drakonischen Strafen spricht, wenn sie so heftig wie hier ausfallen.
Sie werden den Maßstäben eines Drachen gerecht, nicht etwa nur denen eines antiken Gesetzgebers!‘

Und so geschah es, schweigend flogen sie fort. Das Unwetter beruhigte sich nur langsam, eine verwüstete Region hinterlassend.
Wer konnte jetzt noch sagen, was von Sturm, Unwetter und Gewitter verwüstet wurde und was von einem Drachen?
Letztlich war es wohl auch egal für die Menschen – ein weiterer herber Schicksalsschlag. Es würde in der Erinnerung verwischen und man würde sich Geschichten erzählen, jedenfalls jene, welche die Katastrophe irgendwie überlebten. Diese hatten immer ihre Sicht auf die Dinge. Wer überlebt, hat auch immer die Deutungshoheit über die Geschichten und damit genauso über die Geschichte.

Remia hatte wirklich ihre Lektionen gelernt. Sie fand alles abscheulich, was sie heute gesehen hatte, die Taten der Menschen, die Taten der Drachen, die Auswirkungen des ungezügelten Zorns, der absoluten Gewalt.
Was sollte sie hier?
Sie war allein in dieser trostlosen Welt sowie Atrev ausgeliefert, welcher ihr nur zu deutlich gezeigt hatte, wie gnadenlos er gegen alles vorging, was sich in irgendeiner Weise gegen ihn stellte.“

Lena war entsetzt über all die Gewalt und Verwüstung, schmiegte sich eng an Marie und seufzte nur leise vor dem Grauen, welches Remia miterleben mußte, ja gar gezwungen gewesen war, sich selbst daran zu beteiligen, als Atrev sie aufgefordert hatte, die Tiere in die Häuser zu schmettern. Immerhin hatte sie die Tiere vor dem Zerschmettern bereits getötet. Atrev indes hatte ein einziges Massaker angerichtet, war dem Rausch von Blut sowie Feuer verfallen und hatte all diese Menschen daran teilhaben lassen.

Fabelhafte Belehrung

Marie fuhr fort: „Zuhause angekommen ließ sich indessen Atrev noch zu weiteren Einlassungen herab.

Er belehrte Remia wie folgt: ‚Siehst du, bei solchen Kämpfen, immer im Leben geht es nur darum zu dominieren, zu bestehen, zu überleben, zu siegen. Was immer dazu notwendig sein mag, das ist zu tun.
Und wenn die anderen kommen mit Fairness, Sportlichkeit sowie albernen Regeln, Sprüchen von Ehre und Stolz, so ist doch ganz klar, derlei nützt allenfalls den Schwachen, wenn sich die Starken zurückhalten, indem sie sich an Regeln halten. Oder aber jene, welche die Regeln aufstellen, tun dies primär für die anderen, damit sie sie besser beherrschen und ausnutzen können. Es gibt nichts besseres, als ein Regelwerk, einen Glauben, eine Religion, um andere Leute aufs Kreuz zu legen und für die eigenen Ziele einzuspannen, das solltest du dir merken. Kannst du die Leute für deine Zwecke manipulieren, indem du in ihr Horn bläst, so zögere nicht, hüte dich jedoch davor, auf solche Schlichen selbst hereinzufallen.
Willst du siegen, mußt du gnadenlos und listig sein, skrupellos kämpfen, entschlossen vorgehen. Es hilft dir nichts, wenn du in den Augen der anderen fair gewesen bist, aber deswegen den Kampf verloren hast. Letztlich zählt nur, daß dein Plan gelingt und du triumphierst.‘

Remia verstand natürlich sehr gut, was er meinte. Und bei dem gewonnenen Kampf hatte er sicher so listig gehandelt.
Sie gab allerdings zu bedenken: ‚Vermutlich gibt es doch immer einen Stärkeren oder man ist einmal unaufmerksam. Wenn andere nicht fair sind, keine Rücksicht nehmen, so ist man doch schnell selbst das Opfer. Die Schwächeren können sich überdies zusammenschließen und so den Starken doch besiegen.
Die Regeln, bewahren die nicht allein davor, willkürlich anderen ausgeliefert zu sein?‘

Atrev schüttelte verächtlich den Kopf: ‚Was redest du da?
Wir sind Drachen.
Schwächlinge schließen sich zusammen und kooperieren, aber gut, das ist ihre einzige Möglichkeit.
Doch wir sind Drachen.
Natürlich, wird man unaufmerksam oder schwach, so können andere triumphieren, in solch einer Situation kann man dann immer noch auf die Schliche mit dem Mitleid, der Ehre oder den Regeln setzen, aber wenn es nichts hilft, so geht man eben aufrecht seinem Ende entgegen. Irgendwann ist alles zu Ende, aber bis dahin nutzt man jede Möglichkeit, welche sich einem bietet. Auch wenn man zuvor um sein Leben gebettelt haben mag, so nimmt man dann doch letztlich in Würde hin, was einen erwartet, auch wenn man den anderen gegenüber noch so betteln und schleimen mag, um sie doch noch hereinzulegen, denn merke, sich einzuschleimen sowie anzubiedern, zu belügen und zu betrügen, ist nie Selbstzweck, es ist Strategie, um zu entrinnen und später doch noch zu triumphieren.
Wir sind Drachen und unsere einzige Regel ist zu siegen, zu peinigen und zu quälen, über andere zu triumphieren und zu dominieren!
Das Leben wie ein geknechteter Sklave, ein Almosenempfänger oder auch nur als dummes Schaf in ihrer Herde ist nichts wert. Wir sind Drachen, unser Sein und Streben ist unsere Macht und die Pein der anderen.
Wenn wir Regeln aufstellen, wenn wir an die Fairness appellieren, dann tun wir das, damit sich andere daran halten, damit wir unseren Vorteil daraus ziehen können – und der liegt zumeist gerade darin, sich keineswegs an jene Regeln zu halten, an welche sich die anderen halten, derlei Selbstbestimmung kann den entscheidenden Vorteil bringen, welcher zum Sieg führt!‘

Das war Remia nicht neu, getreu Atrevs eigenem Motto nickte sie brav dazu und dachte sich ihren Teil.
Atrev war jedoch offenkundig noch nicht fertig, denn er fügte hinzu: ‚Ich will dir in dem Zusammenhang die Fabel von Schlange und Krähe erzählen, hör zu!‘
Und so erzählte er folgende Fabel:

Fabel von Schlange und Krähe

Es war ein extrem trockener Sommer und so gab es in der Gegend, in welcher die Giftschlange ihr Revier hatte, viele trockene Gräser und Büsche. Daher wunderte es sehr wenig, daß es irgendwann zu einem großen Brand kam.
Wer konnte, flüchtete.
Die Krähen allerdings profitierten von dem Chaos und plazierten sich, um die vor dem Feuer panisch flüchtenden Kleintiere zu stellen und sie so zum Teil ihres Festmahls zu machen. Ja, die mutigsten schnappten sich gar glimmende Ästlein oder qualmendes Stroh, verteilten dies weiter, um an anderer Stelle einen Brand zu entfachen. Rechtzeitig konnten sie leicht vor dem nahenden Feuer davonfliegen. Sie konnten so schnell und hoch fliegen, um so dem Feuer gar zu entkommen, wenn es sie umzingelt hatte.

Die Giftschlange hatte schnell erkannt, was nun zu tun sei, um nicht selbst Opfer zu werden und doch die Situation zu nutzen. Sie schlich sich an eine Krähe heran und mit einem Sprung war sie auf ihr und hatte sich um sie gewickelt. Drohend zeigte sie ihre Giftzähne und forderte die Krähe auf, sie aus der Gefahrenzone zu bringen.

Die Krähe indes war gleichfalls schlau und kannte die Hinterlist der Schlange, sprach daher: ‚Warum sollte ich das tun, ich kenne dich sowie deine Art. Wenn ich dich sicher abgesetzt habe, so wirst du mich beißen und fressen.‘
Die Schlange jedoch erwiderte: ‚Nein, werde ich mitnichten, ich verspreche es. Aber tust du es nicht, so werde ich dich gleich beißen sowie vergiften, mir anschließend eine andere Krähe aus deiner Sippe suchen, welche mir letztlich doch zu Willen ist. Fliegst du mich allerdings in Sicherheit, so will ich dich ziehen lassen als Lohn für deine Hilfe.‘

So mußte sich die Krähe fügen und erhob sich mit ihrer Last, um die Schlange in Sicherheit zu bringen, zudem fort von ihrer Sippe, um welche sie sich sorgte.
Hoch oben, noch über dem Feuer aber biß die Schlange trotzdem zu. Die Krähe spürte ihre Kräfte durch das Gift schwinden und der Schmerz peinigte furchtbar.
Mit letzter Kraft fragte die Krähe: ‚Warum hast du das getan, nun werden wir beide hinab ins Feuer fallen und beide sterben.‘
Die Schlange aber erwiderte: ‚Oh was kann ich tun?
Es hat gar zu lange gedauert und die Gewißheit deiner Pein und deines Schmerzes, wie du dich unter dem Einfluß des Giftes winden wirst, hat gar zu sehr gelockt.
Ich konnte nicht anders!
Das Vergnügen, jetzt gewiß zu vergiften, schien verlockender als eine ungewisse Option in der Zukunft.‘

Und kurz darauf war die Krähe am Ende, vielleicht hätte sie es noch bis jenseits des Feuers geschafft, doch sie zog es vor, mit letzter Kraft einen Bogen zu fliegen und nahm die Schlange mit in das brennende Feuer und das Nichts des Todes.

Remia meinte dazu: ‚Nun, die Krähe hat wohl Recht, die Schlange hätte überleben können und sie hätten sich friedlich trennen können, ihre Ungeduld, Gier sowie Bosheit ist ihr Schicksal geworden.‘
Atrev jedoch lachte: ‚Es war eben zu verlockend, das Gift mußte heraus.‘
Remia indes meinte: ‚Ich würde die Fabel anders erzählen.‘
Atrev erwiderte: ‚Nun gut, dann laß hören, daß ich etwas Unterhaltung habe und lachen kann!‘
Und so erzählte Remia die Fabel von Krähe und Schlange:

Fabel von Krähe und Schlange

Es war ein extrem trockener Sommer und so gab es in der Gegend, in welcher die Krähen ihr Revier hatten, viele trockene Gräser und Büsche. Deshalb war es keineswegs überraschend, daß es irgendwann zu einem großen Brand kam.
Wer konnte, flüchtete.
Die Krähen allerdings profitierten von dem Chaos und plazierten sich, um die vor dem Feuer panisch flüchtenden Kleintiere zu stellen und sie so zum Teil ihres Festmahls zu machen. Ja, die mutigsten schnappten sich gar glimmende Ästlein oder qualmendes Stroh, verteilten dies weiter, um an anderer Stelle einen Brand zu entfachen. Rechtzeitig konnten sie leicht vor dem nahenden Feuer davonfliegen. Sie konnten so schnell und hoch fliegen, um so dem Feuer gar zu entkommen, wenn es sie umzingelt hatte.

Die Giftschlange hatte schnell erkannt, was nun zu tun sei, um nicht selbst Opfer zu werden und doch die Situation zu nutzen. Sie schlich sich an eine Krähe heran und mit einem Sprung war sie auf ihr und hatte sich um sie gewickelt. Drohend zeigte sie ihre Giftzähne und forderte die Krähe auf, sie aus der Gefahrenzone zu bringen.

Die Krähe indes war ebenfalls schlau und kannte die Hinterlist der Schlange und sprach deshalb: ‚Warum sollte ich das tun, ich kenne dich und deine Art. Wenn ich dich sicher abgesetzt habe, so wirst du mich beißen und fressen.‘
Die Schlange aber erwiderte: ‚Nein, werde ich nicht, ich verspreche es.‘

Die Krähe jedoch gab zu bedenken: ‚Oh, du bist so arglistig und verdorben bis ins Mark, du wirst mich gleich noch im Fluge beißen und vergiften, nur weil du Lust dazu hast!‘
Die Schlange indessen zischte zurück: ‚Du bist von Sinnen, warum sollte ich das tun, dann würde ich doch selber im Feuer geröstet werden und sterben!
Den Flug kannst du ruhig wagen – und du bist geschickt und ebenso schlau, bei der Landung wird es dir zweifellos gelingen, mich abzuschütteln sowie sogleich fortzufliegen, noch bevor ich dich beißen kann.
Das Feuer ist schon nah, bringe mich hier heraus!
Aber tust du es nicht, so werde ich dich gleich beißen sowie vergiften, mir anschließend eine andere Krähe aus deiner Sippe suchen, welche mir zu Willen ist. Dieses Spiel wird sich solange wiederholen, bis mir eine zu Willen ist oder alle tot sind, dann hätten alle verloren. Fliegst du mich jedoch in Sicherheit, so will ich dich ziehen lassen als Lohn für deine Hilfe und auch deine Sippe bleibt von mir unbehelligt, weil ich dann ja nicht mehr hier bin, wo sie nach den Opfern des Feuers jagen.‘

So stellte die Krähe Vor- und Nachteile gegenüber, wog ab, fügte sich letztlich dem Willen der Schlange und erhob sich mit ihrer Last, um die Schlange in Sicherheit zu bringen sowie fort von ihrer Sippe, um welche sie sich sorgte. Hoch oben, noch über dem Feuer allerdings klappte die Krähe ihre Flügel plötzlich ein und stürzte sich in das lodernde Feuer.
Sie spürten schon die Hitze der Flammen und man roch schon, wie das Gefieder der Krähe bereits schmorte, da fragte die Schlange: ‚Warum hast du das getan?
Nun werden wir beide im Feuer rösten und beide sterben.
Worin liegt der Sinn und Vorteil deiner Tat?‘
Die Krähe allerdings erwiderte: ‚Ich kenne dich, hätte ich dich gerettet, so hättest du nicht nur mich vergiftet, sondern du hättest auch weiterhin andere Krähen aus meiner Sippe gesucht und ebenfalls umgebracht, nur um zu zeigen, daß du es kannst.‘
Und so stürzte die Krähe mit der Schlange in das brennende Feuer und das Nichts des Todes.

Atrev aber lachte wirklich und meinte: ‚Oh Remia, was für eine armselige, rührselige Geschichte – eine Krähe, welche sich für die eigene Sippe aufopfert.
Das ist doch mitleidiges, dummes sowie naives Menschengeschwätz, was lernst du nur in der Schule – und glaubst es auch noch?
Laß dich nur nicht von den Dummköpfen einwickeln mit ihren scheinheiligen Geschichten. Das sind auch alles Betrüger und Halsabschneider, welche lediglich mit Worten und Geschichten einlullen wollen. Na, ich will dir die ganze Geschichte erzählen und du wirst verstehen.‘
Und so erzählte Atrev abermals die Fabel von Drachen, Krähe und Schlange:

Fabel von Drachen, Krähe und Schlange

Es war ein extrem trockener Sommer und so gab es in der Gegend, in welcher der Drachen sein Revier hatte, viele trockene Gräser sowie Büsche. Daher wunderte es sehr wenig, daß es irgendwann zu einem großen Brand kam.
Wer konnte, flüchtete.
Die Krähen allerdings profitierten von dem Chaos und plazierten sich, um die vor dem Feuer panisch flüchtenden Kleintiere zu stellen und sie so zum Teil ihres Festmahls zu machen. Ja, die mutigsten schnappten sich gar glimmende Ästlein oder qualmendes Stroh, verteilten dies weiter, um an anderer Stelle einen Brand zu entfachen. Rechtzeitig konnten sie leicht vor dem nahenden Feuer davonfliegen. Sie konnten so schnell und hoch fliegen, um so dem Feuer gar zu entkommen, wenn es sie umzingelt hatte.

Die Giftschlange hatte schnell erkannt, was nun zu tun sei, um nicht selbst Opfer zu werden und doch die Situation zu nutzen. Sie schlich sich an eine Krähe heran und mit einem Sprung war sie auf ihr und hatte sich um sie gewickelt. Drohend zeigte sie ihre Giftzähne und forderte die Krähe auf, sie aus der Gefahrenzone zu bringen.

Die Krähe aber war auch schlau und kannte die Hinterlist der Schlange und sprach deswegen: ‚Warum sollte ich das tun, ich kenne dich und deine Art. Wenn ich dich sicher abgesetzt habe, so wirst du mich beißen sowie fressen.‘
Die Schlange jedoch erwiderte: ‚Nein, werde ich nicht, ich verspreche es.‘

Die Krähe indes gab zu bedenken: ‚Oh, du bist so arglistig und verdorben bis ins Mark, du wirst mich gleich noch im Fluge beißen und vergiften, nur weil du Lust dazu hast!‘
Die Schlange allerdings zischte zurück: ‚Du bist von Sinnen, warum sollte ich das tun, dann würde ich doch selber im Feuer geröstet werden und sterben!
Den Flug kannst du ruhig wagen – und du bist geschickt sowie schlau, bei der Landung wird es dir zweifellos gelingen, mich abzuschütteln sowie fortzufliegen, noch bevor ich dich beißen kann.
Das Feuer ist nah, bringe mich hier heraus!
Aber tust du es nicht, so werde ich dich gleich beißen sowie vergiften, mir im Anschluß eine andere Krähe aus deiner Sippe suchen, welche mir zu Willen ist. Und das Spiel wird sich wiederholen, bis mir eine zu Willen ist oder alle tot sind, letztendlich hätten alle verloren. Fliegst du mich jedoch in Sicherheit, so will ich dich ziehen lassen als Lohn für deine Hilfe.‘

So mußte sich die Krähe fügen und erhob sich mit ihrer Last, um die Schlange in Sicherheit zu bringen sowie fort von ihrer Sippe, um welche sie sich sorgte. So flogen sie hoch über das Feuer und wären beinahe sicher im feuchten Sumpf angekommen, aber ein Drachen kam heimlich herangeflogen und ditschte der Krähe mit einer Kralle lediglich auf den Flügel, daß die Knochen splitterten und die Krähe abstürzen mußte.
Krähe und Schlange aber waren entsetzt und riefen dem Drachen zu: ‚Warum hast du das getan?
Beinahe hätten wir den rettenden feuchten Sumpf erreicht und wären beide sicher gewesen!
Du hast keinerlei Vorteil von unserem Unglück.
Warum also?‘
Der Drachen aber lachte amüsiert und selbst die Zeit schien einen Augenblick zu zaudern, während er erklärte: ‚Weil ich Lust dazu hatte. Weil ich Vergnügen daran habe, eure Verzweiflung, euren Untergang zu genießen. Weil es meine Natur ist. So ist mein Charakter, meine Neigung, mein Wesen. Ich kann anders, aber ich will es nicht, an eurem Glück, eurer Rettung vor dem Feuerinferno habe ich kein Vergnügen, euer Elend zeigt mir immerhin, daß ich lebe und euch alle beherrsche und unterdrücke, mich eurer bedingungslos bediene, wenn mir danach ist. Und so soll es auch sein, weil ich ein Drachen bin, ihr jedoch bloß nichtiges Getier, Spielzeug in meinem Revier.
Weil ich euch alle leiden und sterben sehen will, darum habe ich das Feuer gelegt, um alle zu peinigen. Die Krähensippe hat es gar zum eigenen Vorteil noch weiter verbreitet.
Wie hätte ich da euch ziehen lassen können?‘

Und so stürzte die Krähe mit der Schlange in das brennende Feuer und das Nichts des Todes.
Der Drachen indes flog wohlgemut davon, versenkte und röstete auch noch den Rest der Sippe der Krähen, legte einen noch weiteren Feuerring, um alle zugrunde zu richten, welche darin waren und zog endlich weiter, um an anderen Orten weiter Unheil zu stiften, wie es seine Art war.

Remia nickte nur, ja dies war wohl die Art der Drachen. Das war es, was Atrev gern tat, so war seine Natur und sie schwieg.“

Marie machte auch eine Pause und Lena seufzte: „Das ist also das Wesen der Drachen?“
Marie nickte: „Ja, so sind sie!
So ist das Wesen der Drachen!“
Lena meinte: „Wie man es auch dreht und wendet mit den Fabeln, immer enden Krähe und Schlange im Feuer.
Einzig der Drachen triumphiert und weidet sich an Pein und Zerstörung!“
Marie erwiderte: „Nun, so hat Atrev es eingerichtet, oder?
Es ist eine Fabel, eine Geschichte, und der Erzähler bestimmt über Pointe und Lehre daraus.
An uns ist es, sie anzunehmen oder auch nicht, oder unsere Schlüsse daraus zu ziehen!
Wir interpretieren selbst, was erzählt wird.“
Lena stellte fest: „Nun, und nicht alle Drachen sind gleich.
Remia ist ohnehin nicht solch ein Ungeheuer, dies erkennt man an ihrer Version der Fabel, die Krähe setzt sich ein, opfert sich gar!
Remia ist ein netter Drachen und nicht so gemein und rücksichtslos wie Atrev!“
Marie ergänzte dazu: „Dafür ist Remia aber auch allein, denn Atrev akzeptiert keine andere Art als die seine.“

Das Kätzchen

Lena war aber auch etwas traurig, weil Remia so allein war, so flüsterte sie in die Weltuntergangsstimmung hinein, welche der Sturm immer noch verbreitete: „Aber wenn Remia so allein ist, ist das so traurig. Sie hat keine Mutter, keine Freunde – und wenn sie es auch in der Schule so schön findet, weil es weit weg von Atrev ist, so ist sie doch allein und einsam.
Kann sie keinen Freund, keine Freundin haben?“
Marie hatte Zweifel: „Na, Drachen sind eben Einzelgänger und anders, daher ist es nicht so einfach, Freunde zu finden, Drachen sind eben einsam. Du hast ja gehört, was passiert ist, als Atrev auf den anderen Drachen getroffen ist – und was er über seine Verwandtschaft gedacht hat, obgleich er deren Schicksal dann doch zum Anlaß genommen hat, in jener Region ein Inferno zu entfachen.“
Lena seufzte enttäuscht: „Ja, seine Reaktion war entsetzlich, jedoch ebenso, was man mit der Drachenfamilie getan hat.
Ist da aber wirklich gar niemand, welcher sich zu Remia gesellen mag?
Es muß doch jemanden geben, der erkennen kann, daß sie eigentlich ganz nett ist.“
Marie zögerte einen Moment, wurde unsicher, meinte dann endlich: „Gut, irgendwann gab es in der Tat wirklich jemanden, ein Kätzchen, allerdings ist dies keine schöne Geschichte, wir sollten vielleicht nicht darauf eingehen.“

Lena war jedoch interessiert. Selbst hätte sie sehr gerne ein Kätzchen gehabt, deshalb wollte sie Remia gerne eines gönnen. Den Aspekt, daß die Geschichte nicht so schön sei, hatte sie dabei beinahe überhört, dachte sich allerdings doch, sie könnte ja unterbrechen und das drohende Schicksal abwenden, wenn es so weit sei.
So warf sie also ein: „Doch, Remia soll das Kätzchen kennenlernen, das ist wichtig!“
Marie hatte damit gerechnet und dachte sich ‚Na gut, du hast es so gewollt, dann sollst du die Geschichte auch hören‘.
Laut aber setzte sie die Erzählung fort: „Also gut, eines Tages war Remia wie immer auf dem Heimweg von der Schule, allein, dachte darüber nach, was sie gelernt hatte, dachte und prägte sich ein, stellte sich Fragen, prüfend, ob sie selbst eine Antwort finden konnte in all dem, was sie sich schon gemerkt hatte oder wo sie in den Büchern Daheim nachschlagen könnte, denn Atrev hatte eine große Bibliothek und Remia durfte diese nutzen, um zu lernen. Wenn das alles nichts half, so könnte sie immer noch eine Frage zurechtlegen und einen Lehrer fragen oder im allerschlimmsten Falle ebenfalls Atrev, zwar würde sie auch dann wieder dulden müssen, weil sie seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, aber das war kaum zu ändern, quälender wäre immer noch die unbeantwortete Frage gewesen, ob lediglich sie das nicht wußte oder sonst auch niemand. Denn oft stellt sich heraus, daß die wirklich schlauen Fragen auch sonst niemand zu stellen wagt, geschweige denn, zu beantworten weiß.

Ihr war natürlich klar, daß sich niemals auch nur zu jeder sinnvollen Frage eine sinnvolle Antwort finden ließe, so ließ sie es ohnehin dabei bewenden, jene Fragen zu stellen, von denen sie annahm, daß sich jemand hilfreich dazu äußern konnte. Von den anderen fand sie reichlich auch in Büchern.
Es gab also Andere, welche weniger Bedenken hatten, Leser von Büchern mit solch ungelösten Fragen ohne Antwort zu belästigen – oder zu vergnügen?
Sie war sich da nie so ganz sicher, wie man das zu verstehen hatte, Fragen ohne Chance auf eine befriedigende Antwort zu stellen.
Manches Mal glichen diese Fragen den ihren, aber einige der ihren fand sie auch nicht bereits gestellt, noch vermutete sie, daß jemand darauf etwas Hilfreiches zu erwidern wüßte. So barg sie solche Fragen in sich und knobelte bisweilen selbst daran herum, wenn sie etwas Zeit dafür hatte – und die gab es im Grunde reichlich, denn Daheim sollte sie ja nicht viel mehr unternehmen, als sitzen, lernen, lesen sowie denken. Überhaupt hatte sie dadurch schnell gelernt, recht selbständig und sorgfältig zu denken, selber Lösungen zu finden, zu forschen sowie sich zu überlegen, wie sie zu plausiblen Antworten kommen konnte, sie verließ sich nicht so gerne auf andere Personen.
Zudem gab es Daheim ja die primäre Hausregel, welche von fundamentaler Wichtigkeit war, um halbwegs gut durchzukommen: Nur keine Hektik ins Haus tragen, keine Unruhe verursachen, sondern das eigene Wissen mehren und sich für Atrevs Launen verfügbar halten.

Irgendwas störte sie in ihren Überlegungen.
Es fühlte sich an, als sei da jemand.
Sie sah sich um, konnte jedoch nichts entdecken?
Eine Täuschung?
Drachen täuschten sich in solchen Sachen eigentlich nicht.
Sie beschloß weiterzugehen, jedoch aufmerksam zu bleiben. Folglich ging sie ein Stück weiter, als wäre nichts passiert, drehte sich dann allerdings plötzlich wieder um, blitzschnell, wie nur Drachen es können, sie hatte eine Bewegung im hohen Gras neben dem Weg gesehen, aber niemanden, welcher dafür verantwortlich war.
Sollte sie zu der Stelle springen und den Störenfried stellen?
Sie entschied sich anders, tat, als hätte sie doch nichts bemerkt, hätte aufgegeben und tat ein wenig lächerlich, indem sie gar hüpfte, wie die dummen kleinen Mädchen in der Schule es gerne taten. Sie hüpfte also so grazil und heiter nach Hause, daß es eine Zier für ein kleines Mädchen gewesen wäre, nicht so für ein kleines Drachen-Mädchen.

Beinahe Daheim jedoch konnte sie inzwischen mit ihrem feinen Gehör sehr gut lokalisieren, wo der Störenfried schleichen mußte. Aber sie sprang nicht, nein, sie blieb einfach stehen, drehte sich langsam um und wartete, sie dachte sich, es wäre doch sehr albern, dem Störenfried Futter zu geben, indem sie sich beeindruckt zeigte. Es blieb eine Weile still.

Dann bewegte sich etwas im hohen Gras und ein kleines Kätzchen kam auf den Weg und lief genau auf Remia zu. Das war nun wirklich süß und sein Miauen klang so traurig, gleich wußte Remia, auch das Kätzchen hatte niemanden und war ganz allein. Sie ließ es herankommen. Putzig sah es aus, eher hell, aber quasi mit einem dunklen Fleck an der linken vorderen Tatze, als würde das Kätzchen eine Socke tragen. Noch auffälliger aber war ein großer, schwarzer Fleck im Fell auf dem Kopf, als hätte das Kätzchen eine Mütze leicht schräg aufgesetzt.
Remia war auf den Schlag schwer beeindruckt, wie konnte ein Wesen bloß dermaßen süß sein – und dann auch noch so traulich und bettelnd miauen?
Sie schloß das kleine Wesen gleich ins Herz, bückte sich gar, um es zu locken. Daß ein Drachen etwas anderes in sein Herz schloß als Haß, zerstörerische Pläne oder Finsternis, war dabei schon erstaunlich genug, aber wenn Remia es nüchtern betrachtet hätte, hätte sie es eher distanziert als spontane intellektuelle Sympathie beschrieben, nicht als emotionale Gefühlsduselei. Aber egal.
Das alles zählte für Remia augenblicklich gar nichts, was ging sie ihr Drachen-Dasein an, jetzt und hier mit diesem Kätzchen?
Sie hatte ja keine Erfahrung damit, freundlich zu schmeicheln oder jemanden zu locken, für sich einzunehmen. Was sie darüber von Atrev hätte lernen können, schien ihr letztlich zweifelhaft zu sein. So war dies hier eine neue Erfahrung. Sie war neugierig auf jenes Kätzchen und das Erstaunlichste vielleicht: Sie atmete gar etwas schneller, ihr Herz pochte gar ein wenig wild. Plötzlich schien etwas Ungewisses in ihr Leben getreten zu sein.

Für gewöhnlich, muß man wohl sagen, hielten sich Tiere von Drachen eher fern, instinktiv spürten sie wohl das Unheil, was hier drohte. Dies Kätzchen aber war gleich zutraulich, umschmeichelte kurz vorsichtig Remias ausgestreckte Hand, schubberte daran vorbei, den Arm entlang, an Remias Beinen vorbei sowie rundherum, um sodann nach einer kompletten Runde wieder an Remias Hand zu erscheinen.
Das Tier schien alles zu geben, wirkte zerbrechlich und auch etwas erschöpft, so schwach und hilfsbedürftig, schaute so sehnsüchtig und zutraulich.
Oder war es doch bereits so am Ende, daß es hoffte, in der Anwesenheit eines Drachen einen schnellen Tod zu finden?
Das waren indessen nicht Remias Gedanken in diesem Augenblick, sie erlag nur einfach dem Reiz des Kätzchens und handelte und dachte mitnichten wie ein Drachen.
Diese konnte ihr Glück kaum fassen, jemand, welcher sich für sie interessierte?
Das schien ihr sehr bemerkenswert zu sein – und was sonst nicht passierte, ihr Herz schlug nun wirklich deutlich schneller, sie war auf jeden Fall interessiert, neugierig, aufgeregt sowie gleichfalls vergnügt, ungewohnte Gefühle durchströmten sie, welche sonst Gefühle eher von sich wies wie ein echter Drachen. Aber das Kätzchen war wirklich zu süß. Sie konnte nicht widerstehen. Sanft kraulte sie das Kätzchen, welches genüßlich zu schnurren begann, vielleicht, nein, bestimmt um Freundschaft bittend oder sie anbietend.
Remia wollte, oh ja! sie wollte so sehr!
Wie gern wollte sie, entschlossen und doch vorsichtig griff sie dieses abgemagerte Kätzchen und erhob sich damit, streichelte das nun genüßlich, aber auch etwas schüchtern schnurrende Tier.

Alles schien gut mit den beiden und Remia war so glücklich, daß sich ihr Herz zusammenzog, nicht mehr allein, ein Spielgefährte!
Doch da bekam sie sogleich einen Schreck, wenn Atrev das bemerkte, käme es zu einer Katastrophe, das würde grauenhaft für das Kätzchen werden und ebenso für sie selbst. Aber sie wollte es auch nicht wieder hergeben. Hier dämmerte es ihr bereits in der ersten Minute des Kennenlernens, ließ man sich auf jemanden ein, mußte man sich darauf gefaßt machen, daß man es gleichfalls mit einer Menge neuer Probleme zu tun bekommt, welche man ohne das Kennenlernen niemals gehabt hätte, aber der Vorteil der neuen Erfahrung, der Austausch schien beinahe jedes damit verbundene Problem mehr als aufzuwiegen.

Nun krampfte sich erst recht alles in ihr zusammen, gewonnen und gleich wieder zerronnen?
Sie fühlte einen tiefen Schmerz in sich. Das war ein neues Gefühl oder eine neue Empfindung, welche sich gleichzeitig schlecht, aber auch interessant anfühlte. Das war etwas ganz anderes, nicht so wie der körperliche Schmerz, den ihr Atrev oft zufügte, welcher ein alter, wenngleich nicht beliebter Bekannter war. Aber sie wollte keineswegs aufgeben, es fühlte sich so gut an, die freundlich schnurrende neue Freundin in Katzengestalt mit dem weichen Fell in ihren Händen, das war unvergleichbar. Unwillkürlich drückte sie das Fellknäuel fester an sich. Sie weinte, was kaum jemals passierte, denn richtige Drachen weinen nicht.

Wenn Atrev sie als kleines Kind einmal hatte weinen sehen, hat er ihr nur zu deutlich gezeigt, wie hart solche Schwäche bestraft wird. Remia drückte das Fellknäuel noch fester an ihre Brust. Sie merkte gar nicht, wie das Kätzchen schon gar nicht mehr schnurrte, sondern eher verzweifelt klang. Aber Remias Verzweiflung ließ sie nichts wahrnehmen, verdeckte alles in ihr. Sie fand keinen Weg. In diesem Augenblick war ihr das Leben erst recht ein Rätsel, vielleicht auch eine der großen Fragen, welche sich nicht wirklich zu formulieren lohnten, geschweige denn zu stellen.

Das Kätzchen hatte inzwischen arge Angst und lernte auf die harte Art, daß es nicht klug ist, sich einem Drachen, auch einem netten, zu nähern. Es begann, sich zu wehren sowie zu kratzen, als der Atem knapper und knapper wurde. Remia war so mit ihrer Verzweiflung beschäftigt, merkte es gar nicht, drückte nur noch fester, nicht bewußt, aus einem Reflex heraus, um das teure Wesen nicht zu verlieren.

Dann bewegte sich das Kätzchen nicht mehr. Es wurde schlaff in Remias Armen, welche es zerkratzt hatte. Erst jetzt bemerkte Remia etwas, schaute, fühlte und schien gleich in ein endloses Loch zu fallen. Leblos war das Kätzchen! …“
Lena unterbrach entsetzt: „Nein!
Das darf nicht sein!
Das arme Kätzchen darf nicht tot sein.
Remia ist doch nett!“
Marie verstand den Einwand vermutlich erst gar nicht, versuchte das Geschehen aber nun fast hektisch zu rechtfertigen: „Aber sie hat es doch nicht mit Absicht getan, sie hat es mit ihrer Zuneigung erdrückt sowie erstickt, ein Versehen, nur ein Versehen. Remia ist so überrascht worden, daß sie völlig die Kontrolle verloren hat. Die Freude über die Begegnung hat sie völlig aus dem Konzept gebracht.
Da kann das schon passieren, ja es kann passieren!
Ohne Absicht, ohne Schuld!“
Lena war wirklich aufgebracht: „Nein!
Remia kann das nicht zulassen!
Sie ist ein guter Drachen!
Und sie kennt einen Weg!
Bestimmt!
Sie kennt doch einen Weg?
Bitte …“
Lena seufzte ganz verzweifelt, wie sie sich das tote Kätzchen in Remias Armen vorstellte.
Beide schwiegen einen Moment, das Gewitter draußen machte jedoch unverdrossen heftig Radau.
Marie war ganz ruhig geworden, entgegnete: „Meinst du wirklich?
Und sie ist Einzelgängerin.
Ich habe es gesagt, diese Episode der Geschichte ist nicht schön, wie hätten sie auslassen sollen.“

Lena aber hatte sich aufgerichtet, schüttelte entschlossen den Kopf, wiederholte: „Remia kennt einen Weg!“
Einen grauenhaften Moment lang war Stille, selbst das Unwetter draußen schien nun einen Augenblick innezuhalten.
Marie überlegte.
Dann flüsterte sie: „Vielleicht kennt Remia wirklich einen Weg …“
Lena stockte der Atem, sie hauchte nur so eben: „Welchen?“

Marie räusperte sich und fuhr in gleicher, ruhiger Tonlage wie zu Beginn der Geschichte einfach fort: „Man muß wissen, im Drachen ist nicht nur das Feuer des Unheils sowie des Todes, nein, ein Drachen, der dies nie gespien hat, hat besondere Wirkungen in sich. Remia selbst wußte das nicht einmal, aber sie wollte das Kätzchen unbedingt retten, nahm es an ihren Mund, küßte es sanft und hauchte ihm von ihrem Atem ein, so viel, wie ihr richtig erschien. Und wirklich, kaum breitete sich der Atem des Drachens im kleinen Leib des Kätzchens aus, so kam es noch einmal ins Leben zurück.

Man sagt ja manchmal, eine Katze habe sieben Leben. Eines hatte das kleine Kätzchen wohl verloren, aber ein weiteres von Remia soeben geschenkt bekommen. Das Kätzchen zappelte verwirrt und Remia hatte so viel Angst, daß sie das Kätzchen zu Boden setzte. Keinesfalls wollte sie riskieren, dem Kätzchen noch einmal im Überschwang der Gefühle ein Leid zu tun.
Das Kätzchen aber hatte seine Lektion gelernt und floh schleunigst ins hohe Gras der Wiese. Anschließend jedoch stand es auf einem kleinen Hügel in sicherer Entfernung und schaute zurück zu Remia. Es gab eine Verbindung zwischen ihnen, ganz allein waren sie nicht mehr und konnten doch auch nicht zusammen sein. Das Kätzchen verschwand wieder im Gras. Dies war mitnichten die erste dramatische Lektion im jungen Leben des Kätzchens gewesen, die früheren hatten sie alleine hierher geführt, woher sie kam, drohte der Tod, dem sie auch dort bereits entronnen war.
Remia war gleichzeitig erleichtert, glücklich und doch wieder traurig. Nicht mehr ganz allein und doch einsamer als je zuvor.“

Marie hielt inne. Lena war noch immer gänzlich aufgelöst vor Aufregung, fragte kurz darauf nach: „Das Kätzchen ist also wieder weg?
Oh, die arme Remia!“
Marie aber sprach dazu: „Nun, es ist ja noch da, nicht ganz weg, es ist eben lediglich vorsichtig, bleibt auf Distanz, kann man doch verstehen. Mit Drachen ist eben nicht zu spaßen.“
Das hatte Lena nun gut verstanden und ihr tat Remia sehr leid, denn sie konnte wohl verstehen, daß man noch viel einsamer war, wenn man jemanden verloren hatte, wie ihre Mutter einsam war, als ihr Vater nicht mehr war. Aber immerhin, das Kätzchen lebte noch.
Marie schien zu ahnen, was Lena dachte, vermutete, es sei eine gute Idee, sie mehr einzubeziehen, ihr etwas Spielraum zu geben und meinte: „Nun, du hast das Kätzchen durch deinen entschiedenen Einspruch gerettet.
Also denke ich, darfst du dem Kätzchen auch einen Namen geben!“
Lena war ganz überrascht – hatte wirklich sie das Kätzchen gerettet?
Hatte sie jetzt eine Verantwortung?
Und sie durfte einen Namen aussuchen?
Sie war ganz aufgeregt, aber ihr fiel auch gleich ein guter Namen ein: „Das Kätzchen sollte Mütze heißen, weil es doch diesen Fleck auf dem Kopf hat!“
Marie war einverstanden: „So soll es sein!“

Konsequenzen

Sie machten eine Pause, das Unwetter draußen allerdings tobte unvermindert weiter. Trotzdem meinte Marie: „Vielleicht solltest du doch einmal schauen, ob deine Mutter inzwischen da ist, vermutlich nicht, aber wenn, macht sie sich sicherlich Sorgen.“
Lena nickte, wickelte sich aus der Decke, ging quer durch den Dachboden sowie zur Tür, eilte danach das Treppenhaus hinunter.

Marie wartete bewegungslos, wie abwesend im Sessel, ließ einfach die Zeit verstreichen, wovon sie der wilde Sturm draußen nicht abhielt. Bei ihr war alles ruhig, selbst der Sessel traute sich nicht zu knarren.
Sie dachte nach, ja, Lena hatte der Geschichte wirklich eine andere Wendung gegeben, warum hatte sie das nicht gekonnt, warum hatte sie Mütze nicht retten können?
Wäre dann alles anders gekommen?
Wohl kaum, was hätte ein Kätzchen geändert?
Oder hätte ein Kätzchen alles zu ändern vermocht?
Aber natürlich, wenn irgendwo ein Schmetterling mit den Flügeln wackelt, wenn irgendwo ein Sack Reis umfällt, konnte das ja letztlich auch angeblich in extremen Fällen das Wetter komplett ändern. Einzelne Entscheidungen zu bestimmten Zeitpunkten konnten natürlich massive Auswirkungen auf die Zukunft haben. Andere hatten das nicht unbedingt, nur konnte man vorher nie so genau wissen, was zu was führen würde.
Wüßte man vorher schon alles, wäre das Leben viel einfacher, aber auch langweiliger, man würde jedoch in der Folge in einer ganz anderen, simpleren Welt leben, denn wie sonst könnte man alles darüber wissen?
Es wäre wohl eine ziemlich banale Welt.
Marie war schon gespannt, wie die Geschichte weitergehen würde, sie war sich nicht mehr so sicher.
Wenn Lenas Mutter schon da wäre, würden sie es wohl nie erfahren.

Lena indessen klingelte an der Wohnungstür, wartete, klingelte erneut, aber ihre Mutter war gewiß noch nicht daheim. Lena sorgte sich nicht sonderlich. So war immerhin noch Zeit, mehr über Remia zu erfahren. Und sie war neugierig geworden. Drachen mochten schon seltsame Wesen sein, so anders – und zweifellos sehr gefährlich für Menschen und Tiere.
Atrev insbesondere war furchtbar, beängstigend und grausam, Remia hingegen hatte einen komplizierteren Charakter, einerseits von Atrev gedrängt und auch bedrängt, aber dann doch eindeutig gleichfalls mit eigener Meinung über die Welt und wie man sich gegenüber anderen verhalten sollte.
Lena war sich auch oft nicht so sicher, wie es richtig ging und hatte Zweifel. Manchmal ist eben alles so kompliziert und ein klarer, einfacher und sauberer Ausweg mag sich einfach nicht zeigen. Und da wußte sie natürlich auch nie, was sie tun sollte, was nun richtig wäre, wobei allerdings etwas passieren mußte, denn es ging ja immer irgendwie weiter, nur eben anders, je nachdem, was man tat oder auch nicht.
Und was sollte da Remia erst mit ihren Problemen sagen?
Dabei fühlte sie durchaus mit Remia mit, obwohl deren Probleme viel größer sowie dramatischer waren als ihre eigenen.
Wird es Remia gelingen, sich gegen Atrev zu behaupten?
Wie mochte es mit Mütze weitergehen?
Welch grauenhafte Ereignisse und Erlebnisse würde sie noch überstehen müssen?
All diese Ungewißheiten gruselten sie etwas, zogen sie aber doch auch enorm an.
Ihre Mutter hatte nicht geöffnet, kein Laut aus der Wohnung. Es blieb noch Zeit.
Sie kehrte also um, ging wieder hinauf auf den Dachboden. Sie ließ diesmal allerdings die Tür auf, schob mit dem Fuß einen Keil darunter. Vielleicht, so vermutete sie, würden sie hören, wenn jemand im Treppenhaus wäre.

Marie saß ja in der Ecke, hinter der aufgehängten Wäsche. Erst als sie durch die Wäsche durch war, konnte Lena sie wieder sehen. Und sie wirkte beinahe wie im Park, Marie schaute einfach ins Leere vor sich und wirkte unheimlich. Lena spürte dies zwar, hatte jedoch mittlerweile Vertrauen gefaßt. Marie war ganz nett und verstand es doch, durch ihre Präsenz zu beeindrucken. Aber sie hatte keine Furcht. Jedenfalls nicht vor Marie, denn der nächste gewaltige Knall eines Blitzes draußen ließ beinahe ihr Herz stillstehen. Sie schoß geradezu auf Marie los, verkroch sich wieder in der Decke auf ihrem Schoß. Und wirklich, sie spürte, wie Marie sanft ihre Hand um sie legte, sie wärmend sowie schützend an sich zog. Marie wuselte ganz zart durch Lenas zerzaustes, noch feuchtes Kopfhaar. Ihre Ruhe tat Lena gut, sie verstand nicht wirklich, warum das so war, aber die Ruhe wirkte auch auf sie. Sie wagte nicht einmal zu sprechen, entspannte nur, entfernte sich vom schauerlichen Gewitter und dachte über Remia und Mütze nach.
Würden sie sich noch einmal begegnen und es besser machen?
Sie hoffte es wenigstens, denn gemeinsam war ja doch besser als ganz allein.

Marie regte sich bald wieder leicht, auch schon, um Lena zu zeigen, daß sie schon auch geistig noch da war.
Wirklich reagierte Lena darauf und fragte gleich: „Marie?“
Diese antworte sofort und ruhig: „Ja?
Es ist alles in Ordnung, ich bekomme alles mit, auch wenn es nicht so scheint.“
Lena hatte sich das irgendwie gedacht und wußte nicht so genau, ob sie das beruhigen sollte oder eher nicht.
Gleichwohl siegte die Neugier und sie wollte wissen: „Haben sich Remia und Mütze dann noch wiedergesehen?“

Marie meinte daraufhin: „Ja, aber erst einmal passierte etwas anderes, was Remia so nicht erwartet hatte.“
Lena war gespannt: „Was denn?“
Marie setzte die Erzählung fort: „Bei all der Aufregung um Mütze war es Remia nicht aufgefallen, daß Atrev vom Haus aus alles beobachtet hatte. Als dieser sah, wie Remia die Katze erst drückte und ihr so das Leben nahm, war er erfreut, er erkannte seine Brut und dachte sich so, daß auch Remia doch ein richtiger Drachen werden würde. Dann aber war er regelrecht schockiert, als er sah, wie Remia Mütze von ihrem eigenen Atem gab und diese so ins Leben zurückführte. Er wankte und traute seinen Augen nicht. Er verharrte noch, als Mütze schon fortgesprungen war. Danach jedoch lief er raus aus dem Haus, auf Remia zu. Als Mütze im Gras verschwunden war, brüllte Atrev vor Zorn, aber Remia war noch so beschäftigt, sie registrierte das noch immer nicht, obwohl sie eigentlich schon hätte merken müssen, daß Atrev sie vom Haus aus beobachtet hatte. Sie hatte alles andere außer Mütze ausgeblendet und dieser wonnevolle Moment intensivsten Gefühls war erst jetzt mit einem Schlag beendet.

Es war Atrevs Schlag, welcher sie brutal traf, während dieser dazu brüllte und schrie. Und er beließ es nicht bei einem. Remia hatte zu dulden und wie er sie strafte, war furchtbar, wie er sie ins Haus prügelte sowie strafte, kann man nicht erzählen. Aber Remia duldete tapfer, zog sich in sich zurück, während Atrev raste. Sie hatte bereits Ähnliches erlebt und auch der Vorfall bei ihrem Ausflug hatte ihr sehr deutlich gezeigt, wie Atrev sein konnte, aber sie hatte auch bereits herausbekommen, daß seine Gemeinheit, seine Quälerei auch durchaus Grenzen ihr gegenüber hatte, so hoffte sie immerhin, Atrev nicht überreizt zu haben und noch einmal davonzukommen.
Und sie überstand es.
Bei all seiner Wut und seinem Zorn war Atrev doch letztlich sehr bedacht vorgegangen, daß Remia sogar am nächsten Tag wieder zur Schule konnte. Aber Atrev zog die Zügel noch straffer und er haßte Mütze, jagte durch Wald und Flur, um Mütze zu finden. Aber Mütze hatte die Lektion gut gelernt und verbarg sich sorgsam, lernte ferner in den nächsten Monaten schnell, im Wald zurechtzukommen und sich vor den vielfältigen Gefahren dort vorzusehen.

Remia aber dachte gleich nach Atrevs Strafe schon wieder an Mütze und wie mager und klein dieses kleine Kätzchen gewesen war und als Atrev weg war, wagte sie es und brachte etwas Essen hinaus. Das war schon sehr gewagt, da Atrev immer noch sehr sauer war, aber Mütze hatte auch so hungrig ausgesehen, deshalb mußte Remia schon abwägen zwischen ihrem möglichen Leid und dem von Mütze samt dem Risiko der Aktion. Sie hatte sich eindeutig für Mütze samt dem Risiko entschieden. Sie würde nicht immer für Mütze sorgen können, aber eine kleine Starthilfe hielt sie schon für angemessen. Und sie hatte Glück, war zurück im Haus, ohne daß Atrev etwas bemerkt hätte.

Mütze war noch sehr jung, mußte allerdings lernen, auch selbst zurechtzukommen. Außer Remia würde ihr niemand helfen, sie war ausgesetzt worden, hatte nur mit Glück überlebt und Remia war bislang die einzige, bei welcher sie etwas wie Freundlichkeit erlebt hatte, aber sie war auch sehr unsicher, nur knapp war sie auch hier nur dem Tode entronnen. Aber zu dem Zeitpunkt hatte Mütze ohnehin geschwankt, hatte beinahe aufgegeben. Tod wäre auch eine Erlösung aus ihrem Elend gewesen, aus der Krise, dem Rätsel der Existenz, aus der tiefen Not. Als es dann aber so weit war, wollte Mütze dann doch nicht mehr aufgeben und wollte sich wehren, als in Remias tödlicher Umarmung die Luft knapp wurde. Dennoch hatte sie die Freundlichkeit, die Sympathie deutlich gespürt, keine Bosheit und das irritierte, faszinierte gleichzeitig ebenso. Mütze hatte von weitem beobachtet, wie Remia ihretwegen bestraft sowie gepeinigt wurde, bekam auch wohl mit, wie Atrev verschwand und die geschundene Remia trotz ihres Leides und der drohenden weiteren Strafe es wagte, ihr Essen herauszubringen. Aber Mütze hielt sich respektvoll verborgen und erst als Remia wieder im Haus war, konnte sie sich nicht mehr halten und stürzte sich sehr hungrig auf das Essen, was ihr sehr wohl bekam. Natürlich wollte Mütze keinesfalls von Remia abhängig sein, konnte sich mitnichten darauf verlassen, zumal es für Remia ja gefährlich war, sie zu unterstützen, wie es für Mütze eine gewisse Gefahr bedeutete, in der Nähe zu bleiben und eventuell doch noch von Atrev entdeckt zu werden. So blieb Mütze auf Abstand. Gleichzeitig behielt sie aber auch das Haus und Remia im Auge und schätzte Remias gelegentliche Gaben sehr.

So schlich Mütze nur gelegentlich durch das Gras am Schulweg und wartete auf Remia, diese spürte gleichfalls Mützes Anwesenheit, traute sich allerdings nicht, denn jederzeit konnte Atrev sie überraschen. So blieben sie auf Distanz, gelegentlich winkte Remia mal, ohne sich auch nur umzusehen, gelegentlich ließ Mütze ein leises Miauen aus dem Gras ertönen. Man blieb auf Distanz und zeigte doch Interesse.

Öfter nun warf Remia auch einen Blick aus dem Fenster und ab und an meinte sie, weiter draußen eine Bewegung zu erkennen – und wenn sie wirklich Glück hatte, war da tatsächlich ganz kurz Mütze auf einem Hügel zu erkennen, welche zu ihr herübersah. Es gab irgendeine Verbindung. Ab und an schaffte es Remia, Essen hinauszustellen und freute sich, wenn sie später entdeckte, daß die Schale geleert war oder sie auch von Ferne gerade so eben sehen konnte, wie Mütze sich vorsichtig dem bereitgestellten Essen näherte. Da Remia ohnehin keine Vollverpflegung bieten konnte, brachte sie verstärkt Leckereien hinaus. Und sie beobachtete zufrieden, daß Mütze nicht mehr so schmal und ausgehungert wie am Anfang war, offenbar hatte Mütze gelernt, sich zu versorgen.

Atrev allerdings war wachsam. Gelegentlich und immer wieder schlich er gezielt herum, um Mütze doch noch zu erwischen, aber vergeblich. Er war unzufrieden und tobte immer wieder. Remia mußte folglich abermals dulden sowie leiden. Darauf schlich er wieder durch Wald und Flur, um das ihm verhaßte Tier doch noch zu finden. Unter dem Strich ging es Remia damit nicht einmal schlechter als zuvor, denn Gründe fanden sich für Atrev immer genug, sie zu peinigen und zu strafen.

Zäh ging so die Zeit dahin, Mütze war inzwischen schon eine erwachsene, stattliche Katze geworden, welche Erfahrung hatte. Auch Remia hatte sich verändert, das elende Feuer in ihr brannte noch heißer und eigentlich war sie schon kein Mädchen-Drachen mehr, sondern schon ein Jungdrachen. Sie hätte wohl Feuer speien können, doch sie wollte es nicht. So sehr Atrev sie auch reizte und quälte, Remia verweigerte dies konsequent. Es schien ihr irgendwie nicht richtig zu sein, schon aus Protest und Widerstand gegenüber Atrev schien es ihr sehr lohnenswert, einfach zu verzichten. Natürlich war das im Detail gar nicht so einfach, aber mit etwas Geschick zog sie sogar Vorteile aus dem Feuer in ihr. Wenn sie wollte, konnte sie so nur mit ihrem heißen Atem einen Topf voll Essen erwärmen oder Wasser für ein Heißgetränk quasi in der Hand erhitzen, oder auch Abgekühltes nebenbei wieder erwärmen, noch während sie dabei weiter in einem Buch las.

Atrev jedoch kochte innerlich vor Wut – auch weil er genau bemerkte, daß Remia sich damit an ihm rächte und ihn quälte, das wiederum brachte auch eine andere Stimmung in ihm zum Klingen, denn wenn sie immerhin ihn zu quälen verstand, war es doch letztlich seine Brut – und so hoffte er, müßte er nur genug reizen sowie fordern, damit all das ausbrechen konnte, was sich in ihr angestaut haben mußte und dann konnte auch er stolz auf seine Brut sein, welche ihn unterdessen schier zur Verzweiflung trieb, denn es zeigte einfach nicht so viel Wirkung, wenn er diesen seinen tiefen Zorn an Remia ausließ. Also zog er wieder vermehrt in Drachengestalt durch die Gegend und verwüstete hier und da Felder oder auch Dörfer. Es war eine schlimme Zeit für das umliegende Land. Remia fühlte sich dabei mehr und mehr schuldig, vermutete sie doch sich als Ursache für Atrevs unbändigen Zorn auf die Welt.
Sollte sie doch nachgeben?
Sollte sie Feuer speien und ein normaler Drachen werden?
Wem lag schon daran?
Einer mehr oder weniger?
Was machte das für einen Unterschied?
Remia sollte wohl endlich zu ihrem wahren Wesen stehen …“

Lena rief empört aus: „Nein!
Remia wird dem Drang widerstehen, sie ist nicht verantwortlich für Atrevs Wesen und Verhalten, nur weil sie nett ist und sich Mühe gibt, besser als er zu sein!“
Marie schaute sie an: „Ganz sicher?“
Lena bestätigte: „Ja!“
Marie gab zu bedenken: „Nun, aber Remia ist nun einmal ein Drachen, sie kann nicht plötzlich einfach kein Drachen mehr sein, sie kann nicht beliebig darüber bestimmen, wer sie ist. Die Natur eines Drachen ist in ihr und das kann sie nicht komplett leugnen und ignorieren. Man kann auch einem Löwen oder einem Geparden schlecht vorwerfen, daß diese Gazellen jagen, es ist deren Natur, zu töten und grausam zu sein. Wir können doch nicht anders über etwas bestimmen, was nicht in unserer Macht liegt.
Wie können wir jemanden für etwas verurteilen, über das er nicht hat frei entscheiden können?“
Lena hatte allerdings Einwände gegen diese sehr verallgemeinerte Argumentation: „Aber sie ist doch schon anders, sie hat Zweifel und denkt anders als Atrev, handelt anders, sie darf seinem Einfluß nur nicht nachgeben, darf nicht aufgeben, muß weiter zu sich selbst stehen sowie dem finsteren Drängen von Atrev widerstehen!“
Marie erwiderte: „Aber auch das wird Konsequenzen haben, jemand wird sich Atrev in den Weg stellen müssen, um ihm Einhalt zu gebieten. Es gibt letztlich nichts geschenkt, auf jede Aktion folgt eine Gegenreaktion. Je größer ihr Widerstand gegen Atrev, desto grausamer sowie furchtbarer seine Reaktion darauf, desto mehr läßt er auch seine Wut an anderen aus, was ebenfalls nicht in Remias Interesse liegen kann.“
Lena seufzte bedrückt, sie verstand den Konflikt, Remias Zwickmühle.
Marie fuhr indes fort: „Schau, es gibt Situationen, da gibt es keinen richtigen Weg mehr. Vielleicht will man geradeaus, aber da ist nur die Möglichkeit nach links oder nach rechts zu gehen, kein Geradeaus, vielleicht noch ein Zurück, aber das wäre auch nicht dasselbe wie zuvor, denn alles verändert sich, man geht nicht zweimal denselben Weg. Man durchquert nicht zweimal denselben Fluß. Man ißt nicht zweimal dasselbe Brot. Alles verändert sich, wir agieren lediglich im Fluß der Zeit, ohne doch komplett unsere turbulente Fahrt kontrollieren zu können. Aus dem Paddelboot wird nicht plötzlich ein Rennboot, aus Kindern nicht plötzlich Superhelden. Die Möglichkeiten für Entscheidungen, Entwicklungen sind begrenzt, jedoch immerhin in diesen Grenzen vorhanden. Du verstehst.“

Marie ließ Lena Zeit, einen Augenblick nachzudenken.
Lena war mit dem Phänomen vertraut, wenn einem einfach kein Ausweg einfiel, mit dem man mit reinem Gewissen und gutem Gefühl einer heiklen Situation entrinnen könnte. Und doch muß man ja irgendwie handeln, kann die Zeit niemals anhalten, kann nicht einfach von einem Moment zum selben Augenblick den Ort wechseln, um zu entkommen.
Lena fragte zögernd: „Aber wie in solchen Situationen entscheiden, wenn es keinen richtigen Weg gibt?“
Marie erklärte: „Die Zeit bleibt niemals stehen, selbst wenn man keine Entscheidung trifft, hat das immer noch Konsequenzen, man kann die Zeit nicht anhalten, man kann nicht ungeschehen machen, was passiert ist, man muß wählen, selbst wenn es nur falsche oder ungewisse Wege gibt!
Auch wenn man selber nichts tut, das Leben geht weiter, andere treffen ihre Entscheidungen, welche gleichfalls das eigene Leben verändern. Nicht zu handeln, nichts zu tun, heißt eben keineswegs, die Zeit auch bloß für einen Augenblick anzuhalten, es bedeutet lediglich, keinen aktiven Einfluß zu nehmen.“
Lena verstand langsam. Nichts zu tun heißt eben nicht, daß man sich raushält, man überläßt nur anderen die Initiative. Die Konsequenzen haben trotzdem alle zu tragen. Man kann sich nicht raushalten. Man kann sich nur selbst belügen und vielleicht noch einige andere. Und wie man nicht zweimal denselben Weg gehen kann, so kann man nicht wieder ungeschehen machen, was andere bereits bewirkt haben, als man nur zugesehen oder auch weggesehen hat.

Lena hatte aber durchaus noch einen Einfall, sie fragte Marie: „Warum bittet Remia nicht anderweitig um Hilfe?
Man muß doch nicht allein die ganze Last tragen.
Warum erzählt sie nicht ihren Lehrern etwa, wie schlecht sie von Atrev behandelt wird und wie er sie zwingt und drängt, Tiere zu quälen, wie er sie schlägt und mißhandelt?“
Marie nickte und überlegte eine Weile, das war eine sehr gute Frage, wie sollte sie erklären, was so offensichtlich aus Remias Perspektive war, aber so irritierend von außen gesehen wirkte?
Marie versuchte jedenfalls zu erklären: „Du hast ja Recht, natürlich hätte sie nicht schweigen dürfen, hätte um Hilfe bitten müssen, um nicht weiter mißhandelt sowie gequält zu werden, um nicht weiter gezwungen zu werden, selbst zu quälen sowie zu mißhandeln.
Aber wir müssen auch bedenken, daß Atrev sie manipuliert hat und unter Druck gesetzt hat, was zwischen ihnen passierte, war ihr Geheimnis.
So sah Atrev das, so sahen es gleichfalls die Menschen jener Zeit:
Als Drachen standen sie auf der einen Seite.
Die Menschen standen auf der anderen Seite.
Remia konnte nicht erwarten, bei Menschen auf Verständnis zu stoßen.
Als Drachen wäre sie für diese selbst ein Monster gewesen.
So mußte es ein Geheimnis bleiben.
Eine Enthüllung wäre katastrophal gewesen.
Zudem sind die Menschen gleichgültig. Auch wenn Menscheneltern ihre Kinder mißhandeln – die meisten Erwachsenen sind gleichgültig und schauen weg, sie wollen es gar nicht wissen, sie wollen viel lieber ihren Alltag, nicht solche Komplikationen. Wer ihre Bahnen stört, wird selbst zum Schuldigen gestempelt.
Denn wird etwa dem Kinde geglaubt, welches seine Eltern anklagt?
Den Eltern wird doch das Recht eingeräumt, ihre Kinder zu erziehen, unabhängig von ihrer Qualifikation oder Einstellung. Wie garstig ist da doch ein Kind, welches sich dagegen auflehnt und die Eltern nicht achtet, so wird sich mancher denken und die Eltern gerade noch darauf hinweisen, wie schlecht ihr Kind über sie redet. Das Kind muß sich fragen, ob ihm geglaubt wird.
Und wenn ja, was kommt im Anschluß?
Sind die Konsequenzen nicht immer auch eine grausame Strafe für das Kind?“
Lena sah die Zwickmühle für Remia als Drachen, meinte aber doch: „Gut, Remia als Drachen hat noch einmal ein besonderes Problem, wenn sie dies ausplaudert, aber bei Menschen, ist es da letztlich wirklich gut, wenn ein Kind schweigt und sich niemandem anvertraut?“
Marie schüttelte entschieden den Kopf: „Nein, gut ist das ganz sicher nicht, wenn das Kind schweigt und duldet. Sich und sein Leid jemandem anzuvertrauen, kann befreien, gleich in mehrfacher Hinsicht, denn es gibt natürlich Menschen, welche solches Leid erkennen sowie darauf richtig reagieren. Wir müssen aber auch jene Kinder verstehen, welche von ihren Eltern so beeinflußt sowie manipuliert sind, daß sie sich nicht auflehnen können, welche sich schämen, welche es nicht schaffen. Man darf diesen auch nicht einreden, daß sie selbst Schuld haben, weil sie nichts sagen. Schuld sind letztlich nicht jene Kinder, welche über das eigene Verhängnis schweigen und nichts tun, sondern nur jene Menschen, welche mißhandeln und so grausam sind, daß sie die Kinder verderben, indem sie sie in ihren eigenen Abgrund mit hinabreißen. Die Kinder aber sind mittendrin und finden eben oft nicht den Ausweg, finden keinen Weg, sich aus ihrer höchsten Not durch eigene Kraft zu befreien, indem sie anklagen, indem sie andere Menschen zur Hilfe drängen.
Und wenn ihre Eltern ihnen ihr Scheitern selbst einreden, sie manipulieren, selbst an ihrem Schicksal schuld zu sein?
Wenn sie ihnen einreden, auch noch den Rest ihres elenden Lebens zu verlieren, wenn sie reden?
Wenn ihnen gedroht wird, wer alles büßen muß, wenn sie nicht schweigen und das Geheimnis bewahren?
Wie schwierig ist es für solche Kinder, sich aus diesem Gefängnis der Manipulation selbst zu befreien?
Viele werden gerade wie Remia nur darum bemüht sein, irgendwie das Schlimmste zu vermeiden, um irgendwie zu überleben.
Von den Eltern mißhandelt sowie manipuliert, vertrauen sie niemandem mehr!“
Das konnte Lena verstehen, sie nickte und beide schwiegen eine Weile.

Das Unwetter draußen war hingegen auch weiter sehr beängstigend. Lena seufzte leise. Sie wollte wissen, wie es mit Remia und Mütze weitergeht.
Deshalb fragte sie bald darauf: „Und was passierte dann?“

Am Zaun

Marie erzählte weiter: „Nun, die Zeit ging dahin, Remia ging zur Schule und Mütze versorgte sich selbst, der zornige Atrev stiftete weiter Unheil. Die Verbindung zwischen Remia und Mütze blieb jedoch bestehen.

Eines Tages, als Remia wieder einmal auf dem Heimweg von der Schule war, spürte sie, daß Mütze in der Nähe war. Es hatte länger keinen Zwischenfall mit Atrev gegeben, dadurch waren sie etwas sorglos geworden. Mütze kam näher als sonst. Remia hielt an und Mütze kam erst zögernd durch das Gras heran, gab dann aber doch ihre Zurückhaltung auf. Remia bückte sich und streichelte Mütze, welche inzwischen zu einer stattlichen Katze geworden war, die auf eigenen Beinen stand. Die beiden verstanden sich auch ohne Worte. Sie genossen still ihre Zweisamkeit. Sie lebten einmal nur den Moment und ließen einfach etwas Zeit verstreichen, ohne all die Sorgen, das Leid und die Last, ohne das Grauen und den Schmerz.

Aber die Stelle hier war ungünstig gewählt, denn der Weg ging hier an einem Zaun vorbei und auf der anderen Seite war offenes Land, eine frisch abgeweidete Wiese, schwierig für Mütze, sich zügig ins Unterholz zurückzuziehen, falls es zu einem Zwischenfall kommen sollte. Einstweilen genossen beide allerdings ihre unverhoffte Zweisamkeit, die ungewohnte Nähe. Das tat ihnen beiden gut. Freunde, wenn auch von fern, tun gut, so man sie hat. Doch ist man dann einmal zusammen, so ist das Vergnügen um so genüßlicher.

Beide waren so durch die ausgetauschte Zärtlichkeit abgelenkt, daß sie erst spät bemerkten, daß Unheil drohte. Remia spürte wohl einen Augenblick früher als Mütze, daß Unheil in Form von Atrev nahte, sie flüsterte nur leise dessen Namen und Mütze spitzte ihre Ohren. Mütze schaute sich hastig nach einem Fluchtweg um, doch da war lediglich der Zaun sowie die offene Wiese.
Ein fataler Fehler!
Das konnte übel werden!
Mütze schaute Remia ratlos an.
Was tun?
Remia aber zögerte nicht, setzte hastig ihren Schulranzen ab, öffnete ihn, griff sich Mütze ins Fell am Genick und stopfte diese hastig sowie etwas rücksichtslos in den Ranzen, verschloß diesen, ließ ihn am Weg stehen und lief hastig auf die Wiese hinaus, an eine der wenigen Stellen, wo etwas höhere Pflanzen standen, welche sie bereits früher gesehen hatte, sie ging einfach in die Hocke, um eine der Pflanzen zu betrachten. Sie lächelte verschmitzt, ein Glücksfall, diese hier zu finden, das würde Atrev hoffentlich ausreichend vom Ranzen ablenken – der immerhin bewegungslos am Weg stand, also hatte Mütze offensichtlich verstanden, wie die Lage war und was die Idee war, wie sie davonkommen konnten.
Remias Interesse für die Natur konnte nun auch praktisch ganz nützlich sein. Hatte sie von Atrev primär etwas über Tiere, Menschen, Mißhandlung sowie Qual gelernt, so erwies es sich nun als sehr günstig, daß sie auch etwas über Pflanzen gelernt hatte. Was da in der Schule unterrichtet wurde, hätte praktisch nicht gereicht, aber in Atrevs Bibliothek gab es auch gute Werke über Pflanzen, welche Remia interessiert verschlungen hatte. Wenn sich die Gelegenheit bot, identifizierte sie nunmehr, was am Wegesrand stand, nahm Proben mit, verglich. Auch wenn sie einmal wieder mit Atrev unterwegs war, hatte sie gerne Proben eingesteckt und später in Ruhe untersucht sowie mit der Literatur verglichen.

Atrev kam heran, war offenbar in Eile, beachtete deshalb den Ranzen nicht weiter, in dem Mütze mit angehaltenem Atem bewegungslos verharrte, obwohl in der beengten Situation wohl dieses oder jenes Buch oder auch das Lineal peinlich auf den Leib drückten, immerhin war der Ranzen ansonsten nicht besonders voll, aber Remia hatte Mütze schon etwas hineingequetscht und Mütze lauschte nun, sehr flach atmend, was draußen vorging und ob ihr letztes Stündlein wohl nun geschlagen hätte.
Mütze hatte keine Ahnung, wie Remia die Situation retten mochte, sie konnte nur darauf hoffen, daß es klappte und Remia dafür nicht bitter würde einstecken müssen.
Hätte Mütze doch alles auf sich nehmen sollen und hätte sie über das Feld springen sollen, um Atrev zu einer Jagd auf sie zu verführen?
Aber Remia hatte ihr nicht viel Zeit gelassen, sie schnell in den Ranzen gestopft. So war es nun entschieden und Mütze mußte dulden und warten, was das Schicksal ihr bescheren mochte.

Atrev war zu Remia auf die Wiese getreten und fragte diese, was sie da tue, statt zügig nach Hause zu gehen. Remia wies jedoch auf die Pflanze und schlug Atrev vor, einmal genauer zu schauen, ein blühendes Drachenkraut. Sie zupfte etwas von den Blüten ab und reichte einen Teil davon Atrev, zog selbst erst den Duft ein und kostete davon. Atrev tat es ihr wie automatisch nach.
Es schien zu wirken, Atrev wurde ruhiger und auch Remia tat die Pflanze gut. Sie verloren sich beide eine Weile darin und verharrten still, nur immer einmal wieder an der Pflanze schnuppernd.

Atrev räusperte sich endlich irgendwann, allerdings ziemlich entspannt und nickte: ‚Ja, das hat auf unsere Spezies eine eigenartige Wirkung. Du beobachtest genau und siehst viel. Das ist gut. Aber hüte dich vor diesem Kraut, denn es schläfert unsere Sinne ebenso wie unseren Verstand ein, macht uns wehrlos, duselig im Kopfe.‘
Atrev ließ sein Drachenkraut fallen und Remia folgte seinem Beispiel.
Atrev fuhr in Gedanken fort: ‚Du erinnerst dich sicherlich an unseren Ausflug zu meinem Halb-Cousin?‘
Remia stimmte zu, natürlich erinnerte sie sich.
Atrev erläuterte: ‚Dann wirst du dich auch an den Geruch in der Luft erinnern. Das war keineswegs bloß verbrennendes Drachenfleisch. Die Menschen hatten dabei gleichfalls dieses Kraut verwendet, gezielt in größerer Menge vor Haus sowie Höhle geworfen, um Drachen zu besänftigen, zu verwirren, zu betäuben und wehrlos zu machen, um sie anschließend um so besser abschlachten zu können. Natürlich war die Konzentration bei weitem nicht genug, aber Wirkung hat es sicherlich gezeigt. Sie haben es dann zusammen mit den toten Drachenleibern verbrannt, auch um diese damit weiter zu bannen. Damit wir nicht selbst Opfer des Krautes würden, sind wir damals unterdessen zügig abgezogen, du erinnerst dich.‘
Remia stimmte abermals zu, der Geruch war tief in ihrer Erinnerung verankert.
Sie fragte nach: ‚Die Konzentration hat also nicht gereicht, um Drachen zu betäuben?‘
Atrev antwortete: ‚Sicher nicht. Um einen gänzlich zu betäuben, müßte man schon über eine Viertelstunde, vielleicht auch eine halbe Stunde direkt mit der Nase in solch einem Busch von dem Zeug hängen.
Und wer macht das schon freiwillig?
Zunächst wird man ruhiger sowie langsamer, anschließend verwirren die Sinne, man verliert zunehmend die Kontrolle über den eigenen Körper.
Als Drachendroge war das teilweise mal besonders bei Jugendlichen unserer Art sehr beliebt, aber es hat die meisten ins Verderben gestürzt, weil sie unter dem Einfluß von dem Zeug nicht mehr leistungsfähig sowie aufmerksam waren, die Kontrolle verloren. Sie wurden zu Schafen, welche lediglich noch blöd blökten und die man einfach abschlachten konnte.
Ich will das Kraut nicht in unserem Haus haben. Und du läßt Finger sowie Nase davon.
Es ist gefährlich!‘
Remia nickte gehorsam.

Danach teilte er ihr mit, er habe noch etwas zu erledigen, sei aber wohl abends wieder da, sie sollte nur zügig heimgehen und brav ihre Aufgaben machen und lernen. Remia nickte artig. Das Drachenkraut hatte Atrev etwas ruhiger sowie vernünftiger gestimmt. Es hatte ihn auch weniger aufmerksam gemacht, seine Sinne beeinträchtigt, sonst hätte er wohl doch die Anwesenheit von Mütze gespürt. So jedoch bemerkte er nichts. Ohne weitere Umstände sah dieser sich nur kurz um, daß niemand in der Gegend Notiz von ihnen genommen hatte, nahm seine Drachengestalt an und schoß hoch hinauf in den Himmel und daraufhin weg, auf den Horizont zu und außer Sichtweite.

Remia schaute ihm noch aufmerksam nach, blieb mißtrauisch. Sie ging noch einmal in die Hocke, nahm sich noch etwas von dem Drachenkraut, zerrieb es und roch neugierig daran. Sie sann nach über die Wirkung des Krautes auf sie selbst, aber ebenso auf Atrev, das war sehr interessant und bemerkenswert, ja merkenswert. Sie hatte nicht erwartet, daß dieses Kraut eine solch intensive Wirkung hat, zwar hatte sie gelesen, daß es da eine gewisse Verbindung zwischen dem Kraut und den Drachen geben mochte, daher auch der Name, aber sie hatte keineswegs vermutet, daß es so unmittelbar wirken würde. Das Kraut mußte eine Substanz absondern, welche spezifisch auf das Gehirn von Drachen wirkte, beruhigend, betäubend, verwirrend, täuschend.
Sie ging ohne Eile mit frisch gepflücktem Drachenkraut in der Hand zurück zu Weg und Ranzen, nahm diesen und setzte ihren Weg fort. Mütze in dem Ranzen war nicht wirklich einverstanden mit dieser Entwicklung sowie den zusätzlichen Spickereien der Utensilien im Ranzen in der Bewegung, konnte die Situation von ihrer Position aus jedoch auch nicht genau einschätzen, blieb also noch still.

Erst als der Weg nahe an einem Waldrand vorbeikam, setzte Remia den Ranzen wieder ab, öffnete ihn, nahm Mütze nun ganz vorsichtig heraus und auf den Arm, streichelte und kraulte die Katze, welche sich dadurch sogleich für die Unannehmlichkeiten entschädigt sah. Zweifellos hatte Remia Mütze erneut das Leben gerettet – und wenn man sagt, daß eine Katze sieben Leben hat, so hatte Remia ihr hier am Weg ganz offensichtlich ein weiteres dazugegeben.
Versonnen zeigte sie Mütze das Drachenkraut und erklärte die Wirkung, als könnte Mütze dies verstehen, sie ließ Mütze daran riechen und erläuterte, wie dieses Kraut geholfen hatte, Atrev so weit abzulenken, daß er einfach so wieder abgezogen sei ohne Verdacht zu schöpfen.
Mütze wirkte aufmerksam.
Hatte sie das verstanden?“
Marie machte eine kleine Pause.

Lena kommentierte aufgeregt: „Das war aber wirklich ganz schön knapp, da hat Mütze wirklich noch einmal Glück gehabt, daß Remia so schnell und pfiffig reagiert hat!“
Marie nickte und meinte lediglich: „Ja, die kritische Situation hatten sie gut gemeistert, aber es blieb natürlich angespannt, Atrev war weiter aufmerksam, die Gefahr war längst nicht vorbei und er quälte Remia auch immer weiter, die Situation wurde im weiteren Verlauf mit zunehmendem Allter noch unerträglicher, denn in Remia, älter geworden, brannte das Feuer des Zorns immer heißer und wollte hinaus und Atrev provozierte mit seinem Verhalten, daß es passierte, bestand auch darauf, sie finstere, düstere Dinge zu lehren und war zudem noch immer darauf aus, Mütze zu erwischen.“
Lena aber war sich ganz sicher: „Remia muß das Feuer in sich kontrollieren, darf nicht speien und ein düsterer, unheilsbringender Drachen werden!“

Drachenkrautlichtung

Marie setzte die Erzählung des Märchens fort: „Atrev war nun öfter unterwegs. Diese weitschweifigeren Unternehmungen hatte etwas mit seinen Geldgeschäften zu tun, nur nebenbei erwähnte er einmal, daß es um eine größere Sache ginge. Dadurch hatte Remia etwas mehr Freiheit, welche sie auch nutzte, wenn aufgrund von Atrevs Bemerkungen sehr sicher war, daß dieser wirklich unterwegs war und nicht nur versuchte, sie auszutricksen. Sie zog dann gerne einmal über Felder und Wiesen sowie durch den Wald, öfter gesellte sich auch Mütze dazu und beide genossen die gemeinsame Zeit.

An einem Tag, als sie schon an ihrem Tisch saß und lernte, kam Atrev herein, um sich wieder einmal für ein etwas längeres Projekt zu verabschieden. Er kam heran und Remia hatte schon gedacht, er würde sie wieder einmal ohne offensichtlichen Grund mißhandeln wollen, er sprach indes lediglich über sein aktuelles Projekt, stellte daraufhin unvermittelt sowie hochkant eine kleinere Goldmünze vor ihr auf den Tisch.
Er meinte dazu: ‚Hier, damit du dich ebenfalls an Geld und Gold gewöhnst. Darauf paßt du auf, bis ich wieder da bin. So lernst du auch, Verantwortung zu übernehmen sowie mit wertvollen Sachen richtig umzugehen. Du kannst überdies in den Büchern forschen, was dies für eine Münze ist, wie alt, warum und von wem herausgegeben. Vielleicht frage ich später.‘
Damit war er dann auch schon aus dem Haus und Remia sah sich die Münze genauer an. Sein expliziter Hinweis auf eine mögliche spätere Prüfung war einerseits ungewöhnlich großzügig, dieser Umstand der Prüfung selbst allerdings war derart naheliegend, daß Remia diesen Tip sicherlich keineswegs benötigt hätte, um in dieser Hinsicht nachzuforschen. Sie hatte schon Bücher über Münzen gesehen, dies Thema lag jedoch nie im Kern ihres Interesses. So oder so schaute sie nach, was Atrev wohl abfragen mochte, schaute nach, wer abgebildet war und was es mit dieser Person auf sich hatte, warum, wieso, weshalb die Person so wichtig war, um auf eine Münze gestempelt zu werden. Sie recherchierte über den Wert der Münze, wann und wo sie zum Einsatz kam. Mit dem Hinweis auf Goldmünze konnte sie sowieso über die per Waage schnell ermittelte Masse auf den reinen Materialwert schließen, wobei sie nun allerdings keine aktuellen Handelsdaten hatte, gleichwohl allerdings aus einer Zeitschrift von Atrev einen halbwegs aktuellen Goldkurs entnehmen konnte, weshalb sie leicht den reinen Materialwert notieren konnte. Anhand sonstiger Angaben bekam sie immerhin heraus, daß der Wert früher einmal deutlich über dem Materialwert gelegen hatte, insofern konnte sie immerhin mit Hinweis auf das Datum der Information eine Spekulation wagen. Auch sonst recherchierte sie weiter zum Thema. Sie war sich ziemlich schnell sicher, daß sie einen ganz guten Überblick hatte, was die Münze betraf. Zum Andenken und für ihren eigenen Wissensschatz rubbelte sie unterdessen noch vorsichtig mit einem Graphitstift die Motive beider Seiten auf ein Stück Papier.

Im Anschluß hatte sie noch reichlich Zeit und sie steckte die Münze sowie das Papier einfach ein und eilte danach hinaus, um die Freiheit, die Natur ohne Atrev zu genießen. Bald schon gesellte sich Mütze dazu. An diesem Tag indes war Mütze unruhiger und wollte ganz offensichtlich etwas bei Remia erreichen. Weil Mütze keine Anstalten machte, sich in Sicherheit zu bringen, konnte es mit Atrev nichts zu tun haben. Irgendwie bekam Mütze es hin, daß Remia ihr in den Wald folgte. Remia spürte irgendwie, daß sie folgen sollte, obwohl sie keine Ahnung hatte, was Mützes Anliegen sein konnte. Aber so oder so war der Weg in den Wald interessant und Remia studierte aufmerksam die Umgegend. Aufgrund der peinigenden Ausflüge mit Atrev kannte sie manchen Weg, aber dieser hatte ihr längst nicht alles gezeigt, wo er sich so herumtrieb und überdies Fallen für Tiere aufstellte. Man mußte also sicher vorsichtig sein, beide wußten das natürlich.

Irgendwann gelangten beide an Mützes Ziel und Remia verstand nun endlich, warum Mütze sie hierher geführt hatte. Eine andere Katze klemmte in einem Fangeisen, welches Atrev ausgelegt hatte, um Mütze oder andere Tiere zu fangen. Mütze kannte diese Katze bloß flüchtig, sie war relativ neu hier in der Gegend, kannte sich noch nicht so gut aus. Mütze hatte sie an diesem Tag entdeckt, in diesem kläglichen Zustand in der Falle. Mütze selbst konnte nicht helfen. Deshalb traf es sich gut, daß sie Remia unterwegs entdeckte. Daraufhin entschloß sich Mütze, dieser den Sachverhalt, das Elend, das Grauen zu zeigen.

Remia bückte sich. Das Fangeisen war für größere Tiere ausgelegt, es hatte der anderen Katze das Rückgrat zerschmettert sowie den Leib halb zerteilt. Die Zähne steckten tief im Leib und hatten viel, zuviel zerquetscht und zermalmt. Dies war ein trauriger, grauenhafter Anblick. Remia wußte gleich, der noch geradeso lebendigen Katze war nicht mehr zu helfen, jedenfalls nicht, um weiterzuleben. Gebückt untersuchte sie vorsichtig, doch das Resultat war klar, sie konnte der fremden Katze nicht wirklich zum Überleben helfen. Sie sah zu Mütze, welche sich neben sie gesetzt hatte und zunächst zu Boden geschaut hatte, nun jedoch Remia ansah.
Remia schüttelte den Kopf und sprach zu Mütze, als könne diese verstehen: ‚Das ist grauenhaft, aber sie ist nicht mehr zu retten, es ist nicht nur zu spät, das Fangeisen hat sie so zerfetzt, deshalb gibt es keine Rettung mehr.‘
Remia streichelte Mütze sanft und tröstend. Diese aber schaute, gestikulierte dann mit der Pfote, kratzte gar über Remias Hand, welche zunächst irritiert war, dann aber verstand.
Remia hauchte nur: ‚Erlösung?!‘
Mütze zog den Kopf ein, legte sich zu Boden und wußte, Remia hatte verstanden. Diese andere Katze quälte sich nur noch, hatte nicht einmal mehr Kraft, um zu winseln. Remia griff nun vorsichtig, aber ohne zu zögern zu und bereitete dem Elend ein schnelles Ende. Der Schmerz, das Grauen war für die andere Katze vorüber, alles war überstanden sowie vorbei. Sie war erlöst.

Remia wollte nicht, daß Atrev bei der Kontrolle der Falle vielleicht noch entdeckte, daß hier jemand nachgeholfen hatte, vielleicht war es ohnehin besser, wenn die Katze ganz verschwand. Fallen klappten öfter zu, auch ohne daß man darin im Anschluß Tiere fand, teils war es gar Mütze, welche extra Fallen auslöste, auch um Atrev eins auszuwischen sowie anderen Tieren das Elend zu ersparen. Remia nahm einen Stock und öffnete die Falle mühsam, nahm den Kadaver heraus, legte ihn vorsichtig sowie mit Respekt zur Seite, reinigte die Falle mit Laub, ließ sie danach vorsichtig wieder zuschnappen. Sie zauderte und zögerte nicht, um auch andere Spuren zu verwischen, beseitigte so Blut und andere Reste, verteilte derlei Indizien unauffällig ein Stück weiter von der Falle.
Was jedoch mit dem Kadaver tun?
Sie schaute Mütze fragend an.

Diese aber wußte vermutlich etwas, sie ging ein paar Schritte, schaute zu Remia, ging wieder ein paar Schritte. Sicherlich sollte Remia folgen. Die nahm den Kadaver vorsichtig auf und folgte wirklich. So ging es ein ganzes Stück weiter durch den Wald. Es ging tiefer hinein, weiter in einen Bereich, den Remia gar nicht kannte. Endlich kamen sie an eine etwas lichtere Stelle und hier gab es eine größere Menge von Drachenkraut. Erstaunt schaute Remia Mütze an, diese schaute Remia an. Dieser würde das Kraut nicht gut bekommen, aber Mütze schien das durchaus bewußt zu sein. Trotzdem hatte sie sie hier hergeführt. Nach einiger Überlegung leuchtete Remia dies allerdings ein, denn hier würde Atrev sich freiwillig nicht lange aufhalten, nichts suchen. Aber sie mußte sich gleichfalls beeilen, denn Remia spürte schon die Wirkung des Krauts, einstweilen keineswegs sonderlich stark, aber schon merklich. Mütze führte sie ein wenig weiter und da schien letztlich irgendwo eine geeignete Stelle zu sein. Remia scharrte und machte in einer kleinen Mulde so noch etwas mehr Platz. Mit einem herumliegenden Stock scharrte sie danach noch weiter, nachdem sie den Kadaver abgelegt hatte. Nach einiger Arbeit war die Mulde vertieft, was ausreichen mußte, denn Remia merkte schon deutlich die Wirkung des Krauts. Sie legte den Kadaver hinein, ging daraufhin einige Meter fort. Mütze folgte, war jedoch beruhigt, als Remia in sicherem Abstand Material sammelte. Sie kehrten anschließend damit zurück und die tote Katze wurde bedeckt und geborgen.

Nachdem alles fertig war, verharrte Remia nur kurz und mit schon deutlich betäubten Sinnen zog sie letztendlich zügig ab, weg, nur weg von dem Kraut, von dem es an der Stelle wirklich viel gab. Weiter weg mußte sie sich setzen. Mütze war bei ihr und beide erholten sich im Sonnenschein. Als Remia wieder alle Sinne beisammen hatte, trat sie den Heimweg an, wobei Mütze sie begleitete. Sie waren schon beinahe wieder zurück am Waldrand und Remia wäre früh wieder Zuhause. In Gedanken hatte Remia in ihre Tasche gefaßt.
Sie war erschrocken!
Die Münze war verschwunden!
Das war eine Katastrophe!
Nur das Papier mit der Abbildung war noch da!
Sie suchte weiter hektisch, war stehengeblieben. Mütze war erstaunt und konnte nicht verstehen.
Remia faßte sich an den Kopf, sie mußte die Münze irgendwo im Wald verloren haben!
Am Fangeisen?
Im Drachenkraut?
Sie mußte noch einmal zurück!
Atrev hatte ihr die Verantwortung für die Münze übertragen und es würde eine grauenhafte Bestrafung geben, erst recht, wenn sie so tollkühn wäre zu erklären, wobei sie die Münze verloren hatte!
Sie hatte nicht viel Hoffnung, daß dies helfen würde, aber sie zeigte Mütze die Abbildung der Münze, gestikulierte wild und eilte danach auch auch schon hektisch zurück, zunächst Richtung Fangeisen, Mütze folgte.

Beim Fangeisen suchte Remia eifrig und Mütze scharrte gleichfalls im Laub, schnüffelte, ob da etwas nach Remia oder Atrev röche, was nichts mit dem Fangeisen zu tun hätte. Remia hatte hier immerhin gekniet, gehockt, hatte allerhand Laub verteilt, Spuren beseitigt, daher war es schon möglich, daß sie sich einmal so weit gebückt hatte, daß die Münze aus ihrer Tasche gefallen war. Allerdings – hier war rein gar nichts zu finden, was ihnen irgendwie weitergeholfen hätte. Es war nun auch schon später, Remia würde eventuell nicht mehr so viel Zeit haben. Deshalb eilte sie hektisch zum Drachenkrautplatz.

Angekommen suchte sie erst einmal in den Außenbereichen, wo sie ebenfalls gewesen war. Mütze untersuchte den Bereich mit mehr Drachenkraut. Aber nachdem die verdächtigen Stellen außen abgesucht waren, mußte sich Remia wohl oder übel auch in diesen gefährlichen Bereich stürzen sowie ihre Nase in etwas stecken, was gar nicht gut für sie war. Schnell vernebelten sich ihre Sinne und es schien nicht mehr viel zu nützen, kaum konnte sie noch die eigenen Finger von der vermißten Münze unterscheiden, kaum noch Mütze von einem Estragonbusch. Es wurde alles taub und wirr, Remia konnte sich nicht mehr koordiniert bewegen, drohte schon zusammenzubrechen, hatte sich verirrt, obgleich sie nur wenige Schritte vom Rand entfernt war. Mütze merkte es irgendwann, kam zu ihr, welche bereits in die Sträucher gesunken war. Mütze leckte verzweifelt über ihr Gesicht, zerrte an ihrem Arm, kratzte, um sie zu beleben.
Und wirklich!
Mühsam bewegte sich Remia wieder, folgte grob in die Richtung, in welche Mütze sie zog und zerrte.

Das war dann letztlich wohl ihre Rettung, denn irgendwie gelang es, daß sie aus diesen gefährlichen Büschen kroch und ein Stück weiter erst zusammenbrach. Mütze harrte erst besorgt aus. Irgendwann bewegte und drehte sich Remia wieder, brabbelte sinnlos im Wahn des Rausches. Hier indes konnte ihr wenig passieren, so sprang Mütze wieder mutig ins Gebüsch und suchte weiter. Es war ja Drachenkraut und keine Katzenminze, also machte es Mütze jedenfalls nichts aus.

Die Münze fand sich, Geruch von Remia und auch Atrev dran. Insbesondere letzteres machte es Mütze schwer, sie aufzuschlecken, aber sie tat es doch und brachte sie Remia. Diese war noch eine ganze Weile benommen, erholte sich jedoch allmählich wieder. Sie richtete sich auf, schaute sich verwirrt um. Das war wohl gerade noch einmal gutgegangen. Jetzt spürte sie Mütze an ihrer Hand und kurz darauf das Metall in den Fingern. Sie mußte sich sehr konzentrieren, konnte alsdann allerdings ihre Augen auf die Hand fokussieren, erkannte die Münze.
Grenzenlose Erleichterung!
Einen Augenblick später durchfuhr sie heftiges Erschrecken.
Es war schon ziemlich spät!
Unsicher und sehr dankbar streichelte sie Mütze durch das Fell, erhob sich danach wackelig, taumelte weiter. Sie konnte sich noch nicht allzu gut orientieren. Mütze hatte allerdings auch jetzt im Blick, was notwendig war und ging langsam voraus in die richtige Richtung.

Es dauerte und für Remia schien es eine Ewigkeit zu sein, doch langsam kehrten ihre Sinne zurück und sie kam besser voran, bis sie endlich irgendwann wieder am Waldrand standen, in Sichtweite von Atrevs sowie Remias Haus. Von Atrev war zum Glück nichts zu sehen. Remia hatte noch immer die Hand fest um die Münze gekrampft. Nun erst steckte sie diese wieder nachdenklich in die Tasche, bückte sich, nahm Mütze vorsichtig auf, streichelte diese, küßte noch einmal dankbar ihren Kopf. Danach ließ sie sie eilig wieder runter, stürmte zurück zum Haus. Mütze schaute ihr nur nach.

Remias Kopf brummte noch immer, alles darin war noch nicht wieder sortiert, es fühlte sich dumpf an, aber sie war immerhin wieder im Haus, in dem von Atrev noch nichts zu sehen war. Umsichtig wusch sie Hände sowie Münze, stellte letztere wieder hochkant auf den Tisch. Ihre Kleidung hatte sie gleichfalls beschmutzt. Es mochte gar noch etwas Drachenkraut dran sein. Immerhin trug man in diesem Hause sowieso lediglich dunkel, all ihre Kleidung sah also sehr ähnlich aus. Sie zog sich um, was nicht so einfach war, weil es mit der Koordination im Detail noch immer haperte. Aber es gelang. Hektisch zupfte sie Blättchen Drachenkraut von der Kleidung, packte die Kleidung im Anschluß mißtrauisch in eine Tüte. Mit Kraut und Tüte eilte sie raus, versteckte die Tüte, warf die Blättchen ein Stück weiter weg vom Haus ins Gras, kehrte danach zurück. Die Kleidung würde sie später reinigen, wenn sie ohnehin mehr zu waschen hatte. Daraufhin setzte sie sich auf ihren harten Stuhl an ihren Tisch und atmete tief durch.
Sie hatte es geschafft!

Wie sich sodann im Laufe des Abends herausstellte, hätte sie sich gar nicht so sehr beeilen müssen. Atrev kam erst Stunden später tief in der Nacht und war sichtlich von einem erfolgreichen Geschäft derart berauscht sowie abgelenkt, daß er gar nichts merkte. Was er in diesem Zustand noch zu der Münze fragte, war lächerlich. Remia hatte viel mehr darüber im Kopf zurechtgelegt. So fiel seine Strafe für diesen Tag milde aus. Und vor allem: Er merkte nichts von dem geradeso überstandenen Zwischenfall.“

An dieser Stelle pausierte Marie erst einmal und auch Lena mußte nach diesem Abenteuer erst einmal tief durchatmen. Was hatte sie mit Remia gelitten, auch mit der fremden Katze, was für ein grauenhaftes Ende. Immerhin, Remia und Mütze hatten es überstanden. Sie schwiegen beide einen Moment.

Lena meinte endlich: „Das ist ja gerade noch einmal gutgegangen, für Remia und Mütze jedenfalls, aber ich kann auch verstehen, warum Mütze der anderen Katze helfen wollte, deren Schicksal war wirklich schlimm.
Und es war einerseits gefährlich, aber auch geschickt, die tote Katze im Drachenkraut zu vergraben, um sie vor Atrev zu verbergen!“
Marie nickte und meinte: „Nun, sie haben beide etwas bei dem Abenteuer gelernt, würde ich meinen. Das Sozialverhalten von Katzen ist durchaus kompliziert, einerseits schätzen sie es meist nicht sehr, wenn Konkurrenten durch ihr Revier stromern, andererseits können sie durchaus auch in Gruppen zusammenleben oder auch als eigentliche Einzelgänger für kürzere Zeit mal die Anwesenheit von Artgenossen genießen. Insgesamt ist das Verhalten von Mütze bemerkenswert – aber legen wir in diesem Zusammenhang die Geschichte mal nicht geradezu auf die Goldwaage.
Atrevs Untat mit dem Fangeisen war keine Überraschung, aber sie haben doch beide gezeigt, daß sie anders sind.
Wobei man sagen muß: Auch Katzen können grausam sein und mit ihren Opfern spielen. Mütze versorgte sich überdies hauptsächlich selbst, kleinlich war sie also gewiß keineswegs. Keiner von den dreien war also wirklich harmlos, alle drei haben Potential hinsichtlich Gefahr für andere Bewohner des Waldes. Aber was Atrev tat, ist noch einmal eine ganz eigene Kategorie.
Doch Atrev ist nicht einmal das einzige Problem von Remia und Mütze.“
Lena schaute sie an, seufzte, fragte wie erwartet sogleich nach: „Wer quälte sie noch, was passierte weiter?“

Jungs

Noch immer hielt das Unwetter draußen an und auch aus dem Treppenhaus hörte man keine Aktivitäten. Es hatte sich wohl jeder in eine Ecke zurückgezogen und wartete, bis das Unwetter vorbeigezogen war. Lena fragte sich, wie es ihrer Mutter gehen mochte. Diese wartete bestimmt in der Stadt in einem Geschäft oder einer überdachten Einkaufszone ab, sah sich Kleidung an und ging selbstverständlich davon aus, daß sie brav Daheim geblieben sei. Aber vermutlich machte sie sich auch etwas Sorgen, denn bei Gewitter war Lena nie besonders tapfer gewesen.

Marie setzte die Erzählung fort: „Nun, inzwischen war Remia kein kleines Mädchen mehr und obwohl noch keine Frau, hatte sie doch schon eine gewisse Wirkung, Attraktivität pflegt man zu sagen.
Der Zwischenfall mit dem Jungen damals war aus dem gemeinsamen Bewußtsein der Schule längst vergessen oder verdrängt. Remia war immer noch Einzelgängerin und man bedachte sie eigentlich bislang lediglich mit Hänseleien, Spott und Getuschel hinter ihrem Rücken als besondere Aufmerksamkeiten. Das perlte alles an ihr ab, wie Wasser von einem Lotosblatt. Das verletzte sie nicht, regte sie nicht auf.
Allerdings wohl ermutigt durch ihre etwas reifere Gestalt zeigten doch einige Jungs Interesse an ihr …“

Lena unterbrach: „Iii, Jungs sind doof, mit denen kann man nicht spielen, die albern immer herum und machen alles anders, interessieren sich für ganz andere Sachen!“
Marie meinte dazu schmunzelnd: „Na, so allgemein kann man das auch nicht sagen. Wenn du älter bist, wird sich das bei dir schon entscheiden. Auch mit Jungs gibt es schöne Spiele, gerade weil sie anders sind. Man muß das nicht unbedingt mit Jungs spielen, einfach mit Menschen, welche man sehr mag und die einen mögen, sofern man sich nur einig ist, ist alles in Ordnung damit. Wenn man indes an niemandem Interesse hat, läßt man dies Spiel eben aus, auch daran ist nichts verkehrt und man sollte sich keinesfalls drängen lassen. An all dem ist an sich nichts verkehrt oder doof oder albern. Sind die Beteiligten einverstanden, ist nichts falsch.
Deshalb können gleichfalls Spiele mit Jungs sehr interessant sein sowie kurzweilig, es sind eben andere Spiele, für welche die Beteiligten alt genug sowie wirklich interessiert sein sollen, sonst macht es wirklich keinen Spaß und ist falsch. Wollen Erwachsene jedoch Kinder zu solchen Spielen überreden, ist dies sicherlich falsch und schlecht für die Kinder, für welche es besser ist, sich dem zu verweigern.“
Lena räumte in Gedanken ein, daß Marie, welche ja erwachsen war, zwar sicher Jahre jünger als ihre Mutter, es besser wissen mußte als sie – und von ihrer Mutter wußte sie ja ebenfalls, daß diese auch gern mit ihrem Freund Spiele gespielt hatte, über welche sie gar keine Details wissen wollte, und so wie sie sich sonst verhielten, mußte wohl etwas Wichtiges dran sein, obgleich das, was sie bereits darüber gelernt hatte, was man da tat, nicht gerade nach einem vergnüglichen, erstrebenswerten Spiel klang – aber Marie mochte wohl Recht haben, wenn man alt genug war, mochte man das anders sehen, jedenfalls war sie ganz froh, daß Marie wahrscheinlich nicht vorhatte, auf Details einzugehen.
Vor Jahren hatte sie anders gespielt als heute, da wäre es schon gut möglich, daß sie in Zukunft Geschmack an Spielen finden würde, welche ihr heute bizarr, befremdlich sowie unappetitlich erschienen. Irgendwas mußte wohl dran sein, wenn dies so viele Menschen interessant fanden. Aber Alkohol finden viele ebenfalls sehr interessant und dessen Geschmack fand Lena nun wirklich widerlich. Leute verhalten sich seltsam, noch seltsamer als sonst, wenn sie dieses Zeug trinken, derlei Verhaltensänderungen hatten Lena schon immer verunsichert. Einige Leute kombinierten überdies, was die Spiele zu zweit letztlich ganz sicher sehr unappetitlich machte, bizarr und verrückt, in dieser Hinsicht war sich Lena sehr sicher, von der Kombination würde sie niemand überzeugen können, auch in Zukunft nicht. Es ist nicht alles gut und richtig, nur weil andere es tun.

Nunmehr setzte Marie die Erzählung fort: „Jedenfalls hatte Remia auch gar keine Lust auf solche Spiele, mochte ihr vielleicht auch mal ein Junge halbwegs gefallen, so bevorzugte sie doch den sicheren Abstand und hatte kein Interesse an näherem Kontakt. Drachen-Jungs kannte sie nicht näher und Menschen-Jungs schienen ihr einerseits manchmal zwar ziemlich wilde Rabauken zu sein, aber andererseits hätten sie mit Drachen niemals mithalten können, so oder so also nicht die richtigen Spielkameraden oder allenfalls welche, um sie gnadenlos zu dominieren und zu dirigieren.
Obwohl sie so wild sind, sind Menschen-Kinder verglichen mit Drachen-Kindern doch sehr zerbrechlich. Wenn man solch einen Rabauken etwa nur einmal etwas unvorsichtiger knuffte oder von sich wegschubste, konnte sich gleich ein plärrendes Drama ergeben, welches Remia lieber vermied. Sie blieb lieber unauffällig, wenn sie auch nicht einfach so unsichtbar im Strom schwimmen konnte. Sie provozierte jedenfalls nicht und erwartete auch von anderen, nicht zu rempeln, zu stoßen, zu bewerfen oder sonstwie unerlaubt körperlich einzuwirken. Derlei Albereien konnten jene Rabauken gut unter sich ausmachen. Remia mischte sich dabei allenfalls subtil ein, wenn die größeren Burschen deutlich kleinere sowie jüngere traktierten oder sie Mädchen in Bedrängnis brachten. Remia wollte dabei nie wirklich handgreiflich werden, aber sie scheute auch nicht davor zurück, etwa Lehrer vorzuschicken, was sie bei den Kindern nicht gerade beliebter machte; oder wenn solche nicht in Sicht und verfügbar waren, so näherte sie sich auch einmal selbst beherzt, räusperte sich und vertrat mit einem sehr finsteren Blick sowie ausschließlich instinktiv fühlbaren Aura eines Drachen vehement ihre Ansicht, daß hier gerade etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Sie hatte ein ganz gutes Gefühl dafür, wann es angemessen war, sich dermaßen einzumischen und wann es ihr egal sein konnte und sich die Rabauken gegenseitig aufmischen konnten. Das direkte Zusteuern auf eine Gruppe von Burschen reichte meist, um derartige Rabauken zu verscheuchen sowie zu zerstreuen und auch deren Opfer derartig auf Distanz zu halten, daß gar nicht der Gedanke aufkam, Remia hätte ausgerechnet dieses aus der brenzligen Situation retten wollen. Nein, das wirkte dann schon so, als sei sie ganz zufällig vorbeigekommen und die Rotte Kinder hätte lediglich in ihrem Weg gestanden. Beim Auseinanderstoben ergab sich dabei durch Remias Geschick eigentlich immer eine gute Möglichkeit, sich in eine geeignete Richtung abzusetzen, bevor sich die anderen Kinder wieder zusammenrotten konnten.

An einem Tag nach der Schule hatten allerdings vier zweifelsohne übermütige Jungs sich zusammengeschlossen und allen Mut aufgebracht, sie verfolgt auf dem Weg nach Hause. Das verhieß nichts Gutes. Remia war keineswegs entgangen, daß sie verfolgt wurde, obwohl sich die Jungs noch in der Nähe der Schule alle Mühe gaben, nicht bemerkt zu werden.
Weiter draußen bemerkte sie gleichfalls, wie Mütze sie von weitem beobachtete. Weil sie bereits vermutete, daß sich mit ihren Verfolgern etwas zusammenbraute, war ihr eigentlich nicht recht, daß Mütze in der Nähe war, das konnte noch alles verkomplizieren. Aber vielleicht, so dachte sie, würden ihre Verfolger doch nicht den Mut aufbringen und darauf verzichten, sie zu stellen. Von den Burschen war sie mitnichten beeindruckt, hätte aber doch viel lieber einfach ihre Ruhe gehabt, als sich mit diesen auseinanderzusetzen und diesen klarzumachen, wie der Hase lief.
Sollten sie das wirklich vergessen haben?
Wollten sie wirklich herausfinden, warum sie immer ein etwas mulmiges Gefühl in Remias Nähe hatten?
Remia konnte sich kaum vorstellen, daß sie so dumm wären, dem genauer nachzugehen. Es gibt allerdings Typen, welche immer direkt in die Gefahr hineinspringen, einfach um herauszufinden, ob sie überleben können. Aber vielleicht, so dachte sie, würden ihre Verfolger doch nicht den Mut aufbringen und darauf verzichten, sie zu stellen.

Aber Dummheit soll man niemals unterschätzen. Dummheit, Langeweile, Tollkühnheit sowie Übermut sind Geschwister – und diese treten häufig zusammen auf den Plan und ein derartiger Zusammenschluß bedeutet Ungemach für alle Beteiligten.
Leider brachten die dummen Jungs den Mut auf, zwei mußten irgendwie auf einem Umweg gerannt sein, um sie zu überholen, kamen nun von vorne auf sie zu, zwei näherten sich von hinten. Die Jungs fächerten sich derart auf, daß Remia auf ein undurchdringliches Gebüsch zu in einer kaum einsehbaren Schneise des Waldes gedrängt werden sollte.
Remia war dieser Austragungsort für die Auseinandersetzung sogar ganz recht, mit einem dichten Gebüsch im Rücken hatte sie den Überblick und wenn niemand den Zwischenfall beobachten konnte, konnte ihr das nur zugute kommen, denn sie konnte noch nicht so genau abschätzen, was alles passieren würde.
Aber die Situation war ebenfalls heikel. In ihr kochte es heiß und der Groll des Drachen in ihr lockte und trieb sie, provozierte und forderte sie, wies darauf hin, daß dies doch einmal ein sehr günstiger Zeitpunkt sei, um ordentlich Dampf abzulassen. Und so stieg der Druck in ihr und die Jungs boten sich auch noch als Ventil an. Remia wollte solchen Situationen lieber aus dem Wege gehen, um das innere Grollen, Zürnen und Rumpeln besser im Griff zu haben, um ausgeglichen zu sein, ihr düsteres Geheimnis tief in sich zu bergen. Die Jungs vor ihr schickten sich nun an, das ganze Unheil aus ihr herauszukitzeln.
Sie würden sich wundern, wenn es ihnen wirklich gelingen sollte, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Sie würden sich wundern, wenn es ihnen wirklich gelingen sollte, den Drachen in ihr zu wecken!

So ließ sie sich also halb getrieben, halb vom Drachen in ihr selbst gelockt vom Weg abbringen und stand dann einige Meter vor dem dichten Gebüsch in der Waldschneise. Mütze beobachtete noch immer vom Waldrand, unbemerkt von den Jungs, welche sich zwischen Mütze und Remia positioniert hatten.
Remia war wenig beeindruckt und fragte nur ganz ruhig, was die Jungs von ihr wollten, diese jedoch lachten erst einmal nur und kamen näher.
Remia meinte dann allerdings, das sei nun nah genug, worauf sich die Jungs mit Beleidigungen und Pöbeleien offenbar Mut machten und ihr Gewalt androhten, wenn sie sich nicht einfach dreinfüge. Ihre zotigen Bemerkungen ließen nicht so viel Raum für Spekulationen, zu was sie sich fügen sollte und es zeigte Remia ebenso, daß und wie sie bereits als junge Frau auf die Burschen wirkte. Diese waren allerdings mitnichten darauf aus, sie mit Schmeichelei sowie netten Worten für ihr Vorhaben zu begeistern, sie waren auf Gewalt aus, sie wollten sich nehmen, wonach ihnen stand. Remia stand es sicher nicht danach, darauf wollte und konnte sie sich nicht einlassen, das wäre absurd sowie widerlich gewesen. Die Formulierungen der Jungs taten sowieso ihr Übriges, um da auch nicht sonderlich Mitleid mit diesen aufkommen zu lassen. Wer so respektlos ist, hat es nicht besser verdient. Überdies kämen sie mit ihrer Reaktion noch besser klar als mit Atrevs Rache, insofern lag es bei ihr, sie nun letztlich mit geeigneten Maßnahmen vor totaler Zernichtung zu bewahren.

Remia runzelte die Stirn, sie hatte schon von Atrev genug zu dulden, sicher wollte sie sich diesen harmlosen Knaben nicht fügen, was immer diese im Detail auch vorhatten oder sich vorstellten, was mit ihr laufen sollte, bei ihr jedenfalls waren sie damit eindeutig an der falschen Adresse. Sie war erzürnt und spürte in sich bereits das dumpfe, finstere Grollen des Drachens, sie spürte, wie das Feuer in ihr brodelte und ein Ausbruch kurz bevorstand. Sie zwang sich zu kalter Ruhe.
Unterdessen forderte sie die Burschen auf, sich nun schnellstens zu verziehen, sonst würden sie es bereuen. Die Jungs jedoch lachten bloß, fühlten sich in der Rotte überlegen. Einer versuchte schon, nach ihr zu greifen, und kündigte fiese Dinge an, welche sie mit ihr machen wollten. Remia war noch weiter zurückgewichen, auch um den Burschen noch etwas Zeit zur Überlegung zu lassen, damit diese doch noch eine Chance hatten, den Rückzug anzutreten. Remia wollte nicht unbedingt aggressiv, offensiv, arglistig sowie gewalttätig rüberkommen, daher ließ sie den Knaben mehr Raum und Zeit für einen Rückzug, als es ihr eigentlich notwendig erschien. Ihr taten die dummen Burschen nun sogar ein wenig leid, aber was sollte sie tun, die Jungs waren so dumm, den Weg zu versperren und sie zu bedrohen, gar anzugreifen.
Sie provozierten die Katastrophe und forderten ihr Schicksal heraus.

Mit einem Male fauchte Mütze böse hinter den Jungs. Während zwei weiter hauptsächlich Remia im Auge behielten, drehten sich die beiden anderen zu Mütze um und waren lediglich mäßig beeindruckt. Einer hatte einen Haufen Kiesel als Wurfgeschosse in der Tasche bevorratet und warf nach Mütze mit den Steinen, welche jedoch geschickt auswich und zornig sowie kampfbereit weiter fauchte und Krallen zeigte. Einer der Jungs lachte und meinte, sie würden die Katze der Hexe einfach aufspießen und rösten, wenn sie nicht bald verschwinde. Das war nun doch zuviel und Remia zog zornig ihre Augenbrauen herunter und es brodelte sehr heiß in ihr auf. Es war eine Sache, sie zu provozieren, aber sich an Mütze zu vergreifen, hieß dann endgültig, den Bogen zu überspannen. Irgendwann hatte selbst ihre Geduld mal ein Ende. Es gibt immer einen Tropfen, welcher ein übervolles Faß schließlich doch zum Überlaufen bringt. Sie mußte sich sehr zurückhalten, um sich nicht in einen Drachen zu verwandeln und die Jungs mit ihrem ersten Feuerstoß zu Asche zu zernichten.“

Lena stockte der Atem.
Würde es jetzt doch passieren?
Würden die schlimmen Jungs sie dazu zwingen, Feuer zu speien und herauszulassen, was an Unheil in ihr schlummerte und nur darauf wartete, hervorzubrechen?
Nach all der Mühe, welche Remia sich gegeben hatte, nett zu bleiben?
Aber konnte man nett bleiben, wenn man selbst und die Freundin derart bösartig bedroht wurden?
Lena verstand nur zu gut, was Marie eben meinte, manchmal gibt es wohl keinen geraden, sauberen, korrekten Weg hinaus, besonders wenn man in die Ecke gedrängt wird.
So flüsterte sie lediglich ziemlich ratlos: „Remia ist ein netter Drachen!
Sie sollte nicht das Feuer speien und damit so wie Atrev werden!“
Marie gab allerdings zurecht zu bedenken: „Remia ist in die Enge gedrängt, jetzt kann sie nicht mehr fliehen. Vielleicht ist es ein Fehler gewesen, nicht früher geflohen zu sein, als sie bereits ahnte, daß jemand sie verfolgte, andererseits ist es ein öffentlicher Weg, also gibt es auch keinen Grund, anderen Menschen aus dem Wege zu gehen, jeder kann den Weg benutzen.
Trotzdem hätte sie sich beeilen können, als noch Zeit war, einfach weil sie Lust dazu gehabt hätte, hatte sie jedoch offenkundig nicht und nun aber muß sie sich wohl so oder so stellen, Mütze ist überdies auch noch im Spiel und muß beschützt werden!“
Lena stimmte ihr zu: „Natürlich, Mütze muß beschützt werden und Remia darf, soll sich wehren, aber sie muß doch noch einen richtigen Weg finden, aber ich weiß nicht!“
Marie war ernst: „So, du weißt keinen Weg?
Du bist jedoch ganz auf ihrer Seite, das wird ihr schon helfen, die Situation zu überstehen, denke ich …“
Lena schwankte zwischen Erleichterung und bedrückender Ratlosigkeit, was würde Remia tun?
Sie bewertete ihren eigenen Beistand nicht so wahnsinnig groß in jener Situation, immerhin war sie ja nur in Gedanken an Remias Seite, nicht wirklich. Und wenn sie wirklich dort gewesen wäre, so hätte sie sehr viel Angst gehabt und wäre so Remia nur zusätzlich zur Last gefallen. Mütze war jedenfalls bereit, Remia beizustehen, aber so wurde auch diese arg bedroht sowie bedrängt, hatte selbst allerdings immerhin noch einen Fluchtweg.

Marie setzte die Erzählung fort: „Remias Herzschlag war in der kritischen Situation nicht einmal erhöht. Sei hatte sicher keine Angst. Drachen haben keinerlei Angst. Sie sorgte sich lediglich um Mütze und zischte so finster und entschlossen sie konnte in ihre Richtung, sie solle bloß abhauen und sie nur machen lassen.
Die Jungs lachten nur schallend, Mütze indes hatte sehr wohl den grollende Unterton mitbekommen, welcher an Remia unheimlich war. Da war etwas in ihr, vor dem Mütze sehr viel Respekt hatte und nun war es eindeutig an der Zeit, ausreichend Abstand zu gewinnen.
Noch immer wich Mütze sporadisch geworfenen Kieseln aus, trat nun aber beinahe wie ein Hase Haken schlagend den Rückzug in den Wald ins Unterholz an, um von sicherer Stelle weiter zu beobachten und notfalls doch noch zu helfen, wenn Remia sich überschätzt haben sollte.
Mütze war recht geschickt auf dem Rückzug und doch streifte ein Kiesel sie auf schmerzhafte Weise, aber sie wollte keine Schwäche zeigen, verkniff sich ein schmerzhaftes Miauen, was Remia sicher nur noch mehr aus der Fassung gebracht hätte – und irgendwie war sich Mütze sehr sicher, daß es gar nicht gut war, wenn Remia wirklich aus ihrer Haut fuhr und so gereizt wurde, daß sie richtig zornig wurde. Die Jungs jedenfalls waren kurz davor, dies zu schaffen und Mütze wollte nicht jener Tropfen sein, welcher das Faß des Unheils zum Überlaufen brachte. Sie wollte nicht das Körnchen sein, welches die sorgfältig austarierte Waage zum Kippen brachte.
Die Jungs waren sehr dumm, ausgerechnet Remia zu provozieren, denn wer wollte schon ernsthaft erleben, was sich bereits mit dem bedrohlichen Unterton in Remias Stimme unheilvoll ankündigte?

Als Mütze im Unterholz verschwunden war, hatten sich die Jungs wieder alle Remia zugewendet und wohl der Mutigste oder der Anführer von den Vieren warf nur so ein ‚Und nun zu dir!‘ in die Arena.
Remias Blick wurde schneidend, was den Jungs eigentlich genug Warnung hätte sein sollen und bei ihrer kalten, ruhigen Stimme hätten ihnen auf jeden Fall Zweifel kommen müssen, aber sie waren anscheinend viel zu aufgeputscht, als daß der Verstand noch hätte mitreden dürfen.
Sie näherten sich, Remia nickte bloß kurz zu einem den Kopf hoch und meinte ‚Na dann komm schon!‘

Und anschließend geschah doch alles sehr schnell, mehr als schnell, jedenfalls als die Jungs sich als wirklich so dumm erwiesen und angriffen. Mütze konnte zwar schnell gucken, jedoch nicht so schnell, wie Remia sich plötzlich bewegte. Den einen Augenblick hatten die Jungs bereits ausgeholt, um nach Remia zu greifen, sie zu schlagen, den nächsten Augenblick verwischte diese zwischen diesen Figuren, welche dagegen wie eingefroren wirkten. Die Zeit schien für sie zäh wie Pech zu werden, bevor sie Remia erreichen konnten, während diese die Zeit aufzusaugen schien, um sich darin zu bewegen, erstaunlich schnell sowie gelenkig. Sie verwandelte sich nicht einmal, behielt gar ihren Groll und das Feuer noch gerade so in sich, schlug wohl allen mächtig gegen den Kopf und trat heftig gegen die wehrlos dargebotenen Schienbeine. Hohl dengelten Köpfe aneinander, daß die Gehirne durch die Denkkästen schwappten und sich Gedanken verwirbelten und verzwirbelten. Die Trägheit der Masse ist tückisch, wenn sich der Schädel schon bewegt und das Hirn noch darüber nachsinnt, war gerade passiert.

Mütze konnte gar nicht glauben, was da gerade vor ihrer Nase geschah, denn sehen konnte man das nicht. Jedenfalls war sehr kurze Zeit später der Moment vorbei, Remia stand breitbeinig sowie mit verschränkten Armen einige Meter von den am Boden liegenden sowie jammernden Jungs entfernt. Diese hatten gar nicht mitbekommen, was wie passiert war, fühlten lediglich den Schmerz, welcher entstand, wenn Körperteile viel zu schnell beschleunigt werden, jedoch eigentlich träge in ihrer Bewegung verharren wollen. Es war ein grauenhaftes, aber verdientes Erlebnis für die Jungs. Aber sie würden Mühe haben, dieses Erlebnis mit ihren schmerzenden Köpfen sowie aufgemischten Gehirnwindungen jemals komplett zusammenzusetzen. Das war letztlich auch besser so, denn beunruhigender als dieser Flickenteppich undeutlicher Erinnerung wäre das Grauen der Erkenntnis gewesen.

Mütze kam nun heran, denn Remia war wieder ganz ruhig. Sie schmiegte sich an Remias Bein und diese hob Mütze vorsichtig hoch, streichelte diese sanft und zärtlich, daß der schmerzhafte Treffer mit dem Kiesel schon bald vergessen war. Mütze war noch immer verblüfft und staunte über die am Boden stöhnenden Knaben, besser also man war auf der richtigen Seite – oder aber klug und fing mit Remia keinen Streit an. Dummköpfe bekommen so schnell Kopfschmerzen, aus Übermut wird Knabenmus.

Die Jungs allerdings krümmten sich noch lange und wimmerten unter Schock.
Remia meinte zu ihnen nur ganz ruhig ‚Ich kann wohl davon ausgehen, daß das unter uns bleibt?
Sonst müßte ich glatt noch mal ran!
Alsdann würde ich vielleicht noch richtig wütend werden – und das wollt ihr doch sicher nicht?‘
Wirklich hatten die Jungs nun rein gar keinen Bedarf mehr daran zu erfahren, was passieren mochte, wenn Remia wütend wurde, sie nicht wütend in Aktion zu erleben, war für sie eine sehr prägende, mehr als ausreichende Erfahrung, deshalb stöhnten sie lediglich ihre Versicherungen mühsam, jedoch sehr zügig hervor, Remia bestimmt nicht noch einmal in die Quere zu kommen.
Remia hakte nach, forderte totale Kapitulation sowie Unterwerfung, zudem Verschwiegenneheit über diesen Vorfall, was ihr vollständig sowie sofort gewährt wurde, wenn sie nur nicht näherkam.
Das schien ihr so weit zu reichen, denn sie nickte ernst, schüttelte dann ihren Kopf und meinte nur verächtlich: ‚Dummköpfe, ihr seid solche Dummköpfe!
Wozu das alles?
Wozu all der Schmerz sowie die Pein, wenn ihr stattdessen wie immer mit den anderen mit Bällen, Murmeln oder Kieseln hättet spielen können?
Nun seht euch an, wie ihr euch den restlichen Tag durch solche Dummheiten verdorben habt. Und ich sage nicht, daß ich etwas gegen etwas Schabernack an sich einzuwenden hätte, aber dann bin ich es, welche zum Schabernack aufgelegt ist und ihn durchführt.
Was fällt euch also ein, mich zu zwingen, euch zu strafen?‘
Dies war ganz offenbar eine sogenannte rhetorischen Frage, auf welche Remia also keine Antwort erwartete. Die Jungs verstanden das nun sogar, denn sie grummelten nur in totaler Unterwerfung ihre Übereinstimmung mit Remias Ansicht, daß sie ganz gewiß einen großen Fehler gemacht hatten.
Es leuchtete ihnen aus dieser aktuellen Perspektive gar nicht mehr ein, wie sie überhaupt auf die Idee gekommen waren, Remia zu verfolgen, ihr Anliegen zu unterbreiten und zur sofortigen Umsetzung zu drängen. Nichts schien ihnen nun ferner zu liegen, als solch ein verwegener, ja alberner und absurder Gedankengang. Ja, da mußte wohl einiges oben in den Oberstübchen durchgegangen sein – und nun war da aber auch alles durcheinandergewirbelt, dort fehlten nicht nur ein paar nun zerbrochene Tassen im Schränkchen, im ganzen Haus ihres Seins hatte ein Orkan gewütet und sie konnten sich wohl eigentlich glücklich schätzen, überhaupt noch die Worte vernommen zu haben, die Remia an sie gerichtet hatte. Wobei der Schmerz, die Pein so groß waren, daß sie derzeit ihr Glück nicht so richtig zu schätzen wußten. Sie jammerten und haderten, aber mehr mit sich, denn nie mehr hätten sie es gewagt, das Wort gegen Remia zu richten – oder gar noch mehr als ein Wort.

Remia stellte noch eine weitere Prognose in den Raum: ‚Ich habe euch genau im Gedächtnis gespeichert.
Solltet ihr es wagen, nochmals irgendwem Gewalt anzudrohen, zu mißhandeln, insbesondere Mädchen derart zu bedrängen, reiße ich euch das fragliche Ding ab – und ihr könnt sicher sein, ich erfahre von derartigen Mißhandlungen, finde euch, egal, wo ihr euch verschanzen mögt, verstanden?‘
Erschrocken schauten sich die Burschen an, faßten zur Prüfung an die fragliche Stelle, versicherten hastig, daß sie verstanden hatten.

Remia aber war wieder ganz nett und so reichte ihr diese einfache mündliche Zusage, Kapitulation sowie Unterwerfung. Sie hatte keinen Bedarf, weitere Grausamkeiten an ihren Opfern zu begehen, beziehungsweise sie mußte sich ordentlich zusammenreißen, um nicht noch allen im Vorbeigehen zum Abschied einen ordentlich Kick mit dem Fuß zu geben. Sie drehte sich einfach um und ließ die Jungs in ihrem Elend zurück, davon ausgehend, daß sie sich schon irgendwie und irgendwann nach Hause schleifen würden. Es schien ihr in diesem Zusammenhang albern zu sein, sich um die Opfer zu kümmern, welche sie derart gemein behandeln wollten und nun auch wieder nicht so schwer zerschlagen waren, daß sie sich nicht noch gegenseitig stützend gemeinsam, jedoch ohne ihre Hilfe nach Hause schleppen konnten. Die Angelegenheit war für sie erledigt, aus und vorbei. Kein Grund für weitere Verzögerungen ihres Tagesablaufes, das konnte sonst nur Probleme mit Atrev geben. Und wenn dieser von dem Vorfall erführe, würde er glatt noch darauf bestehen, daß sie jeden einzelnen der Jungs schlitzte, bis sie nicht mehr zuckten. Und das mußte ja nun nicht sein.
Was hätten sie alle davon letztlich gehabt? – Nichts!
Atrev hätte die Jungs vielleicht noch ans Kreuz getackert sowie auf links gedreht. Oder er hätte sie langsam und noch lebendig zu Gulasch geschnitten und ihnen die noch warmen Stückchen vor die entsetzten Augen gehalten, sie gezwungen, vom eigenen, rohen, blutigen Fleische zu kosten. Remia lag an solchen Spielen nichts. Die Jungs hatten eine angemessene Abreibung kassiert, es war nicht notwendig, sie zu verstümmeln sowie zu zerschnitzeln. Das heutige Erlebnis hatte sich ohne Zweifel tief in ihr Gedächtnis gegraben und dort würde es über Jahrzehnte bis zum Tage ihres Todes gären und köcheln, sie quälen und demütigen. Das war schon mehr als genug. Aber sie hatten sich all dies redlich verdient, als sie so keck gewesen waren, sie anzugreifen.

Noch ein ganzes Stück vor dem Haus ließ sie Mütze wieder herab sowie im Wald verschwinden, ging daraufhin heim. Abends erzählte sie Atrev doch kurz von dem Vorfall, allerdings dabei wohlweislich auslassend, daß Mütze anwesend war. Zudem stellte sie es so dar, als habe sie den Jungs aufgelauert, um diesen eins auszuwischen. Die Geschichte so gedreht kam Atrev jedenfalls nicht auf die Idee, bei den Jungs noch nachzubessern. Damit war auch Atrev ganz zufrieden, daß seine Remia es den dummen Burschen ordentlich gezeigt hatte, wobei er meinte, sie hätte die Jungs ruhig schön grillen können, wenn diese ihr schon so unterkamen, aber Remia ließ sich nicht provozieren. Abschließend klopfte ihr Atrev gar anerkennend auf ihre Schulter und meinte, aus ihre könne ja vielleicht irgendwann doch noch ein anständiger Drachen werden, wenn sie nur nicht immer so zimperlich sei. Wenn sie nur ab und an mal ordentlich das Feuer in ihr auflodern lasse und dann ungezügelt sowie hemmungslos herauslasse, um es diesem Pack von Menschen ordentlich zu zeigen.“

Lena schnappte nach Luft nach dieser argen Episode aus Remias Leben, war aber jedenfalls komplett damit zufrieden, wie diese das Problem gelöst hatte. Ganz sicher sprachen sich doch diffuse Gerüchte herum und so war sie sicher vor den Übermütigen unter den anderen Kindern, sollte es da noch welche geben, welche Arges gegen sie im Schilde führen sollten. Niemand würde sie mehr angreifen in der Schule, nachdem sie so eindrucksvoll gezeigt hatte, daß sie sich wehren konnte. Vermutlich würden sie sich auch bei den Hänseleien mehr vorsehen.
Und so sprach sie zu Marie: „Ach, leider bin ich nicht so schnell und stark wie Remia, das Drachen-Mädchen, welche sich derart mutig sowie entschlossen wehren kann.“
Marie aber entgegnete darauf: „Das ist auch ein Fluch, wenn man so unter Menschen lebt und diese Macht, dieses Feuer und gleichzeitig diese Düsternis in sich hat und alles hüten muß, damit man damit nicht gewaltiges Unheil anrichtet. Aber wir wollen mal sagen, in der Situation hat Remia einen Weg gewählt, den wir gelten lassen können, man hat sie gezwungen, sich zu wehren und sie hat sich dieser Situation gestellt, hat angemessen reagiert. Rechtzeitig zu fliehen, der Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen, wäre wohl weiser gewesen, aber Remia ist ja noch jung und nicht so weise, in solch einer Situation, von jetzt auf gleich fällt ihr ja auch nicht sofort ein, was am besten wäre. So muß sie also die Dinge nehmen wie sie kommen, ihren Weg finden und gehen.“
Lena nickte, Marie hatte sicher Recht.
Marie hakte nach, wobei Lena einen etwas unheimlichen Unterton zu bemerken glaubte: „Bedrängt man dich in der Schule, daß du dir wünscht, Fähigkeiten wie Remia zu haben?“
Lena beschwichtigte gleich: „Das ist längst nicht so schlimm, etwas Ärger gibt es ja immer mal, aber du hast natürlich Recht, so arg ist es nicht, daß man sich wie Remia allein in die Ecke gedrängt fühlt und ihre Fähigkeiten haben müßte, um es zu überstehen – und ich habe überdies Freundinnen in der Schule, die mir beistehen würden, wir halten zusammen.“
Marie nickte und lobte: „Es ist sehr gut, wenn du die hast, mit Freunden ist alles leichter und man fühlt sich gleich sicherer, aber Remia war ja leider eine Einzelgängerin, ganz anders als die anderen Kinder an der Schule. Drachen sind einsam.“
Lena meinte: „Ja, ich sehe ein, wenn ein Außenseiter an der Schule oder sonstwo bedrängt wird, so müssen wir ihm beistehen, niemand hat es verdient, ganz alleine zu sein und dann auch noch gehänselt und gequält zu werden. Wenn man sie so sehr ärgert, ist es ja kein Wunder, wie schwer es Remia fällt, ein netter Drachen zu bleiben.“

Sie machten wieder eine Pause. Der Sturm war immer noch mächtig am Tosen und zerrte heftig am Dach, aber Lena hatte nicht mehr so viel Angst, auch als es ganz nahe blitzte und donnerte beinahe zur gleichen Zeit, zuckte sie nur kurz; weil sich Marie aber nicht einmal regte, übertrug sich ihre Ruhe gut auf Lena.
Diese schaute noch einmal nach, ob ihre Mutter inzwischen da war. Unten an der Wohnungstür klingelte sie, wartete, klingelte erneut, wartete, amschließend drehte sie sich um, es war vergeblich, sie kam zurück, zuckte kurz mit den Schultern und kuschelte sich wieder in die Decke auf Maries Schoß ein.

Der Kampf

Lena hatte ja etwas Zeit gehabt, um nachzudenken und meinte nun: „Nachdem das Problem mit dem Mitschülern erledigt ist, bleibt nun ja noch das Problem mit Atrev zu lösen, wie bringt Remia das fertig?“
Marie nickte, gab allerdings zu bedenken: „Nun, Atrev ist ein mächtiger Drachen, welcher jede Schliche, jeden Trick kennt, dem beizukommen, ist nicht so einfach, er ist viel mächtiger als Remia und hat keine Skrupel oder Hemmungen.“
Lena aber wandte ein: „Aber Remia ist auch recht schlau, sie ist doch älter geworden und zudem mächtiger, sie wird einen Weg finden.
Sie wird doch einen Weg finden?“
Marie erwiderte: „Nun, wir werden es wohl erfahren, wenn die Geschichte weitergeht, aber wie so oft im Leben ist nicht alles so eindeutig. Es verschwimmt irgendwie, in der Erinnerung sowieso, vielleicht sogar unterdessen bereits in der konkreten Situation. Wenn es wirklich turbulent zugeht, verliert man leicht den Überblick und man weiß nicht mehr so genau, was wann wie genau passiert und so im Rückblick ist man vielleicht auch ganz froh, daß man alle Zusammenhänge, Details nicht mehr wissen muß.“
Lena war ganz gespannt: „Es geht turbulent zu?“
Marie meinte dazu: „Gewiß, wie könnte es anders sein, wenn solche Charaktere aufeinandertreffen, wenn Drachen aufeinandertreffen, eine große Konfrontation ansteht, unausweichlich wird?
Denke nur daran, was passiert ist, als sich Atrev an dem anderen Drachen gerächt hat, wie der Kampf zwischen diesen beiden Drachen entbrannt ist und wie er geendet ist. Denke nur daran, was ich dir über das Gewitter und die Drachen erzählt habe …“
Und wie auf Kommando blitzte und donnerte es draußen wieder ganz gewaltig, daß Lena sich doch wieder ganz eng an Marie kuschelte. Wie froh würde sie sein, wenn die Drachen da draußen wieder weiterziehen mit ihrem Zorn. Wie froh würde sie ferner sein, wenn es Remia endlich gelingen würde, ihren eigenen Weg zu gehen und nicht mehr so gemein von Atrev unterdrückt zu werden.

Draufhin setzte Marie die Erzählung fort: „Nach ihrem kleinen Sieg fühlte sich Remia richtig stark, wenn sie sich auch nicht darüber hinwegtäuschte, daß das nichts war gegen Atrev, den sie weiter dulden mußte, aber seine Unterdrückung wurde ihr immer unerträglicher, je größer sie wurde, je mehr Macht sie bekam, je größer und heißer das Feuer in ihr grollte. Sie wußte schon, irgendwann würde es wohl unweigerlich knallen und sie würde nicht mehr dulden können, sondern sich wehren und dann wäre Atrev am Ziel, denn er würde ihren Zorn schüren und sie damit ganz und gar ins Drachenleben, in die Finsternis des Unheils locken.

Aber es zog sich noch hin, zwar provozierte Atrev immer noch mit eigenartigen Lehraufgaben sowie Lektionen, aber ein wenig mehr Respekt hatte er schon bekommen. So ging es zunächst noch besser als gedacht. Aber Atrevs Drang nach Unterdrückung sowie Peinigung war natürlich immer präsent. Somit war es nur eine Frage der Zeit, bis seine Neigung wieder voll durchbrechen würde und er damit fortfahren würde, Remia wie zuvor zu mißhandeln sowie zu quälen. Remia wußte das ganz bestimmt, doch einstweilen tat ihr jeder Tag gut, an welchem sie noch einmal glimpflich davonkam.

Der Konflikt entbrannte wieder heftig, als Atrev an einem schulfreien Samstag beobachtete, wie Remia heimlich Kontakt zu Mütze aufnahm, welche er noch immer abgrundtief haßte. Aber er riß sich diesmal zusammen, polterte nicht gleich los, sondern beobachtete lediglich, bedachte dabei kühl, berechnend und völlig ruhig, was zu tun sei.
Wenn Atrev weg war, mochte es Remia immer noch, Mütze einige Leckereien am Waldrand zu spendieren, aber sie war mutiger geworden und bleib anschließend auch noch etwas dort, bis Mütze auch bald kam und sich an sie kuschelte. Remia streichelte und kraulte sodann die Katze und beide ließen es sich gutgehen, genossen ihre Freundschaft.
Atrev aber hatte einen Weg gefunden, seine Präsenz wirkungsvoller abzuschirmen, deshalb war es ihm auch gelungen, Remias Aufmerksamkeit zu täuschen und so zu beobachten, was wirklich vorging, wenn er nicht da war.

So wartete er ein paar dieser traulichen Treffen ab, sondierte zu anderer Zeit das Gelände, welches allerdings gut gewählt war, denn es bot viele Fluchtmöglichkeiten für Mütze, welche er genau studierte, um abschätzen zu können, welchen Weg Mütze wohl nehmen würde und wie Remia und Mütze am besten zu überraschen seien. Allmählich hatte er eine Idee, wie er eine gute Chance haben konnte, oder jedenfalls räumte er sich gegenüber ein, daß er sich keinen besseren Plan ausdenken konnte. Zumal sind die einfachen Pläne meist die besten, denn was gar nicht drinsteckt, kann auch nicht schiefgehen.

So passierte es eines Tages am jenem Samstag, Atrev schlich sich leise von der Waldseite heran, um die beiden zu überraschen und wenn möglich, Mütze in Panik auf das freie Gelände zu treiben. Er hatte seine ganze Kunst sowie Konzentration zusammengenommen, um seine Präsenz vor Remia zu verbergen. Und wirklich, so kam er immer näher. Er genoß es, wie er so unentdeckt schlich und malte sich schon aus, was er mit Mütze anstellen würde, wenn er diese erst einmal am Kragen hätte. Nun war er kurz davor. Die Spannung stieg. Er hatte unbändige Lust, das ängstlich puckernde Herz der Katze mit seinen Händen zu spüren und es zu zernichten sowie im Leib zu zerquetschen, daß die Knochen drumherum nur so knacken würden.
Aber das wäre viel zu einfach. Er malte sich aus, wie er sie lange quälen würde, wie Mütze über Stunden, Tage spüren mußte, wie hoffnungslos die Lage war, wie das Leben langsam aus dem Leibe wich und wie erst der Schmerz und die Pein das ganze Sein einnahmen, was letztlich jedoch mehr und mehr der Resignation des absterbenden Lebens weichen würde. Dann würde irgendwann ein unerwarteter Hoffnungsschimmer auf Flucht noch einmal beleben und zum Leben motivieren, um daraufhin gleich wieder erbarmungslos genommen und vernichtet zu werden, bevor er endgültig den letzten Lebenstropfen aus Mütze herausquetschen würde – wobei Remia zusehen mußte, noch besser, er würde sie dahinbringen, Mütze selbst den letzten Stich, den Gnadenstoß zu setzen, selbst zu zernichten, woran sie offenbar so sehr hing. Das würde sie lehren, sich nie wieder auf solche Albernheiten einzulassen.
Atrev schwelgte regelrecht in wilden, blutigen, gemeinen Phantasien, wie er Mützes Pein über die Maßen zeitlich und in der Intensität verlängern könnte, wie dabei Remia in eine Zwangslage bringen, entweder selbst Mütze peinigen zu müssen, um noch Schlimmeres zu vermeiden, oder das miterleben zu müssen, dabei so gereizt zu werden, daß endlich ihre Drachengestalt in höchster Erregung hervortreten müßte, um den ganzen Zorn hinauszulassen, welcher sich aufgestaut haben mußte, welcher bloß ein Ventil suchte, einen Anlaß, um die Kontrolle zu übernehmen, um Remia in eine Berserkerin, einen garstigen Wüterich zu verwandeln. Nun sollte es gelten, nun mußte es werden.
Er mußte sie nun reizen, bis es aus ihr hervorbrach, es mußte gelingen, wie alt sollte sie noch werden, bis aus ihr endlich ein anständiger Drachen werden würde?
Schließlich hatte er erzieherische Verantwortung für sie, mußte sich kümmern, daß aus seiner Brut etwas wurde.
Was für ein Versager wäre er doch, wenn ihm gerade dies nicht gelänge?
Wenn seine Brut nicht mehr wäre als ein sanftmütiges, erbärmliches, schwächliches Katzenkuschelchen?
Nun mußte er aus ihr hervorkitzeln, was wirklich in ihr steckte, was wirklich ihr Innerstes beherbergte.
Und wenn das nicht gelänge, was sollte er dann noch mit solch einem mißratenen Nachwuchs?
Wie würde er mit solch einer Brut vor seinen Artgenossen dastehen?
Unmöglich!
Er wußte aber auch: Was lange gärt, wird endlich Wut.
So war er doch guten Mutes, umso heftiger in Remia das verzehrende Feuer der Zernichtung und des Unheils schüren sowie entfachen zu können, um es von nun an prächtig und mächtig in voller Kraft lodern zu sehen, je mehr diese das bislang zurückgehalten hatte, aufgespart hatte.
Das lauerte doch in ihr, wartete nur auf den Moment, um die Kontrolle zu übernehmen und fortan das ganze Wesen zu bestimmen!
Atrev konnte es kaum glauben, aber jetzt spürte er die Nöte mit dem Nachwuchs beinahe wie die blöden Menschen.
War die eigene Brut doch noch auf den richtigen Weg zu kriegen oder war sie für alle Zeit mißraten, eine verlorene Generation, eine Gefahr gar für die ganze Spezies?

Und dann griff er an!
Mütze wollte wirklich auf das freie Gelände fliehen, Remia jedoch erkannte den Fehler in diesem Impuls, die Falle darin und hielt die fauchende Katze erst fest, anschließend warf sie kurzentschlossen die vollkommen verblüffte am ebenso verdutzten Atrev vorbei in einen Busch hinter ihm. Mütze indes zögerte nicht lange, instinktiv hatte sie sich schon im Fluge gedreht. Der Aufprall in den Ästen zwickte zwar ordentlich, aber sie begriff sofort, daß Remia ihr damit eine gute Chance zur Flucht gegeben hatte. Ihre panikartige Flucht wäre in die falsche Richtung gegangen, sie wäre sehr dumm gewesen. Sie nutzte Atrevs Zögern, wuselte durch den Busch zur Erde und trat dort die Flucht an, was keinen Augenblick später hätte passieren dürfen, denn Atrev hatte seine Drachengestalt angenommen und spie nun eine große Feuerfontäne in Richtung des Busches, in den Mütze kurz zuvor geworfen worden war. Das Laub war feucht und dicht, brannte also trotz der Hitze nicht besonders.

Atrev wollte Mütze folgen, Remia jedoch grollte empört und entsetzt auf – auch sie hatte ihre Drachengestalt angenommen und war nicht mehr so viel kleiner als Atrev. Erneut war Atrev verblüfft und damit einen Moment zu lange abgelenkt. Er hatte nicht damit gerechnet, daß Remia sich gerade jetzt in solch eine zornige, erboste Bestie verwandeln würde, welche nichts mit ihrer sonstigen, relativ harmlosen Drachengestalt mehr zu tun hatte. Zwar hatte er sich das sehnlichst gewünscht, allerdings keineswegs damit gerechnet, dieses heiß ersehnte Ziel so zu erreichen. Remia schien doch inzwischen so sehr die menschliche Gestalt verinnerlicht zu haben, daß er sie kaum noch in Drachen-Gestalt zu sehen bekam. Umso mehr war er nun überrascht, wie groß und mächtig sie bereits geworden war.
Wie hatte sie dies vor ihm verbergen können?
Oder hatte er es einfach nicht sehen wollen?
Hatte er das Ausmaß ihres Machtzugewinns in den letzten Monaten einfach übersehen, weil er sich zuviel mit anderen Dingen beschäftigte?
Oder hatte Remia es gezielt fertiggebracht, ihr Drachen-Selbst vor ihm so gut zu verbergen?
So oder so – seine Pläne waren über den Haufen geworfen. Remia mußte er nun wohl gelten lassen und sich ihr stellen, statt wie geplant Mütze endlich zu schnappen sowie aus dem Spiel zu nehmen. Er sah seinen einfachen Plan schon jetzt durchkreuzt und sich mit etwas gänzlich Unerwartetem konfrontiert – Remia hatte sich offenbar entschlossen zu opponieren.
Gut, irgendwann mußte derlei passieren, aber gerade jetzt?
So konnte Mütze gerade noch so eben entfliehen. Und wenn man behauptet, daß Katzen sieben Leben haben, so hatte Remia Mütze in diesem dramatischen Moment ein weiteres geschenkt.

Atrev mußte sich verärgert dem Kampf stellen; beide Drachen fauchten sich mächtig an und schossen empor in den bislang wolkenlosen Himmel, wo sich ihre Wut mächtig entlud und als heftiges Donnergrollen über die Landschaft zog. Im Nu bildete sich am Himmel um die beiden Drachen eine gewaltige, finstere Gewitterwolke, in welcher es nur so blitzte und grollte. Immer größer wurden die Wolken und verdunkelten bald den gesamten Himmel, nur die Blitze in den Wolken erhellten mit ihrem häufigen Flackern noch die Landschaft darunter. Von einem Moment zum anderen verdunkelte ein gewaltiges Unwetter die gesamte Umgegend und verbarg in sich beide Drachen, welche sich zum Kampf stellten. Nicht lange, und ein heftiges Gewitter setzte ein, die Blitze schossen auch auf die Erde hernieder, trafen manchen Baum sowie Blitzableiter in der Gegend. Ein heftiger Regen brach hernieder und alles verschwamm in einem Meer von Wasser, Blitzen und Unheil. Plötzlich drückte Weltuntergangsstimmung alles in der weiteren Umgegend nieder. Auf einen Schlag brach ein Inferno über die Region herein.

Remia hatte sich hinreißen lassen, bislang hatte sie geduldet und sich mehr schlecht als recht durchgewurschtelt, aber nun ging es nicht mehr. Es war zu früh, um Atrev wirklich länger die Stirn zu bieten, aber wohl lange genug, um Mütze die Flucht zu ermöglichen.
Was mit ihr passierte?
Sie machte sich keine großen Illusionen hinsichtlich ihrer Erfolgsaussichten, aber sie würde sich endlich wehren – und wenn es das letzte wäre, was sie in ihrem Leben tun würde. Von nun an konnte und wollte sie nicht mehr dulden. Aber sie erkannte auch schnell, daß Atrev nicht zu Spielen aufgelegt war, sondern sie nun wahrgenommen hatte, als Drachen wahrgenommen, sie nicht mehr als sein kleines Spielzeug beiseite schieben konnte. Das würde sie nun aushalten müssen. Sie hatte sich ihm gezeigt und er würde darauf reagieren müssen. Und dies tat er äußerst heftig. Widerspruch und Gegenwehr, Opposition nicht gewohnt, war seine Reaktion nun um so heftiger und unkontrollierter.

Remia hatte doppelt Probleme, einerseits die wütenden Angriffe vom völlig außer Kontrolle geratenen Atrev parieren und abwehren, andererseits versuchen, die Blitze so zu lenken oder abzulenken, daß sie nichts wirklich Wichtiges trafen. Beides zusammen konnte mitnichten lange gutgehen, so geschickt und mächtig war Remia nun doch nicht. Konzentrierte sie sich auf das eine, wurde zwangsläufig das andere vernachlässigt. Und Atrev war natürlich egal, was sonst noch zerstört wurde durch Blitze und Unwetter, so mußte er seine Aufmerksamkeit nicht teilen, konnte einfach ungezügelt seiner Wut sowie seinem Groll freien Lauf lassen. So oder so kämpfte Remia auf verlorenem Posten, weil Atrev eben doch viel mächtiger war. Ihr zum Vorteil gereichte immerhin, daß sie einen kühlen Kopf behielt und kaltblütig dachte, plante und agierte. So gelang es ihr im Verlauf der Auseinandersetzung doch eine ganze Weile, Atrev erfolgreich Widerstand zu leisten in diesem ungleichen Kampf des rücksichtslosen, völlig ausgerasteten, übermächtigen, skrupellosen, maßlosen Ungeheuers gegen das ruhige, überlegte Drachen-Mädchen, welches bereits nahezu erwachsen geworden war und sich eigene Gedanken machte, einen eigenen Weg gehen wollte.

Es passierte so viel gleichzeitig, daß Remia dachte, sie würden bereits eine kleine Ewigkeit kämpfen. Aber der wilde Kampf beider Drachen dauerte letztlich von außen betrachtet nicht lange. Das ist eines der Rätsel der Zeit, persönlich erlebt man sie ganz anders als sie gleichgültig und gleichmäßig durch die Uhren sickert. Wie man heute längst weiß, wie Masse und Energie Raum und Zeit krümmen und Raum und Zeit über Masse und Energie bestimmen, so ist es in der persönlichen Wahrnehmung so, daß extreme Ereignisse die persönlich wahrgenommene Zeit zu dehnen scheinen und der Raum zu dem zu schrumpfen scheint, was augenblicklich im Fokus der Aufmerksamkeit ist. Es gibt sonst nichts mehr und in diesem wilden Gemisch von Raum und Zeit und Sein vermischt sich alles turbulent zu einem irren Knäuel von Aktion und Reaktion, von Finte und Reflex, Täuschung und Reinfall. Alles verschmilzt zum Instinkt, das Ich reduziert sich auf den Moment, die blitzartige Funktion von Körper und Geist, um im Kampf zu bestehen, auszuweichen, wieder anzugreifen, gar zu dominieren, zu triumphieren oder unterzugehen. Es gibt nur noch den Kampf. Es gibt keinen Schmerz, keine Welt mehr, alles explodiert.

Von außen gesehen war natürlich alles viel profaner:
Atrev war viel zu mächtig und Remia war wohl schnell unterlegen, dabei wiederum allerdings schlau genug, um sich durch Flucht dem Unheil in der Wolke zu entziehen, als klar wurde, daß sie nicht länger standhalten würde und eine Verlängerung des Kampfes nur eine weitere katastrophale Verwüstung der Region zur Folge hätte, welche sich nicht aufhalten ließe, wenn der Kampf weiterging. Erbost jedoch folgte ihr Atrev sofort aus den Wolken zu Boden.

Auf dem Boden angekommen, versuchte sich Remia zu verstecken, nahm dafür auch wieder die deutlich kleinere Menschengestalt an. Aber Atrev war aufmerksam gewesen und hatte nun auch wieder seine Präsenz recht gut abgeschirmt. Deshalb gelang es nicht, sich zu verstecken, Atrev überraschte Remia und schmetterte sie kräftig gegen einen Baum, daß dieser nur so krachte. In Remia explodierte der Schmerz, sie konnte ihn nicht vermeiden oder unterdrücken, sondern lediglich dulden, zog sich weit in sich zurück, um ihn zu überstehen. Alles schien nun verloren.
Wieder mußte sie dulden, jetzt vielleicht zum letzten Male. Vielleicht zum letzten Male zog sie sich davor in die letzte Ecke ihres Seins zurück. Es war zu früh gewesen, natürlich, das wußte sie ganz genau.
War das das Ende?
War das die Erlösung von ihrem Elend?

Atrev hätte sie wohl in seiner tobenden Wut erschlagen, sie war stark geworden, zornig und wütend, dennoch war es ihm noch immer nicht gelungen, das schiere Feuer, die Essenz der Zernichtung aus ihr hervorzulocken, sie war schlau, kämpfte gut, wollte jedoch einfach nicht alles aus sich herauslassen. Atrev war ebenso frustriert wie zornig, er wollte diese seine mißratene Brut nun völlig außer sich zernichten, zerdrücken, zerschlagen, beseitigen, ja wenn er da nicht hinter sich ein sehr wütendes Fauchen gehört hätte. Mutig war Mütze zurückgekehrt, der Freundin im Moment der größten Not irgendwie beizustehen. Dies schien natürlich ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein, doch tatsächlich ließ sich Atrev ablenken und wandte sich Mütze zu, es gelang ihm nicht, in seinem Haß die Prioritäten sinnvoll zu setzen, ließ sich von einer Katze verleiten, wieder von Remia abzulassen, welche er schon sicher im Griff gehabt hatte. Er wollte erneut Feuer speien, doch geschickt schlug Mütze einen Hasenhaken und verschwand in den Büschen, ganz darauf hoffend, daß sich Atrev durch seinen Haß auf sie hinreißen lassen würde und sie verfolgen, statt die wehrlose Remia in seiner Tobsucht zu zerquetschen und zu erschlagen.
Atrev indessen war in Drachengestalt viel zu groß, um Mütze in dem dichten Unterholz des Waldes zu folgen, wäre er aufgestiegen, hätten die Wipfel der Bäume seine Sicht versperrt. So verwandelte er sich wieder schnell in seine Menschengestalt, hatte dabei aber schon einiges an Zeit verloren und folgte Mütze mühsam in die Büsche, da er natürlich immer noch deutlich größer war als sie, träger, weniger wendig. Solange das Unterholz dicht war, war Mütze eigentlich im Vorteil, doch wenn Atrev die Spur verlöre, könnte er aufgeben und weiter seine Wut an Remia auslassen. Also durfte Mütze nicht zu geschickt agieren, nicht zu schnell sein, was ein recht nervenaufreibendes Spiel bedeutete.

Remia war indessen dermaßen hart getroffen, daß ihr die Sinne schwanden, sie sah nur noch verschwommen, wie Atrev Mütze folgte und so verschwand.
Sie gurgelte nur verzweifelt, griff mit zitternder Hand hinter den beiden her ins Leere und war doch so hilflos!
Sie sorgte sich sehr um Mütze, welche diesmal sie mit dieser Heldentat vorläufig gerettet hatte. Remia wollte sich aufrichten, ihnen folgen. Sie kniete im nassen Dreck des vom Regen aufgeweichten Bodens, stützte sich zitternd mit den Händen im Matsch ab und versuchte sich aufzurichten. Sie spürte nur Schmerz in sich und die Flammen heißer Wut auf Atrev, welche in ihr wüteten.
Dieser Überdruck des Hasses wollte raus!
Dies sonnenheiße Feuer wollte so sehr raus!
Sie spürte, wenn sie es zuließe, wäre sie augenblicklich wieder stark, stärker als je zuvor, aber dann würde sie es nicht mehr im Griff haben, wäre es einmal hinaus und in der Welt, wäre es nicht mehr zu halten. Sie seufzte hilflos in dieser Zwickmühle, es zerfraß sie innerlich, verbrannte sie innerlich, als wollte das Feuer in ihr sie nun auslöschen, wenn es schon nicht wie vorbestimmt die Kontrolle über sie übernehmen konnte. Es kochte und brodelte, spannte alles bis zum Zerbersten, bis zur Explosion. Remia drückte alles zusammen und war damit schon über das hinaus, was sie je für möglich gehalten hatte. Es schien ihr zu entgleiten, sie zu zersplittern, zu zerfetzen. Doch hielt sie trotzdem irgendwie alles zusammen. Diese Implosion des Hasses, der unkontrollierten, heißen Wut verpuffte in einem gewaltigen, stechenden Schmerz, welcher sie von innen aufspießte, bis in die letzte Pore durchdrang.
Sie kniete nur noch mit einem Bein am Boden, stützte sich mit einer Hand im Dreck. Sie erhob sich und brach im selben Augenblick zusammen. Am Fuße des Baumes lag Remia und alles drehte sich, schummrig sank sie in sich zusammen und sie fiel in eine tiefe Ohnmacht.“

Lena war entsetzt: „Oh nein!
Ist jetzt alles verloren?
Wird Atrev triumphieren?“
Marie hatte einen ausdruckslosen, beinahe entrückten Gesichtsausdruck und erwiderte nur kühl sowie teilnahmslos, beinahe wie mit betäubten Lippen: „Abwarten, die Geschichte ist noch nicht zu Ende.“

Um die Spannung noch zu erhöhen, machte Marie eine merkliche Pause.
Oder hatte sie selbst dieser dramatische Moment so getroffen, daß sie einen Augenblick Kraft schöpfen mußte, um fortzufahren?
Stimmungsvoll trug das Gewitter draußen auch noch mit ein paar Krachern bei, als wären sie direkt bei der Auseinandersetzung von Atrev und Remia dabei. Das Gewitter im Märchen und das über dem Haus verschmolzen zu einem einzigen Inferno.

Endlich fuhr Marie fort: „Atrev folgte also Mütze in den Wald. Atrev war ein geschickter Jäger, Mütze demgegenüber war wendig, schnell und kannte sich hier ebenfalls gut aus, war dafür mit ihrem hellen Fell aber auch nicht besonders unauffällig. Zudem wollte sie Atrev von Remia weglocken, versuchte also nicht ernsthaft, sich zu verbergen und so Atrev abzuschütteln und war sich doch ganz bewußt, wie gefährlich für sie diese Strategie war.
Aber hatte ihr Remia nicht bereits mehrere Leben geschenkt?
Hatte Remia sich nicht eben dem chancenlosen Kampf gestellt, um sie zu retten, um sich für sie einzusetzen?
Jetzt war die Zeit gekommen, zu zeigen, daß die Freundschaft beidseitig war. So ging die wilde Jagd weiter, Atrev ließ sich nicht so schnell abschütteln, es gelang ihm allerdings auch nicht, nennenswert aufzuholen.
Wohin sollte sich Mütze wenden, um sich doch noch zu retten, sich abzusetzen?
Das durfte aber auch nicht zu früh sein, damit Remia genug Zeit hatte, sich halbwegs zu erholen. Man kann wohl nicht sagen, daß Mützes Weg wirklich geplant war, aber sie kannte sich aus und bewußt oder unbewußt, sie steuerte mehr oder weniger auf einen Ort zu, den sie gut kannte und um den Atrev sonst einen Bogen zu machen pflegte. Dieser achtete im Eifer der Jagd aber gar nicht mehr darauf, wohin die wilde Hatz ihn führte.

Das durch den Kampf heraufbeschworene Unwetter wütete noch immer, denn zwar konnten Drachen in ihrem Zorn solch einen gewaltigen Sturm, solch ein durchschlagendes Gewitter heraufbeschwören, aber das hörte nicht einfach auf, wenn der Streit entschieden war. Wie man es von einem Unheil nicht anders erwarten konnte, welches von Drachen bewirkt worden war, setzte das Unwetter seinen verwüstenden Zug durchs Land fort.

Atrev ließ sich jedoch keineswegs beirren und diesmal nicht wieder abschütteln. Ihm war nicht einmal aufgefallen, daß Mütze ihn absichtlich nicht abgeschüttelt hatte. Und doch war das Glück auf seiner Seite, denn sie hatten einen Bereich des Waldes erreicht, wo das Unterholz etwas lichter wurde und er schneller vorankam, Mütze wiederum auch nicht mehr einfach abtauchen konnte. Mütze stellte entsetzt fest, daß sie sich verschätzt hatte, bei dem Unwetter mußte sie sich getäuscht haben und war versehentlich in eine Gegend gekommen, welche für ihren Plan schlecht geeignet war. Hier war es plötzlich viel schwieriger, Abstand zu Atrev zu halten, auch wenn sie das Äußerste aus sich herausholte. Selbst Hakenschlagen hätte nichts gebracht, weil sie nicht sehr weit seitlich ausweichen konnte. Sie hatte sich ernsthaft in Schwierigkeiten gebracht. Remia konnte ihr diesmal nicht beistehen. Nunmehr holte Atrev doch langsam auf, kam Mütze immer näher.
Dann hatte er Mütze praktisch eingeholt. Er war noch immer in Menschengestalt und wollte sie nun mit bloßen Händen packen, zerquetschen, zerbrechen, erschlagen sowie zernichten.
Sein ursprünglicher Plan, Mütze über Stunden oder Tage zu Tode zu quälen, war beiseite geschoben, der Zorn und Haß brannte übermächtig in Atrev, er mußte es jetzt vollstrecken, kein weiterer Aufschub, kein Genuß der Qual, kein vielleicht dadurch doch noch übersehenes Schlupfloch für Mütze, er wollte nur noch finalen Triumph!
Er wollte nur noch Mützes totale Zernichtung!

Mütze hatte sich gar nicht so sehr getäuscht, wie sie zunächst im Chaos des Unwetters vermutet hatte, welches alles verfinstert hatte sowie im irren Geblitz fremdartig beleuchtete. Dies war plötzlich der anvisierte Ort und dort ein paar Meter voran die rettenden Büsche und Sträucher. Würde Mütze sie noch erreichen, bevor es Atrev gelang, sie zu packen?
Wie allerdings sollten die paar Sträucher und Kräuter Atrev aufhalten?
Mütze schien verloren.
Atrev hatte seine Hände schon fast an ihrem Fell.
Doch bevor er den vernichtenden Schlag ausführen konnte, tat es einen grellen Blitz, einen furchtbaren Knall und alles verschwamm vor seinen Augen, versank in seiner eigenen Dunkelheit. Er stürzte nieder, fiel auf Mütze sowie in einen Strauch, ein Kraut, welches seine Sinne zusätzlich vernebelte.
Auch Mütze hatte der furchtbare Knall gnadenlos niedergestreckt, sie verfiel in eine tiefe Ohnmacht.
War das ihr Ende?“

Erwachen

Marie hielt inne und schaute Lena nur kurz an, blickte danach auf. Lena starrte sie aber mit weit aufgerissenen Augen sowie offenem Mund an. Lena konnte es nicht fassen – wie konnte Marie an dieser Stelle in der Erzählung innehalten, schoß es ihr durch den Kopf, aber Marie konnte es offensichtlich – und es fiel ihr nicht einmal schwer. Selbst das Unwetter draußen schien in diesem Moment innezuhalten, um das Grauen und die Spannung ordentlich wirken zu lassen. Aber Marie fügte die Pause vermutlich nicht nur ein, um die Dramatik zu erhöhen, nein, ihr Blick war in die Ferne gerichtet, als würde sie nachsinnen, den Moment in der Geschichte selbst miterleben, den Schmerz, das Leid, die Erschöpfung, die innere Zersplitterung, das Zerreißen, den übermäßigen Druck in sich spüren.
Lena wagte nicht, etwas zu sagen, sie wagte kaum zu atmen, so sehr war sie davon beeindruckt, wie Marie in diesem Moment pausierte und selbst die Zeit zum Zaudern zu zwingen schien. Alles machte mit ihr eine Pause und Lena meinte, in diesem Moment nicht einmal den kleinen Finger rühren zu können. Alles hing wie die Erzählung selbst in einer Schwebe, an einem Kippunkt, an dem der kleinste Atemzug den Ausschlag zur falschen Seite bedeuten mochte.

Marie überzog den Bogen aber nicht, sondern sie schluckte zweimal, räusperte sich, fuhr bald fort, kurz bevor Lena ganz hibbelig vor Spannung wurde: „Am nächsten Morgen erst erwachte Remia mit argen Schmerzen überall, jedoch offenkundig noch immer lebendig. Sie lag nicht mehr an jener Stelle, wo sie in Ohnmacht gefallen war, sondern lag irgendwo im Schlamm im Wald, den das Unwetter dort hinterlassen hatte, ein regelrechter Morast war das. Remia erhob sich mühsam, schleppte sich ein paar Schritte mehr oder weniger ziellos, um sich im Anschluß doch einige Sekunden an einem Baum abzustützen, versuchte sich zurechtzufinden, versuchte sich zu erinnern, was eigentlich passiert war, aber da war nicht mehr viel, was sie in ihrem Gedächtnis hätte zusammensetzen können. Sie wußte noch, sie hatte gegen Atrev ein Drachengefecht geführt, dabei hatten sie das grauenhafte Unwetter ausgelöst. Wie nicht anders zu erwarten, war sie ihm nicht lange gewachsen und dann unterlegen.
Zwar hatte sie länger durchgehalten und war flinker Attacken geschickt ausgewichen, als gedacht, Atrev erwies sich als träger als vermutet – war er schon alt geworden und nicht mehr auf der Höhe seiner Macht gewesen?
Oder hatte er doch bloß mit ihr gespielt, um sie zu provozieren, zu reizen, endlich ihr ganzes Drachenwesen zu zeigen?
So oder so: Ihre Flucht zurück auf den Boden war noch gelungen, trotzdem war sie ihm dadurch nicht lange entronnen, welcher sie bald darauf gegen einen Baum geschmettert hatte, daß es in ihrem Kopf nur so dröhnte. Sie dachte mit schwindenden Sinnen, ihr inneres Feuer nicht mehr zurückhalten zu können, es drohte eine komplette Explosion und Selbstauflösung, die endgültige Transformation in ein feuerspeiendes, widerliches Monster von ärgster Schändlichkeit. Sie dachte, das sei das Ende, doch dann war plötzlich aus dem Nichts Mütze aufgetaucht und hatte gefaucht, so Atrev hinter sich hergelockt.
Remia machte einen Moment Pause in ihrem Gedankengang, dann dachte sie nur noch: ‚Oh nein! Mütze‘, denn sie ging davon aus, daß diese dem zornigen Atrev so nicht lange entkommen konnte. Jedenfalls war das das letzte, woran sie sich erinnerte.

Remia drückte sich vom Baum ab, fühlte sich deutlich benommen, erst jetzt fiel ihr ein intensiver Duft in ihrer Kleidung auf.
War das nicht Estragon oder Drachenkraut?
War das der Grund für ihre Benommenheit, ihre Erinnerungslücken?
Wo kam das her?
Sie hatte keine Ahnung.
Aber immerhin, es war nicht viel, die Wirkung mußte begrenzt gewesen sein, selbst wenn es in einer kleinen Menge über Stunden an ihrer Kleidung gehangen hatte, aber es würde schon etwas Wirkung gezeigt haben.
Sie schüttelte sich mühsam, wobei alle Glieder schmerzten – und wirklich, ein paar wahrscheinlich irgendwo abgerissene und aufgelesene Stücke fielen von ihrer beschmutzten Kleidung zu Boden.
Sie atmete tief durch.
Über längere Zeit dem ausgesetzt zu sein, ist nicht so gut für Drachen, es betäubt wie eine Droge, verwirrt die Sinne. Vielleicht hatte es allerdings gleichfalls betäubend über die schlimmsten Schmerzen geholfen und dämpfte diese zunächst noch. Allerdings: Was noch schmerzt, lebt auch noch. Wer noch leidet, darf auch noch Hoffnung haben. Was noch wehtut, zeigt einem, daß man noch lebendig ist und etwas unternehmen kann.

Sie schleifte sich mühsam weiter, hielt sich wieder an einem Baum fest, humpelte danach weiter, irrte erst durch den Wald, orientierte sich nur grob am Moos an den Bäumen und hielt so ungefähr die Richtung. Immerhin, so kam sie irgendwann zu einem Weg und diesem folgend daraufhin bald raus aus dem Wald. Hier erkannte sie einige Orientierungspunkte wieder. Zwar war sie nie weit von Daheim weg gewesen, aber bei den Ausflügen in Drachengestalt mit Atrev hatte sie doch etwas von der Gegend kennengelernt. So wußte sie auch nun ganz gut, wo sie ungefähr war. Sie folgte einstweilen dem Weg weiter bis zu einer Kreuzung, wandte sich dort in Richtung nach Hause. Nach einigen schleifenden Schritten hielt sie inne.
Warum kehrte sie zurück?
Sollte sie die Gelegenheit nicht nutzen und fliehen?
War dies nicht ihre einmalige Chance?
Vielleicht dachte Atrev ja, daß sie tot war?
Aber nein, Remia schüttelte den Kopf und ging einfach weiter. Irgendwas tief in ihr sagte ihr, daß das der richtige Weg war, gut, vielleicht nicht der geradezu richtige, aber jener, den sie gehen sollte, um weiterzukommen. So schleppte sie sich weiter voran.

Sie war wohl eine Stunde gelaufen und dem Zuhause schon deutlich näher, als sie erschöpft vor Schmerzen eine Pause einlegte und sich einfach seufzend ins Gras setzte, sich an einen Zaunpfahl lehnte. Die Luft war noch frisch von Gewitter und Regen gereinigt, die Sonne schien wärmend, ja beinahe tröstend herab, ohne doch schon aufdringlich heiße Luft zu produzieren. Das tat ihr ganz gut, baute sie wieder etwas auf. Und doch war sie so unglaublich müde und erschöpft. Sie schlummerte ein. Das war einfach alles zuviel für sie.“

Lena unterbrach staunend und ungeduldig: „Und sie kann sich nicht erinnern, wie sie dorthin gekommen ist?
Und was ist mit Mütze?
Und Atrev?
Was ist passiert bei diesem heftigen Blitz?“
Sie schaute Marie fragend an und diese machte nur große Augen zurück, stellte beinahe gleichgültig fest: „Wenn jemand so heftig mit den Kopf gegen einen Baum geknallt ist, kann es schon Erinnerungslücken geben. Derlei kann passieren, daß man sich nicht mehr an alles erinnert. Es paßt auch nicht immer alles genau zusammen, was in der Erinnerung ist, manchmal braucht es lediglich Schlaf sowie etwas Zeit, manchmal bleibt es jedoch für immer weg. Das Drachenkraut wiederum mochte gleichfalls seine Wirkung auf das Gedächtnis gehabt haben, beziehungsweise darauf, was das Gehirn als Erinnerung ablegen kann.
Wer kann schon genau sagen, wie Drachengehirne funktionieren, wo uns unsere eigenen schon reichlich Rätsel aufgeben?“
Lena aber hakte nach: „Ja, aber was ist mit Mütze?“
„Na“, meinte dazu Marie, „Nur Geduld, die Geschichte ist ja noch nicht zu Ende!“
Lena war so gespannt, daß sie nicht mehr konnte: „Dann erzähle doch bitte, bitte, bitte weiter!“
Marie erwiderte erst nur „Gut.“

Danach atmete sie tief durch und fuhr fort: „Remias Schlaf war tief, erholsam und traumlos, jedenfalls blieb keine Erinnerung daran, was ihr Gehirn im Traum sicherlich zu verarbeiten hatte – oder Remias Gehirn behielt es jedenfalls in seinen hintersten Ecken sorgfältig verborgen, um es für sich zu behalten und nicht nach außen dringen zu lassen.
Etwas raues, feuchtes, warmes schubberte über Remias Gesicht und ließ sie wieder erwachen, sie öffnete die Augen. Unübersehbar war sie erst am Zaunpfahl zusammengesackt, anschließend umgekippt und lag im Gras. Aber wie freute sie sich, als sie erkannte, was da über ihr Gesicht geschubbert war, denn das war Mützes Zunge. Und noch besser, hinten dran war eine höchst lebendige Mütze, wie es sich gehörte. Etwas mühsam und schwach richtete Remia sich wieder auf, nahm Mütze hoch und betrachtete diese vorsichtig von allen Seiten, im Wesentlichen noch alles dran, lediglich stark verschmutzt. Und an einigen Stellen war zwar das helle Fell etwas versenkt, jedoch nicht bis zur Haut hinunter, also lediglich oberflächlich, in einigen Wochen herausgewachsen, vermutlich eine Einwirkung durch Atrevs Feuerstoß. Mütze hatte dieses Überbrutzeln allerdings den Umständen entsprechend noch sehr gut überstanden, vermutlich besser als sie, aber gut, Mütze konnte auch Haken schlagen und sich Huschhusch zügig verdrücken, deshalb hatte sie ganz gute Chancen, so glimpflich davonzukommen. Und wer mutig für Freunde eintritt, den lohnt auch manchmal das Glück, so mußte es wohl sein. Mütze war auch so erleichtert, Remia lebendig, wenn auch etwas lädiert wiedergefunden zu haben, das war gerade noch einmal gutgegangen, obgleich auch Mütze etwas die Übersicht verloren hatte, was eigentlich passiert war, nachdem es heftig geblitzt hatte und alles im Nichts versank. Mütze hatte sich danach jedenfalls irgendwann aufgerappelt, entsetzt das Weite gesucht und bald darauf nach Remia Ausschau gehalten und schließlich hier schlafend gefunden.

Remia knuddelte Mütze vorsichtig, jedoch glücklich, sie kraulte sie und streichelte sie noch eine ganze Weile, dann stand sie auf und beide gingen langsam weiter, auf Remias Zuhause zu. Und dabei war es schon verblüffend, daß Mütze gar keine Scheu hatte und Remia keine Bedenken, daß Atrev sie dort überraschen könnte.

Angekommen wusch und säuberte Remia Mütze erst einmal vorsichtig, was nicht so Mützes Fall war, aber sie hatte zuviel Respekt vor Remia, um Einwände zu erheben. Und an ihr hing sowieso ein Geruch, den sie loswerden wollte, da war frisches Wasser sowie leicht parfümierte Seife das kleinere Übel, welches Remia ihr großzügig gewährte. Der Geruch verknüpfte sich in Remias Gedanken mit dunklen Erinnerungen, welche sich jedoch mitnichten hochkommen lassen wollte, eine Mischung von verbranntem Drachenkraut und Fleisch. Aber da war auch die unverkennbare Note von sehr schmutziger Katze, was etwas ablenkte. Die Reinigung ging gut voran. Beide waren im Grunde sehr erleichtert, als der Geruch weggewaschen war und der letzte Rest davon im Duft der parfümierten Seife unterging. Wirklich blieben nur ein paar versenkte Stellen im Fell übrig, welche dieses hier und da etwas dunkler machten, als hätte Mütze nun nicht nur eine Mütze und eine Socke an, sondern auch einen schmuddeligen Mantel an. Aber das würde sich mit den Monaten wieder rauswachsen, da bestand kein Zweifel. Zum Glück war die Haut nicht angegriffen oder verletzt, deshalb konnte Mütze schmerzfrei und stolz diese kleinen Spuren des heroischen Kampfes eine Weile tragen.

Als Remia sich gesäubert hatte und nackt in ihrem Zimmer stand, sich in einem kleinen Spiegel überall betrachtete, sah das Ergebnis etwas weniger günstig aus, sie hatte immerhin einige Kratzer sowie zahlreiche blaue Flecke davongetragen – besonders ihr Rücken sah arg aus. Aber letztlich auch das würde bald wieder verschwunden sein. Es würden am Körper wenigstens keine weiteren Narben bleiben, nicht mehr als Atrev ihr schon zuvor zugefügt hatte. Die Narben im Denken und Sein waren schlimmer und würden in dieser oder jener Form bleiben, der Körper würde sich schon bald erholen. Und wirklich, Remia staunte nicht schlecht, gleich als sie daran dachte, sah es nicht mehr so arg aus.
Halfen die Drachenkräfte, um das schnell wieder zu richten?
Sie fühlte sich noch ziemlich schwach, doch vielleicht wirkte es ja. Wären es Spuren direkter Mißhandlung durch Atrev gewesen, so wären sie nicht mehr verschwunden, aber das waren nur dumpfe, schmerzhafte Flecken, verursacht durch den Zusammenstoß mit einem Baumstamm. Baumstämme sind hart sowie unnachgiebig, aber nicht sadistisch einschneidend, man kann sich darauf einstellen und sich damit arrangieren.

Es war inzwischen schon Sonntag sowie früher Nachmittag und beide hatten länger nichts gegessen. So machte sich Remia an die Arbeit und bald schon gab es gut und reichlich Essen für beide und man hätte eigentlich staunen sollen, daß beide ganz unbekümmert im Haus aßen. Sie waren beide hungrig und so mundete das einfache, aber gesunde Essen wunderbar, es schien wie ein Festschmaus zu sein, ja beinahe eine Siegesfeier, allerdings tauschte man sich an der schlichten Festtafel rein gar nicht darüber aus, welchen Sieg man errungen haben mochte. Stattdessen schwelgten sie still im Genuß. Das war ein Genuß sowohl der Speisen als ebenso der Ruhe sowie der traulichen Zweisamkeit ohne Atrev.

Atrev tauchte den ganze Tag nicht auf, aber die beiden schienen sich diesbezüglich nicht zu sorgen. Sie fühlten sich beschwingt und frei, atmeten tief die frische Luft, erholten sich von der heftigen Auseinandersetzung, ließen den inneren und äußeren Wunden Zeit zur Heilung, genossen noch eine kleine Pause an diesem schönen Nachmittag, welcher weder besonders heiß noch kalt noch zu trocken noch zu feucht war, geradezu ideal, um einmal tief durchzuatmen und die Zeit einfach so verstreichen zu lassen und zu beobachten, was so vor dem Haus in Flora und Fauna passierte.
Aber vielleicht sorgten sie sich auch nicht, gerade weil Atrev nicht auftauchte?“

Suche

Marie machte wieder einen kleine Pause, um das Erzählte etwas sacken zu lassen.
Lena war voll in der Geschichte drin und grübelte: „Es ist doch wirklich seltsam, daß Atrev nach der schweren Auseinandersetzung verschwunden ist. Schade nur, daß Mütze nichts darüber erzählen konnte, was ihm widerfahren ist, nachdem es zu diesem blitzenden Knall gekommen war. Noch seltsamer allerdings, daß sich die beiden gar keine Sorgen hinsichtlich seines möglichen plötzlichen Auftauchens machen …“
Lena schüttelte den Kopf, das leuchtete ihr gar nicht ein, wie es sich die beiden so gemütlich machen konnten.
Marie fragte nach: „Mütze kann ja wohl nicht wirklich reden, aber in ihrem Verhalten bringt sie ja doch etwas zum Ausdruck.
Meinst du nicht?“
Lena bestätigte: „Ja wirklich, aber was war passiert?
Warum ist sie so sorglos?
Und warum ist Remia ebenfalls so unbeschwert sowie unbekümmert?
Droht den beiden kein weiteres Unheil von Atrev und wenn, warum?“
Marie ergänzte etwas geheimnisvoll lächelnd: „Nun, genau das kann Mütze ja nun niemandem erzählen. Und manchmal ist es ja auch ganz gut, wenn man etwas für sich behält. Zudem, Mütze war ja gleichfalls weggetreten, hat also gar nicht mitbekommen, was direkt nach dem Einschlag des Blitzes passiert ist. Gut, was Mütze gesehen hat, nachdem sie erwacht ist, das ist einstweilen noch nicht erzählt und weil Mütze es nicht kann, bleibt das etwas im Dunklen, doch sollten wir etwas mehr über Atrevs Schicksal erfahren, können wir daraus vielleicht unsere Schlüsse ziehen. Irgendwo muß er ja schließlich abgeblieben sein, irgendein Schicksal muß er ja haben, oder aber, es hat ihn eben ereilt.
Willst du wissen, wie es weitergeht?“
Natürlich wollte Lena und sprach also: „Ja sofort, bitte!“

Und so erzählte Marie weiter: „Nach dem Essen und der Pause schaute Remia noch einmal nach ihren Verletzungen. Tatsächlich ging es ihr bereits viel besser. Sie vermutete, daß Drachen auch deshalb so zäh waren, weil sie gut regenerierten, jedenfalls wenn sie nichts davon abhielt. Nachdem sie bei ihrem Erwachen das Drachenkraut abgeschüttelt hatte, nahm der Schmerz wirklich zunächst zu, aber es trat auch bald erste Linderung ein, der tiefe Schlaf am Zaunpfahl hatte schon etwas Erholung gebracht, aber dann hier die Stärkung mit gutem Essen sowie die sorgsame Reinigung hatten ihr noch weitere erhebliche Schübe an neuer Energie gegeben.
Zwar wurde ja behauptet, Katzen würden sieben Leben haben, aber offenkundig regenerierten sie nicht so schnell wie Drachen, Mütze war jedenfalls noch deutlich geschafft und müde. Daher nahm Remia die noch etwas erschöpfte Mütze einfach auf den Arm und marschierte los in Richtung Stadt. Sie hatte sich tatsächlich wirklich gut erholt, denn sie schritt munter und weit aus. Deswegen kam sie zügig voran und erreichte bald die nicht so ferne Stadt, ging präzise auf die kleine Polizeistation zu und grüßte artig sowie respektvoll den diensthabenden Beamten, gerade so, wie sie dachte, daß ein Menschen-Mädchen es wohl tun würde, etwas schüchtern, beunruhigt zum prächtig ausstaffierten Polizisten aufschauend, so mit einem verlegenen Blick von unten herauf, daß man gleich wußte: Ein braves, artiges Mädchen sah sich gezwungen, sich in großer Not an die Obrigkeit zu wenden, um um Hilfe zu bitten. Remia ließ da gar keinen Interpretationsspielraum aufkommen, hielt diese Rolle perfekt durch.

Dem aufmerksam zuhörenden Polizisten erzählte Remia im weiteren Verlauf dieser kleinen Episode, daß sie sich Sorgen um Atrev mache, welcher nicht heimgekommen sei, obwohl er das fest zugesagt habe. Gestern sei erst ja noch sehr gutes Wetter gewesen, da sei Atrev munter in den Wald gegangen, nach dem Unwetter jedoch nicht zurückgekehrt. Nun sei sie besorgt, die ganze Nacht habe sie schon wachgelegen, habe morgens keinen Bissen herunterbekommen vor Sorge um den geliebten Atrev. Doch dieser sei ausgeblieben, noch über Mittag keine Spur von ihm, da habe sie sich entschlossen, um Hilfe zu bitten, um ihn zu suchen. Allein könne sie ja unmöglich in den großen Wald hinein, um Atrev zu suchen, dem eventuell etwas zugestoßen sein könnte bei dem grauenhaften Unwetter. Vielleicht stecke dieser irgendwo fest und warte dringend auf Hilfe. Vielleicht habe er sich ein Bein gebrochen und liege deshalb hilflos im Wald, fest darauf hoffend, daß die braven Bürger der Stadt ihm alsbald zur Hilfe eilen werden. Sie sei wirklich sehr beunruhigt, fast in Panik, in tiefer Sorge um den Anverwandten, könne an gar nichts anderes mehr denken. Immer kreisten ihre Gedanken um den Fehlenden, immer wildere Phantasien blühten in ihr auf, immer grausigere Bilder drängten sich in den Vordergrund, welch schauriges Unglück Atrev zugestoßen sein müsse, daß er so lange ausbleibe und sie alleine lasse, was sonst gar nicht seine Art sei in seiner überbordenden Fürsorge sowie innigen Liebe für sie. Diese Ausführungen waren schon sehr dick aufgetragen, allerdings so gut präsentiert, daß der Beamte gleich sehr beeindruckt war, immer verständnisvoll nickte und die sorgenvolle Stimmung übernahm und sich zu eigen machte. So geschildert mußte sich ein jeder Sorgen um den Vermißten machen, so vorgetragen trieb es einen jeden Zuhörer, sich gleich auf den Weg zu machen, um den Vermißten zu finden und das arme Kind zu trösten.

Weil Atrev ein einflußreicher, wenn auch nicht allzu beliebter Bürger war, entschloß sich der Polizist, dies ernstzunehmen und trommelte alsogleich einige Bürger zusammen, den Vermißten zu suchen. Man begleitete Remia zurück und begann, den Wald zu durchkämmen. Das weitete sich zu einer größeren Aktion aus, da man in der näheren Umgebung des Hauses nichts fand, weswegen weitere Personen zur Suche hinzugezogen wurden. Remia selbst war daheim im Haus geblieben und eine Frau aus der Stadt leistete ihr Gesellschaft. Das war allerdings nicht sehr unterhaltsam für die Frau, denn Remia saß einfach nur ganz gerade auf ihrem harten Stuhl, mit Mütze auf dem Schoß und wartete. Remia hatte sich in sich zurückgezogen und ließ nichts an sich heran, saß es einfach aus, verharrte, entspannte trotz starrer Haltung, ließ einfach die Zeit verstreichen, ohne noch wirklich zu warten oder auch nur viel darüber zu denken, was da nun im Wald vor sich ging, wie die Leute vorankamen, wo sie wohl gerade suchen mochten. Stattdessen sinnierte sie eher über das Nichts, die Leere, die Zeit und den Raum.
Mütze schlummerte, erholte sich noch immer.
Die Zeit verstrich und Remia blickte einfach durch die Frau durch ins Leere.
Die Frau dachte allerdings, Remia könnte oder würde in ihr Innerstes sehen, ihre Gedanken lesen, was dann doch sogar recht unheimlich wirkte, dieses ernste, entrückte Kind zu sehen, welches sich irgendwie in die eigenen Gedanken, das eigene Selbst zu bohren schien, um es in all seiner Widersprüchlichkeit und Lächerlichkeit zu zerlegen. Die Frau fühlte sich entblößt, in ihrem Innersten beobachtet oder gar ertappt, wobei sie nicht einmal hätte sagen können, wobei eigentlich ertappt, denn im Moment paßte sie ja eigentlich nur auf Remia auf, von der gänzlich offensichtlich war, daß da niemand wirklich aufpassen mußte, wenn nicht auf sich selbst. Sie fühlte sich gar nicht wohl in dem Haus und wartete letztlich lieber draußen vor dem Haus.

Es dauerte einige Stunden bis zum frühen Abend, aber dann holte man sie wieder ab, in die Stadt. Man hatte Atrev tot im Wald gefunden, gar nicht so weit von der Stadt. Höchstwahrscheinlich, mehr noch es konnte ja gar nicht anders sein, zu dem Schluß war man wohl gekommen, hatte er einfach Pech gehabt. Ein Blitz mußte dicht neben ihm in einen Baum gefahren sein, Atrev war umgefallen, direkt in eine größere Ansammlung von Estragon oder Drachenkraut. Ein im Sturm abgebrochener Ast mußte dann wohl direkt auf ihn herabgefallen sein und hatte ihm wohl das Genick gebrochen.
Ein sonderbarer Zufall, ein tragischer Unfall, aber wenn man bei Sturm, Unwetter und Gewitter im Wald ist, können solche Dinge passieren.
Die Fakten lagen klar auf dem Tisch, beziehungsweise zwischen den Estragonbüschen in Wald. Das war eindeutig. Das war tragisch, aber doch gar nicht fehlzudeuten. Es lohnte sich im Grunde nicht, weiter zu untersuchen oder zu grübeln.
Passiert war passiert, vorbei war vorbei, tot war tot, Schluß, Ende und aus für Atrev.
Das war’s. Keine weitere Chance, keine Option mehr, einfach nur das Nichts am Ende des Weges. Atrev hatte aufgehört zu sein.
Er war nicht einfach irgendwo anders, er war gar nicht mehr, war Nichts. Das war ebenso banal wie selbstverständlich. Das Nichts in seiner Leere egalisiert alle, macht alle Verstorbenen schnell zu einer blassen Erinnerung, weil sie nicht mehr mitspielen können. Bestenfalls gibt es das Selbst eines Verstorbenen noch als vage Idee in den Köpfen derer, welche diese Person einmal gekannt haben. Eine gewisse Reminiszenz an den Verstorbenen gibt es auch noch als das, was er an Materiellem oder an schriftlich aufgezeichneten Ideen hinterlassen hatte, womit er zum Sein der anderen beigetragen hatte.
Atrev hatte hier zwar einiges zu bieten, aber praktisch nichts davon war sonderlich erfreulich für die Welt.
Im Grunde konnte man aufatmen. Im Grunde verblaßte bereits die Erinnerung an ihn. Im Grunde war kaum etwas passiert für den Rest der Welt.“

Das Erbe

Lena seufzte beinahe erleichtert auf, Remia war frei, ihr Leid war überstanden.
Marie meinte aber ernst: „Niemand hat im Grunde den Tod verdient, er kann einen jedoch ereilen. Wenngleich heute statistisch mehr denn je Leute leben als sterben, sind doch bislang jedenfalls alle verstorben, welche vor einigen Jahrhunderten geboren worden sind. Tod gehört somit zum Leben, zu jedem. Leben ist nichts für Schisser, besonders zum doch wohl unausweichlichen Ende hin.
Atrev hatte es irgendwie erwischt. Es ist kein guter Weg, also kein Grund zur Freude.“
Lena verstand das wohl und nickte.
Marie aber fuhr fort: „Tot ist vorbei. Erledigt, aus dem Spiel. Da kommt nichts mehr.“
Lena fragte: „Damit ist diese Geschichte also ebenfalls vorbei und zu Ende?“
Marie indes schüttelte den Kopf: „Nicht so ganz, es kommt noch was auf Remia zu. Zwar ist es wahr, daß mit dem Tod an sich alles vorbei ist, allerdings keineswegs für die noch Lebenden natürlich. Für die geht es weiter und sie treten das Erbe an, wie immer es auch aussieht. Formal rechtlich kann man heute, in unserer Zeit ein Erbe ebenso ausschlagen. Atrevs Erbe hingegen ist nicht so materiell und juristisch einfach faßbar, da bleibt keine Wahl.“
Maries Stimme klang dabei sehr hart und es klang bereits nach keinen guten Erbe. Und das war ja bei Atrevs Art und Charakter auch nicht so erstaunlich.
Was hätte man davon Gutes erwarten können?
Wobei auch das wieder übertrieben ist, wie sich zeigen wird.
Lena war etwas unsicher, aber sie wollte es wissen: „Also gut, und wie ging es dann weiter?“

Und so erzählte Marie, was daraufhin geschah: „Weil Atrev ja weit bekannt war, war man sich von daher ziemlich sicher, daß er es wirklich war, den man gefunden hatte, aber man hielt es schließlich doch für angemessen, daß Remia dies bestätigen sollte, sie kannte ihn ja nun am besten und im Grunde hatte sonst niemand so recht gewagt, Atrev aus der Nähe länger als Sekundenbruchteile ins Gesicht zu sehen. Atrev mochte es gar nicht, wenn ihm jemand in die Augen sah, deshalb sah man besser weg. Und wagte es doch einmal jemand, so schien Atrevs Blick bis ins Hirn zu dringen und die Gehirnwindungen langsam aufzuwickeln sowie zu verzwirbeln, zudem meinte man förmlich zu spüren, wie sich das Gehirn unter dem Blick erhitzte und zu verkochen drohte, also besser nicht schauen, besser Atrev nur so nebenbei als solchen erkennen.
Man hatte Remia schon mitgeteilt, wie es um Atrev stand, bemerkte, daß diese das sehr gefaßt aufnahm und fühlte sich so ermutigt, sie zu dem Toten zu bringen, um ihn endgültig zu identifizieren.

Vorsichtig nur brachte man diesen Gedanken ihr gegenüber vor, war daraufhin allerdings doch etwas überrascht, als Remia ernst, aber doch entschlossen nickte, um ihr Einverständnis zu bekunden.
Sie schaute die Polizisten und die ebenfalls hinzugerufene Lehrerin eindringlich an und fragte sodann in treuherzigem Ton, als sei sie die Einfalt in Person, als sei sie arglos und naiv, eben sehr einfachen Gemüts: ‚Und er ist auch ganz sicher ganz wirklich ganz tot?‘
Man war richtig gerührt, so gut spielte Remia das arme Mädchen, welches nun ganz allein war. Und wie sie dabei Mütze an sich drückte, ließ keinen Zweifel daran, daß dies ihr letzter Halt in dieser schweren Stunde sein mußte. Die Polizisten nickten entschieden, bei Atrev war definitiv nichts mehr zu machen, aber sie schluckten auch, denn sie wußten nicht, was sie noch sagen sollten zu dem Mädchen, was tun, um sie zu trösten oder vor dem anstehenden Schicksal bewahren. Dazu mochte natürlich ebenso beitragen, daß sie einfach als junge, attraktive, hilflose Dame wirkte, welcher ein jeder Mann unbedingt und ritterlich beispringen wollte, welcher noch ein wenig Leben in sich spürte.

War es diesem armen, bezaubernd süßen, zarten Mädchen wirklich zuzumuten, Atrev zu identifizieren?
Im Grunde wußten sie es doch alle längst.
War dies nicht eine reine Zumutung, eine Schikane?
Einerseits erschien das allen Beteiligten so, andererseits bestand auch ein allgemeines unterschwelliges Bedürfnis, diesen Sachverhalt noch einmal explizit bestätigt zu bekommen. Es war überraschend und erstaunlich, wie sehr all diese Erwachsenen plötzlich Wert darauf legten, daß Remia den Befund bestätigte. Auch sie wollten letztlich Gewißheit, ein Urteil von einer wirklich kundigen Instanz, wobei es ihnen eigenartig hätte vorkommen müssen, daß sie ausgerechnet in Remia, einem Kinde, einer jungen Frau diese Instanz sahen, aber in den Köpfen schien es eine Blockade zu geben, welche irgendwie verhinderte, daß dies hinterfragt wurde.
Alle wollten plötzlich Gewißheit.
Und sie wollten sie von Remia, welche so hilflos und einsam und harmlos wirkte, wie sie jetzt dort stand. Aber da war nur eines, was sie irritierte und verunsicherte, das war Remias Blick. Irgendwie schafften sie es nicht, diesen länger zu erwidern. Ähnlich wie bei Atrev hatten sie das Gefühl, ihre Gehirnwindungen müßten daran langsam aber sicher weichkochen. So wichen sie aus, nun es war eben Atrevs Tochter, warum sollte ihr Blick so viel anders wirken als der seine, obwohl es sich ansonsten um ein derart zauberhaftes, ansehnliches, hübsches Mädchen handelte, welches kein Wässerchen trüben zu können schien. Mit ihrem Blick hätte sie das Wässerchen aber schon zum Kochen bringen können, so schien es – daher schien es jedem ratsam, wenn man in dem Moment nicht gerade in solch einem Wässerchen hocken würde.
Hoffnungsvoll nickten sie der Lehrerin zu, auch diese schluckte und bestätigte Remia sodann, daß Atrev ganz sicher leider verstorben sei – sofern sie den Toten im Nebenraum eindeutig als Atrev zu identifizieren bereit sei. Ihr sei ganz klar, daß sie damit viel von ihr verlangten oder sie um viel bitten würden. Es gehe jedoch lediglich darum, den Toten zu identifizieren, der Sachverhalt des Todes an sich sei zweifelsfrei festgestellt, auch deshalb könnten sie alle mitfühlen, wie schwer der Gang für sie sein müsse, um den hier gebeten werde.

Remia zuckte lediglich kurz mit den Schultern, ein toter Atrev war ja gewiß kein Problem mehr, ein toter Irgendwer war sicherlich gleichfalls kein Problem für sie. Von den Toten an sich braucht man nichts befürchten, bei den Lebenden muß man aufmerksamer sein, das hatte ihr schon Atrev beigebracht. Den Toten ansehen sowie gegebenenfalls als Atrev identifizieren, das wollte Remia auf jeden Fall sehr gerne tun. Es wäre ihr nur sehr unangenehm gewesen, wenn Atrev dagewesen wäre und nicht gänzlich tot, das hätte ein weiteres Drama gegeben, bei dem vermutlich die ganze Stadt in Schutt und Asche gelegt worden wäre. Einen derartigen Zwischenfalls jedenfalls wollte sie unbedingt vermeiden, mit solchen Eskapaden und Tollheiten sollte nun endgültig Schluß sein, aus und vorbei. Kein solcher Schabernack mehr, keine derartigen Kapriolen und Peinlichkeiten mehr.
Auch sie wollte allerdings Gewißheit haben, ob es wirklich Atrev war, ob sie wirklich nun frei war, Trick oder Irrtum tatsächlich ausgeschlossen?
Hatten sie wirklich Atrev tot im Wald gefunden?
Oder war es doch jemand anderes?
Gar eine Scharade von Atrev?
Sie mußte es unbedingt herausfinden!
Sie wollte Gewißheit und zwar sofort!
Also sprach sie ‚Ich will ihn jetzt sehen!‘ und ging auf die Tür los, hinter welcher sich das tote Fleisch von Atrev befinden sollte.
Mütze fauchte leise, sie hatte gar keine Lust, Atrev zu identifizieren, egal ob lebendig oder tot, sie hatte es gar nicht nötig, sich über den Sachverhalt zu versichern. Aus und vorbei und damit gut. Dafür brauchte man ihrer Auffassung nach keinen Aufstand, kein Drama mehr veranstalten.
Remia verstand, hielt kurz vor der Tür, Mütze mußte an dieser Farce nicht unmittelbar teilhaben, dies war jetzt wohl allein ihr Auftritt. Sie drehte sich noch einmal um, ging zurück zur Lehrerin, packte Mütze sorglich im Fell am Genick und übergab so Mütze an die Lehrerin, drehte danach wieder um und ging zur Tür. Ein Polizist öffnete diese und führte sie hinein. Auf einer Bahre lag ein nach oben gewölbtes Tuch. Einige weitere Personen waren hinter ihr in den Raum getreten.

Remia war nicht mehr so klein, brauchte also keine weitere Hilfe, um zu sehen, was auf der Bahre war, so zog der Polizist lediglich jenes Tuch am Kopfende weg.
Natürlich war es Atrev, beziehungsweise bloß noch sein totes Fleisch.
Remias Puls hatte nicht wesentlich schneller geschlagen, aber sie wollte nun doch auch noch selbst Gewißheit über seinen Zustand haben, trat heran, schaute genau in das tote Gesicht, hielt forschend den Handrücken über die Nase, um vielleicht doch noch einen Luftzug zu spüren, drückte gar die Finger an seinen Hals, um an der Halsschlagader den Puls zu prüfen. Aber das Fleisch selbst war schon eindeutig schlaff, matt und tot, leblos, verblaßt. Zweifellos, wenn noch ein Funken Leben in Atrev gesteckt hätte, bei ihrer Berührung hätte er gezuckt und sich gnadenlos auf sie geworfen. Das Fleisch war und blieb tot und schlaff.
Sie war recht zufrieden mit dem Ergebnis.
Sie meinte nur schlicht: ‚Natürlich war er das einmal.
Und gewiß ist er nun tot, nur noch totes, bleiches, schlaffes Fleisch, er ist nicht mehr, aus und vorbei für ihn!
Er ist nun nichts und hat seine Ruh!
Er ist erlöst und kann und ist nichts mehr.‘
Es war einen Moment etwas bedrückende Stille im Raum, man war etwas verblüfft über ihre sachliche, kühle Feststellung, nickte aber schließlich, vielleicht mußte das so sein bei Atrevs Tochter, sie nahm es ruhig sowie gefaßt auf, verkündete allen klar formuliert das von ihr gefragte Urteil über den Toten, das war immerhin besser als ein großes Drama, an dem doch niemand interessiert war. Dann doch lieber so. Remia wirkte gar nicht mehr so hilflos, zart und zerbrechlich.

Der Polizist fragte sie danach ruhig, ob sie noch einen Moment allein mit Atrev sein wolle, um Abschied zu nehmen. Ihre gefaßte Reaktion hatte ihn auf den Gedanken gebracht, all die Personen im Raum hätten Remia gehemmt, Gefühle zu zeigen und wollte ihr so Gelegenheit geben, mit sich und Atrev ins Reine zu kommen.
Überrascht schaute Remia ihn an und sie fragte sich, ob derlei üblich war, ob sie das mußte und wozu, Atrev war nicht mehr, da lag nur noch ein totes Stück verwesendes Fleisch und sie fühlte sich nicht geradezu triumphierend glücklich darüber, aber doch auch befreit sowie erleichtert, wozu also noch hierbleiben, statt wohlgemut der Zukunft entgegenzugehen?
Aber sie ging davon aus, das sei so etwas wie eine Tradition unter den Menschen und wollte sie nicht irritieren oder mit auffälligem abweichenden Verhalten vor den Kopf stoßen oder sie gar mißtrauisch machen, indem sie sich nicht so benahm, wie man es von einem Menschen-Kind erwartet hätte. Atrev hatte sie darauf gewiß nicht vorbereitet, so mußte sie improvisieren und irgendwie das Beste aus der Situation machen, deswegen nickte sie einverstanden und meinte leise: ‚Ja, gut.‘
Irgendwie verhielt sie sich natürlich nicht, wie sich Menschen-Kinder in solch einer Situation verhalten mochten, aber sie wollte ihr Bestes geben, um irgendwie doch ein wenig dazuzugehören und menschlich zu wirken.
Wenn dazu gehört, ein wenig neben dem toten Fleisch von Atrev zu verharren, warum nicht?
Da war nichts dabei, lächerlich und sinnlos zwar, aber so waren eben die Traditionen der Menschen. Man konnte sich halbwegs dran gewöhnen und später lächeln, wenn man unbeobachtet war.
Lieber wäre sie natürlich mit Mütze hinaus in den Sonnenschein getanzt und hätte dort albern einen großen Luftsprung getan – für sich sowie Mütze, gleichzeitig aber noch im Sprung auch Atrev gedenkend, welcher es überstanden hatte und nichts mehr anstellen konnte, dem es erspart blieb, weiter Unheil zu stiften.

So verließen alle anderen den Raum und sie war allein mit Atrevs totem Fleisch und wußte nicht, was nun mit der Situation anfangen. Mit Atrev hatte sie bereits abgeschlossen, sein Fleisch hier vor ihr war ihr völlig egal, einfach nur eine Altlast, welche bald anfangen würde zu stinken, zu schimmeln sowie zu faulen, wenn sie niemand beseitigte, aber darum würden sich die Leute schon kümmern. Sie stand einfach bewegungslos daneben und sann nach. Und wie so oft zog sie sich in sich zurück, daß sie beinahe gar nicht mehr war. Die Zeit wurde zäh und zäher und tropfte erst noch wie Wasser, dann wie Honig, schließlich allenfalls noch wie Pech an ihrem Äußeren herunter. Und letztendlich zauderte selbst die Zeit einem Moment lang vor ihrer Stärke und Ruhe, welche es wagte, selbst dieser mitleidlosen Schnitterin keck zu trotzen.
Remia spürte tief in sich Ruhe, aber auch noch jenes Feuer, welches derzeit nicht mehr so finster grollte, eher noch hartnäckig schwelte, auch um ihr klarzumachen, daß es nie verlöschen würde, aber das wußte sie längst. Sie genoß diesen Moment der Stille, in welcher die Zeit beinahe stillstand und sie fast gar nicht mehr war. In Gedanken nickte sie der Zeit zu und sie respektierten einander.

Sie dachte, Atrev hatte es überstanden, was auch immer er angerichtet hatte, welches Unheil er auch immer verbreitet hatte, nun war er nicht mehr, nun war er Nichts, leichtes, unbeschwertes Nichts. Und sie gönnte es ihm, obgleich es ihr persönlich für sich natürlich lieber war, grundsätzlich zu sein, wenn auch gelegentlich beinahe nichts, aber der Unterschied war schon wichtig und auch die Möglichkeit und Gewißheit, ins Sein zurückkehren zu können. Dies, ja dies war Atrev genommen worden, aber so war die Welt eben, niemand war für immer, nur das Nichts war immer und immer nur einen kleinen Schritt oder Blitz oder Schlag entfernt.
So liefen die Dinge.
In einem Moment noch mächtig und zu jeder Untat bereit, im nächsten Moment schon nicht mehr und die Hülle nur noch totes, graues Fleisch, ein häßlicher, träger Klumpen Schwabbel, um den sich nun andere zu kümmern hatten, weil es das Ich und Selbst nicht mehr gab, welches dazugehört hatte, daraus entstanden war. Es war kaputt und funktionierte nicht mehr, wie ein zerschlagenes Spielzeug, uninteressant, man konnte diesen makaberen Rest nun wegwerfen, wobei Remia nie Spielzeug haben durfte, Atrev war der einzige, womit sie sich beschäftigen durfte und nun konnte sie sich glücklich schätzen, daß dies vorbei war. Aber jetzt, wo er tot war, respektierte sie Atrev auch und konnte ihn gelten lassen.
Nach überstandenem Leid, wenn man den Peiniger überlebt hatte, konnte man das, konnte einfach denken: ‚So weit, so schlecht, so war er eben, Schwamm drüber und weg mit den Resten!‘
Auch Atrev war wie alle nicht frei in seinem Willen, seinen Entscheidungen, seiner Art. Aber es wäre ebenso falsch, ihn von aller Verantwortung freizusprechen. Jeder hatte sein Päckchen zu tragen, ob leicht oder schwer, hatte jeder selbst zu verantworten. Das konnte einem niemand abnehmen, niemand konnte einem von seinem ganz persönlichen Päckchen entlasten. Das mochte ihn erklären, verständlich machen, entschuldigte jedoch nichts, machte nichts richtiger als es war. Und es war nun alles falsch, was von Atrev gekommen war. Es war alles falsch, was er repräsentierte.
Daran war nichts zu drehen.
Und erst nach seinem Ende konnte man ihn gelten lassen, ihn respektieren, denn dann war der Zeitpunkt erreicht, ab dem er nichts mehr anstellen konnte.

Und darin lag ein ungemein tröstlicher Gedanke, was immer jemand angestellt haben mochte, welche Untat auch immer begangen worden war, nach dem Tod war er weg und alle anderen befreit. Und was auch immer man geleistet haben mochte, mit jeder Tat blieben doch Spuren in der Welt, welche nicht mehr wegzuwischen waren, aber das war auch das Einzige, nicht mehr und nicht weniger. Man hatte seinen Augenblick in der Welt und seinen Einfluß darauf, was man damit anstellte, war die eigene freie Wahl, aber auch die anderen reagierten darauf und hatten die Konsequenzen zu tragen – und nach dem Tod hatten nur noch die anderen die Konsequenzen zu tragen oder von dem zu profitieren, was man für sie getan oder erdacht haben mochte.
Man konnte dazu beitragen, das Wissen zu mehren und es den Leuten gutgehen zu lassen, man konnte auch nach eigenem Gewinn, nach Befriedigung nur eigener Lüste trachten, man konnte alles verderben und in Finsternis hüllen – immer würde man seine Spuren in der Welt hinterlassen, doch wenn man starb, war es vorbei damit, es blieb lediglich ein Klumpen grauen Fleisches, welcher im Anschluß faulte, schimmelte und verging, Futter für Würmer und Fliegenlarven wurde, denen es ganz gleich war, welche Gedanken einen einmal angetrieben haben mochten.
Doch was hatte man letztlich von den eigenen Hinterlassenschaften, wenn man nicht mehr war, wenn man alles andere verdorben hatte?
War es nicht klüger und sinnvoller, an der Gemeinschaft teilzuhaben, für sie zu arbeiten und an ihrem Gedeihen zu wirken, als zu zerstören?
Natürlich ist es viel einfacher zu zerstören, statt zu erschaffen, aber ist es nicht gerade deshalb viel reizvoller, viel herausfordernder, die Dinge voranzubringen und Neues und Wichtiges für alle zu erbringen in dem Moment der Zeit, der einem gewährt wurde?
Das Leben hat keinen Sinn an sich, es braucht keinen.
Aber wenn man ihm einen geben will, ist es nicht ungleich erbaulicher und fordernder, zu erschaffen statt zu zerstören?

Remia war schon fertig mit ihren Gedanken und wollte nun gehen – doch in diesem Moment der Entspannung passierte es, als hätte es nur auf einen Moment der Unaufmerksamkeit gewartet. Atrevs Feuer und Unheil kam über sie, heiß durchfuhr sie der Gedanke, welcher sich wie ein heißer Strahl in ihr Gehirn bohrte, zielsicher nach der beinahe erloschenen Glut ihres Feuers suchte, es wieder entfachte und sich innig damit vereinte und tief in ihr grollte.
Irgendwie hatte sie Atrev doch noch hereingelegt. Sie hätte nicht allein hier mit seinem toten Fleisch bleiben sollen, egal, was die Leute dachten. Aber nun war es zu spät, es war in ihr, ein Monster, ein innerer Drachen war entstanden, mächtig und unheimlich. Finsternis und Düsternis gingen davon aus, obwohl es wie das heiße Feuer der Sonne in ihr brannte und ihren Zorn, ihre Wut befeuerte.
Es lachte sie aus und machte ihr nur zu deutlich, daß auch sie in ihrem Kopf keine Hemmungen und Skrupel hatte, keine echten Gefühle wie die Menschen da draußen. Sie war von seiner Brut und konnte das nicht einfach abschütteln oder wegleugnen. Ohne Atrev blieb doch sie selbst übrig und das, was in ihr war, dafür gab es nun keine Ausreden mehr, keinen Atrev mehr, welcher sie zu etwas drängen, manipulieren würde. Nun war es allein sie selbst, welche alles in der Hand hatte. Sie hatte ihr schweres Erbe anzutreten.
Warum sollte sie nicht einfach ihren Impulsen folgen, ihrer Lust, sich gleich sofort in einen Drachen verwandeln und diesen Haufen von Schwächlingen da draußen vor der Tür mit einem einzigen Feuerstoß in dampfende, stinkende Asche verwandeln?“

„Nein!“ – Lena hatte mit einem entsetzten Ruf unterbrochen „Remia ist doch nett, sie darf, sie wird das nicht tun, sie wird auf diesen Drachen aufpassen und niemals die Kontrolle verlieren, sie wird seinen Verlockungen nicht folgen!“
Einen Moment war Stille und Marie und Lena schauten sich an. Einen Moment lang schien alles in der Schwebe zu sein.
Marie atmete tief durch und meinte: „Wenn du es sagst, deine Entscheidung, dann muß es so sein!“

Lena atmete erleichtert auf und Marie setzte die Erzählung fort: „Remia aber war schon vertraut mit dem Grollen und Raunen in sich. Obgleich das nun in ihr erschaffene Monster, dieser mächtige Drachen ein noch viel üblerer Gegner war, so nahm sie doch ihre Aufgabe, ihr Los an, sie würde darauf aufpassen.
Sie hielt sich jetzt nicht geradezu für ideal für diese Aufgabe, noch jung, unerfahren sowie fremd in all dem, was sie nun erwarten würde in ihrem neuen Leben, doch wer sollte es sonst tun und auf das Monster in ihr aufpassen, es an der Leine halten und nie entkommen lassen?
Nie durfte es sich losreißen und Unheil über das Land bringen. Alle davor zu beschützen, das war ihre Aufgabe, welcher sie sich stellen mußte – und sie nahm die Aufgabe wie eine schwere Last an, unter der sie zu zerbrechen drohte.
Aber natürlich war sie gar nicht so klein und schwach.
Sie wußte doch auch, sie konnte es und es würde gutgehen, jedenfalls wenn sie niemand zu sehr provozierte. Mit den täglichen Versuchungen würde sie gut fertigwerden, es machte ihr allenfalls Sorgen, was passieren könnte, wenn man das Monster in ihr wirklich einmal in eine Ecke drängte, daß es ganz wach und wild wurde und sich losriß und zurückschlug.
Sie mußte sehr auf der Hut sein, um nicht in solch eine Situation zu kommen. Sie mußte ihr Monster, ihren Drachen an der Leine halten, niemals loslassen, damit es nicht zu den anderen Drachen gelangte.“

Danach

Passend zur Geschichte hatte der Sturm draußen schon merklich nachgelassen und sich etwas beruhigt, noch immer platschte der Regen heftig auf die Dachziegel und trommelte seinen zufälligen Rhythmus, aber das Gewitter hatte sich etwas verzogen, grollte und grummelte in etwas weiterer Entfernung. Die Blitze warfen nur noch lustlose Flecken in die Schatten des Dachbodens. Es würde nicht mehr lange dauern und es würde wieder heller draußen werden und der Sturm wäre überstanden.

Marie erzählte nun noch, wie es weiterging: „Remia deckte einfach wieder das Tuch über das tote Fleisch von Atrev, drehte sich um, öffnete die Tür, ging hinaus, schloß sie wieder und schaute in die beklemmende Stimmung mit den Personen, welche gewartet hatten. Weil diese nicht so wie sie warten konnten, war ihnen das sicher nicht leichtgefallen, schon daher war diese stille, beklemmende Stimmung eingetreten.
Hätten sie gewußt, wer Atrev wirklich gewesen war, so dachte sich Remia, so hätten sie wohl ein Fest aufgeführt. Aber sie durfte es ihnen nicht verraten, sonst würde sie nie mit ihnen zurechtkommen als die Tochter von Atrev.
Und im Grunde, was hätte es den Leuten gebracht, wenn sie von Atrevs Drachen-Natur erfahren hätten?
Sicherlich hatten sie ohnehin längst gewußt, daß er jedenfalls nicht der angenehme, umgängliche Typ gewesen ist.
Das sollte wohl reichen.
Der Rest war Schweigen.
So sah sie die Leute der Reihe nach an, nahm der Lehrerin Mütze ab, zuckte mit den Schultern und fragte in den Raum: ‚Und was kommt jetzt?‘

Mütze hatte sehr wohl bemerkt, daß sich in Remia etwas verändert hatte, gleichzeitig Stärke, Feuer und Finsternis zugenommen hatten, dennoch war sie sich ihrer Freundschaft ganz sicher und ängstigte sich nicht, sie würden schon zu einer Einigung kommen, wie mit dem neuen Sachverhalt umgegangen werden konnte.
Sie waren mit Atrev fertiggeworden, was hätte sie nun noch am Leben hindern können?
Sie waren die Sieger, die Überlebenden jedenfalls und Atrev war nicht mehr. Das konnte man eigentlich gar nicht oft genug wiederholen.

Über ‚Und was kommt jetzt?‘ hatte man sich bezüglich Remia auch schon ungefähre Gedanken gemacht. Sie war noch nicht erwachsen, konnte so wohl schlecht allein in Atrevs Haus bleiben, als Gemeinschaft hatte man eine Pflicht. Und immerhin erbte sie von Atrev Haus sowie Vermögen, dadurch war schon für sie gesorgt, würde jedenfalls finanziell keinerlei Belastung für Betreuer darstellen. Remia wollte ohnehin nicht länger in Atrevs Haus leben, wollte diesen Ort des Leids aus ihrem Leben streichen.

Die Bibliothek wollte sie natürlich schon behalten, denn sie mochte die Bücher, welche so geduldig mit ihr waren, immer für sie da waren, ihr nichts taten, außer ihr neue Ideen, Erkenntnisse, Welten zu eröffnen. Sie mochte den Geruch des Papiers sowie der Einbände. Sie mochte den Geruch sowie die Struktur der Farbe, fühlte auch die Struktur des Papiers mit den Fingern recht gern, wenn sie sanft darüber strich. Und dann erst der Inhalt – darüber konnte sie alles vergessen und in den Büchern versinken wie in anderen Welten, in Ideen Anderer schwelgen, um später wieder irgendwann aufzutauchen, eventuell gar mit eigenen neuen Ideen oder jedenfalls Erkenntnissen, welche sie gelten lassen konnte oder auch kritisch aufnahm, um sie weiterzuentwickeln. Sie verglich mit eigenen Gedanken und Ideen, hinterfragte gern und lernte, wie andere dachten und schrieben. Die Bücher mußte sie einfach behalten. Bücher selbst fügten kein Leid zu. Es waren wie Lebewesen, welche aktiv wurden oder eben auch nicht und damit die Dinge, den Lauf der Welt beeinflußten. Bücher waren friedlich, erst recht, wenn man sie zugeschlagen ließ. Und sonst hatte ein jeder selbst Verantwortung dafür, was er aus den Büchern für sich herauslas und was er besser darin ließ.
Auch jeder Autor, welcher ein Buch schreibt, muß selbst entscheiden, was er hineintut und was er besser herausläßt. Ideen, welche einmal in die Welt gesetzt sind, welche unter den Menschen verbreitet sind, können in deren Köpfen ein Eigenleben entwickeln, können zu sehr viel Unheil führen, gerade wie Drachen Menschen manipulieren und verführen, abstruse Dinge zu glauben oder gar zu tun. Einmal in Umlauf gebracht, gibt es keine Chance mehr, Ideen zurückzuholen, zurückzunehmen, ungeschehen zu machen. Sie können allenfalls im Laufe der Zeit im sozialisierten Gedächtnis wieder vergraben werden, vielleicht sogar vergessen werden. Aber dazu bedarf es deutlich mehr, als mit einem Drachen fertigzuwerden. So manche Idee ist grauenhafter als jede Bestie. Eine Idee, eine Ideologie oder Religion kann mehr Menschen das Leben kosten, kann zu mehr Pein und Leid führen als jede Bestie. Aber so in einem zugeschlagenen Buch – erst einmal komplett harmlos.

Auch den Tisch und ihren harten Stuhl mußte sie behalten. Daran und darauf hatte sie so lange gesessen und war dabei beinahe im Nichts aufgegangen. Beinahe schien es ihr, als hätte selbst das Nichts ein wenig Respekt vor ihr bekommen. Und die Zeit, ganz gewiß, die unerbittliche, machte bei Bedarf auch einen zögerlichen Bogen um sie, zauderte, wenn sie sich dem Nichts näherte, denn Zeit und Nichts passen im Grunde nicht gut zusammen, wie man zwei Seiten einer Medaille ohne Tricks nicht gleichzeitig sehen kann. Immer zusammen und doch auch immer getrennt.
Zeit und Raum passen hingegen zusammen, sind eins, sind Etwas für uns, sind unsere treuen Begleiter. Das Nichts ist unser Beobachter, unsere Möglichkeit, von außen auf uns und die Welt zu blicken.
Um diesen Zustand der Versenkung zu erreichen, brauchte sie eigentlich längst nicht mehr diesen Stuhl und diesen Tisch, aber dies Ensemble hatte inzwischen doch einen gewissen nostalgischen Wert für sie. Also behielt sie auch dies Dinge für sich.

Remia kam in ein Heim und Internat mit anderen Kindern, welche ebenfalls keine Eltern hatten oder wo sich die Eltern nicht um ihre Kinder kümmern mochten. Remia blieb auch hier Einzelgängerin und sorgte schnell für Respekt und gebührenden Abstand zu ihr. Das fiel ihr gar nicht schwer. Meist reichte ein Blick, ein Wink, bei argen Fällen ein schneller Klaps, um zu brechen, was sie verlocken, provozieren wollte, wirklich Unheil anzurichten.
Mütze kam zwar mit, war allerdings zu wild für das Leben in solch einem Hause, zudem man dort Tiere nicht akzeptiert hätte. So durchstreifte Mütze frei Wald und Flur in der weiten Umgebung des Heims und Remia besuchte sie öfter in ihrem neuen Revier, ihr Band, ihre Freundschaft war fest, wenn sie sich auch keineswegs täglich sahen.

Für Remias Vermögen fand sich auch eine ganz gute Lösung. Solange sie noch nicht erwachsen war, wurde ein Treuhänder eingesetzt. Das war ein ehrlicher und loyaler Buchhalter.
Viele hielten ihn für extrem langweilig, weil er nur seine Bücher liebte. Aber gerade deswegen hatte Atrev ihn bei seinen Geschäften schon für unverzichtbar gehalten und hatte Remia wiederholt erklärt, was immer man für finstere und krumme Geschäfte mache, ein loyaler, ehrlicher und korrekter, langweiliger Buchhalter sei dabei unbezahlbar, denn der hielt die Bücher sauber und unanfechtbar – und wenn man sich auch selbst so verhielt, daß man sich eigentlich auf nichts verlassen kann, so sei doch so ein Buchhalter gerade derjenige, welcher einem immer den Rücken freihalte und Gewähr dafür sei, daß von dieser Seite keine Überraschungen drohten. Deswegen hatte Remia auch keinen Augenblick gezögert und war mit ihm als Treuhänder sofort einverstanden – und der Buchhalter machte seine Sache gut. Zwar machte er mit dem Vermögen keine waghalsigen Dinge wie Atrev, welche hohen Gewinn abwarfen, aber das Vermögen blieb, mehrte sich gar noch etwas unter seiner Verwaltung und Remia war zufrieden damit, daß dies nicht wie bei Atrev dadurch geschah, daß andere ins Unglück gestürzt wurden.

Finanziell war also für Remias Zukunft gesorgt. Und auch im Internat ging es ihr relativ gut, viel besser als bei Atrev – und das war die Hauptsache. Es war hier gar nicht so schwer, wie ein normaler Mensch zu erscheinen und das Monster im Zaum zu halten.
Zwar entdeckte man hier schon, wie sehr Atrev sie mißhandelt hatte und quälte sie damit, ihre Erlebnisse zu verarbeiten, wie man es formulierte, sich der Vergangenheit, den Erinnerungen zu stellen, welche sie endlich hinter sich lassen wollte, doch lernte sie schnell ihre Art und erzählte und formulierte so, wie diese es haben wollten und damit befriedigt waren in dem Glauben, ihr damit geholfen zu haben, aber sie war längst von Atrev befreit, hatte längst damit begonnen, sich ihrem neuen Leben zu stellen, sie hatte die Aufgabe angenommen, auf ihr Monster, ihren Drachen zu achten. Dieser sollte kein Unheil über die Menschen bringen.
Sie zuckte nur mit den Schultern, wenn es um ihre Kindheit bei Atrev ging, dieser Teil ihres Lebens war Vergangenheit und sie hatte kein Problem damit, keine Hemmungen, über die Mißhandlungen und üblen Erlebnisse in gewünschter Ausführlichkeit zu berichten, wenn jemand es wirklich wissen und ertragen wollte. Letztlich litten solche Zuhörer danach, keineswegs sie selbst, welche kalt und gleichgültig dabei blieb, denn all das war nun egal, denn es war Vergangenheit, nichts, was ihrer Zukunft wirklich im Wege stehen könnte, selbst wenn es immer zu ihrer Vergangenheit gehören mußte, sie sich nie davon würde lösen können, wie auch der Drachen immer mit ihr sein würde.“

Damit beendete Marie das Märchen über das Drachen-Mädchen Remia.

Nach dem Sturm

Es herrschte Stille, denn auch das Gewitter hatte sich weitgehend verzogen und der Regen plätscherte nur noch fein, beinahe lautlos auf das Dach. Obwohl man es fast hätte befürchten mögen, war es erwartungsgemäß doch nicht eingetreten: Die Stadt war nicht fortgespült, nicht von den Drachen des Gewitters verschlungen worden. Bald schon würden sich die Menschen wieder aus den Häusern wagen und es war auch zu erwarten, daß Lenas Mutter bald heimkehrte.
Beinahe schien es, als hätte sich die Länge des Märchens gerade an die Länge des Unwetters angepaßt – oder war es umgekehrt und die Länge des Gewitters hatte sich an die Länge des Märchens angepaßt?
Oder war das alles nur ein sogenannter literarischer oder erzählerischer Imperativ, welcher beiden keine andere Wahl ließ, um gemeinsam zu enden?

Lena grübelte noch. Mit dem Verlauf der Geschichte war sie eigentlich so weit ganz zufrieden, Remia hatte es immerhin geschafft und Mütze ebenso.
Aber es gab auch noch Dinge, welche offengeblieben waren, welche sie nicht verstand, deshalb fragte sie schließlich nach: „Ich habe aber noch immer nicht verstanden, was eigentlich genau passiert ist, als Atrev und Mütze diesen Blitz wahrgenommen haben.
Und was war mit Remia passiert, welche an jenem Baum in Ohnmacht gefallen war und an einem ganz anderen Ort aufgewacht war?
Wo kam das Drachenkraut an ihrer Kleidung her?
Was ist denn nun wirklich passiert?“

Marie meinte dazu: „Zunächst einmal: Was bedeutet schon wirklich?
Was ist Wirklichkeit, was nur unsere Vorstellung davon?
Ist etwas wirklich, wenn niemand es wahrgenommen hat?
Ist etwas wirklich, was etwa nur Remia erlebt hat und daher auch nur sie nach der eigenen Erinnerung erzählen kann?
Wenn etwas nicht vermessen ist mit Gerätschaften, welche uns allen prinzipiell zugänglich sind, so sind es doch bestenfalls persönliche Erinnerungen oder Schlußfolgerungen. Das ist ein stark vereinfachtes, subjektives Bild von der Welt. Sofern es nicht gelingt, in das Gehirn zu gucken und zu verstehen, wie diese Erinnerung abgelegt ist, sofern es nicht gelingt, die Erinnerung wieder auszulesen, bleibt sie als persönliches Erlebnis allenfalls per Mitteilung teilbar, aber alles daran ist eben subjektiv und durch das Gehirn gefiltert, an dessen Möglichkeiten und Sichtweisen angepaßt. Noch dramatischer dabei: Das Gehirn kann im Laufe der Zeit die Erinnerungen sogar an die aktuellen Erfahrungen anpassen und sich passend zurechtlegen, daß es etwas besser mit dem harmoniert, was aktuell gerade gedacht und für richtig gehalten wird. Dies muß nicht einmal absichtlich passieren. Wir haben also immer nur unser eigenes, persönliches, individuelles Bild von dem, was geschehen ist.
Was ist da schon Wirklichkeit, wenn alle nur ihr eigenes Bild von den Ereignissen im Kopf haben?
Vergangenheit ist immer Erinnerung.
Vergangenheit ist immer ein gutes Stück subjektiv.
Auch sie wird von jenen gestaltet, welche überleben, nicht mehr von den Toten.
Die Menschen erzählen sich und anderen Geschichten, Märchen über die Welt sowie ihr Leben, um in dieser Welt zu bestehen; sie erschaffen ein eigenes, vereinfachtes oder angepaßtes Bild ihrer Welt und machen sie so greifbarer und erträglicher. Diese gedankliche Verarbeitung zu etwas, was zum eigenen Denkmuster paßt, ist unvermeidbar und somit das, was wir über die Welt und die Vergangenheit zu wissen meinen, was wir glauben, wie es ist. Erinnerung ist keine Naturwissenschaft mit reproduzierbaren, meßbaren, gegebenenfalls eindeutig widerlegbaren Erkenntnissen.
Und was wir glauben, wie es gewesen ist – das sind Erinnerungen und Märchen für das Kind in uns allen. Die Welt wird halbwegs passend zurechtgelegt, wenn nicht gar zurechtgestutzt, wenn wir uns erinnern und unser eigenes Märchen der Vergangenheit erzählen.

Weil die Welt viel komplizierter ist, fügt sich natürlich nicht alles gut zu den einfachen Geschichten. Mindestens da, wo die verschiedenen Geschichten oder Kapitel einer Geschichte nicht so ganz stimmig zusammenpassen, scheint etwas von der Komplexität der Welt durch, welche nie so einfach ist, wie wir sie erzählen können.
Die Wirklichkeit – was soll das sein?
Am nächsten kommen wir dieser idealisierten Abstraktion wohl mit dem, was der gemeinsamen Messung der Dinge zugänglich ist – und auch das nur mit beschränkter Genauigkeit, denn unsere Instrumente sind ja mit Ungenauigkeiten und Fehlern behaftet.
Und die Geschichte von Remia ist ja nun nur ein Märchen, an dem du auch noch selbst mitgewirkt hast, wie können wir da von Wirklichkeit sprechen?

Wenn wir indessen innerhalb der Geschichte bleiben, so haben die Leute aus der Stadt doch herausgefunden oder geraten, impliziert, wie ich auch gerne sage, daß ein Blitz in der Nähe von Atrev sowie Mütze eingeschlagen ist, offenkundig gerade in dem Augenblick, als Atrev Mütze zernichten wollte. Das ist doch als Erklärung ganz plausibel, deshalb sollte man sich nicht beschweren und es erspart weitere Nachforschungen sowie lästige Fragen. Für diese Menschen ist es nicht glaubhaft oder einleuchtend, daß Drachen das Gewitter erst hervorgerufen haben. Für diese Leute ist die Geschichte so stimmig: Mann, Baum, Blitz, fallender Ast, toter Mann.
Sie fragen nicht danach, warum der Blitz ausgerechnet in den Baum gefahren ist, warum der Ast genau so gefallen ist, daß er Atrev genau das Genick gebrochen hat. Im Nachhinein erscheint das immer als fast unglaubliche Verkettung von Zufällen.
Das passiert in solchen Geschichten gern einmal, daß die Ereignisse so präzise und günstig zusammenfallen und die Situation lösen. Hätte indes der Blitz direkt Atrev getroffen, wäre die Kette eben etwas kürzer, gleichfalls nicht sonderlich wahrscheinlich, jedoch aufgrund der Befunde entsprechend plausibel. Wenn derlei ausbleibt, bleibt eben auch die Überraschung aus, wenn derlei hingegen niemals passieren würde, wäre es wiederum statistisch auffällig. Irgendwen wird es also letztlich treffen.
Daß es nun gerade Atrev war?
In der Fachwelt hat man dafür auch den Ausdruck deus ex machina, eine überraschende Lösung von außen, wenn die Beteiligten für eine günstige Lösung im Grunde schon hoffnungslos aus dem Rennen sind.
Das ist ein erzählerischer Kniff, im Grunde nicht besonders guter Stil, aber wenn es hilft, um die Geschichte oder die Beteiligten zu retten – warum nicht?“

Marie lächelte sanft, beinahe schon fröhlich, als sie zur Erklärung einfach auf eine andere Ebene gewechselt war.
Lena wurde dabei leicht schwindelig und sie fragte nach: „Und das geht so einfach?“
Marie nickte entschieden: „Natürlich geht das, wer erzählt, darf alle Kniffe verwenden, welche notwendig sind. Und du warst ja gleichfalls beteiligt. Ohne dich hätte etwa Mütze doch schon früh aus der Geschichte aussteigen müssen und Remia wäre ganz allein gewesen, hätte alles allein bewältigen müssen. Ja, ohne dein entschiedenes Eingreifen wäre Remia ja gar nicht so nett geblieben, wer weiß, wie sich daraufhin alles entwickelt hätte, sie wäre wohl ein mächtiger sowie übler Drachen geworden, welcher viel, sehr viel Unheil über das Land und die Menschen gebracht hätte, bei all dem Zorn, der Wut und den Rachegelüsten, welche sich in ihr aufgestaut hatten, bei all dem, was Atrev ihr angetan hatte, bei all dem, was er sie gelehrt hatte, wie ein richtiger Drachen zu sein hat. Stattdessen hat sie alles sicher in sich geborgen, um die anderen zu schützen. Sie beschützt die Welt vor dem eigenen Ungeheuer, indem sie es sorgsam hütet.
Du hast alles gewendet.
Du hast die ewige Kette der Vererbung der Pein gebrochen, indem es Remia nun nicht weiterfluten läßt. Sie ist der Schutzwall, welcher alles ändert, aber du hast auch deinen Teil dazu beigetragen, daß sie ist, wie sie ist.
Und da soll ich nicht mit einem deus ex machina für ein passendes Ende sorgen dürfen?
Du wärst doch niemals zufrieden gewesen, wenn Mütze von Atrev erschlagen worden wäre und dieser weiter über Remia triumphiert hätte, Remia weiter gequält und verdorben hätte!
Wenn er aus ihr das Monster gemacht hätte, welches noch schlimmer als er selbst sein sollte.“

Lena war bereit einzuräumen, daß sie wirklich mit solch einem Ende nicht einverstanden gewesen wäre, so mußte sie wohl auch diesen deus ex machina schlucken.
Nicht so einleuchtend war allerdings nach wie vor, was mit Remia in der fraglichen Zeit passiert war und sie bohrte noch einmal nach: „Gut, das erklärt aber immer noch keineswegs, was mit Remia passiert ist, warum sie ganz woanders aufgewacht ist!“

Marie versuchte es etwas ausweichend erneut auf der anderen Ebene: „Oh, ich hatte ja bereits erklärt, wenn man solch einen heftigen Stoß an den Kopf bekommen hat, kann man sich oft nicht mehr richtig erinnern, hat Gedächtnislücken, bekommt nicht mehr korrekt und schlüssig alles zusammen. Da wacht man dann irgendwo auf und weiß nicht mehr, was passiert ist. Heute nennt man das auch gern ‚Filmriß‘.“
Lena bohrte hartnäckig nach: „Ja schon, aber sie muß doch in der Zeit etwas gemacht haben, um von einem Ort zum anderen zu kommen.“
Marie schlug geheimnisvoll lächelnd vor: „Wenn sie zum Beispiel noch unterwegs war, mit dem Drachenkraut in Kontakt gekommen ist, zusammengebrochen ist, ist es durchaus plausibel, daß ihr Gedächtnis durcheinandergeraten ist. Vermutlich hatte sie schlicht Glück und ist von dem gefährlichen Kraut gerade noch lebendig weggekrochen und ist anschließend im Rausch durch den Wald geirrt. So wird es wohl gewesen sein.“
Das konnte Lena in etwa nachvollziehen, wobei es nicht besonders befriedigend für sie war, hier zu spekulieren, wobei genauso unklar blieb, wo Remia auf das Drachenkraut gestoßen war.
Gab es davon in der Gegend so viel?
Vermutlich doch nicht, das hätte Atrev sicherlich verhindert.
Es gab an dem Märchen jedoch noch einen weiteren eigenartigen Punkt für sie zu klären: „Und nachher, als sie mit Mütze im Haus war, hat sie sich gar nicht gesorgt, daß Atrev sie überraschen könnte.
Hat Remia vielleicht nur so getan, als könne sie sich nicht erinnern?
Hat sie in Wirklichkeit doch noch etwas versucht, um Mütze zu retten, um Atrev zu besiegen?“

Marie kamen Lenas Überlegungen nicht so gelegen. Die Richtung, in die das Gespräch verlief, schien ihr etwas heikel zu werden, auch für Remia, selbst wenn es sich dabei nur um einen Märchen-Drachen in Gestalt eines geschundenen Mädchens handelte.
So versuchte sie es erneut auf einer ganz anderen Ebene: „Schau mal, vermutlich kennst du ihn nicht, aber da gibt es den berühmten Dramatiker und Lyriker Bertolt Brecht.
Dieser hat bewußt in seinen Theaterstücken Verfremdungseffekte eingefügt, um die Menschen dazu zu bringen, nicht nur die Handlung mitzuerleben, sondern über den Inhalt, die Motivation sowie das Verhalten der Personen in der Geschichte zu reflektieren. Es soll dabei den Menschen immer gegenwärtig sein, daß alles nur eine erdachte oder jedenfalls vereinfachende Geschichte ist, eine subjektive Sicht der Ereignisse, nichts was wirklich so ist, nur weil es im Schauspiel so dargestellt wird. Es gilt immer, eine gewisse kritische Distanz zu wahren und das Erzählte zu hinterfragen. Was erzählt wird, was geschrieben steht, ist nicht wahr, es ist immer nur eine Geschichte, eine vereinfachte Sicht auf die Komplexität der Welt oder gar eine reine Fiktion, eine Wunschvorstellung oder ein Wahn. Aufgrund der Vereinfachung paßt nie alles perfekt zusammen. Es ist immer notwendig, den eigenen Verstand zu benutzen, um sich ein eigenes Bild zu machen, welches auch nicht besser sein muß als das der anderen, aber die erneute Reflexion über vorhandene sowie eigene Interpretationen kann alles relativieren und auch vermeiden, daß man alles so fanatisch einfach sieht, und glaubt, die Wahrheit und Weisheit für sich gepachtet zu haben. Solch ein Glaube ist der zentrale Quell des durch Menschen erzeugten Leids auf der Welt.
Es gibt keine zutreffende einfache, naive Sicht auf die Welt!
Wenn Bertolt Brecht das mit den Verfremdungseffekten so gemacht hat, darf ich das nicht in eine Geschichte so einbauen?
Und schließlich, es hat doch geklappt und du beginnst darüber nachzudenken, nicht nur über die Handlung, sondern über die Geschichte selbst und wie sie gemacht ist, wie plausibel alles ist, ob alles zusammenpaßt.“

Lena war etwas irritiert. Dieser Bertolt Brecht schien ihr irgendwie ihr Erlebnis der Geschichte zu stehlen und das Gefühl, dabei zu sein und mit Remia zu leben und zu fühlen, sich in sie hineinzuversetzen. Dieser Bertolt Brecht mit seinem Verfremdungseffekt raubte ihr die Illusion des Märchens.
War das erlaubt?
Durfte der das?
Und Marie kannte ihn?
Verwendete seine Tricks?
Durfte sie das?
In ihrer Geschichte?
Lena staunte.
Sollte sie mehr über diesen Bertolt Brecht in Erfahrung bringen?
Und hatte sie nicht wirklich mit Marie an der Geschichte eben gerade mitgewirkt, hatte ihren Verlauf verändert?
Wenn sie das konnte, wenn sie selbst Geschichten erschaffen konnte, wenn Marie das konnte, war es da nicht ganz normal, daß man über die Geschichte selbst nachdenken kann und sie nicht nur miterleben und wie erzählt oder geschrieben hinnehmen?
Wenn man eingreifen konnte, wenn Marie erzählte, war es da nicht mit einem Male selbstverständlich, auch andere Geschichten zu hinterfragen?
Ob die wirklich so sein konnten?
Ob die sich nicht auch durch solche Abweichungen, beabsichtigte oder unbeabsichtigte Verfremdungseffekte als bloße Geschichten enttarnten?

Und doch, vielleicht war die Geschichte so unstimmig nicht.
Remia tat vielleicht nur so, als könne sie sich nicht erinnern, war sie nicht vielleicht doch erwacht und war Atrev und Mütze gefolgt, um Mütze zu retten?
Wenn dem so war, was war geschehen?
Lena mochte das gar nicht so genau weiterdenken, das nicht zu Ende denken, was Remia vielleicht doch getan hatte.
War sie danach und deswegen wie irre durch den Wald gerannt und erschöpft und verzweifelt in den Dreck gefallen, um am nächsten Tage mit Erinnerungslücke zu erwachen?
Vielleicht erinnerte sie sich wirklich nicht und wußte nur tief in ihrem Innern, daß Atrev nichts mehr tun würde, weil sie dabei gewesen war?
Atrev war doch im Drachenkraut gefunden worden und es schien auch so, als seien diese Büsche das Ziel von Mütze gewesen, um Atrev dorthin zu locken.
Auch Remia kannte den Ort.
Doch konnte sie ja nicht wissen, daß Atrev und Mütze dort waren.
Konnte sie dorthin gelangt sein?
Stammte das Drachenkraut an ihrer Kleidung von diesem Ort?
Lena wurde ganz schwindelig bei dem Gedanken und wollte gar nicht mehr weiterfragen.
Vermutlich hatte Marie ja doch Recht und es war viel schlauer, was der Bertolt Brecht gemacht, gedacht und gesagt hatte.
Ein Verfremdungseffekt, ja, das mußte es dann wohl doch sein. So konnte Remia ein nettes Drachen-Mädchen bleiben.
Sie hatte nichts getan, es war dieser deus ex machina, dem man alles anhängen konnte, oder wie die Leute aus dem Dorf es wohl sagten, ein dummer Zufall, warum war Atrev bei Sturm und Gewitter auch im Wald, statt Daheim im Warmen?
Was hatte Atrev sich darum zu kümmern, daß Remia und Mütze Freunde waren, was hatte er dort im Wald zu suchen?

Marie wollte lieber das Thema wechseln und schlug so vor: „Sage mal, wie haben deinen Flugdrachen ganz vergessen, der ist doch ebenfalls naß geworden, nun steckt er so in dem Köcher, wir sollten uns kümmern.“
Auch Lena war im Grunde ganz froh, daß sie aus ihren Gedanken gerissen wurde. Sie wollte Remia ihre neue Freiheit, ihr Glück gönnen und die Angelegenheit im Wald auf sich beruhen lassen. Daher standen beide daraufhin auf, nahmen vorsichtig ihren Schatz aus dem Köcher und hängten das farbenfrohe Fluggerät und den Köcher vorsichtig an die Leine, an einen freien Platz neben die Wäsche.

Lenas Mutter

Vom Treppenhaus her hörten beide bald darauf, wie unten die Haustür aufging, jemand hereinkam, die Kellertür aufschloß und wohl etwas hinabbrachte. Danach fielen die Türen wieder ins Schloß. Und jemand kam die Treppen herauf, blieb irgendwo in einem der anderen Stockwerke stehen und schloß eine Wohnungstür auf.
Lena meinte nur: „Das könnte meine Mutter sein!
Ich schaue nach!“
Und schon war sie weg und stürmte die Treppen herunter, mit einer Begeisterung, wie sie wohl nur ein munteres Kind aufbringen kann, welches gerade einen schweren Sturm überstanden hat.

Marie legte in aller Ruhe schon einmal die alte Decke zusammen und deponierte sie in dem knarrenden, alten Sessel, nahm ihre noch immer feuchte Jacke von der Leine und verließ ohne Eile den Dachboden.
Wie zum Abschied drehte sie sich noch einmal kurz zum aufgehängten Flugdrachen um und nickte kurz leicht indifferent – zum Abschied grüßend oder mahnend, stets ein braver Drachen zu bleiben?
Ein Windhauch mußte es wohl gewesen sein, welcher den Spielzeugdrachen leicht an der Leine erzittern ließ, nur ein Zufall wohl. Dann ging sie Lena nach und einige Stufen die Treppen hinunter, jedoch nicht sehr weit, setzte sich und hörte, was weiter unten passierte.

Unten traf Lena wirklich ihre Mutter, welche wohl schon Einkaufstüten hineingestellt hatte und gerade eben nach Lena gerufen hatte, als diese die offene Tür erreichte. Marie hörte von weitem, weil die Wohnungstür noch offenstand, wie sich die beiden unterhielten. Lenas Mutter hatte sich schon Sorgen gemacht, sie wußte ja, daß Lena mit Gewitter nicht so gut zurechtkam. Lena gestand gleich, daß sie das Haus verlassen hatte, ferner ihre Schlüssel vergessen hatte und deswegen oben auf dem Boden warten mußte. Das restliche Abenteuer und Marie erwähnte sie nicht. Lenas Mutter war offenbar vorrangig erleichtert, daß mit Lena alles in Ordnung war. Und das Gewitter direkt oben unter dem Dach zu überstehen, erschien ihr wohl Strafe genug für den immerhin bloß in der Wohnung vergessenen Schlüssel und dafür, daß Lena es versäumt hatte, den Ausflug mit ihr abzusprechen, aber so klein war sie nun auch nicht mehr, daß sie nicht selbst entscheiden konnte, draußen zu spielen.

Sie gab an, in der Stadt in den Geschäften dermaßen beschäftigt oder jedenfalls abgelenkt gewesen zu sein, daß sie das heraufziehende Unwetter erst gar nicht bemerkt habe, als sich allerdings Regen ankündigte, sei sie in ein Einkaufszentrum gegangen und tief drinnen habe sie die Zeit ganz vergessen, das Gewitter sei gar nicht so aufgefallen.
Zudem hatte sie ebenda einen netten Herren kennengelernt und war vielleicht auch deswegen so gut gelaunt und dazu aufgelegt, über Lenas Versäumnisse hinwegzusehen, stattdessen erwähnte sie den Herren mit deutlich fröhlicher Stimme und sprach über diesen ihr Lob: „Du, Ingo ist wirklich nett.
Ich weiß ja, mit Thomas bist du nicht zurechtgekommen und er hatte auch keinen Draht zu dir, aber Ingo ist ganz anders, der wird dir gefallen!“
Lena war skeptisch, sie meinte nur: „Mama …“
Diese jedoch schien von Ingo schwer beeindruckt zu sein, hatte mit diesem unverkennbar lange geplaudert, als sie im Einkaufszentrum festsaßen und sie hatten sich auch gleich verabredet.
Sie beteuerte: „Lena, ich habe ihm ganz ehrlich von dir erzählt und er war ganz erfreut. Wenn das klappt, wirst du ihn sicher bald kennenlernen und schon sehen. Denselben Fehler wie mit Thomas mache ich nicht nochmal, wenn er dich nicht akzeptiert, wird es nichts mit ihm. Aber ich denke, es wird gut, wenn wir uns nur vertragen können.“
Lena seufzte nur vernehmlich und so legte ihre Mutter noch nach: „Und noch eins, er hat mir erzählt, er habe eine junge Katze. Du wolltest doch schon immer so sehr ein Haustier, da könntest du doch sehen, wie es mit dieser läuft, wenn wir uns näher anfreunden sollten. Und jemand, welcher sich um eine Katze kümmert, kann doch so schlecht nicht sein!“
Lena hatte nun offenkundig angebissen und war ganz aufgeregt: „Eine Katze?
Wirklich?“
Ihre Mutter erwiderte: „Ja, wirklich. Ich habe sie nicht gesehen, aber er hat das nur so ohne Frage von mir erwähnt, als ich meinte, ich hätte eine sehr nette Tochter, meinte er, er habe stattdessen eine sehr nette Katze, welche ihn Zuhause erwarte.“
Und so gab Lena nach, sie würden sehen, wie es sich entwickelt.

Dann schien Lena wieder etwas einzufallen und sie meinte: „Ich muß noch mal hoch, etwas aufräumen!“
Lenas Mutter war wohl ganz zufrieden, erst einmal so davongekommen zu sein mit ihrer neuen Chance und entgegnete nur: „Ja, gut, aber beeile dich, wir haben ja noch gar nichts gegessen, ich mache gleich etwas, wenn ich die Sachen weggepackt habe!“
Lena stimmte zu: „Ich beeile mich, bin gleich wieder da.“
Ein Schlüssel rasselte, als sie ihn wohl nahm, darauf zog sie auch schon die Wohnungstür zu und stürmte die Treppen wieder hinauf.

Abschied

Marie hatte schon aufstehen und gehen wollen, dann aber doch wegen der offenen Wohnungstür gezögert. Weil Lena sie nicht erwähnt hatte – was ihr sehr recht war – wollte sie Lena auch keinesfalls in Verlegenheit bringen und so ins Gesichtsfeld der Mutter geraten.
Flugs war Lena aber nun wieder da und Marie war schon etwas überrascht, als Lena sie einfach umarmte und leise sprach: „Ich habe dich keineswegs vergessen.
Mutter ist jetzt wieder da!“
Marie erwiderte: „Ich habe es gehört, gut daß sie wieder da ist – und sogar eine Chance auf einen neuen Freund hat sie im Einkaufszentrum erwischt?
Ihre Einkaufstour scheint sich folglich für sie gelohnt zu haben‽“
Lena zog nur etwas unsicher die Nase kraus.
Marie witzelte weiter: „Vielleicht sollte ich mich demnächst dort auch mal umsehen, ob sich wer Passendes findet, den ich mir aneignen könnte, Einkaufszentren haben augenscheinlich mehr im Angebot, als ich so dachte …“
Lena überging die ironische Bemerkung und schaute sie stirnrunzelnd an: „Du hast es gehört?
Na, ich weiß nicht, was das wieder werden wird.“
Marie besänftigte jedoch: „Na, nicht gleich so negativ – und er hat ja sogar eine Katze, wenn das nichts ist?
Katzen sind eigen, Leuten, denen diese als Haustiere liegen, haben doch eher die Ruhe weg, lassen ihren Mitbewohnern Freiräume, sonst würde die Katze schnell nöckelig, kratzig …“
Lena nickte und sie lächelte: „Ja, das allerdings klingt gut.“
Marie schlug dazu vor: „Also erst einmal in aller Ruhe abwarten.
Wenn es doch nichts ist, bremst du ihn aus, greifst dir lediglich die Katze und ziehst so doch noch deinen Vorteil daraus!
Aber vielleicht ist er ja ganz nett.
Es ist ja auch nur der Freund deiner Mutter.
Vaterersatz wird er ja nicht gleich spielen wollen und deine Mutter hat gesagt, sie habe ihm gleich gesagt, daß es dich gibt, von daher wird er da ja wohl nichts sagen können, wird nicht überrascht sein und bockig werden – und er könnte dir auch beim Drachensteigenlassen assistieren, wenn wieder einmal heftiger Wind aufkommt!
Solch ein Typ kann sich schon als nützlich erweisen, in mancherlei Hinsicht kannst du die etwas kompliziertere Situation auch nutzen, um über ihn Wünsche zu verwirklichen, derlei kann funktionieren, solltest sie jedoch nicht gegeneinander ausspielen, so weit sollten die Tricks dann doch nicht gehen.“

Lena schien sich mit dem Gedanken langsam anzufreunden, schaute dann allerdings Marie an und fragte: „Und du?
Was machst du?“
Marie schaute sie ernst an und entgegnete: „Ich werde gleich meiner Wege ziehen, der Sturm ist vorbei, dein Flugdrachen ist sicher untergebracht sowie angeleint, du bist sicher Daheim, es ist alles in Ordnung, meine Aufgabe hier bei dir ist erledigt.“

Lena schaute etwas traurig, nickte endlich, es war klar, Marie würde gehen. Diese wandte sich schon zur Treppe, in dem Moment fiel Lena noch etwas ein: „Du, ich habe wohl gemerkt, was passiert, wenn man die Buchstaben von ‚Remia‘ in eine andere Reihenfolge bringt!“
Marie drehte sich um, schaute sie streng an: „Na, die Reihenfolge der Buchstaben wollen wir doch mal in dem Drachen-Märchen belassen und nicht so darüber grübeln, ‚Remia‘ ist doch auch ein schöner Name, jedenfalls für ein Drachen-Mädchen, daran ist nichts auszusetzen!“
Lena bestätigte: „Nein, natürlich nicht.
Aber bist du Remia?“
Marie lächelte ein wenig: „Ich?
Na, es ist doch eine Geschichte gewesen, ein Märchen, dazu noch mit Verfremdungseffekten, das spielte in einer ganz anderen Welt und hat doch mit unserem Hier und Jetzt gar nichts zu tun. Und du weißt doch auch: Es gibt gar keine Drachen. Du glaubst doch nicht, ich könnte meine Gestalt wechseln und -Wusch!- ab durch die Mitte in den Himmel schießen, Gewitter und Unheil bewirken?“
Lena schüttelte den Kopf, aber etwas zögernd: „Nein, du bist ja nett. So etwas machst du nicht.
Aber Remia ist ja auch ein netter Drachen!“
Marie strich ihr sanft durch das Haar: „Solche Drachen gibt es bloß in Geschichten. Was da in den Wolken, bei Gewitter passiert, ist komplizierte, aber letztlich doch profane Physik.
Und natürlich, es gibt ganz verschiedene Menschen – und jeder ist etwas oder auch deutlich anders als alle anderen. Es gibt nette und weniger nette Menschen, da muß man auf der Hut sein, du auch.
Aber Drachen in Menschengestalt gibt es nicht, das war lediglich eine phantasievolle eine Geschichte, derlei Drachen in Gewitterwolken bloß eine blumige Veranschaulichung.
Wenn du in der Schule nachfragen willst oder selber nachschlagen, vielleicht eine Parabel, ein Gleichnis, eine Metapher. Das kann man jedenfalls mitnichten wörtlich nehmen. Und was in der Geschichte ist, bleibt in der Geschichte und kommt nicht heraus.
Das ist zum Vergnügen, auch um sich ein wenig zu gruseln sowie für einen Schauer, welcher manchem wonnig über den Rücken fährt, wenn etwas grauslige Geschichten von unheimlichen Menschen erzählt werden.“
Lena nickte: „Ja, natürlich!“

Lena fühlte sich offenkundig nicht so richtig ernst genommen, sehr überzeugt klang ihre Erwiderung noch nicht, Marie zögerte einen Moment.
Lena griff entschlossen nach ihrer Hand, in der Marie noch immer das Taschentuch hielt, auf die durch die Drachenschnur verletzte Stelle drückte.
Marie verstand nicht gleich, entsann sich allerdings, in der Geschichte hatte sich Remia schnell von Verletzungen erholt. Bereitwillig gab sie ihre Hand, öffnete sie.
Lena nahm vorsichtig das Taschentuch ab, schaute daraufhin auf die Verletzung. Sehr eindrucksvoll sah diese wirklich nicht aus, die Haut war leicht aufgeschnitten, es blutete allerdings nicht mehr, das Blut im Taschentuch war schon beinahe eingetrocknet und die Wunde wirkte blaß und wenn Lena Maries Hand nur etwas in der ihren krümmte, drückte sich der Schnitt praktisch unsichtbar zu.
Konnte sie das gelten lassen?
Sprach das für oder gegen ihren Einfall?
Sie war unsicher.
Marie versicherte ihr dazu lediglich: „Ich habe dir doch schon gesagt, es ist gar nicht schlimm. Es geht schon. Aber Wunderheilkräfte eines Drachen habe ich leider gar nicht.“
Lena wiederholte zweifelnd: „Ja natürlich nicht!“
Sie ließ aber die Hand wieder los und Marie wickelte erneut das Taschentuch über die Wunde und schloß die Hand gleich darauf, jedoch eher locker.

Lena war offenbar noch immer nicht überzeugt.
Deshalb legte Marie mit einem noch überzeugenderen Argument nach: „Außerdem hast du ja an der Geschichte mitgewirkt, hast hier und da eingegriffen sowie bestimmt, wie es weitergeht.
Wie könnte ich also Remia gewesen sein, wenn deine Entscheidungen heute die Geschichte beeinflußt haben?“
Lena leuchtete dieses Argument irgendwie ein und doch wurde ihr schon etwas schwindelig, als sie sich überlegte, wie es vielleicht doch sein konnte. Marie war irgendwie anders, das hatte sie genau gemerkt, geheimnisvoll, düster und vielleicht auch ein wenig gefährlich, aber auch wieder wie Remia im Grunde immer bemüht, einen guten, passablen Weg zu finden. Und sie hatte ihr bei dem Gewitter beigestanden und eine spannende, auch etwas unheimliche Geschichte erzählt, dazu die schaurige Stimmung dort oben auf dem Dachboden, das Gewitter, die Blitze sowie der Sturm ganz nah unter den klappernden Dachziegeln. So konnte und wollte sie Marie natürlich nicht widersprechen und ihr ihr Geheimnis nicht wirklich entreißen. Natürlich, solche Drachen gab es nur in Geschichten. Und Marie gab es wirklich. Sie stand vor ihr, eine erwachsene Frau, zwar ganz sicher mit eigenem Charakter und eigener Art, aber eben doch eindeutig eine menschliche Gestalt, wobei Lena aus der Geschichte wußte, daß das nichts bedeuten mußte.
Beim Sturm oben im Sessel hatte sie sich an Marie gewärmt, war das das innere Feuer, welches Marie in sich hütete – oder doch nur ganz normale Körperwärme?

Marie aber wollte nun wirklich gehen, schon sprach sie „Lebwohl!“ und wollte die Treppe hinunter.
Blitzschnell griff Lena zu und umarmte sie erneut. Marie strich sanft mit den Fingern durch Lenas noch immer recht wuscheliges, unordentliches Haar.
Sie duldete die Umarmung noch ein wenig, meinte dann: „Na ist doch alles gut, kannst mich jetzt wirklich gehenlassen. Die alte Decke habe ich schon zusammengelegt, mich von deinem Flugdrachen verabschiedet.“
Lena löste die Umarmung und seufzte leise.
Marie strich ihr sanft über die Wange und noch einmal durch das Haar und sprach abermals: „Lebwohl Lena!
Und passe gut auf deinen Drachen auf!“
Marie stieg zwei Treppenstufen hinunter, war jedoch noch zu Lena gewandt, diese seufzte nur leise: „Lebwohl Marie!
Und passe du auch auf deinen Drachen auf!“
Und Marie nickte, drehte sich um und erwiderte noch im Gehen: „Das werde ich ganz bestimmt, Lena!“

Sie war schon einige Stufen weiter, Lena folgte nur langsam.
Marie war schon an der Wohnungstür vorbei und ging weiter, Lena blieb an der Wohnungstür stehen, da fiel ihr noch etwas ein, sie setze noch nach: „Und den Herrn Bertolt Brecht kannst du auch von mir grüßen, wenn du ihn triffst, der scheint schlaue Kniffe zu kennen.“
Marie lachte ohne sich umzudrehen, war beinahe unten an der Haustür und erwiderte dazu lediglich: „Ich werde es ihm ausrichten, sollte ich ihn mal sehen!“

Marie öffnete die Haustür, ging hinaus.
Die Tür fiel ins Schloß.
Lena seufzte.
In einem leichten Luftzug, der offenkundig durch die geöffnete Haustür entstanden war, wackelte oben auf dem Boden Lenas Flugdrachen ganz leicht an der Leine, aber er war festgeklammert und konnte nicht fort, aber es war ja auch bloß ein Spielzeugdrachen, wie hätte er wollen können, wie sich über sich selbst bewußt sein?

Epilog

Mit Lenas Mutter und Ingo lief es wirklich viel besser als erwartet, Ingo versuchte nie, Vaterersatz zu sein, respektierte Lena aber und nahm gleichfalls Anteil an ihrem Leben, zeigte Interesse. Und seine Katze war wirklich ein toller Spielkamerad, den Lena gleich ins Herz schloß. Das Tier hatte zwar nicht so einen kecken Fleck am Kopf wie Mütze, aber hatte sonst auch so seine eigene Art, die man gelten lassen mußte. Lena konnte das und so kamen sie sehr gut miteinander zurecht. Sie wußte, man muß Respekt voreinander haben, wenn man Freundschaft halten will.

Marie saß natürlich noch öfter in ihrer eigenen Weise im Park und so war es gar nicht so schwer für Lena, sie einmal wieder zu sehen.
So machte Lena einmal mit ihrer Mutter samt Ingo einen Ausflug und sie sah Marie von weitem bewegungslos und abwesend sitzen. Hätte sie sie nicht gekannt, sie würde sie sicher für unheimlich gehalten haben, aber so lächelte sie, erinnerte sich und hob von weitem nur so eben die Hand, um zu grüßen.
Marie regte sich ansonsten nicht, bewegte nicht einmal den Kopf in ihre Richtung, aber ihre Hand hob sich kurz von ihrem Platz auf ihrem Oberschenkel zum flüchtigen Gruß zurück und Lena wußte, daß auch Marie sich erinnerte, seufzte und dachte zurück an das finstere Gewitter und wie Marie von Remia erzählt hatte.

Sie schaute, aber heute war ein schöner Tag, es zog sich kein Sturm, kein Gewitter zusammen, es war aber auch gar kein Wind, als daß man Drachen hätte steigenlassen können.
Sie sann nach – und natürlich, es war alles nur ein Märchen, sie hatte ja selbst Einfluß auf die Handlung genommen. Und Marie hatte ihr ja glaubhaft versichert, in den Gewitterwolken geht alles mit rechten Dingen zu, nur komplizierte, aber letztliche profane Physik – tolle Sache an sich, diese Physik.
Diese immerhin schien ihr schon interessant genug zu sein, um in der Schule aufmerksam zuzuhören, als es um diese Physik ging, denn so kompliziert es auch sein mochte, so in der Schule in einfache Aufgaben sowie Geschichten gepackt, war das doch sehr viel beruhigender als die Vorstellung von wilden, finsteren, üblen Drachen, welche die Welt zu verwüsten trachteten, welche Menschen zu vernichten, zu dominieren drohten. Und diese Physik konnte man in der Schule immer wieder nachmessen und prüfen, dies gefiel ihr sehr gut, dieser Umstand erschien ihr sehr beruhigend, prinzipiell war die Welt damit in Ordnung, zwar kompliziert, aber prinzipiell in geordneten Bahnen. Was indes prinzipiell in Ordnung ist, keinerlei Abgründe offenbart, falls man genauer hinschaut, ist eine ziemlich gesunde Basis, um in der Welt zu leben, viel besser als eine Vorstellung mit mächtigen Wesen, welche irgendeine undurchsichtige Kontrolle ausüben.

Vom Bertolt Brecht bekam Lena irgendwann auch etwas in der Schule mit und las auch etwas von ihm. Und es wurde ihr natürlich schnell klar, warum Marie so gelacht hatte, als Lena ihr auftrug, ihm Grüße auszurichten. Doch gleich, als sie den Namen in der Schule wieder hörte, wurde sie aufmerksam und war ganz eifrig bei der Sache. Überhaupt, wenn es da um Erzählungen und Geschichten ging, war sie immer eine der eifrigsten, welche diese stets kritisch analysierte sowie Inhalte, Struktur, Ablauf hinterfragte, um den Autoren ein Stück weit auf die Spur zu kommen, aber ebenso, um die eigene Sicht der Dinge zu finden.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.02.2016

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