Cover

Leseprobe

Metainformationen zum Buch

Tobias fühlt sich mit seinem bisherigen Leben, seiner Künstlerlaufbahn am Ende.
Wie kommt er zu einer Entscheidung und wie frei ist diese?
Er bittet die selbstbewußt sowie dominant auftretende Marie um Hilfe, die stark von ihrer eigenen Vergangenheit geprägt ist. Das Spiel von Dominanz und Unterwerfung nimmt seinen Lauf. In einer Orgie der Zerstörung befreit Marie Tobias in ihrer eigenen Art von seiner Last und schafft Raum für einen Neuanfang.

Einige Charakteristika dieses Buches:

  • Zeichenanzahl: 202540
  • Wortanzahl (Token, Wörter): 29606
  • Wortumfang (Worttypen, verschiedene Wörter): 5957
  • Variabilität (Type-Token-Verhältnis): 0.201
  • Guiraud-Index: 34.6
  • Informationsgehalt (Wortebene): 10.1 Shannon
  • Satzanzahl: 1833
  • Graphiken: 17
  • Alternative Stilvorlagen: 6

Marie: Der Atelierbesuch

Inhaltsverzeichnis

  1. Titelei
    1. Antiporta (Schutztitel; eingebettete Vektorgraphik)
    2. Metainformationen (Impressum, sonstige bibliographische Informationen zum Buch)
    3. Epigraph (Inschrift, Zitate zur Einstimmung auf die Erzählung)
    4. Vorwort
      1. Zum Inhalt
      2. Technisches
  2. Erzählung
    1. Die Bitte
    2. Die Libertines
    3. Unterwegs
    4. Kunst im Atelier
    5. Aufräumen
    6. Nachbesprechung
  3. Buchende
    1. Epilog
    2. Glossar
    3. Titelblatt (Vektorgraphik)

Portraits

  1. Tobias
  2. Marie

Epigraph

Aus dem ‚Jedermann‘ von Hugo Laurenz August Hofmann, Edler von Hofmannsthal

Ich glaube, man sollte überhaupt nur noch solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? […] Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.

Brief an Oskar Pollak, 1904-01-27, in: Franz Kafka: Briefe 1902-1924

Kluge Menschen suchen sich die Erfahrungen selbst aus, die sie zu machen wünschen.

Aldous Huxley

… denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit …

Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795, 2. Brief, Johann Christoph Friedrich von Schiller

Der alte Satz: Aller Anfang ist schwer, gilt nur für Fertigkeiten. In der Kunst ist nichts schwerer als beenden und bedeutet zugleich Vollenden.

Aphorismen, 1911, Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol. Wer unter die Oberfläche dringt, tut es auf eigene Gefahr. Wer dem Symbol nachgeht, tut es auf eigene Gefahr. In Wahrheit spiegelt die Kunst den Betrachter und nicht das Leben.

‚Das Bildnis des Dorian Gray‘, Oscar Wilde

Wilhelm Busch

So lange der Mensch nicht im Höchsten frei, bei sich, selbständig ist, so lange kann er auch in Kunst und Wissenschaft nicht das Höchste erreichen.

Ludwig Feuerbach

Die Kunst fliegt um die Wahrheit, aber mit der entschiedenen Absicht, sich nicht zu verbrennen.

Franz Kafka

Gerades Scheitern steht höher als ein krummer Sieg.

Sophokles

Ernst ist die Kunst und heiter das Leben.

Kurt Schwitters

Vorwort

Zum Inhalt

Diese Erzählung knüpft an Erlebnisse der Autorin Marie an, gleichwohl ist die Angelegenheit nicht so simpel, daß man den Inhalt einfach biographisch verstehen könnte. Marie besteht auf Distanz zwischen ihren eventuellen Erlebnissen und ihrem Hier und Jetzt. Es steht ein Konjunktiv im Raum, das Erlebnis kann nahezu so stattgefunden haben, es kann überdies künstlerisch verdichtet sein.

Marie bewahrt die Distanz gleichfalls, indem sie auf eine Ich-Erzählung verzichtet, der Erzähler bleibt abstrakter, hat Einblick in verschiedene Gedankenwelten, wie sie Marie als Autorin leicht haben mag, Marie als Protagonistin müßte hingegen sehr scharfsinnig sein, um immer zu ahnen, was genau in den Köpfen jener Menschen vorgeht, mit denen sie es zu tun hat – oft ist das zum Zeitpunkt des Erlebens auch von untergeordneter Bedeutung. Marie würde sich dahingehend schriftlich nie so genau festlegen.

Die Namen anderer Beteiligter wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre natürlich verändert.

Das Buch gehört zur Serie ‚Marie‘. Die Bücher dieser Serie können unabhängig voneinander gelesen werden. Zeitlich liegen die Ereignisse von ‚Marie: Der Atelierbesuch‘ einen unbestimmten Zeitraum hinter jenen von ‚Marie: Drachen‘, wobei letztere Erzählung etwas später geschrieben wurde. Chronologisch folgt wiederum mit einem unbestimmten Zeitabstand nach diesem Atelierbesuch ‚Marie: Die Gruft‘, kurz darauf folgt ‚Marie: Der Überfall‘. Ein paar Details in diesem Buch stehen in Zusammenhang mit Vorkommnissen in den anderen, insofern können sich aus den anderen Büchern eventuell ein paar mehr Aspekte erschließen, sofern diese Interesse erwecken sollten.

Technisches

Die skalierbaren Vektor-Graphiken im Buch haben eher dekorativen Charakter, zum einen sind es abstrahierte Portraits der Hauptprotagonisten, zum anderen aber auch digitale abstrakte Kunst, welche wiederum nur auf sehr abstraktem Niveau mit dem etwas sperrigen, scharfen Charakter von Autorin und Hauptprotagonistin verknüpft ist. Natürlich haben die abstrakten und abstrahierten Graphiken unmittelbaren Bezug zum Kunstthema der Anekdote, obgleich die Graphiken von einem anderen Künstler rein digital mit einem Skript erzeugt worden sind, nicht von jenem Künstler, welcher im Text als Tobias bezeichnet wird.
Die komplett abstrakten Bilder sind sternartig mit diskreter Rotationssymmetrie und in den Farben der jeweils gewählten Stilvorlage gehalten.
Es wird davon ausgegangen, daß bei den Vektorgraphiken zu Portraits Vektorisierung sowie Überarbeitung zu einem eigenständigen, nicht abhängigen Werk geführt haben, insofern also Quellenangaben redundant sind.
Es wird somit davon ausgegangen, daß die vektorisierten Werke eigenständig und unabhängig von der ursprünglichen Vorlage sind, weil sie sowohl technisch als auch inhaltlich keinen Bezug mehr zur Vorlage haben, sondern einen komplett neuen sowie assoziativen Bezug zur dieser Erzählung haben, speziell für diesen Kontext kreiert wurden.

Technisch wurden bei diesem EPUB einige Hilfen integriert, um dem Leser besseren Zugang zum Inhalt zu ermöglichen. Es gibt etwa verschiedene Stilvorlagen, zwischen denen gewählt werden kann. Bei einem Darstellungsprogramm, welches EPUB komplett interpretieren kann, wird es eine solche Auswahlmöglichkeit geben. Von daher kann damit leicht zwischen heller Schrift auf dunklem Grund sowie einer dunklen Schrift auf hellem Grund gewechselt werden. Für eigene Einstellungen eignet sich der ebenfalls alternativ verfügbare einfache Stil, welcher lediglich einige Strukturen hervorhebt oder anordnet.

Verfügbare alternative Stilvorlagen:

  • hell auf dunkel: Hellgraue Schrift auf dunkelgrauem Hintergrund, Voreinstellung
  • dunkel auf hell: Dunkelgraue Schrift auf hellgrauem Hintergrund
  • finster: Helle Schrift auf dunklem Hintergrund, farbige Variante
  • vergilbt: Dunkle Schrift auf hellem Hintergrund, farbige Variante
  • Pogo: Stil im blau-violetten Bereich mit Farbverlauf als Hintergrund – wie der Name schon andeutet hinsichtlich des Lesevergnügens etwas aggressiver sowie fordernder
  • einfach: Einfacher Stil ohne Farbangaben, besonders geeignet zur Kombination mit eigenen Vorgaben

Autorin sowie Mitarbeiter dieses Buches haben keinerlei Einfluß auf Mängel, Fehler, Lücken in der Interpretation von EPUB durch das jeweils verwendete Darstellungsprogramm. Bei Darstellungsproblemen sollten diese zunächst analysiert, lokalisiert werden. Dazu kann es unter anderem als erster Schritt helfen, mit verschiedenen Programmen auf Reproduzierbarkeit zu prüfen oder auch mit speziellen Prüfprogrammen zu verifizieren, daß insbesondere im Buch selbst wirklich kein Fehler vorliegt.
Entsprechend wird es anschließend möglich sein, eine zielführende Fehlermeldung korrekt zu adressieren. Die Autorin sowie Mitarbeiter können je nach Fehler durchaus die korrekten Ansprechpartner sein. Bei der Qualität aktueller Darstellungsprogramme können dies jedoch gleichfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit die Entwickler dieser Darstellungsprogramme sein. Entsprechend sind möglichst präzise Angaben zum Problem bei einer Fehlermeldung immer hilfreich.
Generell ist die Fehlerrate bei Darstellungsprogrammen vom Typ Brauser gängiger Anbieter deutlich geringer als bei speziellen Programmen oder Erweiterungen für Brauser zur Interpretation von EPUB. Insofern kann es bei größeren Problemen mit der Darstellung ebenfalls ein Ausweg sein, das EPUB-Archiv zu entpacken (es handelt sich bei EPUB immer um ein Archiv vom Typ ZIP, das Buch alsdann direkt im Brauser zu lesen, wozu zunächst die Datei Inhaltsverzeichnis.xhtml im Verzeichnis Inhalt aufzurufen ist, um einen Einstieg in die Lesereihenfolge sowie einen Überblick über den Inhalt zu bekommen. Über die Verweisfunktion des Verzeichnisses kann anschließend jeweils der gewünschte Inhalt aufgerufen werden. Die Inhaltsseiten haben zudem unten jeweils eine kleines Menü als Hilfe, um zurück zum vorherigen Kapitel zu gelangen, zum Inhaltsverzeichnis oder vor zum nächsten Kapitel, um diese Nutzung als entpacktes Archiv weiter zu vereinfachen.
Diese Nutzung mit entpacktem Archiv kann gleichfalls nützlich sein, um Probleme oder Fehler zu lokalisieren. Bei Einzeldokumenten sind überdies andere Prüfprogramme verwendbar.

Bei automatischen Konversionen dieses Buches im Format EPUB in andere Formate können diverse Mängel auftreten, welche sowohl an Fehlern und Problemen der zu naiv und einfach konzipierten Konversionsprogramme als auch an dem Format liegen können, in welches konvertiert wird. Autorin und Mitarbeiter dieses Buches haben keine Kontrolle über spätere Manipulationen oder Formatkonversionen, haben also keinen Einfluß auf die komplette Verfügbarkeit von Inhalten sowie Hilfen solch manipulierter Versionen. Sie empfehlen daher dringend, das unveränderte Original zu verwenden und sich dieses von einem leistungsfähigen Darstellungsprogramm präsentieren zu lassen.

Manuell ist es recht problemlos möglich, einige Techniken sowie Merkmale des Buches so weit zu vereinfachen, Inhalte anders aufzubereiten, um diese auch in verminderter Qualität in anderen Formaten verfügbar zu machen. Insbesondere bei wohl noch immer recht beliebten proprietären Amazon-Formaten (Mobipocket oder KF8) ist es recht einfach, ein passend vereinfachtes EPUB zu erstellen, aus welchem sich ein lesbares Buch in diesen minderwertigeren Formaten erzeugen läßt, sofern man sich mit EPUB sowie den Möglichkeiten dieser Formate etwas auskennt.

Die Bitte

„Ich wollte eigentlich fragen, ob du mir vielleicht bei einer drängenden Angelegenheit helfen könntest.“, formulierte Tobias unsicher, nachdem er zögerlich zu Marie herangetreten war.

Der philosophische Diskurs war zu Ende und wer Lust und Bedürfnis hatte, war bereits in den ‚Folterkeller‘ aufgebrochen. Marie war noch sitzengeblieben. Sie hatte keine Eile. Sicherlich ging sie die gesamte vorherige Diskussion noch einmal in aller Ruhe durch, wog erneut alle angebotenen Argumente gegeneinander ab, um ihre Schlüsse zu ziehen – vielleicht gar mehr über alle Beteiligten als über diskutierte Themen, wer machte Fortschritte, wer hatte mit neuen Gedanken überraschen können, wer durch eine geschickte Argumentation erfreuen?
Sie saß reglos, wie abwesend, körperlich zwar anwesend, aber sonst kaum präsent, dennoch bekam sie alles mit, konnte bei Bedarf auf äußere Reize oder ebenso direkte Ansprache reagieren.
Tobias hatte dies schon mehrfach erlebt und wußte, man konnte sie ruhig ansprechen, wenn sie so war. Sie hatte mal gesagt, wenn sie nicht über etwas nachdenke, könne sie in diesem kontemplativen Zustand beinahe Nichts sein, wenn sie sich so zurückziehe – und dies schien zumindest für sie ein erstrebenswerter Zustand zu sein, gleichzeitig präsent zu sein und doch beinahe Nichts für sich selbst.
Nun jedoch reagierte sie in aller Ruhe auf die Interaktion von Tobias. Sie bewegte sich nur ganz leicht, zum Zeichen, daß seine Worte mitnichten an ihr vorbeigegangen waren. Sie nahm alsdann langsam ihr Glas vom Tisch, trank zunächst in aller Ruhe ihren Saft aus. Sie drängte nichts so sehr zu den üblichen Spielen, welche gewöhnlich jeden Donnerstag beim Treffen der Libertines* nach dem Diskurs stattfanden.

Selbstbewußt schaute Marie Tobias nun an, wieder gänzlich im Hier und Jetzt, grinste und erwiderte: „Na, willst du nun fragen oder nicht?“
Tobias wurde noch unsicherer.
Bei Marie mußte man vorsichtig sein, sonst konnte das schon einmal schwer vorhersehbare unangenehme Folgen haben, also mehr als die üblichen Spiele drunten in der Folterkammer, Marie konnte wirklich fies werden oder so tun als ob, was für das Opfer auf das gleiche Ergebnis hinauslief, weswegen sie auch von vielen in diesem Kreise respektiert sowie geschätzt wurde. Bei Marie konnte man nie wissen, wann sie noch spielte, wann es indes für das Opfer allmählich ernst wurde. Und doch – sie behielt letztlich immer das Maß, auch wenn sie ihren Opfern bei solchen besonderen Zuwendungen mehr abverlangte, als diese zu ertragen können glaubten. Nachher waren sie schlauer sowie befreit, sehr befreit und bereichert um eine fundamentale Grunderfahrung von tiefer Panik, Furcht, Angst oder Schmerz. Kannte Marie eine Person, ein Opfer etwas, konnte sie in solch besonderen Behandlungen beinahe alles aus ihren Opfern herauskitzeln, wobei es natürlich meist keineswegs beim Kitzeln blieb, es sei denn, dies wäre exakt das, was das Opfer im Kern treffen würde, womit sie in das tiefste Innerste seines Seins vordringen könnte, um es nach außen zu puhlen wie ein faules Geschwür, herauszuquetschen wie ein Furunkel.

Ihr Spitzname, welcher auch schon den Libertines bekannt geworden war, war sicherlich in mancher Hinsicht berechtigt: Marie de Sade. Aber sie meinte dazu ab und an, jene allseits bekannten Ideen des Marquis Donatien Alphonse de Sade* seien ja sehr alt, man müsse weiterdenken sowie diese fortführen, einen eigenen Weg in der heutigen Zeit finden. Würden alle Menschen dem Marquis folgen, dabei hemmungslos sowie skrupellos allen ihren Impulsen folgen, so würde die ganze Welt in Flammen stehen – wenn sie das nicht schon tut durch all jene, welche ohne Selbstkontrolle, aber mit Gewalt gegenüber anderen ihren wirren, irrigen Ideen, Religionen sowie Weltanschauungen folgen.
Einen anderen Teil zum Elend der Welt tragen sicherlich jene bei, welche rücksichtslos nur ihre eigenen Interessen verfolgen, dabei auf ihren eigenen, möglichst maximierten kurzfristigen Profit bedacht sind.

Marie sah Tobias zögern, runzelte schon etwas ärgerlich sowie streng ihre Stirn, als nicht sofort eine Antwort erfolgte. Tobias meinte irgendwie zu spüren, wie sich ihr Blick in seine Augen bohrte und sich irgendetwas, was sich von ihr abgesondert haben mußte, um seinen Hals zu schmiegen schien, um sich langsam zuzuziehen. Da war nicht wirklich etwas, aber sie schaffte es einfach, solch ein Gefühl zu vermitteln. Zwecklos, danach greifen zu wollen, die Inkonsistenz des Gefühls mit dem profanen Befund würde einen nur noch mehr verunsichern. Vielleicht hatte er doch zuviel gewagt, sie so anzusprechen, aber nun war es zu spät. Er war in ihrem Bann, war ihr bereits ausgeliefert.
Tobias versuchte jedenfalls, sicher zu sprechen, zitterte jedoch leicht, als er es endlich wagte, wie gewünscht klarer zu formulieren: „Ich bitte um deine Hilfe.“

Marie nickte, dies war besser, durchdacht gesprochen, dies hatte Tobias gut gemacht, sie nickte ihm daher gütig zu.
Sie machte lediglich eine Andeutung in Richtung der Treppe zum Folterkeller: „Eines der üblichen Spielchen dort?“
Tobias hätte gern zugestimmt und hätte gewiß keineswegs abgelehnt, wenn dies eine Aufforderung und keine Frage gewesen wäre, aber er wußte, Marie bestand auf einer klaren Ansage und neigte nicht zum Implizieren.
So antwortete er, den Blick zu Boden gerichtet: „Was Spezielleres, bei mir im Atelier – eigentlich …“
Er bemerkte sofort seinen Fehler und setzte nach: „Das geht hier nicht, also wenn du mir in der Angelegenheit hilfst, dann geht dies bloß direkt in meinem Atelier.“

Er hatte gerade noch einmal die Kurve gekriegt, deshalb nickte Marie erneut gütig und gnädig, wies ihn an, sich vor ihr auf den Boden zu setzen. Tobias folgte sofort. Marie schaute ihn lediglich auffordernd an.
Tobias legte gleich nach: „Also es ist ja bekannt, daß du es magst, wenn du dein Opfer besonders treffen kannst, eine Phobie ausnutzen, einen Fetisch vernichten, jemanden ins Mark treffen. Unten wäre ja doch bloß eine Verlustigung für nebenbei für dich.“
Dabei wies er wieder in Richtung Folterkammer.
Marie nickte erneut, sagte nur kurz: „Ich höre interessiert zu.“
Tobias fuhr fort „Also es geht darum, in meinen Leben aufzuräumen, ich muß abschließen, um einen neuen Lebensabschnitt beginnen zu können. Es geht also nicht um Sex oder so, ich glaube, wenn du mit mir fertig bist samt meinem Anliegen, würde ich das ohnehin nicht können.“

Marie reagierte darauf mitnichten äußerlich bemerkbar, wollte bloß wissen: „Ist es weit bis zum Atelier?
Ich bin ja mit dem Rad da.“
Tobias schöpfte Hoffnung, diese Nachfrage hörte sich gut an, sie hatte nicht gleich abgelehnt.
Er antwortete hastig: „Nein, ist nicht weit. Ich bin ebenso mit dem Rad da, nur ein paar Kilometer.“
Maries Nachfragen konzentrierten sich auf die Fakten: „Heute Abend oder heute Nacht noch?“
Tobias wagte, den Blick etwas zu heben, unvermeidlich glitt dabei sein Blick über ihre Beine, Schoß, Bauch und Brust, blieb irgendwie an ihren Lippen hängen.
Er präzisierte: „Wenn du das einrichten könntest, wäre das sehr nett.“

Marie dachte einen Moment nach, der Verlauf seines Blickes war ihr nicht entgangen, jedoch auch keineswegs unangenehm. Tobias wäre für sie durchaus prinzipiell in Frage gekommen für ein kleines, unterhaltsames Intermezzo, welches für Tobias zwangsläufig recht fesselnd sowie atemberaubend ablaufen würde, aber sie hatte gerade keinen dringenden Bedarf an solcher Kurzweil. Aktuell stand ihr Sinn mehr nach anderem Zeitvertreib. Sie hatte auf zwei Ausstellungseröffnungen schon Werke von Tobias gesehen, bei dieser Gelegenheit gleichfalls mit ihm darüber ein wenig geplaudert. Tobias hatte einen durchaus relevanten Stil, interessante Werke hatte sie gesehen.
Sein Atelier versprach mehr davon – warum nicht?
Sie hatte Lust auf Kunst.
Meist hatte sie Lust auch auf Kunst.
Sie erwiderte also: „Ich werde unten noch erwartet. Ich respektiere es, wenn man sich die ganze Woche darauf gefreut hat. Aber meine Sitzung unten muß sich heute keineswegs so lang hinziehen, wir können es heute etwas abkürzen. Wir werden uns dann von den anderen zur angemessenen Zeit verabschieden, danach geht es auch schon los.“

Tobias war erleichtert und bedrückt zugleich. Die Sache war offenbar entschieden. Sie würde mitkommen. Indessen blieb sie einstweilen noch ruhig sitzen, offenkundig um den zuvor angefangenen Gedankengang noch zu Ende zu bringen, vermutlich exakt an der Stelle fortfahrend, an welcher Tobias ihren Gedankengang unterbrochen hatte. Deshalb bliebt auch Tobias vor ihr auf dem Boden sitzen, bemühte sich dort seinerseits, über ihre vorherige Diskussion zu reflektieren.
Hatte ihn der philosophische Diskurs überhaupt erst dazu ermuntert, seine Bitte auszusprechen oder hatte er an einer Stelle mit einer Frage die Diskussion in eine Richtung gelenkt, welche ihn darin bestärkt hatte, einen Entschluß zu fassen und sein Problem anzugehen?

Anfangs war es ja wie beinahe immer um tagesaktuelle Dramen gegangen. Schnell bog man dann auf eine etablierte Schiene ein, im Grunde von Marquis Donatien Alphonse François de Sade vorgegeben, von daher ein bereits oft diskutiertes Thema, ob man seinen Neigungen, seinen Impulsen hemmungslos sowie skrupellos folgen solle oder gar müsse und wohin einen diese Strategie oder Lebensphilosophie heute führe.

Hier hatte Tobias angeknüpft und die Frage aufgeworfen, wie man überhaupt zu eigenen Entscheidungen komme, wie es überhaupt mit freien Entscheidungen stehe, wie weit sei man wirklich Herr der eigenen Entscheidungen und wie weit ist all dies durch Gesellschaft oder Konvention vorgegeben?
In wie weit denkt und tut man, was andere wollen, weil bestimmte Akteure unter Verfolgung eigener Interessen einen durch Reklame und Rhetorik manipulieren?

Die wissenschaftliche Erklärung für die Art, wie man zu Entscheidungen kommt, war eigentlich der einzige haltbare Erklärungsversuch, in welchem die Entscheidung ein Prozeß ist, welcher auf gemachten Erfahrungen beruht, auf dem, was in der Vergangenheit durch die Sinne an Information eingegangen ist und sich über die Jahrzehnte zu einer sich ständig ändernden Persönlichkeit kumuliert hat, welche zum Teil natürlich ebenfalls durch Vererbung sowie Genetik bestimmt ist, im hohem Grade jedoch gleichfalls, was aktuelle Entscheidungen betrifft, auf bisherigen Erfahrungen beruht. Regelmäßige Übung kann einen Handlungsablauf gar so weit verinnerlichen, daß das Unterbewußtsein selbständig Entscheidungen trifft sowie viele Dinge des Alltags erledigt, ohne das Bewußtsein damit zu behelligen. Die meisten Entscheidungen werden so ohnehin vom Unterbewußtsein getroffen, noch bevor das bewußte Ich davon etwas mitbekommen hat.
Das Ich rechtfertigt im Bedarfsfalle die darauf resultierende Handlung noch als bewußte, freie Entscheidung und unterfüttert diese gegebenenfalls noch mit mehr oder weniger guten Argumenten. In dieser Sichtweise wird der freie Wille, Entscheidungsfreiheit beinahe zur Illusion, zur Selbsttäuschung des Gehirns, als lediglich ein dramatischer Effekt zur Dekoration von eigentlich automatisch ablaufenden Entscheidungsprozessen, welche durch Selbsttäuschung lediglich so wirken, als gäbe es dabei einen freien Willen. Tatsächlich belegen wissenschaftliche Studien, daß die eigentliche Entscheidung bereits längst gefallen ist, bevor das Bewußtsein dies zur Kenntnis nimmt, vorgibt, selbst entschieden zu haben, bei Bedarf nachträglich ein Entscheidungsgerüst dazu zusammenbastelt. Dieser zeitliche Verzug kann zwischen Sekundenbruchteilen bis hin zu Minuten oder Stunden variieren.

So weit schien die Angelegenheit klar. Aber natürlich kam hier auch wieder schnell die Rede auf den freien Willen sowie das Wesen des Selbst. Dies war ein beliebtes Streitthema, öfter einmal wiederkehrend in der Gruppe, darüber war auch keinerlei Konsens abzusehen.

Und wie immer gab es da einige spirituell oder auch esoterisch geprägte Gemüter, welche immer noch darauf bestanden, daß ihr Selbst, ihre Seele eine eigenständige Existenz friste, also frei in seinen Entscheidungen und Wünschen sei, der Wille sei frei sowie ungebunden, irgendwie eine gesonderte Existenzform jenseits der untersuchbaren Ebene von Raumzeit sowie Energie-Materie-Äquivalenz des Universums.
Das andere Extrem wurde ebenfalls vertreten, die Welt sei deterministisch, es komme alles wie es komme, man habe keine Wahl, nur wisse man dies eben nicht, man habe nur das Gefühl, einen Willen, ein Ich zu haben, zu entscheiden, tatsächlich sei alles bereits festgelegt.
Ein weiterer Standpunkt war der statistische – beinahe alles, schon von der Quantenphysik* her, basiere letztlich auf Zufall. Nichts sei vorherbestimmt und es gäbe deshalb erst recht keinen Platz für einen freien Willen.

Marie liebte natürlich zum einen die differenzierte Analyse von Hypothesen, jedoch gleichfalls die Gegenrede. Zur Hypothese der Esoteriker hatte sie eine recht einfache Logelei auf Lager: Wenn es eine Seele gäbe, welche über das Gehirn an den Körper gekoppelt sei sowie frei darüber entscheide, was dieser tut oder auch nicht, so würde diese Seele ja nachweisbar auf den Körper wirken. Dies aber wäre eine prinzipiell meßbare Kraft oder Wechselwirkung. Damit wäre diese angeblich unabhängige, losgelöste Seele allerdings wieder nachweisbarer Bestandteil des Universums, könne damit über die ausgeübten Wechselwirkungen in das bekannte Kräfteensemble der Physik integriert werden. Weil man in der Physik eine solche aber nicht gefunden hat, ist diese Hypothese zurückzuweisen.
Der Geist, das Ich oder das Selbst sind alles Begriffe für den dynamischen Prozeß im Gehirn, ein Resultat des fortgesetzten Denkens des Gehirns. Ja, das Empfinden eines Ichs mit freiem Willen stellt sich somit als geniale Selbsttäuschung des Gehirns heraus, welches so recht willkürlich das eigene Sein vom Rest der Welt trennt, ein Innen und Außen künstlich erschafft, um in dieser Welt als Persönlichkeit zu existieren. Das Ich erschafft in sich stark vereinfachte Repräsentationen der Außenwelt, Erinnerungen, jedoch genauso Prognosen, wie sich die Außenwelt verhalten wird. In dieser Außenwelt ist zu agieren, um leben zu können. Entscheidungen sind dabei lediglich selbstverständliche, kontinuierliche Abläufe im Gehirn, um auf die Außenwelt zu reagieren.

Materialisten sowie Deterministen fühlten sich dadurch natürlich bestätigt. Marie gab dieser Ansicht gegenüber, den Vertretern dieser Weltanschauung gegenüber jedoch zu bedenken, daß ihre Ansichten ja eigentlich auf einer rein klassischen Sicht der Welt beruht, welche man aus heutiger Sicht unter der Allgemeinen Relativistik fassen kann. Ein Objekt durchquert dabei auf einer eindeutig festgelegten Trajektorie die Raumzeit. Objekte mit Materie sowie Energie krümmen die Raumzeit, während diese wiederum bestimmt, welcher Trajektorie die Objekte eindeutig folgen. Insofern liege prinzipiell seit Anbeginn des Universums fest, wie das Schicksal eines jeden Teilchens, eines jeden Quentchens Raumzeit* bis zum Ende des Universums sein werden.

Natürlich warfen hier gleich die Statistiker ein, daß ja aufgrund der Quantenphysik sehr klar ist, daß es solch eindeutig festgelegte Trajektorien gar nicht geben kann. In jedem Moment sorgt eine Quanteneffekt für eine Verschmierung sowie Vermischung, welche dieses einfache Bild sogleich aufheben. Somit ist es gar nicht möglich, überhaupt eine Trajektorie festzulegen. Selbst wenn man von einer Wellenfunktion ausgeht, so würde ein Objekt auf solch einer Trajektorie ja gleich mit anderen wechselwirken sowie über kurze Zeit beliebig verschmieren.

Natürlich konnte auch hier Marie eine Gegenrede anbringen. Makroskopische Objekte wie Sonnen oder auch nur Planeten, Gesteinsbrocken, ebenso Menschen oder genauso nur Ameisen sind ja nun offensichtlich dermaßen klassische Objekte, daß sie rein gar nicht die Neigung haben, irgendwie zu verschmieren oder als Wellenfunktion bemerkbar zu sein. Diese Objekte setzen sich zwar aus Quantenobjekten zusammen, das Verhalten ist aber natürlich nahezu klassisch, über die Zeiträume betrachtet, die ein menschlicher Verstand als Moment interpretieren kann, über längere Zeiträume erst recht. Insgesamt wird hier das gesamte Objekt mehr als die Summe seiner Teile. Durch die Wechselwirkungen der Quantenobjekte untereinander, die Einbettung ins thermodynamische Wärmebad der Umgebung würden theoretisch gedachte weit oder gar unendlich ausgedehnte Wellenfunktionen auf einen wesentlich kleineren Raumzeitabschnitt lokalisiert, Kohärenzen, Verschränkungen würden praktisch augenblicklich aufgelöst, weil nun die allgegenwärtigen, vielfältigen typische Wechselwirkungen einem Meßprozeß gleichkommen, welcher effektiv zu einer Lokalisierung in bestimmten Zuständen führe. Dies resultiere wiederum faktisch sowie praktisch dazu, daß makroskopische Objekte sich näherungsweise eben klassisch verhalten. Lediglich durch spezielles Können, großen Aufwand, Isolation von Quantenobjekten von äußeren Einflüssen, Wechselwirkungen eines umgebenden Wärmebades sei es doch erst möglich, ausgedehnte Quanteneffekte wie etwa Verschränkungen über größere Distanzen zu beobachten, diese obendrein praktisch zu nutzen.

Wenn das menschliche Gehirn nennenswert durch quantenphysikalischen Zufall bestimmt würde, nicht primär klassisch durch langsame chemische Prozesse von größeren Teilcheensembles im Gehirn sowie zwischen Nerven, so würde es nicht funktionieren. Auch Prozessoren von Computern sind ja keinesfalls zufallsbestimmt, und diese sind von ähnlicher Größe oder kleiner als Zellen im Hirn – und schneller, würden also viel eher Quanteneffekten unterliegen als Prozesse im Gehirn. Ein Computer verhält sich allerdings wie das Gehirn deterministisch, um sinnvoll zu funktionieren. Eine Wirkung wird erzielt durch hinreichend viele Teilchen, welche auf den Weg geschickt werden, so daß dieser Teilchenpuls faktisch klassisch funktioniert. Die Information wird auch wohl durch den Puls übertragen, nicht durch einen bestimmten Quantenzustand der übertragenen Teilchen. Allenfalls bei einer schweren Krankheit könnte der Puls so schwach ausfallen, daß statistische Effekte relevant werden.
Mit ähnlichen Fehlfunktionen des sterbenden Hirns sind somit folglich auch Nahtoderfahrungen komplett erklärbar, entweder das Hirn arbeitet bereits fehlerhaft oder bietet im vermeintlich letzten Moment noch einmal alle Reserven an Vorstellungskraft, Prognose und Modellbildung auf.
Liegt aber ein Defekt vor, eine krankhafte Schwächung des Signals, eine Überlastung oder eine ähnliche Fehlfunktion, funktioniert das Gehirn auch nicht mehr in einer leistungsfähigen Art, die voll dazu befähigen würde, selbständig in der Welt gezielt zu agieren.

Der vorhandene quantenphysikalische Zufall, das Rauschen kommt also bei einem normal funktionierenden Gehirn nicht zum Tragen. Zumal Zufall ja nun auch keine Methode ist, um einen Willen frei zu machen. Der Wille wäre allenfalls zufällig. Daß Entscheidungen zufällig sind, kann man sicher nicht ernsthaft behaupten, wenn man sieht, wie planvoll Menschen im Schnitt bei konkreten Problemen vorgehen können, wie systematisch diese denken, was sie erschaffen können, wenn sie ihr Denken, ihre Überlegungen in die Tat umsetzen und Technik produzieren. Obwohl der Mensch zwangsläufig nur auf einfache Modelle im Kopf zurückgreift, kann er doch bei hinreichend einfachen Sachverhalten gezielt und planvoll vorgehen, sich also auf ein deterministisches Verhalten verlassen.

Nirgends bleibt also ein Platz für freie Entscheidungen, einen freien Willen, gleichzeitig kann man aber ausschließen, daß alles vorbestimmt sein kann, weil ja bekanntlich die Allgemeine Relativistik als klassisches Modell zwangsläufig nur eine Näherung ist, welche die vorhandenen Quanteneffekte gar nicht berücksichtigt. Die Aktionen eines Menschen verlaufen ja auch nicht exakt, sondern resultieren bestenfalls nur in ungefähr erwünschten Ergebnissen. Der denkende sowie handelnde Mensch muß also permanent ausgleichen und korrigieren, um mit seinen einfachen Vorstellungen in einer ihm nicht komplett verständlichen Welt trotzdem gezielt agieren zu können.

Marie stellte es so dar, daß das Gehirn in massiver Wechselwirkung mit der Umwelt steht, ohne diese, ohne die Sinneswahrnehmungen kann das Gehirn nicht existieren. Es sammelt Erfahrungen, worauf dann später Entscheidungen bei neuen Situationen beruhen, welche teils in Sekundenbruchteilen gefällt werden müssen, meist ohne viel Information über den tatsächlichen Sachverhalt, wenn es einen solchen im engeren Sinne überhaupt gibt. Der freie Wille, die freie Entscheidung bleibt also eine Illusion. Alles ist letztlich nur eine Reaktion auf die Umwelt. Auch wenn man die materielle Repräsentation seiner selbst als Aspekt der Umwelt versteht, wird sogar eine mögliche genetische Disposition letztlich zu einem Umwelteinfluß, der zum Ich, zum Selbst beiträgt, sozusagen eine bereits konstruktiv mitgegebene Erfahrung oder Voreinstellung.

Freier Wille hat folglich erst auf einer ganz anderen Interpretationsebene einen nachvollziehbaren Sinn. Dazu wird nicht auf die physikalische, chemische Funktion des Gehirns geguckt. Der Ansatz sei doch viel einfacher. Betrachtet man etwa einen Probanden allein in einem Raum, welcher lediglich eine Tür als Ausgang habe, habe diese Person in einem vereinfachten Experiment die Entscheidung zu treffen, zu bleiben oder zu gehen. Ohne weiteren Einfluß oder Zwang durch andere Notwendigkeiten wie Hunger, Durst, Zuspruch von anderen Menschen betrachtet man die Entscheidung also als frei, ob oder wann diese Person den Raum verlasse. Der freie Wille wird bei der Entscheidung folglich nicht durch andere makroskopisch wirkende Entitäten beeinflußt oder unterdrückt.
Auf dieser Abstraktionsebene ist die Entscheidung der Person in diesem Sinne frei.

Geht man nun tiefer, hängt die Entscheidung jedoch gewiß von verschiedenen prüfbaren Parametern ab, von der individuellen Historie des Probanden. Besteht etwa ein dringendes Bedürfnis eines Toilettenganges, kann allein dies die freie Entscheidung stark beeinflussen, der Zeitraum des Verbleibs im Raum wird sich folglich verkürzen, was in diesem Falle stark vom Verdauungstrakt abhängt, daher wiederum vom Mikrobiom*, der Nahrungsaufnahme in der jüngeren Vergangenheit dieser Testperson.
Entsprechend haben Hunger oder Durst Einfluß auf den Entscheidungsprozeß.
Auch andere Aspekte aus der Vergangenheit der Person haben Einfluß, etwa die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, zur Kontemplation, Meditation, frühere Erfahrungen in geschlossenen Räumen.
Ein weiterer Einflußfaktor sind zudem vorgefaßte oder in der Wartezeit entwickelte Pläne über die Gestaltung der näheren Zukunft.
Wer beispielsweise einen bestimmten Termin hat, Termine einzuhalten pflegt, wird dies bei seiner Entscheidung für den Zeitpunkt des Verlassens des Raumes selbstverständlich berücksichtigen. Entsprechend können Informationen darüber, wann die Tür verschlossen wird, die Atmosphäre des Raumes abgepumpt wird oder der Sauerstoffgehalt unter ein kritisches Niveau fällt, starken Einfluß auf die Entscheidung haben.
Zusatzinformationen, frühere Erlebnisse sowie Pläne haben folglich Einfluß auf die Entscheidung. Weil die Pläne wiederum ebenso auf früheren Erlebnissen, Erfahrungen beruhen, auf Interaktionen mit der Umwelt, wird die Entscheidung mehr oder weniger bestimmt durch die Vergangenheit der Versuchsperson. Eine Person sucht sich wiederum seine Vergangenheit, soziale sowie sonstige Interaktionen mit der Umwelt keineswegs selbstbestimmt aus.

Wo also bleibt der freie Wille bereits auf dieser etwas tieferen Ebene der Betrachtung?
Selbst wenn man all diese Einflüsse als klassisch-deterministisch betrachten würde, wäre die Anzahl der Einflußfaktoren derart umfangreich, daß eine Prognose lediglich bei relativ einfachen Entscheidungen möglich sein wird: Wer etwa schon immer Tee dem Kaffee gegenüber bevorzugt hat, Kaffee gar nicht mag, bei solch einer Person kann man schon eine Prognose wagen, welche Entscheidung getroffen wird, wenn beide Getränke zur Auswahl gestellt werden.
Also weder alles bloßer Quantenzufall noch simpler Determinismus.
Freier Wille ist schlicht eine vereinfachte psychologisch-philosophische Sichtweise, welche das Ich als solitäre Entität in einer Umwelt betrachtet, ohne weiter zu hinterfragen, wie diese Entität oder Persönlichkeit im Inneren funktioniert oder zusammengesetzt ist. Da ist jedoch auch nichts zusätzlich zu dem Kram, welcher der Physik unlängst gut bekannt ist.

Die Spirituellen waren mit all diesen Erklärungen natürlich nicht einverstanden, obwohl sie auch keine interessanten Argumente aufbringen konnten, um die anderen Beteiligten mit ihrer wissenschaftlichen Sicht nennenswert zu überraschen oder gar zu neuen Hypothesen bewegen zu können.

Nicht fehlen durfte hier natürlich, daß Arthur Schopenhauer* ins Spiel gebracht wurde, einschließlich des irrationalen Prinzips. Marie lächelte dazu – sie erinnerte dies an ein Zen-Prinzip, unbequeme Überlegungen, Argumente, Hypothesen und Einwände zu unfragen, also etwas schlicht ungefragt zu machen, etwas als irrelevant nicht einmal zu ignorieren.

Aber auch seine berühmte These: Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will. wurde auf den Tisch gebracht.
Marie begann gleich mit der Gegenrede gegen die erste Behauptung. So brachte sie vor, selbst das wird nicht funktionieren – auch wenn man es will, man kann nicht die Gravitation, die elektromagnetische Wechselwirkung oder die Kernkraft abschaffen. Auch viel praktischere Dinge kann man nicht, selbst wenn man es will, selbst wenn es prinzipiell möglich wäre, so kann man es doch ganz praktisch nicht, etwa persönlich morgen zum Mond oder Mars zu fliegen oder auch nur innerhalb einer Sekunde am anderen Ende der Stadt sein und gleich in der nächsten Sekunde wieder zurück. Wie mächtig der Wille dazu auch ist – man kann es nicht tun.
Das Argument war ein Totschläger in Maries Rede, sie hatte allerdings keine nennenswerten Bedenken wegen Schopenhauers Bedenken hinsichtlich der Möglichkeiten, den eigenen Willen zu steuern, schränkte das allerdings wiederum auf spontane Willensänderungen ein.

Die Diskussion darüber ging noch eine ganze Weile, es war jedoch klar, in dieser Runde jedenfalls war der freie Wille nicht zu retten und man scheute nicht davor zurück, hemmungslos seinen Impulsen freien Lauf zu lassen sowie den freien Willen auf dem Altar der Wissenschaften gnadenlos zu schlachten sowie zu zerfetzen.
Marie warnte aber gleichzeitig davor, die Dinge zu einfach zu sehen: Das Ich, das Selbst ändert sich ständig. Auch die Einstellung, daß alles vorherbestimmt sei, ändere das Verhalten, könne zu Gleichgültigkeit führen, die Erfahrung von Gleichgültigkeit führe somit gerade zu einer Änderung des Verhaltens und sei damit keinerlei Beleg für Vorherbestimmung. Der persönliche Eindruck, Entscheidungen zu treffen sowie einen Willen zu haben, sei ja gerade ein Kennzeichen des Gehirns, seine Fähigkeit, permanent auf die einströmenden Informationen zu reagieren sowie aufgrund von Erfahrungen in der Welt zu agieren, durch neue Erfahrungen auch die Grundlage dessen zu ändern, was die Entscheidungen treffe. Die Wechselwirkungen mit der Umwelt sowie die Fähigkeit, neue Erfahrungen zu machen, schaffe auch die Möglichkeit, neue Entscheidungen zu treffen. Das Ich ist ein dynamischer Prozeß, ständig ändert sich etwas und es ist unmöglich, die Zukunft solch komplexer Systeme deterministisch vorherzusagen.

Tobias selbst hatte sich philosophisch nie so recht entschieden oder festgelegt, er blieb lieber im Ungefähren. Klar für ihn: Was funktioniert und praktisch verwendet wird, also auch technisch genutzt wird, ist offenkundig gut genug verstanden und hat Substanz. Der Rest ist Gegenstand von Philosophie, Konversation sowie Unterhaltung, jedenfalls nichts, wo es sich lohnen würde, sich gegenseitig anzugreifen. Selbst die extremen Individualisten, die die Libertines nun einmal waren, diskutierten indessen friedlich sowie locker mit recht verschiedenen Ansichten und ließen gelten, was nicht geradezu widerlegbar war.

Wie man es auch sah, wie seine Überlegungen sowie seine Entscheidungen auch zustande kamen, er hatte sich letztlich durchgerungen, Marie zu fragen. Allerdings, wenn es keinen freien Willen gibt, war fraglich, wovon sie ihn hätte befreien können, die Freiheit wird zur Illusion, wenn man nicht einfach etwa die Gravitation abschaffen kann, wenn man nicht einfach in fünf Sekunden auf Mond oder Mars sein kann sowie wohlbehalten in zehn Sekunden zurück, Man ist immer eingebettet in die faktischen Zwänge seiner Existenz und durch seine ganz praktischen aktuellen Möglichkeiten.

Tobias war längst recht schwindelig bei all diesen verwirrenden Überlegungen sowie Vorstellungen darüber, was vermutlich war und was vermutlich nicht, und wie die Dinge waren, welche vermutlich waren – und warum auch nicht. Er fühlte sich ganz erleichtert, gelegentlich die Kontrolle abgeben zu können sowie andere die Dinge vorantreiben zu lassen. Marie etwa schien in diesem Irrgarten Realität nicht zu zögern, sie schritt einfach trotz all dem entschlossen voran, wo andere zagten oder zauderten, obwohl dieses Wirrwarr offenbar gänzlich vor ihr lag, in all der Vertracktheit sowie Widersinnigkeit von dem, was sie meinte, was sein konnte und dem, was man persönlich für einen Eindruck davon haben konnte. Sie hatte keine Skrupel, freie Entscheidungen zu treffen, einen Willen zu haben, selbst wenn sie diesen schmunzelnd eine geniale Selbsttäuschung ihres Verstandes nennen mochte. All diese Komplexität, Unbestimmtheit des eigenen Seins störte sie nicht im geringsten, wenn sie durch ihr Leben voranging.

Und so war sie offenbar nach dieser kurzen Pause fertig mit ihren Gedanken und bewegte sich wieder. Tobias war erleichtert, statt weiter still zu denken, gab es nun endlich etwas Aktion. Damit stand ihr Weg auch jetzt ganz klar fest, die Entscheidung war nicht schwer, gleich ob frei oder Selbsttäuschung: Erst einmal hinab in den Folterkeller.

Die Libertines

Schon war Marie aufgestanden, schob den immer noch vor ihr am Boden sitzenden Tobias leicht beiseite, schritt entschlossen in Richtung Folterkeller. Tobias stand eilig auf und folgte. Sie hatte einen bemerkenswert federnden Gang in ihren einfachen, leichten Schuhen. So elegant und geschmeidig schritt sie, da mußte jeder hinsehen, dabei lief einem ein Schauer über den Rücken, wie sie die Treppe Stufe für Stufe geradezu hinabschwebte. In ihrem ganzen Wesen lag etwas gleichzeitig Unnahbares und doch Anziehendes, gleichfalls etwas unabweisbar Unheimliches. Sie hatte diese dunkle, attraktive Art. Wenn man sich Schwarze Löcher im Weltraum anschaulich sowie erotisch vorstellen wollte, etwas wie Marie kam einem dabei automatisch in den Sinn. Kam man zu nah, gab es gewiß kein Zurück mehr und sie verschlang, was sie bekommen konnte, ohne Skrupel oder Zögern, bloß aus einem Impuls heraus, weil sie es konnte, man es unterwürfig geschehen ließ, einfach so, ohne Gegenwehr, ein Prozeß, eine Eigenschaft der Konstellation selbst ähnlich wie das Zusammenwirken von Raumzeit und Materie-Energie im Bereich des Schwarzen Loches.

In der Tat, unten hatten einige bereits mit subtilen Torturen begonnen, das übliche Schauspiel von Dominanz und Unterwerfung hatte angefangen, teils hatte man spezielle Kleidung an, es lagen Stöcke, Gerten, Ruten und Peitschen, allgemein allerlei Schlagzeug bereit oder bereits in den Händen oder auf der Haut kundiger Libertines.
Marie trug wie gewöhnlich normale Kleidung, in ihrem Falle war das immer dunkle, einfarbige Kleidung, wie sie sie auch zum Besuch einer Vorlesung in der Universität trug. Bei ihr war spezielle Kleidung für die Kurzweil hier im Keller gar nicht notwendig. Das machte bei ihr keinen Unterschied, sie wirkte immer auf ihre eigene, spezielle Art.
Einige Opfer waren dekorativ an der Wand oder an Gestellen fixiert sowie exponiert. Man stand breit, sich um diese zu kümmern oder hatte auch bereits damit begonnen, diese Opfer zu unterwerfen und gemäß ihren eigenen Wünschen zu quälen – oder aber auch nach den Einfällen der Person, welche jeweils Hand anlegte. Dabei kam es zunächst auf die Absprache sowie die Kombination an. Es war auch ein gutes Stück sorgsam vorbereitete Inszenierung, wer sich wie um wen kümmerte. Das Spiel der Sadisten mit den Masochisten nahm so seinen Lauf wie jede Woche, doch eben in flexibler Kombination der Protagonisten. Es ging um Dominanz sowie Unterordnung, mitnichten notwendig um Sex, obgleich derlei als Intermezzo oder besondere Behandlung keineswegs verboten war oder auffällig gewesen wäre – man folgte neben der Planung später unterdessen gern den spontanen Impulsen sowie Launen in diesem vertrauten Kreis, dieser geschlossenen Gesellschaft der Libertines.
In der Gruppe gilt die Kontrolle allerdings auch immer allen Personen, so kann mehr oder weniger nebenbei einfach verhindert werden, daß jemand in Allmachtsphantasien abdriftet und in solchem Wahn den Bogen versehentlich überspannt, weil er den Kontakt zur profanen Realität verloren hat. Masochist und Sadist können sich sonst leicht gegenseitig in eine Phantasie hineinsteigern, welche fatale Konsequenzen haben kann.* In der Gruppe ist es leichter, bereits die Anfänge solcher Extreme zu identifizieren, in der Folge die Betroffenen wieder auf den nüchternen Boden der Tatsachen zurückzuführen. Dies ist notwendige soziale Kontrolle, besonders weil diese zwischen den beiden fehlt oder fehlen kann, welche direkt miteinander interagieren.

Befreiung durch Erdulden:
Die Befreiung oder Erlösung tritt meist erst nach der überstandenen intensiven Erfahrung des Schmerzes sowie der Qual ein – für das Opfer ist dies Gesamterlebnis ein Sieg über sich selbst sowie die eigene Schwäche, ein Sieg, weil man überstanden hat, was man sich eigentlich nicht zutraute, daher wird es in spezieller Weise ein Gewinn an Selbstvertrauen durch Unterwerfung.
Wer zudem abgestumpft ist oder wenig empfindlich, vermag in der tiefsten Qual erst überhaupt etwas empfinden, eigene Körperlichkeit erleben, Gefühl sowie Emotion als Bestandteil der eigenen Persönlichkeit dulden oder gar genießen, darin schwelgen. Schmerz wird dadurch zu einer Droge – oder die körpereigenen Drogen führen zum Rausch.
Ähnlich wie man sich nicht selbst kitzeln kann, kann der Masochist sich auch nur bedingt selbst quälen. Er braucht die Unterordnung, die Hingabe an die dominante Person, um sich selbst ganz aufgeben zu können, um den eigenen Willen ganz aufgeben zu können, um Grenzen zu überschreiten, sich in diesem Sinne von der Beschränktheit der eigenen Persönlichkeit ein Stück weit befreien zu können.

Befreiung durch Dominanz:
Das ist das Gefühl, die komplette Kontrolle über jemanden zu haben, Macht über Leben sowie Lust zu erlangen, sich anzueignen, Verfügungsgewalt auszuüben. Die Lust an der Peinigung eines anderen kann je nach Charakter bereits erreicht werden, indem der Wunsch des Opfers erfüllt wird. So wird die dominante Person im Grunde zum Diener der gequälten Person. Der Reiz ist ungleich höher, wenn ohne Absprache eine neue Pein, eine Überraschung dem Opfer ein neues Erlebnis bietet, welches erduldet werden muß.
Ein anderer Charakter liegt vor, wenn die dominante Person sich daran ergötzt, wie das Opfer unter Qualen und Schmerzen winselt sowie bettelt, die dominante Person wird zum Gott des Opfers und bestimmt über den Verlauf weiterer Interaktionen, Beherrschungen, Züchtigungen, Demütigungen, Unterwerfungen.
Die Intensität der Qual des Opfers kann obendrein eine Möglichkeit sein, überhaupt etwas zu empfinden, etwas wie Mitleid oder Empathie für das Opfer – oder aber auch Schadenfreude über dessen Qual.
Subtil wird es, wenn man ein Opfer derart präpariert, daß es sich automatisch selbst straft, wenn es ein Verhalten an den Tag legt, welches als unangemessen bewertet wird. Reizvoll ist dabei wiederum eine Rückkopplungsschleife, etwa wenn eine Person in Unruhe oder gar Panik über die eigene Präparation gerät, diese Unruhe oder Panik die Präparation sowie Einschränkung automatisch noch weiter verstärkt, was dem Opfer durchaus bewußt sein kann, wobei indes die eingesetzte Panik keine freie Entscheidung läßt, diese weitere Verschärfung bewußt zu vermeiden, selbst wenn dies längst gewünscht ist.
Die dominante Person führt dann nur noch in diese Situation und erfreut sich daran, wie das Opfer sich selbst in der Situation in peinliche Schwierigkeiten bringt – oder die dominante Person provoziert auch, damit das Opfer durch die eigene Reaktion in peinliche Schwierigkeiten gerät.

Das gemeinsame Streben:
Den Neigungen eine Bühne bieten, ihnen ein Stück weit freien Lauf lassen, um diese wiederum später im grauen Alltag im Zaum halten zu können. Wenigstens für ein paar Stunden ausbrechen aus dem Käfig des ‚Normalen‘, ein paar Stunden man selbst sein und nicht mit dem Strom schwimmen müssen.
Aber man will ebenso die soziale Kontrolle der Gruppe über das Verhalten, auch um sicherzustellen, daß es nach überstandener Sitzung überhaupt wieder zurück in den profanen, ‚normalen‘ Alltag gehen kann. Teils mag auch die soziale Anerkennung in der Gruppe für eigenes Dulden oder peinigendes Wirken ebenso eine starke Motivation sein, seine Neigungen auszuleben.

Marie bewegte sich zielstrebig gleich auf einen harten Stuhl ähnlich einem Thronsessel zu. Im Vorübergehen nahm sie eine recht bescheiden wirkende Knute von der Wand, zog damit zur Probe einmal kräftig über ihre andere Hand, war offensichtlich zufrieden mit der Wirkung. Der Thronsessel machte keinen bequemen Eindruck, aber so wie Marie sich setzte, sah es aus, als wolle sie den Stuhl an Härte noch überbieten, ja es wirkte, als könne man eigentlich den Stuhl entfernen, so hart, unumstößlich sowie majestätisch saß sie. Marie ruhte so sehr in sich selbst, daß der Thronsessel mehr dekoratives Mobiliar unter ihr war, als wirklich auf eine Funktion zu insistieren.

Mit einer leichten Geste mit der Knute in der Hand wies sie Tobias seinen Platz ein Stück neben dem Stuhl zu, sprach lediglich nebenher ohne große Fokussierung ihrer Aufmerksamkeit: „Steh!“
Tobias nahm gehorsam den zugewiesenen Platz ein, versuchte daraufhin bewegungslos zu erstarren. Er konnte das natürlich nicht so wie Marie, einfach beinahe innerlich zu Nichts zu werden, aber er hatte schon gelernt und riß sich zusammen. Sie erleichterte ihn so um die Last, selbst agieren zu müssen. Sie entschied, er stand, eine Weile befreit von der Last der freien Entscheidungen, welche wie diskutiert, fragwürdig waren, aber dennoch erdrückend in der subjektiven Wahrnehmung. Stehen ist zwar in dieser Hinsicht ein gutes Gefühl, körperlich jedoch mitnichten wirklich einfach. Jedenfalls nicht über längere Zeit.
Aber es gab Schlimmeres:
Marie hatte einmal zwei Leuten hier gezeigt, wie man kniet. Sie knieten sich also gemeinsam hin und hielten aus, einfach so, ohne weitere Aktivität oder Bewegung. Marie kniete noch, ohne auch nur zu zucken, ganz in sich gekehrt oder ins beinahe Nichts zurückgezogen, als die anderen schon längst zitternd zusammengebrochen waren oder ohnmächtig sowie gedemütigt lagen. Irgendwann im Laufe jener Nacht, nach mehreren Stunden Knien hatte sie sich letztendlich wieder geregt, war einfach so mit einen einzigen Schwung, ohne Hilfe sowie überdies ohne jegliches Zittern aufgestanden, schaute die anderen am Boden liegenden Mitstreiter an, meinte endlich recht ungerührt, sie hätten doch abgemacht zu knien, nicht faul herumzuliegen. Sie bezeichnete jene Aufgeber fröhlich als Hobby-Katholiken, lachte noch, wo andere schon keine Tränen mehr zum Weinen hatten.

Mit dem Stehen kam Tobias zurecht, hoffentlich nicht mehr als eine Stunde, dachte er, und hoffentlich hatte er etwas Ablenkung, denn er jedenfalls konnte keinesfalls einfach beinahe Nichts sein. Das war vermutlich der Haken, warum er dulden mußte, wo Marie nicht einmal gezuckt hätte. Immerhin, sie hatte ein gewisses Verständnis dafür, daß andere sich nicht so in sich zurückziehen können, eine Kenntnis, welche allerdings nichtsdestotrotz keinesfalls immer vorteilhaft für ein Opfer war.

Thomas trat wie gewöhnlich mit einer Schale mit warmem Wasser heran, kniete zu Maries Füßen, zog ihr die flachen Schuhe sowie ihre Socken aus, badete ihre Füße in der Schale, wusch diese zärtlich, unterwürfig sowie respektvoll. Bernd kam mit einer kleineren Schale heran, kniete ebenfalls und begann hingebungsvoll, Maries großzügig gewährte Hände zu waschen sowie zu maniküren. Thomas hatte entsprechend mit der Pediküre begonnen. Marie saß gerade und beobachtete nur leicht den Raum sowie das muntere Treiben der Libertines. Eine Weile beobachtete sie nur still, ließ Thomas und Bernd gewähren, Tobias stehen. Offenbar war einstweilen alles ihren Erwartungen entsprechend.
Dann weckten offenkundig Laute eines fixierten Opfers ihre Aufmerksamkeit, sie schaute und lauschte genauer.
Kurz darauf sprach sie nur laut vernehmlich: „Paul, ich denke, wenn unser Gast den Abend überstehen soll, solltest du etwas innehalten sowie ihn verschnaufen lassen, ihm etwas Milderung verschaffen.“
Paul schaute von seinem Opfer auf und zu Marie, ließ von seinem Opfer ab, ging etwas zu Seite, griff zu einer Dose, auf dem Weg zurück zu seinem Opfer öffnete er diese und verstrich dann eine offensichtlich Linderung verschaffende Salbe auf den Peitschenspuren auf dem Po seines Opfers.
Er wandte sich diesem zu: „Besser?“
Sein Opfer nickte lediglich erleichtert einerseits zu Paul, andererseits kurz zu Marie.

Marie hatte irgendwann einmal kritisiert, wie lächerlich es doch sei, daß ein Opfer durch nur die Aussprache eines Schlüsselwortes die ganze Macht an sich ziehen könne, gleichsam die Rollen vertauschend den vorherigen Sadisten dominierend. Bloß mit einem Wort konnte es so dessen Macht brechen. Marie kritisierte, das habe doch wohl nur noch wenig mit Sadismus zu tun, wenn dieser in dieser Weise praktiziert werde.
Was wären das für jämmerliche Meister, armselige Schweine, welche auf das Wort eines Opfers hin einfach ihre Neigung aufgeben würden?
Man versuchte es ohne und es stellte sich heraus, daß Sadisten oder Leute mit wechselnden Rollen sich meist gut in ihr Opfer einfühlen konnten, sie wußten, wann Grenzen erreicht waren, wann überschritten und wann es letztlich wirklich genug war. Diese waren eigentlich mehr den Opfern oder Masochisten zu Diensten und erfreuten sich daran, wenn sie mit ihrem Tun den Masochisten zum Vergnügen gereichen konnten.

Marie gehörte zu einer anderen Kategorie, sie kannte Schmerz sowie Qual gut aus der Kindheit. Ihre Neigung war sowohl geerbt als auch anerzogen. Sie genoß diese Qual, den Schmerz, am meisten jene Panik eines Opfers, sie genoß Dominanz sowie Macht über das Opfer. Dies ging auch nur, weil sie nachvollziehen konnte, was dem Opfer geschah, weil sie die Zeichen des Opfers verstand, diese einzuordnen wußte. Sie schwelgte in der zappelnden Pein und besonders, wenn ein Opfer in Panik verfallen alles selbst noch viel schlimmer machte, als es jemals hätte sein können, wenn es in Ruhe sowie Kontemplation still geduldet hätte. Wenn Opfer sich nach anfänglicher Präparation selbst immer tiefer in die Bredouille reiten, ist dies ein besonders genüßlicher Anblick, ein Quell der Freude. Die anfängliche Präparation bestimmt dabei lediglich ein Stück weit die Choreographie des aufgeführten Schauspiels, im Grunde kann sich das Publikum jedoch an der Improvisation des Opfers als Protagonist der Aufführung erfreuen, sich an der Eskalation der Situation erfreuen. Einmal in seine Rolle hineinversetzt, darin gefesselt, kann sich das Opfer fürderhin dieser auferlegten Rolle nicht mehr durch Flucht oder Protest entziehen, das Opfer muß dulden bis zur Erlösung, wie immer diese auch erfolgen mag – zumeist zwangsläufig durch komplette Unterwerfung mit folgender Gewährung einer Entfesselung durch die Meisterin der Szenerie.

Aber es gibt auch etwas psychopathische Sadisten, welche sich niemals ins Opfer einfühlen können, welche einfach nur die Macht genießen sowie die Lust an Qual sowie Dominanz. Bei diesen muß immer jemand ein Auge drauf haben und einen Hinweis geben, wann es wirklich genug ist. Paul war einer von diesem Typ, respektierte jedoch Maries Hinweise sehr sorgfältig und gewissenhaft, um in der Gemeinschaft Stabilität sowie Rückhalt zu finden, statt allein abzugleiten. Hier bot man solchen Menschen ein geeignetes Umfeld, um Neigungen zu folgen und doch keine Probleme zu bekommen. Die Opfer wiederum hatten die Vorteile, einerseits wirklich jemandem ausgeliefert zu sein, welcher einem damit nicht nur einen netten Gefallen tat, andererseits konnten diese sicher sein, daß alles wenigstens in einem gewissen Rahmen blieb und darauf geachtet wurde, daß alle Libertines samt Gästen solch eine Sitzung wieder selbständig sowie aus eigener Kraft verlassen konnten. Vielfach sollten zu allem Überfluß keine bleibenden Spuren verbleiben, um später in der Öffentlichkeit die Neigung zur Lust an der Qual kaschieren, vertuschen zu können, somit eine Exponierung eigener Neigung zu vermeiden. Solcherlei Persönliches bietet doch bloß unnötige Angriffsflächen für unangemessene Attacken zur falschen Zeit. Ein paar der Anwesenden leiteten Abteilungen oder ganze Unternehmen mit einigen Mitarbeitern, deshalb wäre es kontraproduktiv gewesen, wenn sich in dieser Belegschaft herumgesprochen hätte, daß man diese Person hier wöchentlich zur Schnecke machte – oder vielleicht schlimmer noch, welche sadistischen Neigungen sowie psychopathischen Aspekte der Persönlichkeit diese Person vor anderen verbarg.

Der Gast, eine Frau im Übrigen, hatte sich etwas erholt und Paul fuhr erst einmal mit einem harmloseren Spiel fort, nahm eine Kerze, ließ davon etwas Wachs auf die Haut seines Opfers tropfen, welches erwartungsgemäß, jedoch nicht übermäßig reagierte. Dies ließ sich indes leicht mit mehr Wachs steigern – oder es ließ sich etwa auch mit Eis oder überraschendem Eiswasser oder Brennesseln ein Kontrast setzen. Später konnte man dann wieder zu etwas härteren Marterwerkzeugen übergehen, Klemmen sowie Klammern oder auch spezielle Sporenräder. Marie war offenkundig zufrieden, wandte sich wieder mehr der ihr zugedachten Pflege zu.

Thomas war offensichtlich etwas übermütig geworden, hatte im Eifer der Leidenschaft seinen eigentlichen Fetischbereich verlassen und begonnen, das eine Hosenbein der schon mit Bedacht nicht besonders weit gewählten Jeans von Marie hochzuschieben und ihre Wade zu waschen sowie zu umschmeicheln.
Marie zog nur mäßig interessiert mit der Knute über seine Schulter und sprach: „Na!
Hoch genug!“
Thomas gehorchte und spielte einstweilen wieder mit ihren Füßen. Derweil begutachtete Marie Bernds Werk an jener Hand, welche nicht die Knute hielt. Er war offensichtlich fertig und versuchte es keck mit einem Handkuß. Marie entzog ihm einfach sowie ohne Eile die Hand, noch bevor er mit der Zunge schlabbern konnte, legte die Knute in diese, bot Bernd ihre andere zur Pflege dar, so daß dieser um den Stuhl sowie um den davor knienden Thomas sprang, um auf der anderen Seite niederzuknien und sein Werk an der anderen, nun dargebotenen Hand fortzusetzen. Derweil hatte Thomas ihre Ablenkung genutzt und sich langsam an Maries anderem Bein zur Wade hochgearbeitet.
Marie schüttelte ihn lediglich sanft mit dem Bein ab, gab ihm noch einen Klaps mit der Knute auf die andere Schulter: „Hoch genug! Abtrocknen!“
Thomas gehorchte, wechselte Schale gegen Handtuch, wandte sich anschließend der Pflege der Fußnägel zu.

Nun ließ sie beide eine Weile gewähren, bis Bernd sich vorsichtig, jedoch zufrieden räusperte, um ein wenig ihrer Aufmerksamkeit auf sein Werk zu lenken.
Marie schaute sein Werk an, war offenbar zufrieden, denn sie sprach: „Gut.“
Bernd stand in einer Mischung von Stolz sowie Enttäuschung über das Ende der Behandlung auf, nahm seine Sachen und zog sich rückwärts gehend zurück. Thomas ließ sich gern mehr Zeit, war allerdings gleichfalls eine Weile später praktisch fertig, drückte dann beherzt seine Lippen erst auf einen Fußrücken, danach auf den anderen.
Marie drückte ihn einfach mit ihrer Knute ein wenig weg, schaute auf sein Ergebnis, meinte dazu, diese Pflegemaßnahme gnadenlos abschließend: „Gut, wieder anziehen.“
Thomas folgte ihrer Aufforderung, zog ihr die Socken wieder an, anschließend ebenso ihre Schuhe, wobei er seufzte, Marie indes nahm dabei keine Rücksicht, stellte endlich einfach einen Fuß auf seine Schulter und drückte ihn weg: „Fertig!
Steh!“
Gehorsam stand Thomas auf, stellte sich auf der anderen Seite des Stuhls ungefähr so wie Tobias auf.

Marie beobachtete noch etwas, was alles vor sich ging, nickte irgendwann, stand auf, rief nach Lotte. Als diese da war, wandte Marie sich an Thomas sowie Lotte: „Ich werde gleich mit Tobias verschwinden. Ihr beide müßt jetzt ein Auge darauf haben, daß nichts aus dem Ruder läuft.“
Thomas nickte gehorsam. Er war flexibel, wechselte zwischen devot und dominant, konnte diese Aufgabe gut übernehmen. Lotte war eigentlich immer devot und hatte Probleme damit, einem dominanten Sadisten notfalls in den Arm zu fallen, diese Rolle füllte sie nicht so ideal aus, doch wagte sie nicht zu widersprechen. Sie hatte allerdings von Marie gelernt, wenn ihr diese Rolle zuerkannt war, reichte ein leiser Kommentar, eine Geste, eine vorsichtige Berührung des Arms eines Peinigers, um dieses auferlegte Amt zu erfüllen. Derlei wurde bedingungslos akzeptiert, nachdem die Rollen klar zugewiesen worden waren. Natürlich konnte sie sehr genau spüren, was vorging, und wann genug war, von daher schon war sie die ideale Person, diesen Zeitpunkt festzustellen.
So mußte sie sich fügen und nickte ebenfalls, nahm diese Aufgabe an, was blieb ihr übrig?

Marie wandte sich an alle: „Ich verabschiede mich schon für heute. Tobias hat mich zu einer speziellen Sitzung in sein Atelier geladen. Thomas und Lotte achten darauf, daß hier nichts schiefgeht.“
Alle respektierten die Einteilung, welche damit offiziell verkündet sowie verbindlich festgelegt worden war. Einige der Masochisten oder Opfer nickten Tobias anerkennend zu, andere hatten sich vielleicht erhofft, daß sich Marie im Laufe des Abends auch ihnen einmal widmen würde und waren entsprechend etwas enttäuscht, hielten sich allerdings zurück.
Wer würde es unter diesen wagen, Forderungen gegen explizite Ankündigungen zu stellen?
Marie gab die Knute wie ein Zepter an Lotte weiter, welche dieses Gerät etwas befremdet und hilflos in Händen hielt, denn sie würde es nicht benutzen wollen, vermutlich nicht einmal, um damit jemanden anzustupsen. Aber es war ja nur ein skurriles Symbol der Machtübergabe, wobei Marie nicht eigentlich eine besondere, formal festgelegte Machtposition unter den Libertines hatte, sondern lediglich allgemein schon aufgrund ihrer Persönlichkeit sowie wegen ihres Auftretens respektiert wurde. Niemand hätte jemals ernsthaft mit ihr Händel anfangen mögen, lediglich der verbale Diskurs in der philosophischen Diskussion war als Streit ein Genuß, bei dem etwas andere Regeln galten.

Sie war schnell ein wichtiger Teil der Gemeinschaft geworden, weil sie in einer Weise dachte und agierte, welche die anderen beeindruckte, obwohl es sich besonders bei den Sadisten um arge Individualisten handelte, welche nichts und niemanden einfach so neben sich gelten ließen. In der Gemeinschaft der Libertines arrangierte man sich miteinander, nebeneinander, denn es war schlicht nützlich, nicht allein, sondern zusammen zu organisieren, um in der Gesellschaft der ‚Normalen‘ unbehelligt bestehen zu können sowie den eigenen Neigungen unauffällig folgen zu können.
Jedenfalls wurden Marie und Tobias nun verabschiedet und stiegen wieder hinauf. Tobias mußte sich noch eilig umziehen, wozu bei Marie keinerlei Anlaß oder Notwendigkeit bestand. Anschließend gingen beide hinaus aus dem Gebäude zu ihren Rädern.

Unterwegs

Tobias kannte den Weg, mußte also eigentlich voraus, aber dies ging nicht recht mit Marie, so fuhren sie auf ihren Rädern nebeneinander und er hatte rechtzeitig anzusagen, wann beide wie abbiegen mußten. Tobias wußte nicht so richtig, ob er erleichtert darüber sein sollte, daß Marie wirklich auf seine Einladung eingegangen war oder ob nicht schon tief in ihm irgendwo die Panik hochzusteigen begann in Gedanken an das, was passieren würde, wenn Marie wirklich tat, worum er sie bitten würde. Sie hatte bislang nicht einmal gefragt, so sicher war sie, daß sie alles Erforderliche tun konnte.

Marie hatte nie Zweifel oder zögerte, jedenfalls zeigte sie derlei nicht und wenn sie aus welchen Gründen auch immer einen Moment verharrte, wirkte dies eher als kunstvolle Pause, um im Opfer dem Grauen mehr Raum und Zeit zu geben, um sich zu verbreiten. Gern ließ sie dem Opfer dafür Raum und Zeit, hatte es jedoch gut im Gefühl, eine derartige Pause rechtzeitig zu beenden, noch bevor der Spannungsbogen nicht mehr zu halten drohte.

Marie konnte in der Öffentlichkeit wie etwa bei Vernissagen, wo Tobias das schon selbst gesehen hatte, ganz harmlos sowie freundlich lächeln und harmlose Konversation betreiben. Sie spielte sich mitnichten in der Vordergrund, stellte sich keineswegs in den Mittelpunkt, wirkte einfach durch ihre Präsenz. Man nahm sie vielleicht zunächst nur als erotisch oder selbstbewußt wahr. Gleichzeitig war praktisch instantan eine gefühlte Aura um sie, selbstverständlich mitnichten wirklich real, stattdessen breitete sich diese automatisch als Vorstellung im eigenen Hirn aus, als sei etwas von ihr eingedrungen und würde dort munter umrühren, um Verwirrung, Verunsicherung zu stiften. Wenn es erforderlich war, war sie folglich von einem Augenblick zu anderen von eiskalter Ausstrahlung und man wußte genau, daß sie zu allem fähig war, ohne auch nur zu zögern oder Hemmungen oder Skrupel zu haben. Sie kannte obendrein alle Tricks, konnte sich sehr schnell sowie flexibel bewegen, konnte aggressiv und brutal sein, wenn sie wollte oder von anderen durch Angriff dazu gedrängt wurde. Einmal abgesehen von Argumentation in einer Diskussion wäre es eine dumme Idee, Marie angreifen zu wollen. Wer jene Gefährlichkeit oder Bedrohlichkeit in ihrer persönlichen Präsenz übersah oder diese gar provozieren wollte, was ein dummer Mensch.

Tobias wagte hinsichtlich des philosophischen Diskurses nachzuhaken: „In der Diskussion war ja auch die Rede davon, daß Vererbung, Genetik bei der Ausbildung eines Charakters eine Rolle spielen, nicht nur gesammelte persönliche Erfahrungen, kannst du dazu mehr sagen?“
Marie lächelte: „Derlei hättest du doch gleich in der Diskussion fragen können?
Vom folgenden Diskurs hätten alle etwas haben können …“
Tobias antwortete: „Oh, so mitten in der Diskussion ist mir das gar nicht in den Sinn gekommen. Erst danach, als wir noch still saßen, habe ich noch einmal drüber nachgedacht und habe mich gefragt, wie es darum steht. Mein Vater ist stark dominant, meine Mutter nicht, ich ebenfalls nicht, wir weichen eher aus, bleiben passiv und bemühen uns, mit dieser Strategie Ärger zu vermeiden. Jedenfalls kann ich sagen, ich wurde von ihm eher für solche Unterordnung belohnt sowie für Widerspruch bestraft. In meinem Verhalten komme ich nicht nach ihm, bei meiner Mutter ist das auch nicht so stark ausgeprägt. Das Verhalten, meine Entscheidungen scheinen also eher durch Erziehung geprägt zu sein.“

Marie meinte dazu: „Ja, diese Zusammenhänge sind bei Einzelpersonen gewiß kaum sauber aufzudröseln. Derlei ist folglich kaum eindeutig zu klären. Um es noch komplizierter zu machen: Umwelteinflüsse können wohl gleichfalls Spuren in den Genen hinterlassen, Entscheidungen, Schicksalsschläge, Lebensweise, besonders Traumata, Notsituationen können also wohl sogar Einfluß darauf haben, was man seinen Nachfahren vererbt. In extremen Situationen können genetische Schalter umgelegt werden, was sich erst wieder im Laufe der nächsten Generationen unter besseren Bedingungen entspannen mag, damit jene Schalter zurückklappen, dadurch der nächsten Generation ein weniger gestreßtes Leben ermöglichen.
Trotz dieser Einflüsse aus dem Erbgut bleibt doch das Erleben des eigenen Lebens zentrale Quelle für Erfahrungen, Entscheidungen. Dabei hat man wenigstens jenseits der Kindheit oftmals vielfältige Möglichkeiten, deutlich Einfluß darauf, was man wie erlebt oder mit wem. Auch von daher sollte man nicht einfach aufgeben und alles als gegeben ansehen. Natürlich hat man auf das eigene Verhalten Einfluß und in engen Grenzen sogar darauf, was man dann vielleicht einmal vererbt. Ganz sicher hat allerdings Wirkung, wie man mit seinen Kindern umgeht, diese erzieht, welchen Traumata man diese aussetzt, welch schöne Erlebnisse man bieten kann, also im Guten wie im Schlechten. Das Recht auch unqualifizierter Menschen, eigene Kinder zu erziehen, kann also auf Kosten eben dieser Kinder gehen, es wäre aber auch naiv, einfach zu sagen, was nicht ungefähr der ‚Norm‘ entspricht, habe prinzipiell kein Recht darauf, eigene Kinder großzuziehen.
Eine Vielfalt an unterschiedlichen Einflüssen unter gegenseitiger sozialer Kontrolle ist vermutlich ideal für das Kind, denn so hat es mehr Möglichkeiten, selbst zu wählen und hat eher gute Chancen, als schlecht empfundenen Einflüssen auszuweichen. Eine Isolation, eine Vortäuschung der Existenz einer naiven Wahrheit, eines geschlossenen Weltbildes mit ultimativen Autoritäten ist also sicherlich schlechte Erziehung. Das Kind wird psychisch deformiert und wird so leicht wieder als Erwachsener Täter gegenüber eigenen Kindern sowie Schutzbefohlenen. Ein solches Erbe von verbohrten, ideologischen oder soziopathischen Eltern wiegt schwer im Charakter betroffener Kinder.

Wenn ich mich als Beispiel nehme, so weiß ich leider nicht viel über meine Mutter, diese ist bei meiner Geburt gestorben. Ich bin dann also bei ihm aufgewachsen. Und er war ein psychopathischer Sadist. Es gibt wohl gute Indizien dafür, daß diese Eigenschaften vererbbar sind, keineswegs lediglich etwa durch Erziehung aufprägbar. Bei mir hat wohl beides stattgefunden. Allerdings hat er mich mit seinen abstrusen Regeln gleichfalls dazu gebracht, mich sehr konzentrieren zu können, mich selbst zu beherrschen. Es gab kein Spielzeug in dem Sinne. Nach der Schule hatte ich gerade an meinem Tisch zu sitzen, meine Aufgaben zu machen, zu lernen, zu lesen. Selten war Musik erlaubt. Und nur, wenn er mich etwas lehren wollte oder benutzen, mißbrauchen, gab es mehr Aktivität. Ich mußte mir immer alles merken, gelegentlich wurde danach gefragt. Ansonsten saß oder stand ich konzentriert, hatte deshalb viel Gelegenheit, über viele Dinge nachzudenken oder mich auch auf beinahe nichts zu reduzieren, beinahe nicht mehr zu sein. Neben der Schule war dieser Effekt für sich genommen gut, viel besser, als bei ihm zu sein.
Ich denke mitnichten, daß es seine Absicht war, aber er hat mir damit ein Mittel an die Hand gegeben, über mich selbst intensiv zu reflektieren sowie in gewissem Umfange zu kontrollieren, was in mir ist.
Meine Überlebensstrategie in der Kindheit war auch nicht ausweichen oder Mitleid einfordern, derlei Anzeichen von Schwäche hätten im Gegenteil bloß ärgeres Leid nach sich gezogen – um Gnade bitten, Angst haben, Schwäche zeigen, weinen – alles Fehler, aus denen er sein Vergnügen zog, mir daraufhin bloß noch ärger zusetzte, also verbannte ich diese Strategien aus meinem Denken.
Ich habe überdies schnell herausgefunden, daß es erstrebenswerter ist, für kleine Vergehen bestraft zu werden, als ihn nach einem Vorwand suchen zu lassen. Im schlimmsten Falle forderte er von mir, mich an meine Mutter zu erinnern sowie zu erzählen. Ich zermarterte mir mein Hirn, konnte mich allerdings nicht erinnern, was grausame Strafen nach sich zog. Erst nach seinem Tod habe ich erfahren, daß meine Mutter bei meiner Geburt gestorben war.
Ich mußte kreativ sein, strategisch denken, schon als Kind, um wenigstens halbwegs davonzukommen.
Es galt abzuschätzen, wann man dulden mußte, wann ausweichen, wann sich wehren. Heute würde ich sagen, es ist eine Frage der Optimierung oder Schadensminimierung. Derlei mußte ich schnell lernen als Kind.
Ihm gegenüber war sich wehren für mich eine schlechte Idee, anderen Kindern gegenüber, selbst bei den meisten Erwachsenen hingegen eigentlich durchgehend eine gute Idee, denn er hat mich einige Dinge gelehrt, welche mich überlegen gemacht haben, auch weil ich keine Hemmungen oder Skrupel hatte, nie zögerte zu handeln, wenn andere Kinder in der Schule überzogen und mich angriffen. Das taten dann nur wenige – und die auch lediglich einmal – und ich hatte weitgehend meine Ruhe. Die meisten Erwachsenen ließen sich ebenfalls im Grunde leicht verunsichern oder irritieren, was sich ebenso nutzen ließ, deshalb war keineswegs zwangsläufig körperliche Überlegenheit notwendig, entschlossen sowie überraschend agieren, hat häufig viel gebracht, um leben zu können. Ich hatte gelernt, meine Chancen möglichst gut zu nutzen.

Man hat wohl auch festgestellt, daß Psychopathen mit dieser Gen-Disposition im Gehirn charakteristische Aktivitäten aufweisen. Ähnliche Aktivitäten sowie Gen-Dispositionen hat man allerdings ebenso bei sehr netten Zeitgenossen gefunden, welche einfach jeden sehr nett behandeln, unabhängig von Freundschaft oder Verwandtschaft. Diese Weiche zwischen dem einen und dem anderen wird wohl in der Kindheit gestellt, wenn man solch eine genetische Disposition hat. Bei guten Voraussetzungen wird man ein altruistischer, netter Mensch, bei schlechten eben Psychopath.

Ich merke natürlich bei mir, daß die geerbten sowie aufgeprägten Neigungen vorhanden sind, aber ich weiß gleichfalls, ich habe einen Verstand, einen eigenen Willen, um diese Phänomene oder Merkmale unter Kontrolle zu halten. Solange mich niemand angreift oder so provoziert, daß ich die Kontrolle verliere, habe ich wohl alles im Griff, aber dieses Monster braucht auch gelegentlich sein Futter, deshalb schaue ich im Bedarfsfalls eben, wie sich etwas arrangieren läßt, ohne Unbeteiligte damit zu behelligen. Dies war ein schwieriger Lernprozeß in meiner Jugend, aber mittlerweile funktioniert meine Selbstkontrolle gut. Es kommt bei mir darauf an, meine Impulse zu kanalisieren, bewußt einzuordnen, einerseits gelten zu lassen, andererseits aber auch, darüber zu reflektieren, statt unüberlegt zu handeln sowie wahllos Unheil zu stiften. Impulse müssen auch mitnichten immer zu Unheil führen, wenn man ihnen folgt, davon bin ich überzeugt. Es kommt eben gleichfalls darauf an, was für Impulse dies sind, die einen kann man verstärken, die anderen eher einer kontemplativen Meditation unterordnen und zwar respektieren, um diese dann doch tief im Gehirn zu bergen sowie zu kontrollieren.

Es ist also längst nicht alles vorbestimmt und unabänderlich. Man hat einen Verstand, um trotzdem etwas Neues, darüber Hinausgehendes hinzubekommen. Es ist folglich sehr wichtig, diese Chance auch wirklich zu nutzen, um etwas im eigenen Sein umzubiegen, was sonst leicht aus dem Ruder laufen würde. Zunächst wird man die neuen Werte nur intellektuell vertreten können, es kann wohl lange dauern, bis man sie verinnerlicht und damit alte Erfahrungen verdrängt. Es braucht Zeit und Arbeit, um von selbst jemand anderes zu werden. Doch ich bin überzeugt, es ist möglich, sonst wäre ich verloren.

Auch was dich anbelangt – natürlich kannst du dich lösen, von deiner Vergangenheit befreien, aber auch eine solche Befreiung braucht selbstverständlich seine Zeit und Arbeit. Was du im Verstand begriffen hast, das kann mit der Zeit durch Anwendung verdrängen, was du an bisherigen Erfahrungen gemacht hast, aber diese dominieren zunächst, daher sind die neuen Überzeugungen, die neue Selbständigkeit zunächst nur intellektuell, nicht intuitiv.
Wir haben immer noch einen guten Teil unseres Schicksals selbst in der Hand, ein guter weiterer Teil wird durch andere beeinflußt, ein Rest hängt sicher indessen gleichfalls an genetischen Dispositionen, welche es einem erschweren oder erleichtern zu sein, wie man sein will. Mittel- bis langfristig kann man also schon gewissen Einfluß darauf nehmen, wer man ist, wie andere das auch können, nicht alles ist möglich, aber Schopenhauer hat auch übertrieben mit der Behauptung, daß man gar keinen Einfluß darauf hat, was man will, dies gilt lediglich kurzfristig. Weil man steuert, welche Erfahrungen man macht, auf wessen Ideen man hört, sich auf diese einläßt, kann man für die eigene Zukunft natürlich schon Effekte erzielen, sollte allerdings auch keine Wunder erwarten.“

Tobias seufzte und nickte, also sicherlich nicht so einfach, sein Leben von Jetzt auf Gleich spontan zu ändern, ein komplett anderer zu werden, sein Weg würde schwer werden. Aber was konnte er tun, auf demselben Weg konnte er nicht bleiben.
Zu Marie jedoch meinte er: „Hat man deine Gene oder dein Gehirn untersucht, ob du das wirklich geerbt hast und dein Gehirn so funktioniert?“
Marie schüttelte den Kopf: „Nein, das hat man bisher nicht, auch bei ihm hat man das nie getan. Ein Merkmal ist aber bei mir schon auffallend, ein recht niedriger Puls und den treibt auch nichts so schnell hoch. Ein niedriger Ruhepuls und eine geringe Steigerung in kritischen Situationen ist wohl statistisch charakteristisch für diesen Typ von Mensch.
Ein anderes Indiz ist die Sache mit der Empathie. Zwar weiß ich vom Verstand her, was ein Opfer erdulden muß, aber ein regelrechtes Mitleid ist nur sehr schwach ausgeprägt.
Entsprechend gibt es auch keine Hemmung, etwas zu tun, jedenfalls keine emotionale. Es gibt immer nur eine sachliche Erwägung, was eine Aktion einbringt an Vorzügen oder Problemen. Auch die soziale Erwägung findet intellektuell statt, wenn ich einordne, ob eine Aktion angemessen sowie sozial akzeptabel ist. Ich habe intellektuell ein Bild davon, was einerseits wohl gerecht ist, andererseits aber auch im jeweiligen Kontext als normal gilt oder erwartet wird. Dieses gedankliche Austarieren beziehe ich mit ein, wenn ich erwäge, wie ich agiere oder reagiere. Derlei Abwägung passiert jedenfalls, wenn Zeit genug bleibt, um intellektuell abzuwägen. Wehe dem, der mich angreift und mir nicht die notwendige Zeit läßt. Dann dominiert eindeutig die Wahrung meiner kurzfristigen Interessen und es dominieren meine Überlebensinstinkte – dies geht wiederum für einen Angreifer höchstwahrscheinlich eher schlecht aus. So oder so muß dieser wenigstens mit erheblichen eigenen Schäden rechnen.

Interessant dabei ist aber auch, daß ich bei den Sitzungen der Libertines schon sehr genau mitbekomme, wann ein Opfer wirklich genug hat, aber ich leide in dem Sinne nicht mit, ich erkenne das Niveau des Leidens eher intellektuell an Reaktionen sowie der Art der Aktivitäten, von daher ist es dort auch sehr wichtig, daß Opfer nicht versuchen, Helden zu spielen und Reaktionen zu verbergen, solcherlei Bemühungen um eigenes Heldentum können dann sehr gefährlich werden, dadurch wird kaum noch jemand einschätzen können, wie die aktuelle Situation ist; vielleicht noch Personen wie Lotte haben da eine Chance. Oder man muß die betroffene Person schon sehr genau kennen und Erfahrung haben, wann diese Person zumacht und wie dies mit dem inneren Zustand korreliert ist.

Andererseits sind psychopathische Frauen statistisch eine Rarität, was dafür spricht, daß bei mir eher eine Prägung vorliegen könnte, keine massiv veränderten Aktivitäten im Gehirn.
Oder hat sich mein Gehirn, mein Sein in meiner Kindheit vielleicht lediglich angepaßt, um zu überleben?
Simuliert es nur, um immer noch bei ihm um Sympathie zu ringen?
Wie du dich offenbar nur schwer von deiner Kindheit lösen kannst, so mag es auch bei mir sein, wobei ich meine, ich habe mich davon schon ein gutes Stück entfernt und lerne ständig. Zweifellos aber ist irgendwas von dieser Art in mir, etwas, was ich in meiner Kindheit lernen mußte, um zu überleben, auch das ist ein Teil von mir, welcher nicht mehr auszuradieren ist. Der Einfluß der Erziehung in der Kindheit ist nicht eindeutig, aber sicherlich massiv vorhanden. Die Anschauungen der Eltern und Erzieher prägen so oder so das Bild von der Welt des Kindes stark. Dieses kann durch eigene Erkenntnisse sowie Erfahrungen natürlich davon abweichen, aber was einmal im Hirn verankert ist, braucht enormen Aufwand, um sich davon wieder zu befreien, wenn es sich als falsch oder unsinnig erweist.

Nun, wir strampeln uns ab, um anders zu sein, als wir vielleicht sind, aber die einzige Gewißheit dabei bleibt, daß wir gar nicht so viel verstehen, uns nur irgendwie durchwursteln und den am wenigsten schlechten Weg nehmen oder erst zu ebnen oder zu erschaffen suchen. Wir sind immer auf irgendeinem Weg unterwegs, den wir teils selbst erst erfinden und uns mühsam bauen. Schon bei Franz Kafka findet man ja sinngemäß die Aussage, daß er das Gefühl habe, daß er eigentlich fast alles neu erschaffen müsse, bevor er aus dem Haus gehen könne. Nichts ist selbstverständlich oder gegeben. Alles ist in gewissem Grade neu, weil man sich nicht darauf verlassen kann, was allgemein so geglaubt, gesagt und geschrieben wird.
Alles ist zu hinterfragen, alles letztlich unsicher und Gegenstand eigener Bewertung sowie Beurteilung. Unsere Informationen darüber, wohin es eigentlich geht, wohin wir wollen oder sollten, sind doch sehr begrenzt!“

Tobias konnte das so weit nachvollziehen. Auch schon, weil sie gerade auf den Rädern saßen und sich abstrampelten, zu einem Ziel, was ihm einerseits so erstrebenswert schien, andererseits hatte er aber auch Furcht, an diesem Ziel anzukommen, ungewiß war sein Weg danach, den er sich sicher erst bahnen mußte.
Daher gab er als Antwort: „Diesen Gedanken kann ich wohl so weit nachvollziehen. Was das für mich und meine Situation, meinen Charakter bedeutet, ist indes keineswegs ganz so klar. Ich denke, ich habe nicht diese Kraft, diese Voraussetzung, mit viel Selbstvertrauen sowie stark aufzutreten, um mich auf diesem Weg abzulösen. Offenkundig bin ich eher der Typ des sensiblen, introvertierten Künstlers, habe Hemmungen und Skrupel, mich gegen andere durchzusetzen, meinen Weg entschlossen zu bahnen, auch wenn andere im Wege stehen mögen. Mag sein, daß ich das, wie du meinst, langfristig etwas ändern kann, nur offenbar nicht hier und jetzt. Daher bin ich sehr froh, daß du mitgekommen bist und mir helfen magst.“

Marie erwiderte: „Mangelnde Impulskontrolle sowie rücksichtsloses Durchsetzen eigener Interessen sind sozial so erstrebenswerte Eigenschaften nicht, wenn dir solcherlei Charakterzüge nicht naheliegen, bleibt dir auch einiges erspart.“
Tobias nickte, offenbar blickte Marie gar nicht einmal so sehr auf ihn herab, sah durchaus Vorteile oder Erstrebenswertes in seinem Charakter. Offenkundig sah sie in ihm nicht den letzten Dreck, den Fußabtreter, den Netten, mit dem man alles machen durfte oder auch nur sollte.

Marie hakte nach: „Wenn die heutige Aktion für dich persönlich werden soll, sollte ich dann nicht wissen, was dich wirklich trifft?
Erzählst du mir etwas darüber?“
Tobias hatte mehr Zutrauen gefaßt, wagte es jetzt, eigene Vorstellungen zu formulieren: „Diese Information herauszurücken, wird kein Problem sein, ich erkläre dann alles im Atelier, so ist es einfacher. Jetzt muß ich erst einmal mit der in mir aufkommenden Panik klarkommen, wenn du erlaubst.“
Marie meinte dazu in einem etwas belustigten, provozierenden Ton: „Kein Problem. Jetzt schon Panik?“
Tobias fühlte gleich wieder, wie es nagte, wagte nicht einmal, sie anzusehen, ergänzte lediglich: „Weil ich weiß, wie ich leiden werde und welches Vergnügen du dabei haben kannst. Aber es muß passieren, ohne deine Hilfe schaffe ich es nicht.“
Marie lachte nun mit einem etwas ironischen Nachhall: „Hört sich vielversprechend an. Ich hätte nicht gedacht, daß du so gut für mich vorausplanst, mich so gut einschätzen kannst.
Das ist schon etwas keck, oder?“
Tobias schluckte, er hatte wohl etwas zuviel gesprochen, war zu vertraulich geworden durch Maries Ausführungen über sich selbst, er biß sich auf seine Lippen, er wußte, es kam ihm nicht zu, über sie ihr gegenüber zu spekulieren.
Sie würde nicht direkt darauf eingehen, aber es würde sie reizen, ihn mehr zu quälen, als er meinte, aushalten zu können, mit zusätzlichen Worten vielleicht nur, die ihn treffen würden, nicht einmal aus Revanche, einfach weil es ihm nicht zukam, sich über sie zu äußern.
So gab er nur kurz und unterwürfig „Ja, Entschuldigung!“ von sich und wußte auch schon gleich wieder, diese Äußerung war gleichfalls ungeschickt.
Denn sogleich erhob Marie Einspruch: „Entschuldigen solltest du dich bei mir nicht, dies ist alberner Kinderkram, du machst dich lächerlich.
Prinzipiell kannst du natürlich selbst auf dir lastende Schuld von dir nehmen, wer sollte sie sonst letztendlich abstreifen?
Dies bedarf dann allerdings keiner Bitte an andere.
Alternativ, sollte dir wirklich daran liegen, daß andere ein Fehlerverhalten von dir verzeihen, so kannst du dich selbst niemals entschuldigen, dich also von dieser Schuld befreien, dies würde der anderen Seite vorbehalten bleiben, welche zudem im Zuge der Entschuldung oder Entschuldigung Gegenleistung fordern könnte – was entweder zu erneut entwürdigenden Verhandlungen führen würde oder jedoch zu kompletter Unterwerfung deinerseits – will alles gut überlegt sein … die Floskel wird also spätestens dann heikel, wenn die Adressaten ernsthaft hinterfragen, wie ernst es dir damit ist.“
Natürlich wußte er das nur zu gut, bei allen anderen käme eine solche Floskel als ritualisierte Redewendung gut an, aber jeder wußte, bei ihr nicht. Sie war in dieser Hinsicht anders. Was anderen Sadisten gefallen mochte, blieb bei ihr oft ohne Wirkung oder sie reagierte darauf nur, um zu zeigen, daß sie auch, trotz allem oder gerade wegen der Situation das Opfer respektierte, indem sie konsequent jeden Versuch ablehnte, sich bei ihr einzuschmeicheln.

Nach einiger Fahrtzeit waren sie endlich am Ziel – alte, stillgelegte Lager- oder Fabrikhallen, Tobias erklärte, daß hier die Miete günstig sei, daher gut als Atelier finanzierbar. Nachdem ihre Räder gesichert waren, gingen beide hinauf. Einige Einrichtungen hier waren offensichtlich nur mal so eben improvisiert worden, um die Ateliers nutzbar zu machen. Davon gab es in dem Gebäude mehrere, die untere Etage wurde wohl noch als Lager verwendet.

Kunst im Atelier

Tobias machte Licht in seinem Atelier, Marie schaute sich daraufhin um. Aktuell schien nichts wirklich in Arbeit zu sein, aber einige fertige Werke waren abgestellt oder einsortiert, wenige Gemälde sowie Zeichnungen auch aufgehängt oder nur an die Wand geheftet oder auch in Stapeln angelehnt. Es gab gleichfalls einige Skulpturen in Holz und Stein, Collagen und Ensembles aus gemischten Materialien. Für eine klare Linie, einen eigenen Stil hatte sich Tobias offenbar bislang nicht entschieden. Marie meinte, auf einer früheren Ausstellungen, einen erkannt zu haben, hier im Atelier wiederum mußte sie erkennen, daß Tobias anläßlich der Ausstellung lediglich geschickt zusammengestellt hatte. Nun ist es keineswegs schlecht, flexibel zu sein, viele Fertigkeiten zu haben, allerhand gekonnt umsetzen zu können. Auch dies beeindruckt, kann die Kunstszene samt Kritikern, Mäzenen* jedoch gerade zu Beginn einer Künstlerlaufbahn stark verunsichern, weil nicht klar ist, worauf sich diese Leute einlassen.
Die verschiedenen Techniken und Materialien, die ebenfalls teils sichtbaren Werkzeuge zeigten Marie allerdings deutlich, daß er ein breit angelegtes Wissen hatte. Wenige Werke kannte sie bereits aus den Vernissagen. Darunter zwei kleinere Steinskulpturen, welche sie gleich wiedererkannte und etwas erstaunt war, denn sie hätte vermutet, daß diese bereits jemand gekauft hätte – dem war offensichtlich keineswegs so.

Nach Maries Einschätzung hatte Tobias es technisch-handwerklich auf jeden Fall drauf, aber es mangelte ihm an Selbstdarstellung sowie Selbstbewußtsein, um sich wirklich zu etablieren, etwas in der Kunstszene loszumachen, um breitere Aufmerksamkeit sowie Interesse zu wecken. Er verharrte nicht nur im Ungefähren, er vermochte dies überdies nicht so recht zu verbergen. Bei seinen schwächeren Werken war auch dies klar zu erkennen. Die stärkeren hingegen zeigten, in seiner stillen, eher introvertierten Art steckten sehr wertvolle Potentiale, die es wert gewesen wären, eine Chance zu bekommen, eine Chance durch mehr Aufmerksamkeit und Präsenz in der Kunstszene der Stadt oder gar dem Land. Aber Tobias hatte zu viele Hemmungen, um sich in Seilschaften einzuklinken, solche alsdann zu nutzen, hatte zu viel mit sich selbst zu tun, um den ganzen Klüngel mitzumachen, welcher wohl irgendwie wichtig war, um in der Kunstszene eine wirklich wichtige Rolle zu spielen, sich zu etablieren und eventuell auch erfolgreich zu sein sowie zu bleiben. Tobias war kein idealer Selbstdarsteller, wie ein Künstler es wohl sein sollte, welcher berühmt und bekannt werden wollte. Heute ist Künstler längst ein Totalkunstwerk aus absonderten Werken sowie Auftritten, welche sogleich zu einem Spektakel, einer Schau werden müssen. Timm Ulrichs bezeichnet sich zum Beispiel selbst als Totalkünstler, welcher auch den eigenen Körper, sowie seine späteren Überresten nach dem Tod in sein Kunstkonzept mit einbezieht.* Bescheidene Zurückhaltung, Normalität, Unauffälligkeit ist dabei völlig fehl am Platze.
Tobias hoffte offensichtlich, mit seinen Werken zu wirken, aber das weiß man, diese Hoffnung ist oftmals eine nackte Illusion. Unabhängig von der Qualität des Werkes ist natürlich ordentliche Schaumschlägerei sowie Reklame immer nützlich, um wahrgenommen zu werden und den eigenen Werken eine Chance zu geben.
Nicht umsonst werden vielfach selbst Genies erst Jahrzehnte nach ihrem Wirken gewürdigt, wobei man davon ausgehen kann, daß auch dies bloß jenen widerfährt, von denen überhaupt irgendwann Notiz genommen wird.
Wieviele Genies beenden ihre Kreativität aus Not noch vor den großen Würfen?
Wievielen gelingen ihre große Taten, der Rest der Welt, die große Horde indes zieht ohne Notiz davon weiter ihren Weg, trampelt weiter alles platt, läßt jene zurück, welche lieber eigene, neue Wege gehen möchten?
Ähnlich wie bei einem Eisberg kann man vermuten, daß der größere Teil der Genies unsichtbar und verborgen bleibt. Und wer kein Talent zum Schaumschläger, Selbstdarsteller hat, wer nicht rhetorisch gut drauf ist, manipulativ ist, der hat bei diesem Gesellschaftsspiel um Beachtung oder gar Würdigung noch viel schlechtere Chancen. Das ist ein Verlust. Dieser Verlust trifft sogar mehr die Gemeinschaft als den Künstler selbst. Besonders die versäumten, übersehenen Genies könnten eine Gemeinschaft, eine Gesellschaft um Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte in Wissen, Kultur und Zivilisation nach vorne bringen, wenn ihr Wirken Einfluß nähme.

Marie stöberte weiter herum, zog einige Zeichnungen und Gemälde aus dem Regal. Weil Tobias sah, daß sie erst einmal Interesse hatte, etwas von seinen Werken zu sehen, war er darüber natürlich sehr erfreut. So erläuterte er zunächst einmal seine Werke, geleitete Marie von Werk zu Werk, ohne auf den eigentlichen Anlaß einzugehen. Einiges gefiel Marie wohl ganz gut, beziehungsweise zog ihr Interesse auf sich, beide plauderten daher ein wenig darüber.

Dann zog sie eine Zeichnung hervor, Tobias wollte sie schon etwas verlegen hindern, erst jetzt war ihm eingefallen, was hier mehr als peinlich werden konnte, wagte jedoch nicht, sie zu hindern – wie hätte er?
Marie rollte diese Zeichnung auf, sah drauf, analysierte sorgsam, was sie sah, fragte etwas erstaunt: „Soll ich das etwa sein?“
Tobias fuhr erschrocken zusammen, sie hatte es erkannt, obwohl es durchaus verfremdet, leicht abstrahiert war.
Er nickte verlegen mit gesenktem Kopf: „Äh ja, nur so eine Studie …“ versuchte er zu beschwichtigen.
Marie sah ihn streng an: „Ich habe nie Modell gesessen …“
Tobias versuchte zu erklären: „Bei den Libertines habe ich dich doch häufig gesehen, auf den Vernissagen, bei einigen anderen Veranstaltungen, das reichte für ein grobes Bild, zudem …“ dabei wies er nur so gerade eben auf einen Photoapparat auf einem Tisch.
Marie nickte, allerdings gar nicht verständnisvoll: „Gibt es nicht so etwas wie das Recht am eigenen Bild?
Hättest du mich nicht fragen sollen?
Ich korrigiere: Du hättest mich natürlich fragen müssen!“
Tobias nickte nur so gerade eben, überlegte fieberhaft, was tun, sie hatte natürlich Recht, auf jeden Fall hätte er sie fragen müssen, es jedenfalls nicht verschweigen, aber er hatte es ebenso natürlich gar nicht erst gewagt, sie zu fragen. Entschuldigen hätte jetzt nichts gebracht, hätte es bei Marie sogar nur noch ärger gemacht, deshalb stand er lediglich ratlos ohne Erwiderung.
Marie fuhr indessen fort: „Gut, dann bist du sicherlich einverstanden, wenn ich diese Zeichnung konfisziere?
Oder lieber vernichten?“
Sie hielt ihm die Zeichnung hin, als Angebot, daß er es gleich vernichten könne. Tobias schluckte, damit traf sie von selbst im Grunde den Kern der Angelegenheit.
Vernichten.
Zernichten.
Dies hier alles zu Ende bringen, praktisch ein Storno seines bisherigen erwachsenen Lebens.
Er antwortete leicht stotternd: „Wenn du es magst, behalte es nur, sonst eben weg, nur weg!
Du warst nur als Motiv zu faszinierend, als daß ich hätte widerstehen können. Das war keineswegs als Provokation oder mutwillige Übertretung der Grenzen zu deiner Privatsphäre gemeint. Sozusagen bin ich einmal einfach meinen Impulsen gefolgt, als Künstler.“
Marie kniff mißtrauisch ihre Augen zusammen: „Gut, ich behalte diese Zeichnung.
Hast du so eine Papprolle für den Transport für mich?“
Dabei wies sie bereits auf einige im Regal, welche leer aussahen und wenigstens für eine Zeichnung auf recht dünnem, flexiblem Papier geeignet erschienen.
Tobias eilte, fischte eine passende heraus, half ihr sofort einpacken, stellte ihr die Rolle im Anschluß neben die Tür.

Für Marie schien damit die Angelegenheit erledigt zu sein, so traute Tobias sich eine Nachfrage zu: „Wie ist das eigentlich ganz formal mit dem Recht am eigenen Bild.
Kennst du dich da genau aus?
Gilt das wirklich allgemein oder nicht eigentlich erst bei einer Veröffentlichung?
Steht das nicht auch im Konflikt mit der Meinungsfreiheit sowie der Kunstfreiheit?“
Marie nahm diese Frage keineswegs als Kritik oder Widerspruch, sie nickte einfach und erwiderte: „Eigentlich solltest doch du dich als Künstler auskennen. Was mir dazu einfällt: Da hast du wohl Recht, die Lage ist diffus sowie uneindeutig, unterschiedliche Rechte sind gegeneinander abzuwägen. Generell betrifft dies Recht am eigenen Bild nicht nur die Veröffentlichung selbst, sondern allgemein die Verwendung des Bildes. Ohne Erlaubnis veröffentlichen ist ziemlich eindeutig ganz schlecht. Das gilt insbesondere, wenn die Bilder im privaten Umfeld entstanden sind. Bei öffentlichen Auftritten hingegen, besonders bei Prominenz oder bei einem Bericht über die Veranstaltung ist eine Nachfrage nicht notwendig. Bei nicht prominenten Personen auf mehr oder weniger öffentlichen Versammlungen, etwa auf einer Vernissage, wäre der Zusammenhang mit dem Ereignis wohl relevant. Dein Werk zeigt keinen solchen Zusammenhang, weder zu einer von mir besuchten Vernissage noch zu einem privaten Umfeld, also einem unserer Treffen der Libertines.
Du könntest natürlich argumentieren, daß dein Gemälde einem höheren Interesse der Kunst dient, dann ist es erlaubt und du bekommst es zurück!
Wie immer bei rechtlichen Themen, Recht bekommt oft, wer die geschicktesten Argumente formulieren kann, wer rhetorisch die Oberhand behält, gewiß ein wunder Punkt einer Justiz, welche eigentlich ohne Ansehen der Person oder der finanziellen Möglichkeiten dieser agieren sollte. Praktisch ist dieses Ideal ziemlich abwegig, wenn man sich geschickte Rhetoriker als Anwälte zulegen kann, um die eigene Interpretation oder Abwägung von Gesetzen durchzudrücken.“
Marie schaute Tobias dabei an, dieser schaute zurück, meinte dazu:„Einerseits will ich das höhere Interesse der Kunst mal keineswegs bestreiten, andererseits gehört es nun dir und dabei bleibt es.“
Marie nickte zufrieden.

Marie schaute sich weiter um, zornig wegen des Bildes war sie offenkundig mitnichten, jedenfalls gab es dafür keinerlei sichtbaren Anzeichen. Sicher konnte sich Tobias nicht sein. Marie war eigentlich in dem Sinne von undurchschaubarer Art. Bei Bedarf konnte sie ihre Emotion komplett verbergen oder eine komplett andere vortäuschen, alles lediglich ein Spiel mit Masken. Sie verhielt sich zwar recht geradlinig sowie schnörkellos, aber gerade dieses Verhalten verriet gerade sehr wenig über jene Gedanken in ihrem Kopf, über welche man von außen nicht einmal mutmaßen konnte. In ihrem Kopf schien irgendwo ein unendlicher Abgrund zu sein. Darin gab es also viel Raum für Gedanken, welche sie nie nach außen dringen ließ.

Marie dachte sich eher nur: ‚Schau an, als Künstler kann er seinen Impulsen folgen, sich trauen, Grenzen überschreiten, zuckt sonst aber gleich zurück. Auf eine kleine Provokation hin hat er gleich das Bild rausgerückt, welches gut gemacht ist. Man erkennt irgendwie, daß er sich dabei richtig ins Zeug gelegt hat, in der Darstellung gut Aspekte getroffen hat, welche auch nach außen so wirken sollen. Das Motiv hat er zweifellos recht genau so getroffen, wie es erscheinen will.‘

Marie hakte nach: „Wie ist das Bild von mir eigentlich entstanden, wirklich aufgrund eines Photos etwa von einer Vernissage oder unabhängig davon?“
Tobias antwortete: „Auf den Vernissagen habe ich Photos gemacht, gleichfalls von dir, das ist bei einer öffentlichen Veranstaltung wohl eindeutig in Ordnung und diese Photos sind nicht veröffentlicht und haben überdies Bezug zur Vernissage. Dies Bild ist allerdings nicht direkt nach einer Vorlage entstanden, sondern jene Photos haben allenfalls mal als Hilfe gedient. Ich zeichne oder Male also frei und selbst, ich male keine Vorlagen ab.“
Marie nickte, ergänzte: „Relevant ist im diskutierten Zusammenhang ja auch, ob es bei dem Abstraktionsgrad überhaupt ein Bildnis von mir ist, denn dafür muß ich für andere Personen als ich erkennbar sein.“

Tobias meinte dazu: „Immerhin hast du dich selbst ohne weiteren Hinweis erkannt, wer dich kennt, mag dich auf dem Werk also gleichfalls wiedererkennen.
Von daher können wir wohl davon ausgehen, daß es ein Bildnis von dir ist, meinst du nicht?“
Marie war sich nicht so sicher: „Wenn du als Titel etwa meinen Namen oder Spitznamen dazuschreibst, gilt das auf jeden Fall, sonst vielleicht, aufgrund der Abstraktion jedoch keineswegs notwendig, dabei gibt es einen weiten Spielraum. Kunst ist eben Kunst, eine Zeichnung kein naturgetreues Photo. In dieser Hinsicht bin ich mir gar nicht sicher, wie weit das Recht am eigenen Bild gehen kann. Denn wenn ich irgendein Kunstwerk – zum Beispiel die Mona Lisa – bloß als mein Abbild interpretieren würde, kann daraus ja unmöglich resultieren, daß dies Recht allein aus meiner persönlichen Empfindung heraus zur Wirkung kommt …“
Tobias wendete ein: „Naja, der Künstler ist lange verstorben, bevor er dich überhaupt hätte kennenlernen können, jenes berühmte Gemälde kann also kein Portrait von dir sein …“
Marie lächelte: „Reinkarnation oder solch ein esoterisches Geschwurbel …
Wir könnten ja auch irgendein Werk zum Beispiel von Jeff Koons* nehmen, Michael Jackson* mit dem Affen etwa – wenn ich nun glauben würde, jener Affe sei ein Bild von mir als Kleinkind vielleicht – kommt dabei bereits das Recht am eigenen Bild zum Zuge?“
Tobias grübelte: „Naja, eigentlich nicht, niemand außer dir würde vermutlich sagen, daß jener Schimpanse dich irgendwie realistisch repräsentiert, insofern ist jener Affe unverdächtig, unschuldig, selbst, wenn du persönlich so empfinden solltest …“
Marie hob den Finger: „Aha!
Wo ziehen wir da die Grenze?
Wieder bloß durch geschickte Rhetorik vor Gericht?
Wenn in einer Befragung einer repräsentativen, hinreichend große Gruppe signifikant eine Übereinstimmung festgestellt wird?
Dann wiederum wäre es ja gar nicht mehr mein Recht am eigenen Bild, es wäre eher ein Plebiszit darüber, was ein Bild von mir ist.
Meine Schlußfolgerung: Bei einem Photo ist eine Zuordnung noch plausibel. Ist hingegen ein Gemälde oder eine Zeichnung nicht geradezu ein photorealistisches oder hyperrealistische Portrait, muß die Kunstfreiheit gelten, egal mit welcher Technik dieses abstrahierte Werk hergestellt oder gegenüber zum Beispiel einen Photo verfremdet wurde …“
Tobias lächelte: „Hmm, nun probierst du dich in rhetorischem Geschick. Als Künstler indes stimme ich dir gerne zu. Auch sonst leuchtet mir deine Argumentation ein. Sofern nicht explizit vom Künstler der Name der Person zum Kunstwerk genannt wird, ist jenseits von Photos oder äquivalent realistischen Werken erst einmal nicht davon auszugehen, daß die Kunstfreiheit durch ein anderes Recht eingeschränkt sein könnte, gleichviel, wie es einst zu der Vorlage zum Werk gekommen sein mag oder wie der Künstler einst der Vorlage ansichtig wurde, wie dieser diese fragliche Vorlage für die Umsetzung des Bildes gespeichert oder verwendet haben mag …“
Marie schmunzelte: „Siehst du mal, so kommt Schwung in den Diskurs …“

Tobias fuhr fort: „Wenn wir jetzt vom Fall eines Photos ausgehen, so stellt ja selbst eine Digitalisierung, eine Verpixelung eine Art Abstraktion dar, oder eben im Falle des Formates JPEG/JFIF die spezielle Art der verlustbehafteten Kompression.“
Marie warf dazu ein: „Ich glaube nicht, daß das hinreichend für eine ausreichende Abstraktion ist, die Person bleibt erkennbar, selbst bei einer Formatkonversion entsteht nicht gleich ein neues Werk, auch wenn die Änderung bei einer Konversion zu JPEG/JFIF irreversibel sein mag. Im besten Falle entsteht ein abhängiges Werk. Es bedarf schon einer größeren Änderung, um zum einen ein neues Werk zu werden, zum anderen das Kriterium der Abbildung einer bestimmten Person nicht mehr zu genügen, welche für unbeteiligte Personen als solche identifizierbar ist.
Eine Transformationen oder Konversionen von einem Pixelgraphikformat in ein anderes reichen da nicht. Es müßten mindestens weiter Filter oder Techniken verwendet werden, um das Motiv eindeutig zu abstrahieren, um ein neues, unabhängiges Werk entstehen zu lassen.
Bei einem Ausschnitt aus dem Bild eines anderen Autors, und wenn der Ausschnitt in einer eigenen Collage verwendet wird, käme allenfalls das im Urheberrecht verankerte Recht zum Zitat in Betracht. Eine Verzerrung des Ausschnitts könnte so weit ausgearbeitet werden, daß es als Karikatur durchgeht.“

Tobias zeigte Interesse am Thema, kannte sich offenkundig auch aus: „Oh, man kann deutlich weitergehen. Man kann das Bild vektorisieren. Dabei entsteht ein neues Werk, die Möglichkeiten, was bei der Vektorisierung herauskommt, auch der Abstraktionsgrad, sind sehr vielfältig. Bei stärker abstrahierten Bildern ist eindeutig davon auszugehen, daß diese sich von der Vorlage komplett gelöst haben und zu einem eigenen Werk oder Kunstwerk werden. Bei einer stärkeren Abstraktion ist auch nicht mehr davon auszugehen, daß es das Bildnis einer bestimmten Person ist, welche für andere Personen erkennbar sein muß, wenn ihr Name nicht genannt wird, der Zusammenhang nicht da ist. Es kann nicht bloß auf Ähnlichkeiten ankommen, denn diese gibt es auch zwischen unterschiedlichen Personen. Zudem wird man bei einer starken Abstraktion durch Vektorisierung sicherlich von einem höheren Interesse der Kunst sprechen, ähnlich wie bei meinen freien Gemälden und Zeichnungen, bei denen Bilder als Hilfe dienen. Bei solch Vektorisierungen wird man die Photos eher als Vorlage sehen. Ähnlich wie beim Gemälde ist bei einer stärker abstrahierten Vektorgraphik aber sicher von einem neuen Werk auszugehen.“
Marie lächelte und nickte: „Interessant. Diese Technik scheint in der Tat genug Spielraum zu lassen, um im höheren Interesse der Kunst, der Kunstfreiheit, der Meinungsfreiheit das Recht am eigenen Bild einzuschränken. Die Programme sowie Skripte, welche man zur Vektorisierung verwendet, entsprechen in der klassischen Malerei folglich ungefähr den verschiedenen Pinseln oder Spachteln, mit denen man Farbe aufträgt, mögen diese Werkzeuge auch immer ähnlich oder gleich sein, die derart entstandenen Werke sind neu.
Bei Karikaturen und Satiren gilt ja gleichfalls, daß man diese dulden muß, es kommt also nicht darauf an, daß die abgebildete Person sich selbst so sieht. Damit ergibt sich also nicht nur die Frage, ob es sich beim abstrahierten Werk noch um das Bildnis einer bestimmten Person handelt. Wenn diese sich wiedererkennt, ist die Abstraktion ähnlich wie die Karikatur auch als Mittel zu sehen, das höhere Interesse der Kunst ins Spiel zu bringen.“
Tobias nickte, damit war das Thema einstweilen abgeschlossen.

Weitere Zeichnungen und Gemälde wurden begutachtet. Oft waren diese mehr oder weniger abstrakt, was Marie eher zu liegen schien, obwohl sie bei Zeichnungen von Objekten und Tieren auch nicht damit sparte, anerkennend, gelegentlich auch kritisch zu kommentieren, jedoch eher knapp. In abstrakten Werken versank sie förmlich, machte teils Gesten, während Tobias das jeweilige Werk für sie hielt. Es fühlte sich für ihn sehr gut an, wie sie in seinem Sein versank, ehrliches Interesse zeigte. Darüber vergaß er kurz den eigentlichen Anlaß der ganzen Aktion, war einfach nur froh, lediglich dienen zu brauchen, einfache Handreichungen, um sie zu erfreuen – mit seinen eigenen Werken zu erfreuen, das war so ziemlich das Größte daran.

Portraits oder Akte und dergleichen sah sie meist nur nickend an, davon gab es ohnehin nicht viele und sie fragte erst einmal nicht nach, wer dargestellt war, bei zwei älteren männlichen Libertines allerdings erkannte sie diese, nannte nur deren Namen, schaute Tobias kritisch an, geradezu feststellend stand im Raum, daß er auch diese nicht gefragt hatte oder diese von den Bildern wußten. Man hätte das in dem Kreise wohl nicht gerne gesehen. Marie packte diese Portraits einfach wieder an ihren alten Ort, schmunzelte dabei versonnen, Tobias erneut ertappt zu haben, sachte in ein Fettnäpfchen geschubst zu haben. Tobias war durch ihren Blick natürlich arg getroffen, schwieg jedoch einfach ergeben. Auch das waren einfach Persönlichkeiten, ausdrucksstarke Motive, zu faszinierend, um sie nicht zeichnen zu wollen, interpretieren zu wollen. Aber natürlich, er hatte sie nicht gefragt, was mindestens bei guten persönlichen Bekannten unangemessen war, er war lediglich seinen künstlerischen Impulsen gefolgt. Nicht auszudenken, wenn er den Zorn gerade dieser Personen auf sich zöge. Wenn diese verstimmt wären, könnte auch dies wirklich unangenehm für ihn werden.
Aber vielleicht würden sie sich auch geschmeichelt fühlen, die Portraits als Devotionalien an ihre Personen ansehen?
Verlassen konnte er sich darauf mitnichten, sadistische, vielleicht gar psychopathische Persönlichkeiten sind in ihrem Reaktionen nicht so einfach einzuschätzen, da konnte man schnell in mehr als ein Fettnäpfchen treten, aber das macht auch einen gewissen Reiz des Umganges mit solchen Persönlichkeiten aus.

Marie zog ein weiteres Bild heraus und erstaunt ihre Augenbrauen hoch: „Was ist das?“
Tobias schaute: „Oh, das ist das Amazon. Das ist eine Metamorphose von einem Drachen zu einer Amazone mit dem Zwischenzustand einer Chimäre, welche zu einer Schlange, gar einem verzweigten Fluß wird. Dieses Monster verschlingt dabei ein Buch. Das ist vom Stil her grob an Marcel Duchamps* ‚Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2‘* angelehnt, nur eben eine Art kubistisches Bild einer komplexen Metamorphose.“
Marie schaute genauer, nickte endlich nachdenklich: „Jetzt, wo du es sagst, sehe ich es auch. Jedenfalls an den Ecken ist es ein ganz schön scharfes Teil.
Und das mit dem Buch – das ist nicht recht von dem Amazon, es sollte sich nicht an unschuldigen Büchern vergreifen …
Dies ist ein sehr komplexes Thema, wie bist du darauf gekommen?“
Tobias antwortete: „Ich war im Netz und habe nach Büchern gesucht, im Fluß der Informationen bin ich öfter auf Bücher in einem Amazon gestoßen und habe mich einfach gefragt, wie diese dorthin gekommen sein mochten, wie diese in einen derartigen Zustand geraten sein konnten, dabei ergab es sich wie von selbst, das Bild einer Metamorphose eines rücksichtslosen, gnadenlosen Wesens zu verwirklichen, welches sich etwas tarnt und sich über harmlose Bilder hermacht.“
Marie nickte, dieses eigenartig bedrohliche, hungrige Wesen war ihr im Netz auch schon untergekommen.
Tobias hatte es gut getroffen, wobei das Bild allerdings schon sehr komplex war, sich also doch deutlich vom eher profanen Original differenzierte.
Sie schob das Bild wieder zurück und schauderte dabei etwas in Gedanken an die guten Bücher, welche dem Wesen wehrlos ausgeliefert waren und zum Opfer fielen.
Waren diese armen Werke ihren Autoren gänzlich egal?
Hatten die Autoren die Kontrolle darüber verloren oder abgegeben?
Interessierte sich sonst niemand dafür?

Bei der größten Collage oder dem größten Ensemble stand sie dann davor und lachte: „Das habe ich auf der Vernissage ja schon gesehen, interessant mit der großen Axt sowie dem Vorschlaghammer, wie das ins Material geschlagen ist, welches wiederum um die Werkzeuge zu quellen scheint …“
Tobias erläuterte kurz Idee, Technik sowie Materialien, Marie nickte dazu interessiert. Dies Werk schien auch ihm ein Schlüssel zu seinem aktuellen Schaffen zu sein, er konnte allerdings nicht recht in Worte fassen, was dabei so bedeutend für ihn war. Jedenfalls hatte er schon gespürt, daß etwas vorging, als er damit beschäftigt war – und es war etwas Besonderes gewesen, als es fertiggestellt und endlich gar ausgestellt war. Neben Marie gab es allerdings nicht viele Leute, welche dem nennenswerte Beachtung schenkten, die Bedeutung erkannten, welche er nicht benennen konnte, welche für ihn als solche aber offensichtlich war, obwohl sie für ihn selbst noch nicht entschlüsselt war.

Tobias dachte sich, wenn er ein paar solcher Besucher hätte, von ähnlichem Interesse an seinen Werken, kaufbereit, wäre das alles nicht notwendig, aber so?
Es funktionierte einfach nicht.
Und er wußte nicht einmal, ob das wirklich ein Anzeichen dafür war, daß er einfach schlecht war oder einfach nur nicht-kommerziell, jedoch originell, einfach lediglich für den Publikumsgeschmack komplett ungeeignet.
Entschied kommerzieller Erfolg über sein Selbstverständnis?
Seinen Ruf als Künstler?

Marie schaute auf das, was war, nicht auf Ruhm oder Schein. Und in ihrer abgründigen Art schaute sie tief und intensiv, um alles zu erfassen.
Sie hatten bei den Libertines bisweilen schon gestaunt, wie detailliert sich Marie im Bedarfsfalle an etwas erinnern konnte, was sie gesehen hatte, was passiert war, was jemand gesagt hatte. Sie schien alles sorgsam in dem Abgrund in ihrem Kopf abzulegen, vielleicht doch mehr eine unendliche Bibliothek als ein unendlicher Abgrund, was vielleicht auf dasselbe hinauslief – ein unheimlicher Ort, daß einem ein Schauer über den Rücken lief, wenn man daran dachte, daß man selbst dort einsortiert war, wenn Marie einen kannte, aber vermutlich auch alles, was man gesagt und getan hatte, wenn sie anwesend war. Und man hatte das Gefühl, all das war für Marie immer nur eine Schublade entfernt und konnte zu jeder Zeit hervorgekramt werden, wenn Bedarf aufkam. Sie kramte nie etwas hervor, um es anderen in dem Sinne vorzuhalten.
Gelegentlich korrigierte sie nur jemanden in seiner Erinnerung: „Das hast du dann und dann so und so erzählt.“ oder: „Das ist dann und dann so passiert“ oder auch „Das haben wir am ... so entschieden/diskutiert/festgelegt“.
Beiläufig passierte dies und so wie sie es sagte, konnte niemand daran zweifeln, daß es so war, wie sie sagte. Sie war nicht hinsichtlich der Fakten manipulativ, eher in ihrer Art, ihrer Präsenz, wenn sie etwas sagte.

Tobias erkannte nun: Das Atelier, seine Werke waren längst in ihrem Kopf, jedes Werk, welches sie ansah. Das wäre nicht mehr wegzubekommen, für sie jedenfalls nicht.
Marie betrachtete sorgfältig Skulpturen, aufgrund ihrer Dreidimensionalität komplexer, aber das bedeutete nur etwas mehr Betrachtungszeit, um das Werk im Kopf abzulegen.
Was ist die Wahrheit über eine Objekt, seine wahre Gestalt oder Form?
Wie genau, wie realistisch konnte davon die Erinnerung im Kopf sein?
Was merkte man sich wirklich, was interpolierte man später nur?
Ferner verändert überdies auch noch die spätere abermalige Reflexion des Erlebten die Erinnerung daran, folglich alles ein fragiles Gebilde, weit weniger stabil als ein digitales Dokument auf einer Festplatte. Jegliche Erinnerung ist natürlich immer nur eine stark vereinfachte Repräsentation und Interpretation.
Wie detailliert kann eine Erinnerung an den Anblick eines realen abstrakten Objektes sein?
Jeder hat recht einfache Repräsentationen konkreter Objekte im Kopf, Worte, Stereotype. Vielleicht ist Abstraktion auch deshalb so spannend und intensiv für einige Menschen, gerade weil nichts davon zu den vorhandenen Repräsentationen im Kopf paßt. Aus demselben Grunde mag Abstraktion aber auch an der Mehrheit komplett vorbeigehen, welche dank selektiver Wahrnehmung lediglich noch zu erkennen vermögen, was schon im Kopf repräsentiert ist, und sich so neuen Eindrücken gezielt verweigern. Diese Menschen haben ihre Welt eher kurz und klein und haben wohl auch eine Neigung dazu, alles kurz und klein zu schlagen, was nicht in ihren Kopf paßt. Und was so nicht passend gemacht werden kann, wird vernichtet. Dabei bleibt wohl kein Raum, sich auf Neues, Fortschritt, Weiterentwicklung einzulassen. Es wird versucht, die Welt auf die eigene Beschränktheit zurechtzustutzen, was eher früher als später an der daran gleichgültigen Realität scheitern muß.
Marie hatte nicht nur kein Problem damit, gelten zu lassen, was neu war und nicht so recht zu dem paßte, was man sich so gemeinhin vorstellt, sie sog es geradezu auf, schwelgte in solch anderen Welten, um sich alles wenigstens im Kopf zu eigen zu machen.

Marie schaute sich weiter aufmerksam um, betrachtete weitere Collagen, einige davon näherten sich in einer eigene Art von Minimalismus dem Konzept der ready-mades*, weil lediglich aus wenigen vorgefundenen Teilen zusammengefügt, in diesem Sinne lehnten sich diese auch an den legendären Stierkopf* von Pablo Picasso* an. Marie schaute genau, fragte interessiert nach, beide unterhielten sich darüber.

Sie beendete die Tour durch das Atelier wieder bei den kleinen Skulpturen, welche sie bereits von einer Vernissage kannte. Diese waren schon in ihrem Kopf. Sie strich nur nebenbei mit der Hand darüber und gab ein paar Gedanken darüber preis.
Zu Tobias gewendet, nicht zu den Skulpturen, beschrieb sie kurz ein winziges Detail an einer und fragte ihn darüber aus, Absicht, Versehen, Rätsel?
Tobias schaute, fand jene Stelle, welche er selbst nicht kannte.
Absicht war diese Stelle jedenfalls keinesfalls, bei der Bearbeitung, der Erstellung ein kleiner Lapsus, nein eigentlich nicht einmal das, das war eine Bearbeitungsspur eines bestimmten Werkzeuges, welches er nachher bei der Nachbearbeitung nur nicht entfernt hatte, so erklärte er die Herkunft und wußte, sie hatte alles im Kopf!
Noch von damals, von der Vernissage, das war Monate her, aber sie wußte es.
Überhaupt schon, daß sie es gesehen hatte, aber noch mehr, sie hatte sich das gemerkt!
Tobias war diese detailtreue Erinnerungsfähigkeit unheimlich.

Jedenfalls waren sie damit mit der Besichtigung fertig, Marie zeigte nun ihr nicht oft vorgeführtes offenes sowie freundliches Schmunzeln, ergänzte dazu: „Gesehen! Gut!“
Tobias fühlte sich ehrlich gelobt, denn Marie hätte nicht geschmeichelt, sie war ferner bei einigen Sachen ehrlich kritisch im Kommentar gewesen, Gesamturteil aber offenbar „Gut“.
Aus Maries Mund war dies Urteil etwas wert, nicht bloß so dahingesagt.

Marie überraschte unvermittelt mit zwei weiteren Fragen: „Was ist Kunst?
Was macht etwas zu einem Kunstwerk?“
Tobias war verblüfft durch die Frage, bezog sich zunächst auf die zweite Frage: „Das Werk eines Künstlers ist Kunst, er wählt Material, Größe, Anordnung sowie Thema aus, erschafft ein Werk nach eigenen Ideen. Zu berücksichtigen ist dabei Originalität oder in diesem Sinne auch Relevanz im aktuellen gesellschaftlichen Kontext.“
Marie fragte nach: „Was ist mit ready-mades?
Wird da nicht ein Alltagsgegenstand einfach durch Bezeichnung zum Kunstwerk?“
Tobias nickte: „Ja, das betreffende Objekt steht indes in einem vom Künstler geschaffenen Kontext, es steht nicht allein, nicht die Bezeichnung allein macht das Kunstwerk, sondern wer es in welchem Zusammenhang als Werk oder Kunstwerk bezeichnet und wie es als solches arrangiert sowie exponiert wird.“
Marie hakte nach: „Also ähnlich wie bei Konzeptkunst?*“
Tobias stimmte erneut zu: „Das ist ähnlich. Dabei steht die Idee, das Konzept im Vordergrund. Aber auch dabei spielen Person des Künstlers sowie Kontext eine wichtige Rolle. Die Auswahl des Objektes entspricht der Materialwahl bei einem erschaffenen Kunstwerk.“
Marie fragte weiter nach: „Du sprachst ja eben auch über Werke, welche aus digitalen Photos erschaffen werden. Wenn wir diese Photos oder auch die vektorisierten Abstraktionen nehmen, was ist dabei das Material, das sind doch nur immaterielle Daten, welche irgendwie auf Monitoren präsentiert werden?
Das sind visualisiert ja lediglich bunte Farbmuster, Licht aus einem Monitor.
Wo ist da das Material?
Bei digitalen Graphiken ist die Angabe der Größe ja auch sehr eingeschränkt.“
Tobias schaute sie an, erläuterte: „Warum sollte Licht kein Material sein, warum nicht abstrakte digitale Daten, warum nicht ein Prozeß ähnlich wie bei einem happening?*
Licht an sich ist jetzt zwar nicht mein Material der Wahl, aber man kann Formate und Methoden wählen, wie man eine Abbildung realisiert, man kann Algorithmen selbst erzeugen sowie nutzen, welche die Farben anordnen. Farben werden Licht auf dem Weg ins Auge des Betrachters. Im Grunde ist das nicht viel anders als bei klassischer Malerei, es fehlt nur die taktil erfahrbare Textur, aber auch so sind ja viele Kunstwerke aus konservatorischen Gründen nicht wortwörtlich begreifbar. Statt einem Pinsel nimmt man bei digitalen Werken einen Rechner, eine Maus, eine Tastatur etc. Je nach Format kann man natürlich gleichfalls Größen festlegen. Bei Pixelgraphik eben in Pixeln, bei Vektorgraphik auch etwa in Zentimetern wie bei klassischen Gemälden, aber auch relativ zum verfügbaren Platz auf dem Monitor – im Grunde gibt es sogar mehr Möglichkeiten, welche sich gar den Sehgewohnheiten der Betrachter anpassen können. Digitale Kunst hat immer auch dieses Spannungsfeld zwischen Fluxus*, der Vergänglichkeit der Präsentation sowie einer erwünschten Permanenz digitaler Speicherung, welche jedenfalls jenseits der Alterung des Speichermediums eine Alterung des Werkes selbst ausschließt. Das abstrakte Material selbst ist unbegrenzt haltbar.“
Diese Argumente, Erläuterungen leuchteten Marie ein: „Gut – und der Aspekt der beliebigen Kopierbarkeit von digitalen Werken, ist dies relevant?“
Tobias wog den Kopf zögernd hin und her: „Kommt darauf an, für wen und wozu. Hat man nur ein Original oder eine limitierte Auflage, ist ein Objekt gut kommerzialisierbar, jedenfalls sofern man als Künstler berühmt und unter Sammlern sowie Museen gefragt ist. Bücher oder Musikstücke oder auch Filme sind als Massenware nun einmal einfacher kommerzialisierbar als Graphiken, Gemälde oder Skulpturen. Auf der anderen Seite hilft die beliebige Kopierbarkeit digitaler Werke der Verbreitung der Idee. Die digitale Kopie hat keinen besonderen Materialwert, von daher ist sie das ideale Mittel, um ein Werk beliebig und frei zu verbreiten. Man hat die Chance, seine Ideen unter das breite Volk zu bringen …“
Marie unterbrach ihn: „… welches sich aber nicht zwangsläufig besonders für Kunst interessiert!“
Tobias nickte: „Für Kitsch sowie trivialen Kram gibt es schon Interesse – oder wie schon Andy Warhol sinngemäß meinte – mit Kunst Geld zu machen, ist die größte Kunst in unserer monetären Gesellschaft.
Digitale Kunst kann sich ferner gerade durch die beliebige Kopierbarkeit gezielt mit der Frage des Originals oder Unikats in der Kunstszene auseinandersetzen. Es kann jene Tendenzen ins Absurdum führen, welche dazu führen, daß Werke als Kapitalanlagen in irgendwelchen Tresoren vergammeln, vor sich hin vegetieren, statt dem breiten Publikum verfügbar zu sein …“
Marie stimmte in sein ironisches Grinsen ein, ihre Ansichten harmonierten bei diesem Thema ganz gut.

Tobias fuhr fort: „Und dann deine Frage nach der Kunst …“
Marie lächelte: „Oh, können wir dies aus den Aussagen über die Werke implizieren?“
Tobias meinte dazu: „Teilweise ja, die Werke sowie die Künstler machen die Kunst, jedoch gleichfalls jene Leute, welche sich sonst mit ihr beschäftigen, sich damit thematisch auseinandersetzen.“
Marie fragte nach: „Also ist alles Kunst?
Ist jeder ein Künstler, wie Joseph Beuys* einst postulierte?
Wenn auch oftmals bloß für seine paar herausragenden Minuten, wie Andy Warhol* dies andeutete?
Jeder ein Lebenskünstler durch bloße Existenz?“
Tobias lächelte: „Ganz so weit würde ich nicht gehen.
Beuys ging dabei auch eher von den Fähigkeiten der Menschen aus, welche diese auch aus sich heraus kreativ nutzen müßten, um Künstler zu werden oder zu sein. Insofern hat er das Potential betont, weniger eine tatsächlich umgesetzte Realität.
Warhol ging es indes mehr um Ruhm, Effekthascherei in Medien, der öffentlichen Aufmerksamkeit. Mit einem Skandal oder einem grauenhaften Verbrechen wie einem Terrorakt seine paar Minuten Ruhm in der Welt zu erhaschen, ist noch keine Kunst, kein happening, kein Fluxus oder Dadaismus*.
Etwa das Nachmachen von Werken oder die Produktion zum technischen Gebrauch bedingt zwar ferner teilweise ein hohes handwerkliches Können; ohne die Originalität, die Absicht, die ureigene Motivation sowie Thematik des Künstlers bleibt es jedoch letztlich bloß ein hergestelltes Artefakt ohne künstlerisches Gewicht und nennenswerte Relevanz. Dabei ist es ja im Grunde gleich, ob es sich um eine Skulptur, ein Gemälde, ein Musikstück, einen Film oder auch um ein Stück Literatur handelt. Vieles bleibt letztlich doch vom künstlerischen Standpunkt aus belanglos, selbst wenn es kommerziell erfolgreich sein sollte. So tun als ob, zeigen, daß man nachmachen kann, was andere zuvor erstmals gedacht, geschaffen haben, beinhaltet deutlich weniger kreatives Potential, künstlerischen Gehalt.
‚Das kann ich auch!‘ ist folglich kein hinreichendes Argument.“
Marie wollte wissen: „Also braucht man eine künstlerische Ausbildung, um Künstler zu sein?“
Tobias lachte: „Damit legst du die Latte ziemlich hoch, aber die Ausbildung hilft natürlich handwerklich enorm weiter, sie kann gleichfalls helfen, einen eigenen Weg, ein eigenes Thema zu finden. Aber ein jeder kann natürlich einen eigenen Zugang, einen eigenen Weg finden. Ein eigener Zugang von außen, von außerhalb der Kunstszene kann auch ganz neue Impulse in eben diese Kunstszene bringen, kann neue Genres, Richtungen erschaffen, welche allein aus der Kunstszene heraus nie entstanden wären. Insofern lebt Kunst selbstverständlich auch von äußeren Einflüssen, Impulsen, bleibt dadurch lebendig, schmort nicht bloß im eigenen Saft.“

Marie brachte noch einen weiteren Gedanken ein: „Es heißt ja auch: ‚Wenn zwei Personen das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe.‘
Beziehen wir das auf die Kunst – wenn ein Künstler etwas Originelles erschafft. Was dann die Nachahmer tun, die auf einen Zug aufspringen, ist das auch noch Kunst – oder jedenfalls relevante Kunst?
Du hast es bereits andeutet, ‚Kann ich auch!‘ ist nicht notwendig ein hinreichendes Argumente, gleichwohl gibt auch in der Kunst viele Abhängigkeiten, eine Abfolge von Einflüssen …
Vom Urheberrecht her sind ja nur die Werke selbst geschützt, nicht die Ideen, von daher hat man es schon mit eigenen Werken zu tun, das ist rechtlich unbedenklich, aber der künstlerische Gehalt, was ist damit?“
Tobias sann einen Augenblick nach, antwortete dann: „Das kommt stark darauf an, wer nur nachahmt sowie auf einen Zug aufspringt – künstlerisch belanglos.
Aber man kann eine Idee ja auch weiterentwickeln, sie variieren, sie sich nicht nur zu eigen machen, sondern daraus ebenso einen eigenen, neuen Weg entwickeln, aber dann ist es auch nicht mehr das Gleiche, sondern bereits etwas Neues, was relevant sein kann.
Große Teile der Kunstgeschichte basieren darauf, daß Künstler Ideen übernommen haben, auf ganz eigene Werke angewendet haben, Ideen anderer weitergedacht haben oder auch neu gedacht haben, anders gedacht haben, daraus Neues entwickelt haben. Das ist die Basis vieler Kunstströmungen sowie Entwicklungen.“

Es entstand eine kurze Pause.
Tobias erwog im Zuge ihrer kleinen Plauderei: „Vielleicht ist die Frage der Kunst mal ein ganz gutes Thema für einen Diskurs bei den Libertines.“
Marie stimmte zu: „Ja, das könnten wir mal ansprechen, dazu gibt es bestimmt auch einige Personen mit deutlich anderen Meinungen.“

Aufräumen

Marie fuhr fort: „Nach meinem kurzweiligen Kunstvergnügen sollten wir nun zu deinem Anliegen kommen.
Was ist dein Begehr, weswegen du mich in dein Atelier geladen hast?“
Tobias schluckte, zuckte unter ihrem bestimmten Ton zusammen, nun wurde es ernst. Hoffen und Bangen gleichzeitig. Er zögerte, aber Maries Blick zeigte ihm, sie forderte ihn, duldete jetzt keine längere Pause.

So begann er zu erklären: „Mein Vater ist nicht mehr so fit. Nun werde ich in die Firma einsteigen müssen, dort Verantwortung übernehmen, um dann irgendwann, wohl eher früher als später den Chefsessel zu übernehmen. Zuvor muß ich mich damit vertraut machen, was in dem Unternehmen los ist, wie dort alles funktioniert, abläuft, organisiert ist, in jedem Bereich.“

Marie schaute ihn interessiert an, zog jedoch lediglich eine Augenbraue hoch, zum Zeichen, daß er den Bogen zum Atelier und dem heutigen Anlaß spannen solle.
Tobias spannte also den Bogen: „Damit ich dort einsteigen kann, muß ich hier als Künstler abschließen, alles aufgeben, das hier muß weg, komplett weg!
Ein sauberer Schnitt!
Raus aus meinem bisherigen Leben, alles zurück auf Null setzen, sonst hält es mich fest und läßt mich nicht fort.“
Dabei wies er weit ausholend um sich auf alles im Atelier, was irgendwie mit Kunst von ihm zu tun hatte.
Marie warf ein: „Hmm, das hat doch bestimmt eine Menge an Wert, du könntest es doch günstiger verkaufen, im Sonderangebot als Schnäppchen gewissermaßen …“
Tobias aber schüttelte den Kopf: „Das werde ich nicht los, sonst wäre es nicht hier.“
Marie hakte nach: „Du warst immerhin auf einigen Ausstellungen, nichts verkauft?“
Tobias meinte nur: „Sehr wenig jedenfalls. Es ist auch nicht so einfach, einen angemessenen Preis festzulegen. Schon die Material- und Werkzeugkosten sind teilweise nicht so gering. Würde man dann noch rein handwerklich einen realistischen Stundenlohn hinzunehmen, wird man als unbekannter Künstler eher gar nichts los. Das wäre dann erst einmal der handwerkliche sowie materielle Teil, dabei ist nicht einmal berücksichtigt, daß man ja nicht nur handwerklich tätig ist, sondern gleichfalls oder primär kreativ sowie künstlerisch, wobei ich damit nichts gegen das Handwerk sagen will.“
Marie verzog ihr Gesicht: „Schade, einige Sachen halte ich für recht spannend und originell, da hätte ich mehr Interesse erwartet. Aber ich bin ja auch keine Kunstexpertin, von daher bedeutet es wohl nicht viel, was ich für gut und relevant halte.“
Tobias erwiderte: „Oh, künstlerische Relevanz auf der einen Seite, Kommerz, Erfolg, Berühmtheit auf der anderen Seite sind nicht notwendig korreliert. Was Kunstexperten für relevant halten, muß nicht notwendig kommerziell besonders erfolgreich sein. Es muß nicht einmal für das ‚gemeine‘ Publikum besonders interessant oder spannend sein.“
Marie nickte, meinte dazu: „Nach unserem vorherigen kurzen Diskurs ist es aber auch keine reine Geschmacksfrage. Daß der kommerzielle Erfolg noch einmal ein ganz anderes Problem ist, scheint mir allerdings gleichfalls naheliegend zu sein.“

Tobias wies großzügig um sich: „Kannst haben, was du willst, für lau natürlich sowie zum persönlichen Vergnügen. Wenn du außer deinem Bild noch etwas mitnehmen willst, gern, solltest jetzt einfach zugreifen, der Rest soll nun weg, raus aus meiner Welt, meinem Leben, allein bekomme ich das nicht hin, deshalb habe ich dich gebeten.“
Marie meinte dazu: „Danke, aber als Studentin habe ich nur eine kleine Wohnung, ich kann also unmöglich dein ganzes Werk bei mir unterbringen. Jene beiden kleinen Skulpturen indes nehme ich gerne, wenn du die eine Macke ausbesserst.“
Tobias nickte: „Das bekomme ich schnell hin, ich meine, von der Ausstellung habe ich sogar noch eine Kiste als exakt passende Transportverpackung.“

Damit wandte er sich auch schon einem Schrank zu, holte etwas hervor und ging zu der einen Skulptur, drehte sie und begann mit der Ausbesserung.
Marie war ihm gefolgt, schaute ihm bei der Arbeit aufmerksam über seine Schulter.
Marie fragte: „Hast du sonst niemanden, der etwas geschenkt haben möchte?
Keine armen, aber glühenden Verehrer deiner Kunst?“
Tobias schüttelte traurig dem Kopf, auch war er zu zurückhaltend, um damit hausieren zu gehen. Bei Marie hoffte er ja auf aktive Unterstützung, das war also ein anderer Fall.
„Fertig!“ meinte schließlich Tobias und Marie schaute genau, nickte dann zustimmend: „Gut!“
Tobias ging zu einem Regal, stieg eine Leiter hoch, Marie war zum Regal gefolgt, er reichte ihr eine Holzkiste herunter. Gemeinsam packten sie die beiden Figuren sorgfältig ein, stellten sie zu dem Papprohr mit Maries Portrait.

Marie wollte nun wissen: „Also gut.
Und der Rest?“
Tobias verzog wie unter Schmerz sein Gesicht: „Das muß zerstört werden, um mich davon zu befreien, damit ich neu anfangen kann!
Es wird mich bis in den Kern treffen, aber auch befreien, wenn es geschafft ist, wenn es überstanden ist. Du magst es doch, jemanden im Kern zu treffen, durch Qual zu befreien und zu bereichern. Das ist die ideale Konstellation.
Wenn es vorbei ist, überstanden, bin ich frei davon!“
Dabei ging er zu einem Tisch, zog eilig ein Papier hervor, schrieb ein paar Worte. Er gab ihr darauf das Schreiben: „Ich habe hier mein schriftliches Einverständnis notiert, daß du von meinen Werken nehmen kannst, was du magst sowie danach den Rest zerstören darfst.“

Marie nickte zögernd: „Schon, aber Kunst oder Kultur zu zerstören ist nicht mein Ding, das kommt mir abartig und pervers vor.
Man kann ja einiges tun, aber Kunst vernichten?
Das ist Vandalismus der untersten Schublade.
Wie abartig ist es etwa, wenn Idioten sich an den öffentlich ausgestellten Kunstwerken in der Stadt vergreifen?
Das ist widerlich, wie da mutwillig zerstört sowie beschmiert wird. Diese Auswüchse von Idiotie, Rohheit, unsozialem Verhalten zeigen nur, wie dünn doch die Schale von Kultur und Zivilisation beim Menschen ist. Darunter verbirgt sich rohe Dummheit, Ignoranz sowie Aggressivität. Es ist vielleicht merkwürdig, daß ich das gerade sage, aber solche Zerstörungswut und Aggressivität gegen Kulturgüter kann ich nicht nachvollziehen. Ich kann nicht verstehen, wieso die Leute ihre Dummheit sowie ihre blinde Wut, ausufernde Frustration gerade an solchen Dingen auslassen, welche sie aus ihrem tiefen Sumpf des Stumpfsinns sowie der Verblödung herausreißen können.
Aber gut, vielleicht richten sie ihre Frustration gerade deswegen gegen alles, was ihnen helfen könnte, weil sie nicht mit den eigenen Defiziten und Unfähigkeiten konfrontiert werden wollen, weil sie sich ihrem Scheitern und Versagen nicht stellen wollen!“
Tobias warf allerdings ein: „Das stimmt ja schon, aber das hier ist doch etwas anderes. Ich bitte dich ja darum bei meinen eigenen Werken.
Ansonsten stimme ich dir natürlich zu. Einerseits ist es im Sinne des Künstlers, wenn das Publikum sich mit seinem Werk auseinandersetzt, darauf reagiert. Zerstörung nimmt jedoch anderen Menschen die Chance, sich mit solch öffentlich aufgestellten Werken ebenfalls zu beschäftigen. Sie ziehen die ganze Stadt mit ihrem Vandalismus, ihrer Zerstörungswut in ihren eigenen grauen, langweiligen Abgrund der Nichtigkeit, statt die Chance zu nutzen, ihr eigenes Leben bunter zu bereichern sowie zu gestalten, trübe Gedanken durch Impulse von außen aufzuhellen.“
Marie ergänzte: „Ja, das ist auch Intoleranz. Wer Werke anderer und auch andere Menschen mit anderen Sichtweisen der Welt nicht gelten lassen kann, der stellt in seiner asozialen, aggressiven Art eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, er zersetzt mit seinen Untaten Wissen, Kultur sowie Zivilisation, die Grundlage unserer gemeinschaftlichen Existenz.
Alles schlechtreden, alles zernichten, kurz und klein machen, was nicht ins eigene Weltbild paßt, das zeigt uns nur zu deutlich, daß die Bezeichnung der Spezies als Homo sapiens ein Hohn ist.
Natürlich ist es immer viel leichter, etwas zu zerstören, anderen etwas zu nehmen, als etwas konstruktiv zu erschaffen sowie der Gemeinschaft zu geben. Wer so vorgeht, zerstört letztlich seiner Gemeinschaft von Mitmenschen ihre Identität sowie ihre Möglichkeiten, sich zu entwickeln und auszudrücken. Er erschwert die Chance, die Welt anders zu sehen, zu lernen, Auswege aus Irrungen, Sackgassen zu finden, eben weil der Geist sich traut, freier zu denken als bloß in eingefahrenen Bahnen, Stereotypen.“
Tobias meinte aber auch: „Ja, allerdings hier geht es ja nur um mein Werk, welches nicht einmal in der Kunstszene große Beachtung findet, was mich persönlich als Künstler belastet. Wir können hier nicht von Werten für die Allgemeinheit sprechen, weil sie der Allgemeinheit gar nicht zugänglich sind. Faktisch niemand zeigt Interesse daran, sie dem allgemeinen Publikum zugänglich zu machen. Von daher liegt ein anderer Fall vor, ich will mich von meinen eigenen Werken befreien.
Das muß doch erlaubt sowie möglich sein!
Ihre Bedeutung ist nicht sozialisiert, Gemeingut geworden. Die Werke sind noch ganz in meiner Einflußsphäre, haben einfach nicht Teil am kollektiven Sein.“

Es trat einige Sekunden Stille ein, in welchen Tobias resigniert in sich zusammensank. Er drohte an Maries Werten zu scheitern.
Gute Werte an sich offenbar, aber in seinem Falle doch eher hinderlich – und überhaupt anwendbar, wenn er die Aktion befürwortete?
Er schwieg bedrückt und vielleicht insgeheim auch ein wenig erleichtert. Trotzdem fiel er mutlos, ratlos, ausweglos in sich zusammen, schaute bleich und müde zu Boden.

Marie sah es, es tat ihr leid, also fuhr sie fort: „Andererseits du selbst bist der Künstler und nicht bedeutend und berühmt, letztlich ist das alles so oder so kulturell nicht wirklich signifikant.“
Sie ging offenkundig auf seine Argumente ein, nahm diese an. Tobias fühlte dies trotzdem wie einen Stich, ja einen Messerstich, wonach sie auch noch das Messer in seinem Leib herumdrehte. Sie hatte offenbar begonnen, an der Sache Geschmack zu finden.
Hatte er vielleicht insgeheim doch gehofft, an ihr zu scheitern?
In der Tat hatte es sich Marie offensichtlich überlegt, denn sie ergänzte, das Schriftstück zusammenfaltend und einsteckend: „Also gut, eine klare künstlerische Linie ist ja sowieso noch nicht zu erkennen. Du hast kräftig herumprobiert, von allem etwas, kein erkennbares Konzept, kein persönlicher Stil. Von dem eigenen Weg eines Künstlers, von dem du eben gesprochen hast, ist da noch wenig erkennbar, es fehlt die klare Linie, der rote Faden, das für dich Charakteristische.
Ist da wirklich irgendwo eine persönliche Entwicklung verborgen oder etwas komplett Neues, Verblüffendes?
Schon, da gibt es einige gute Ansätze, viel mehr aber auch nicht, es stagniert insgesamt auf mittelmäßigem Niveau, nichts, wo man jetzt sagen könnte, daß es der Menschheit mal fehlen könnte, wenn es weg ist, nichts, was dich zu einem herausragenden Künstler machen würde, alles mehr Spielerei eines offenkundig verwöhnten Burschen, welcher immer alles bekommen hat, indes nie wirklich dafür verantwortlich war, sich selbst zu versorgen.
Deine Kunst scheint beim Versuch zu verharren, statt wirklich zu sein, was schade ist – all diese vertane Arbeit, verschwendete Zeit – wenn dies alles nichts ist, was hast du bislang mit deinem Leben angestellt, wozu dies verplempert?
Gleichviel, Scheitern will gleichfalls ausgekostet sein, jene Einsicht, es letztlich verkackt zu haben, Jahre seines Lebens an eine Idee gehangen zu haben, welche einfach nicht funktioniert.
Vor einem Trümmerhaufen dessen zu stehen, was einem über einen ganzen Lebensabschnitt wichtiger als alles sonst war – noch rein gedanklich, gleich bereits wortwörtlich, wenn ich beginne!
Zerstörung, Zernichtung ist auch eine Art spezieller Poesie – wenn der Welt damit erspart wird, was doch letztlich Unfug ist!
Dann werde ich mal beginnen aufzuräumen, wir können diese Aktion ja mal als eine Art künstlerisches happening nehmen, da sind wir ja auch nicht die ersten.
Los geht’s!
Fluxus!
panta rhei!*“
Marie ließ ihm mit dieser harten Rede sowie dem Zitat nach Heraklit von Ephesos* noch Gelegenheit zum Widerspruch, seine Entscheidung zurückzunehmen, sich anders zu entscheiden, diesen Teil seiner Identität zu erhalten.

Ihre Rede traf Tobias schon hart, aber dies war ihre Art, sie putzte ihn ordentlich herunter, wohl auch, um vor sich zu rechtfertigen, hier aktiv werden zu können. Gleich nach ihrer kleinen Ansprache schaute sie noch kurz zu Tobias, um einen letzten Widerspruch oder eine Äußerung von Zweifeln an der Aktion Zeit einzuräumen. Dieser nickte jedoch nun bloß verzagt zu ihren vorherigen Ausführungen, nickte damit gleichfalls ihre folgende Aktion ab. Marie dehnte, lockerte sich bereits, betont provokant gegenüber Tobias, zum Zeichen, daß sie nun ernsthaft loslegen würde. Abermals wurde sie von Tobias keineswegs zurückgehalten, welcher lediglich tief durchatmete; sein Blick ging noch kurz in ihre Richtung, senkte sich daraufhin allerdings beschämt, einverstanden, ergeben akzeptierend, worum er gebeten hatte, was nun folgen sollte.

Kurz darauf war die eingeräumte Zeit für Widerspruch auch schon verstrichen. Nun drehte Marie sich schon recht elegant um ihre Achse und tat einen bemerkenswerten Tritt gegen eine der Steinskulpturen, mit genug Wucht, damit sie im eleganten Bogen mit ordentlich Schwung vom Podest zu Boden schleuderte und dort zerbrach. Allerdings war die Wucht eben gerade nicht so hoch, daß sie sich beim Auftreffen des Fußes auf diese Skulptur hätte verletzen können. Tobias zuckte dabei trotz aller Vorankündigung, Forderung seinerseits überrascht, erschrocken zusammen. Neben dem Schmerz über sein zerschmettertes Werk schoß ihm gleichzeitig die Erinnerung durch den Kopf, daß Marie auch exzellente Kampfsporterfahrung hatte. Aber das paßte natürlich zu ihr, half hier obendrein enorm, um den Akt der Zerstörung wirklich zu einer Art happening zu machen, zu einer Aufführung der Zernichtung seiner bisherigen Existenz.
Marie indessen hatte gerade dieses Werk als erstes gewählt, weil sie in der Ausführung eher ein Werk geringer Bedeutung aus der Studentenzeit von Tobias zu erkennen meinte, so hatte dieser noch einen weiteren Augenblick Zeit, sich die Angelegenheit zu überlegen, mit dem Schockerlebnis zu erwachen sowie um Gnade zu bitten, die gewährt werden würde. Sie schaute kurz fragend zu Tobias, welcher schon gezuckt hatte und geschockt war, jedoch noch immer keinen Einwand erhob.

Entschlossen ging Marie nun zu dem Regal mit den Zeichnungen und Gemälden, zog zielsicher jene kurz zuvor identifizierten Portraits der anderen Libertines hervor: „Diese sollten wohl als erstes weg!“
Dabei drückte sie diese schon in die Hände von Tobias, griff sich ein Messer sowie eine Schere von einem Tisch und zerfetzte mit einem rasanten Streich knapp an seinem Gesicht vorbei beide übereinandergelegten Bilder.
Mit der Schere schnitt sie die verbliebenen Stücke weiter in Kleinteile, sprach daraufhin zu Tobias: „In den Blechmülleimer da!
Hast du Feuer?“
Tobias tat wie geheißen, erwiderte mit brüchiger Stimme: „Ja, einen Moment.“
Damit eilte er zu einer Schublade, reichte ihr ein Feuerzeug.
Marie schob den Blecheimer in die Nähe eines Fensters, öffnete dieses, gleichzeitig nachfragend: „Feuermelder?“
Tobias antwortete: „Noch nicht in diesem alten Gebäude, sollen jedoch in Zukunft nachgerüstet werden.“
Marie fragte weiter: „Pinselreiniger?“
Tobias nickte nur, holte ihr welchen.
Marie wies lediglich auf den Eimer: „Kipp’ selbst rein, alles mache ich nun auch nicht allein!“
Dies fiel Tobias nicht einmal schwer, denn an diesen Bildern lag ihm nicht viel. Marie zündete vorsichtig, schaute zufrieden auf das aufflackernde Feuer.
Erneut hatte sie Tobias noch einen Aufschub verschafft, eine Chance nachzudenken, dem zerstörerischen Treiben ein Ende zu setzen, bevor es wirklich ans Eingemachte ging. Tobias jedoch ließ es geschehen, bremste mitnichten.

Allerdings war sie noch nicht so recht zufrieden mit seiner Reaktion. Nun mußte sie richtig beginnen, um ihn zu treffen.
Nun wurde es ernst.
Schnell nahm sie gezielt weitere Werke aus dem Regal.
Eine Zeichnung eines Aktes rollte sie auf und noch ohne das Werk anzusehen, hielt sie diese Zeichnung hoch: „Bei dem hast du eben schon etwas wehmütig geguckt, sicher eine Ex-Freundin?“
Sie wartete seine Antwort gar nicht ab, sondern zerriß das Blatt gleich, warf die Fetzen in den Eimer, um dem bereits verlöschenden Feuer neue Nahrung zu geben.
Tobias stöhnte auf, natürlich hatte sie Recht.
Sie hatte gezielt noch ein paar ähnliche Erinnerungen hervorgekramt, übergab diese nun der Reihe nach dem Feuer, beobachtete Tobias dabei genau, welcher einerseits in sich zusammensank, andererseits allerdings gleichfalls seine Fäuste ballte.
Sie ließ sich jedoch keineswegs weiter stören, gab bei manchen der noch folgenden Werke gar keinen Kommentar ab, manchmal auch nur „Na, kein großer Verlust“ oder „Da kannst du im Grunde froh sein“, aber auch mal „Schade drum, eigentlich“.
Es traf den stöhnenden, leidenden Tobias wie Faustschläge in den Magen. All dies entwickelte sich grauenhafter als er bereits vermutet hatte, sie inszenierte wirklich seine künstlerische Hinrichtung, genoß dabei auch noch seine Qual.
Weil sie vorher ja zahlreiche seiner Werke besichtigt hatte, inszenierte sie so nach ihrer Einschätzung ganz geschickt eine Achterbahn des Elends, indem sie nach einigen wichtigeren Werken mit besonders arger Wirkung weniger wichtige folgen ließ, damit Tobias sich wieder etwas erholen konnte, um daraufhin gleich wieder bis in Mark getroffen zu werden, wenn sie geschickt wählte und grinsend kommentierte.

Tobias’ Augen wurden feucht, er weinte, was jedoch zum guten Teil auch daran lag, daß der beißende Qualm des Feuers in den Augen brannte, weil er nicht allzu günstig stand. Schmierig-ölig breitete sich irgendwie alles aus. Daß es am Rauch lag, versuchte er sich einzureden, so oder so war diese Situation schlicht zum Heulen.
Marie öffnete weitere Fenster sowie die Eingangstür, zwecks Durchzug. Gnadenlos fütterte sie weiter das Feuer. Obgleich die Luft nun besser war, das Feuer mit der frischen Luft gar munterer flackerte, schien Tobias zu ersticken, er hielt es nicht mehr aus.
Verzweifelt griff er in die Luft in Maries Richtung, würgte heraus: „Hör auf, genug, genug!“
Marie hielt inne, aber auch nur, um ihn mit einem Blick zu vernichten: „Wir hatten kein Schlüsselwort vereinbart!
Es ist zudem ganz schön keck von dir, mir Befehle erteilen zu wollen.“
Sie hatte noch von der Vernichtungsaktion das Messer in der Hand, Tobias wußte überdies, sie konnte damit umgehen.
Erschrocken wedelte er mit den Händen: „So war das nicht gemeint!
Keineswegs wollte ich Befehle erteilen.
Selbstverständlich gilt unsere Vereinbarung. Dies war eben bloß ein emotionaler Ausbruch oder auch Einbruch.
Es soll alles weg.
Sonst kann ich nicht zu meinem Vater.
Sonst werde ich mich nie mit meinem neuen Leben abfinden.“
Marie kam, obwohl Atheistin, gerade die Assoziation in den Sinn, sie würde gerade Christus* sticheln und kreuzigen, um ihn zum Vater zu schicken, eine schöne Parabel, wie sie befand, Tobias als Christus – welch köstlicher Gedanke und ausgerechnet sie diejenige, die ihm den Weg zum Vater eröffnete?

Marie spielte mit dem Messer in der Hand: „Abfinden klingt ja nicht gerade nach einer glorreichen Zukunftsperspektive.
Er ist dir wirklich so wichtig?
Wichtiger als all das hier?“
Damit machte sie eine Geste rundherum.
Tobias erwiderte: „Das hier ist erfolglos, vom Vater finanziert. Das war nie meins, ich bin ein Versager.
Was bleibt mir da mehr als die Familie?
Liegt dir etwa nichts an Vater und Mutter, an deinen Eltern, Verwandten?“
Tobias sah sofort ein, diese Frage war dumm gewesen. Er wußte doch, darauf sprach man Marie besser niemals an, aber in seinem Elend war dieser Gedanke einfach so herausgeplatzt, heizte indes die Stimmung bei Marie ohne Zweifel ganz erheblich an. Er kannte keine Details, aber er erinnerte sich nun, daß dies ein ganz heikler Punkt bei Marie war. Wollte man sie provozieren, war das gerade das richtige Thema. Keineswegs wollte er sie nun auch noch provozieren, aber es war ihm so herausgerutscht, dumm und unbedacht, nun mußte er die Konsequenzen wohl dulden.

Bei diesen Worten flackerte etwas in Maries Augen, ein Abgrund des Grauens tat sich auf: „Sprich diese Wörter nicht mir gegenüber aus!
Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben.
Er ist tot.
Ich bin befreit von ihm!
Ich habe keine Verwandten, ich brauche keine Verwandten, ich will keine Verwandten, das ist Vergangenheit und vorbei.
Ein für alle Male vorbei.
Ein anderer Teil meines Lebens!
Man wird nie alles davon los, aber wie du hier, so habe ich auch abgeschlossen, so weit es geht!“

Tobias dachte nicht nach, er hatte Angst vor ihr, wie sie nun dastand, zudem noch immer mit dem Messer in der Hand, das schien irgendwie unberechenbar.
Außerhalb seiner Kontrolle entfuhr es ihm dann: „Aber …“ kroch es nur leise aus seinem Munde …

Marie schien nun wirklich aufgebracht zu sein: „Keinerlei Aber!“
Dabei griff sie eine kleine Keramikfigur von der Fensterbank, warf sie mit ganzer Kraft haarscharf an Tobias’ Kopf vorbei. Die Figur schmetterte mit beachtlicher Wucht gegen eine Keramik, welche an der Wand hing, die dadurch zerbrach, zu Boden fiel.
„Keine Vergangenheit!“ rief sie, schmetterte weitere kleine Figuren auf weitere Keramiken an der Wand. Man kann zwar sagen, sie traf nicht mit jedem Wurf, aber doch meistens. Der Reihe nach ging sie alle durch, schmetterte sie durch den Raum auf die anderen zerbrechlichen Werke. Lediglich eine ließ sie aus. Diese hielt Tobias jedenfalls für das Beste aus seinem keramischen Werk.
Bald waren nur noch wenige übrig, aber keine sinnvollen Ziele mehr, aber auch diesen Rest schmetterte sie noch an die Wand: „Das war es dann wohl, alles vom keramischen Werk abgeräumt, nur diese bleibt übrig!“
Sie hielt die einzig verbliebene abstrakte Figur in der Hand, Tobias erwartete den finalen Aufschlag an der Wand, aber Marie meinte bloß: „Na, die ist klein, unbedeutend, künstlerisch belangloser Kleinkram, jedoch ganz lieblich-dekorativ, die nehme ich auch noch mit!“
‚lieblich-dekorativ‘ war für Tobias erneut ein harter Schlag in seine Magengrube, derart vergiftetes Lob schmerzt mehr als abprallende Verachtung. Ergeben wankte Tobias jedoch blooß durch den Raum, besorgte einen kleinen Karton samt Holzwolle, warf noch einmal einen Blick auf die auserwählte Figur, schüttelte seufzend den gesenkten Kopf, packte diese Figur ein, trug sie zu den anderen Sachen an der Tür.

Er kehrte zurück über die Trümmer der Keramiken, erkannte wieder, wo er lange dran gearbeitet hatte. Er war selbst bereits ein zerschmettertes Wrack, er wimmerte und jammerte, aber bloß leise.
Marie sah dem Schauspiel interessiert zu. Sie hatte ihr Gleichgewicht nach dem kleinen Schauspiel wiedergefunden. Vielleicht hatte sie den Ausbruch auch lediglich gespielt, um etwas Würze, Tempo, mehr Dramatik, Ausdruck, Lebendigkeit in die Aktion zu bringen. Jene durch die Gegend gepfefferten Figuren, welche andere Keramiken zerschmetterten, hatten schon etwas Fahrt sowie Schwung in das Spiel gebracht. Und mit jedem Aufschlag hatte sie Tobias im Kern getroffen. Es hätte gar nicht besser laufen können.
Eine bizarre Szene, sozusagen hatte sie ihren Impulsen freien Lauf gelassen, hätte man meinen können. Sie wußte es natürlich besser. Dafür brauchte es schon deutlich mehr, bis sie ihr Monster wirklich von der Kette ließ – und im Anschluß wären die Folgen deutlich ärger geworden. Sie hatte lediglich gespielt, aber gut.
Diese Wörter da in der Kombination mochte, würde sie mitnichten von sich aus aussprechen, aber doch egal, wenn andere es taten, was scherte sie das, aber hier eignete sich derlei gut, um dem Drama etwas mehr Temperament zu geben. Sie wollte nicht zu gleichgültig erscheinen, achtete gerne darauf, auch einmal etwas Gefühlvolles scheinbar aus sich heraus beizutragen, vorzuführen. Natürlich war das Theater um diese Wörter auch nur eine Inszenierung, eine kleine Rache an ihm, den sie damit nicht anerkannte, von dem sie sich so immer wieder sowie mit Genuß distanzieren konnte. Wenn er sich schon so erbarmungslos in ihr Sein gebrannt hatte, mußte sie ihn nicht auch noch benennen oder gar ehren statt verachten.

Tobias jammerte und wimmerte noch immer erbärmlich.
Sie hatte ihn schon zur Schnecke gemacht, zu einem erbärmlichen Haufen Elend, aber es lag noch Arbeit vor ihr, noch längst war nicht alles hier zernichtet und zerstört, was ihm von formalem oder persönlichem Wert war. Aber dieser Jammerlappen stand ihr im Weg. Eine Hilfe war er ohnehin nicht. Ihn für einen Jammerlappen zu halten, gehörte zum Ritual, zum Spiel, sonst würde sie nicht so über ein Opfer urteilen, lediglich im inszenierten Spiel.
Tobias war ein respektabler Mensch, den sie gelten lassen mußte und wollte, jedoch mitnichten als Opfer in diesem Spiel, dabei mußte er nun dulden sowie ertragen, was er ihr überlassen hatte.

Sie wandte sich an ihn, schwankte in der Intention zwischen einer letzten Chance für Tobias, noch etwas zu retten, und einer weiteren Stichelei in der bereits weit aufgerissenen Wunde: „Also nun ohne Hintersinn zum weiteren Prozedere: weitermachen oder nicht?“ fragte sie eher einfach so nach.
Er zögerte einen Moment, diese Frage schien sie ernst zu meinen, keine Falle, kein Zynismus, keine Ironie, keine Rhetorik darin zu erkennen. Er hätte noch eine Chance, jetzt etwas vor ihrem Zugriff zu retten. Aber er wollte ja mit seinem Werk vernichtet werden, wollte davon befreit werden, nicht einmal, um wie Phönix aus der Asche zu steigen, nur um wie ein Wurm ein weiteres, belangloses Leben zu führen, befreit vom Zwang, originell, kreativ sein zu müssen, befreit von der Not, für Kunst anerkannt zu werden, für etwas, was seinem eigenen Ich entsprang und nicht irgendwie bloß als Produkt eines Unternehmens möglichst allgemein nutzbar verkauft werden konnte.
Er wollte doch normal sein.
Er wollte doch normal sein?
Er wollte normal sein!
Er wollte unauffällig sein.
Ja, das wollte er.
So sprach er mit belegter Zunge sowie gebrochenem Klang: „Es muß zu einem Ende gebracht werden, auch wenn ich es nicht mehr aushalten kann, ich bin längst über die Grenze des Erträglichen hinweg, aber es muß weitergehen!“

Marie nickte, meinte dazu indes: „Na, da unterschätzt du dich jedoch gewaltig, da geht noch deutlich mehr!“
Dabei nahm sie auch schon einen synthetischen Zwirn oder dünnen Strick aus dem Regal, welcher wohl eigentlich dazu diente, etwas zu verpacken sowie zu verschnüren. Mit dem Messer in der anderen Hand schob sie Tobias einfach durch die Keramiktrümmer an die Wand, band kurzerhand dem willenlosen Opfer seine Hände hinter dem Rücken zusammen, drückte ihn hart herunter, daß er in den Keramiksplittern kniete, vor Schmerz wimmerte, sich allerdings nicht wehrte oder widersprach. So zog sie auch noch den Strick um seine Fußgelenke, von dort hoch zu einem Haken in der Wand, an welchem noch kurz zuvor eine Keramik gehangen hatte.
Tobias war wehrlos, hilflos fixiert.
„Du mußt aufpassen, nicht so zappeln, auch bei Panik nicht, sonst schneidet das Synthetikzeug in dein Fleisch!“
Marie schätzte solche Anordnungen sehr, wo es das Opfer ein gutes Stück weit selbst im Griff hatte, sich selbst zu schaden sowie zu quälen. Objektiv war die Situation natürlich von ihr schon dermaßen angelegt, daß man ziemlich sicher sein konnte, daß das Opfer sich in der Konstellation selbst peinigte. Notfalls konnte sie dazu immer noch ein wenig provozieren, was hier jedoch wohl gar nicht notwendig war, Tobias peinigte sich schon selbst genug, dabei mußte sie gar nicht mehr nachhelfen.
Sie hätte ihn gar nicht so warnen brauchen, denn die Pein hatte schon ohne großes Zappeln begonnen, es schnitt bereits bei der kleinsten Bewegung, zog sich weiter zusammen, seine Haut war im Bereich der Fesseln schon leicht blutig, mit jeder Bewegung würde es tropfen sowie schneiden.
Aber Tobias duldete, denn er wußte auch nicht mehr, was schlimmer war, der Schmerz durch die einschneidenden Fesseln an den Handgelenken, den Fußgelenken, durch seine verkrümmte Haltung, jene Keramiksplitter, in denen er kniete – oder die Qual durch die vernichtete künstlerische Existenz, die Trümmer seines bisherigen Seins, in denen er knien mußte.

Marie hatte sich nach diesem kleinen, fesselnden Intermezzo wieder dem Brandeimer zugewendet. Die Flammen waren längst erloschen. Mißtrauisch forschte sie nach verbliebenen Glutnestern, stocherte in der Asche mit einem Werkzeug herum, fand allerdings offenbar nichts. Sie griff zum Pinselreiniger und spritze ein wenig hinein, nichts passierte. Deswegen ergänzte sie noch etwas mehr.
Sie griff einen weiteren Papierbogen aus dem Regal, sah bloß kurz drauf, zeigte das abstrakte Werk kurz Tobias, rollte es wieder, aber etwas diagonal auf, so daß unten eine Ecke blieb, welche sie gut mit dem Feuerzeug anzünden konnte. Schnell und doch vorsichtig steckte sie diese Rolle in den Eimer und wie erwünscht kooperierte der Pinselreiniger als Brandbeschleuniger, die Angelegenheit blieb allerdings unter Kontrolle, alles stand sowieso auf dem nackten Betonfußboden der Halle, also wenig Brennbares drumherum, was sporadischen Funken hätte zum Opfer fallen können.
Marie fütterte noch ein paar Werke nach, hielt dann inne und führte zum leidenden Tobias hin aus: „Eigentlich ist es ungeschickt gewesen, mit der normalen Kleidung zu arbeiten, du hast doch sicher einen Arbeitskittel?“
Tobias ging es gar nicht gut, also wies er nur unverständlich gurgelnd mit dem Kopf die Richtung auf einen abgetrennten Raum.

Marie ging hin, untersuchte diesen, wirklich alles vorhanden hinter der Tür, sogar eine Liege zum Ausruhen, Kleidung zum Umziehen, Koch- und Waschmöglichkeit, Geschirr, abgetrennt selbst ein Badezimmer mit Toilette, Dusche etc, alles vorhanden.
Sie nahm in der Küchenecke eine sauberes Glas, schüttete sich Saft ein, nahm ein paar Schlucke. Sie erwog einen Moment, ebenso Tobias zu versorgen, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder, dieser hatte zu dulden sowie zu leiden, um diese Mission oder auch Passion zu bestehen. Sein Vergnügen sollte ja seine Erniedrigung, Demütigung, Zernichtung sein, kein profaner Genuß von Fruchtsaft, auch noch aus ihren Händen.

Sie nahm Glas sowie Kittel, ging wieder aus dem Nebenraum hinaus, in Sichtweite von Tobias, stellte ihr Glas ab, entkleidete sich komplett nackt. Tobias hatte dadurch Gelegenheit, einige Blicke auf ihren Körper zu werfen, dies war Absicht, in seinem Zustand und darüber hinaus auch noch gefesselt, trug diese an sich verlockende Szene weiter zu seinem Leiden bei. Marie sah natürlich gut aus, schlank, zierlich, schon trainiert, aber keineswegs übermäßig muskulös. Nach dem Entkleiden und vor dem Anziehen des Kittels hatte sie sich zudem herumgedreht, so daß Tobias Gelegenheit hatte, sie von allen Seiten zu betrachten.

Ihr ansonsten so schöner Körper war allerdings von einigen Striemen, Narben gekennzeichnet, diese erstreckten sich hinten vom unteren Teil des Rückens über den Po bis zu den oberen Bereichen der Oberschenkel. Vorne waren davon besonders der Schambereich sowie die Innenseiten der Oberschenkel betroffen. Das war nicht frisch, sondern es handelte sich um finstere Andenken an ihre Kindheit. Jemand, er, hatte sie gezielt derart mißhandelt, daß eine große Wirkung an Schmerz, Leid sowie Demütigung erzielt wurde, ohne daß dies ansonsten, etwa in der Schule direkt aufgefallen wäre. Damals wäre es Marie nicht im Traum eingefallen, jemandem davon etwas zu erzählen oder diese Male in irgendeiner Weise zu exponieren. Heute ging sie allerdings damit ohne Scheu um. Sie hatte kein Problem damit, dies zu zeigen, es gehörte zu ihr, da hatte sie nichts zu verstecken.

Ohne weitere Eile zog sie dann den Kittel an. Ihre Sachen brachte sie zurück in den abgetrennten Raum, trank aus, stellte gleichfalls ihr Glas zurück, kam wieder heraus, schloß die Tür, begab sich wieder zum Regal sowie zum Brandeimer. Ihre grausame Arbeit konnte weitergehen. Marie hatte keine Eile, mit ihren eleganten Bewegungen zeigte sie deutlich, daß sie Gefallen an der Arbeit gefunden hatte, ja, daß sie damit in ihrem Element war. Sie zitierte gar einige Zeilen von Mephistopheles aus Faust I* von Johann Wolfgang Goethe*:

Sie hatte so gut vorgeheizt, daß es noch ein wenig brannte, somit legte sie ohne Eile nach, und noch und noch, bis das Regal nahezu leer von Werken war.
Bei einer Rolle, welche sie bei der Vorabbesichtigung nicht betrachtet hatte, schaute sie interessiert auf das Motiv, runzelte ihre Stirn, drehte es so herum, daß Tobias es sehen konnte: „Das ist anders!
Wirklich von dir?“
Tobias merkte auf: „Oh nein, das ist nicht von mir, habe ich mal von T.U. bekommen.“
Er nannte den Namen eines Künstlers, den auch Marie schon gehört hatte.
Sie nickte anerkennend: „Gut, das solltest du behalten. Dein Werk kann ja dann doch nicht so schlecht sein, wenn T.U. dir sogar etwas überlassen hat.
Vielleicht eignet sich das ganz gut für dein zukünftiges Bureau, in welchem du demnächst arbeitest, als sehnsuchtsvolle Erinnerung an die Kunst?“
Tobias nickte einverstanden.
Marie packte dieses Werk sorgsam wieder ein, steckte es zurück.

Sie suchte weiter, fand jedoch nur noch wenig, um es dem schon hungrigen Feuer zu übergeben, dann nichts mehr: „Fertig hier im Regal!“
An den Wänden hingen nur wenige graphische Werke, sofern nicht gerahmt, sondern lediglich angeheftet, riß sie diese einfach herunter, um auch diese dem Feuer zu übergeben, gleichfalls Ausstellungsplakate sowie Kleinkram, welcher mit seiner Kunst, Vergangenheit zu tun hatte.
Die wenigen gerahmten Sachen allerdings nahm sie sorgsam aus den Rahmen, stellte die Rahmen hin und übergab auch diese Werke dem Feuer, bis schließlich: „Wenn du nicht noch irgendwo was versteckt hast, bin ich wohl fertig mit deinem graphischen Werk!“
Tobias stöhnte auf, es war, als ob nun endgültig ein großer Fleck Nichts in sein Leben radiert worden sei. Er nickte lediglich verzweifelt, widersprach jedoch nicht mehr, gebot nicht mehr Einhalt, hatte dies aufgegeben. Er war nur noch Schmerz und Grauen, ein großer Riß klaffte in seinem Sein, ein Riß, welcher die Vergangenheit mehr und mehr vom Jetzt trennte.
Wer war er denn noch?
Wer?
Noch gab es einige Skulpturen, welche bislang unbeschädigt standen.

Marie schwebte beinahe durch den Raum, schaute sich um, den bisherigen Schaden begutachtend, die Ästhetik des Trümmerfeldes kommentierend, aber auch die noch stehenden Sachen überfliegend, offenbar überlegend, wie sie fortfahren sollte.
Etwas mehr in einer bislang nicht sonderlich beachteten Ecke meinte sie plötzlich: „Ui!
Sogar Glasobjekte!“
Wobei auch schon die ersten beiden zu Boden gestoßen waren, dort zersplitterten.
Tobias fühlte sich irgendwie aufgefordert, etwas dazu zu sagen: „Ja, das war mal eine kurze Phase im Studium, ich hatte die Möglichkeit, in einem Praktikum etwas mit Glas zu machen!“
Marie schaute weiter: „Klar, Praktikum, so sieht einiges auch aus!
Das ist dann doch auch wieder ganz typisch für dein Sammelsurium aus Beliebigem!“
Dabei segelten auch schon weitere Werke zu Boden, zerschellten dort im Vergessen. Jedenfalls für Tobias im Vergessen, denn bei Marie konnte man sich nie sicher sein, was sie im Kopf behielt, bei welchen Dingen sie sich dann doch vielleicht entschied, es zu streichen. Marie entsorgte recht zügig das komplette Glaswerk von Tobias.

Sie stand anschließend vor der großen Collage, einem jüngeren Werk, welches er auch bereits auf einer Ausstellung gezeigt hatte und welches sie zuvor schon kurz kommentiert hatte. Erneut schaute sie, was damit anzufangen sei. Unter anderem waren darin ja ein alter Vorschlaghammer sowie eine große Axt in anderen Gegenständen vergraben und diese schienen sich anzuschmiegen, um diese Werkzeuge der Vernichtung schien Material aufzuquellen. Dies Werk kristallisierte sich nun schon recht deutlich als Prophezeiung der heutigen Aktion heraus, mußte nun allerdings selbst geopfert werden, um zu vollenden.
Marie kommentierte erneut dazu: „Diese Collage fand ich schon auf der Ausstellung sehr interessant, wie die Objekte eine eigene Existenz bekommen, zugrundegehen, aus ihrer Vernichtung aufleben.“
Mit einer Geste wies sie durch den Raum: „So gesehen beinahe eine Prognose für die heutige Aktion, ein Abschluß, eine Verheißung für deine Zukunft!“
So hatte Tobias das noch nicht gesehen, vielleicht hatte Marie indes Recht, vielleicht hatte er unbewußt dieses Motiv derart gewählt, um seine Entscheidung vorwegzunehmen, aufzuhören, mit Kunst abzuschließen.
Die Dinge lebten um die Zerstörung herum weiter, weiter, ein Hoffnungsschimmer im eigenen Sein?
Hatte sein Unterbewußtsein längst seine Entscheidung gefällt und fand hier nur noch bewußt statt, was längst irgendwie in seinem Kopf entschieden war, schon vor Monaten, als er an diesem Werk gearbeitet hatte?
Hatte er damals im Grunde schon aufgegeben, diese Monate hatte sein Bewußtsein lediglich noch gebraucht, um die Entscheidung zu akzeptieren?

Marie indes prokelte schon beherzt in diesem großen Werk herum.
Geduldig bewegte sie die Axt weiter, bis es ihr gelang, diese Axt aus der Verklebung zu reißen: „Mit einer kleineren habe ich schon gearbeitet, in meiner Jugend, Kindheit. Mir wurde beigebracht, damit etwa Tiere erst langsam sowie genüßlich zu quälen und zu verstümmeln, um sie letztlich zu zernichten, eine arge Geschichte – Kindheitserinnerungen – was soll ich sagen, hat wohl irgendwie jeder von uns. Das macht man nicht zum Spaß, das weiß ich heute, aber damals wurde mich gelehrt zu quälen und zu töten, aus Freude daran zu quälen und zu töten, nicht aus praktischem Zweck, quälen, töten oder verstümmeln sollte mir Freude bereiten, das war als Geschenk an mich gedacht und ich folgte. Es gab auch keine große Wahl, das war mir ganz klar, entweder quälen oder gequält werden, wobei das letztere nicht erspart blieb, aber milder ausfiel, wenn ich gezeigt hatte, was ich gelernt hatte.
Das war eine arge Zeit, aber ich bekam ebenso Anerkennung für mein Geschick darin, dem lebendigen Fleisch Pein, Schmerz zuzufügen, Lebendigkeit munter, geschickt, feinsinnig zu zernichten.
Sonst, für die meisten anderen Dinge bekam ich keine Anerkennung, für Qual und Mißhandlung schon.
Heute weiß ich natürlich, daß er unrecht hatte und mir unangemessene Dinge beibrachte, aber kann man sich von seiner Kindheit jemals komplett lösen?“
Tobias verzichtete vorsichtshalber auf eine Antwort und versuchte irgendwie, nicht so präsent zu sein, er wollte keinesfalls an ihrer Kindheitserinnerung praktisch partizipieren, während sie diese Axt in den Händen schwang, eventuell zeigen wollte, wie geschickt sie damit umgehen konnte, wie raffiniert verstümmeln, zerlegen, zernichten damit sein könne.
Obwohl, hätte es für ihn einen so großen Unterschied gemacht, hatte sie ihn nicht schon längst zernichtet sowie zerschlagen?
Dies hatte doch im Grunde bereits sein Vater erledigt, er war lediglich Erfüllungsgehilfe?
Hatte er nicht längst aufgegeben, resigniert?
Was tat es da noch, was sie mit der Axt anstellen mochte?

Mit der mit Kleber verkrusteten Schneide der Axt versuchte sie nun, den Vorschlaghammer aus der geklebten Umklammerung der restlichen Collage zu lösen, wobei sie gleichzeitig den Griff des Vorschlaghammers in kreisenden Bewegungen führte. Die Kreise wurden größer, bis sie nach recht kurzer Zeit in der einen Hand die Axt, in der anderen den Vorschlaghammer hielt.
Sie setzte sich an einen Tisch, schabte dort erst mit der Axt, danach mit einem Messer den Kleber grob vom Vorschlaghammer. Bei der Axt ging sie sorgfältiger vor, entfernte recht vorsichtig den kompletten Kleber von der Klinge.
Im Anschluß stand sie auf, wies auf einem Schleifstein in einer Ecke: „Das sollte wohl gehen, um sie wieder scharf zu bekommen.“
Tobias meinte: „Den Schleifstein verwende ich sonst für kleinere Sachen, Meißel, Messer etc, das ist rein mechanisch, ist ordentlich in Schwung zu drehen, anschließend kannst du die Schneide gleichmäßig schräg entlangführen.“
Marie erwiderte: „Na, ich bin nicht blöd, solch einen Schleifstein oder solch ein Schleifrad kann ich schon benutzen, hättest dir allerdings ruhig einen elektrischen gönnen können. Man führt ja die Klinge eher mit beiden Händen, kann also nicht gleichzeitig drehen, folglich nimmt die Winkelgeschwindigkeit bei der Arbeit immer wieder ab. Aber ich werde es schon hinbekommen.“

Tobias bereute natürlich, daß das Gerät keinen Elektromotor hatte, aber als er das alte Teil geschenkt bekommen hatte, wie hätte er daran denken können, daß Marie irgendwann Verwendung dafür haben würde, um Präzisionsarbeit an einer alten Axt zu versuchen?
Er schwieg besser, denn Marie hatte ja Axt sowie Vorschlaghammer frei verfügbar und er war sich noch nicht sicher, ob sie mit den Ausführungen zu ihrer Kindheit schon komplett abgeschlossen hatte. Aber die Arbeit an der Klinge schien sie vollständig zu beschäftigen, Tobias schaute indes fasziniert, wie konzentriert sie arbeitete, die Klinge in gleichmäßiger Bewegung am Schleifrad entlangführte, dann wieder Schwung gab und fortfuhr, als wäre sie bereits seit Jahren in dem Handwerk beschäftigt und nicht eine herausragende Studentin in ihrem Studienfach an der Universität.

Alsbald war Marie ganz zufrieden, strich vorsichtig mit der Fingerkuppe über die geschärfte Schneide. Sie nickte, zitierte erneut, leicht abgewandelt aus dem Faust I*:
Eine Frau, die recht zu wirken denkt,
Muß auf das beste Werkzeug halten.

Dann schaute sie sich genau die größte der wenigen Holzskulpturen auf Schwachstellen sowie den Verlauf der Holzfasern an, positionierte sich davor mit leicht gespreizten Beinen, nahm Maß, korrigierte den Abstand, nahm noch einmal weit ausholend Maß, korrigierte noch einmal. Dann holte sie gelassen aus und zog endlich kraftvoll durch.
Mit erheblichem Krachen fuhr die Axt in die Skulptur, drang ein Stück ein, das Holz knackte zu einem größeren Riß.
Tobias gurgelte vor Elend, auch an die viele Arbeit und Liebe denkend, welche er auch in diese Skulptur gesteckt hatte. Mit einem Hieb hatte sie bereits alles zunichte gemacht.
Marie wackelte die Axt aus dem Holz, positionierte sich grob senkrecht zur vorherigen Schlagrichtung, nahm erneut präzise Abstand, schlug alsdann ein zweites Mal zu. Obwohl wohl etwas weniger kraftvoll ausgeführt, drang die Axt erneut krachend ein ganzes Stück ein und ließ das Holz in einem zweiten Riß knacken. Marie wackelte wieder die Axt aus dem Holz, führte einen weiteren Hieb aus, welcher die Skulptur endgültig in zwei Teile aufspaltete, die krachend zu Boden fielen.
Marie stellte die beiden Hälften wieder auf, daß sie aneinander lehnten und führte einen weiteren Schlag in der ersten Richtung aus, stellte wieder auf, schlug kraftvoll zu, bis die Skulptur mehrfach zerteilt und zerstört war. Diese Hiebe waren nun gezielt derart ausgeführt, daß keine bloße Spaltung vorlag, teils waren die Kanten zerfasert, was es sowieso erschweren würde, wieder etwas zusammenzusetzen, sollte Tobias doch noch irgendwann die Reue überkommen – diese Zerstörung war nun praktisch irreversibel.

Sie wandte sich nun der nächsten Holzskulptur zu, mit welcher sie ähnlich verfuhr. Daraufhin widmete sie sich der dritten und hatte damit alle Holzskulpturen zerstört. Nicht so leicht zufriedengestellt schichtete sie die Holzstücke auf, schärfte die Axt noch einmal nach und hackte noch einige Schläge weiter auf den Holzstapel ein, bis von den Skulpturen allenfalls noch die Ahnung der ursprünglichen Formen in den verbleibenden Stücken verblieb.

Es gab einige kleinere Collagen, teils an den Wänden hängend, teils davor in Gruppen zusammengestellt, welche in der Ausführung etwas an Kurt Schwitters* Merz-Kunst* erinnerten.
Marie schien, diese würden sich auch gut für die Bearbeitung mit der Axt eignen.
Mit kräftiger Stimme schmetterte sie durchs Atelier: „Dada! Merz! Dada! Uuuuursonate! rakete rinnzekete!“
Zwar bedauerte sie auch hier, zuschlagen zu müssen, seufzte jedoch lediglich kurz, schlug auch hier beherzt zu, daß die Fetzen nur so flogen.

Im Wesentlichen gab es nun noch einige Steinskulpturen. Die am Boden liegende war ja auch nur einfach zersprungen, von daher derzeit noch mehr oder weniger reparabel.
Jedenfalls, zumal sie die Axt noch in der Hand hatte, versuchte sie sich damit auch an einer Skulptur aus Sandstein.
Das Geräusch beim Aufschlag deutete schon an, daß die Stahlaxt nicht so richtig mit Stein harmonierte, aber es zeigte sich doch eine deutliche Spur, also fuhr sie noch einige Schläge weiter fort.
Tobias spürte auch hier jeden einzelnen, als würde er ihn selbst treffen.
Der Strick hatte sich längst in sein Fleisch gegraben wie die Keramiksplitter durch die Hose in seine Haut, aber der Anblick der Zerstörung der Werke schmerzte noch ungleich mehr.

Marie begutachtete die Klinge der Axt, kratzte sich am Kopf und griff zum Vorschlaghammer. Dies prachtvolle Teil hatte eine ordentliche Masse, einige Kilogramm mehr als die große Axt, welche ebenfalls schon eindrucksvoll gewesen war, so daß Marie sich erst einmal daran gewöhnen mußte, wie der Vorschlaghammer am besten zu handhaben sowie zu bewegen war.
Sie versuchte sich erst einmal an den groben Trümmern der bereits zu Boden geworfenen Skulptur, was dann nach einiger Arbeit ganz guten Erfolg hatte. Die Skulptur war endgültig zu unkenntlichen Steinbrocken sowie Splittern zerstört.

Hätte man Marie auf der Straße oder im Vorlesungssaal gesehen, hätte man ihr die Kraft sowie Ausdauer wohl kaum zugetraut, aber sie setzte ihre Arbeit hier unermüdlich fort.
Allein, Tobias wollte es gar nicht mehr sehen.
So schaute er einfach weg, als Marie begann, aus der Drehung heraus den Vorschlaghammer gegen eine noch intakt stehende Skulptur zu schwingen.
Dem lauten Krach des Aufschlags sowie dem Poltern der Trümmer konnte sich Tobias natürlich nicht entziehen.
Nun hielt sich Marie nicht weiter mit Details auf, sondern holte alle restlichen Skulpturen mit ähnlich schwungvollen, ja gewalttätigen Schwüngen von ihren Podesten und zernichtete sie gnadenlos, daß die Splitter nur so flogen.

Endlich stand nichts mehr, Marie verschnaufte nach diesem soliden Ergebnis ein wenig. Die Luft war trotz des immer noch herrschenden Durchzuges dunstig und staubig. Einiges hatte sich bereits als feiner grauer Belag gesetzt. Das gesamte Atelier war ein gewaltiges Trümmerfeld, ein Ort der Verwüstung sowie Zerstörung. Tobias, der Künstler, kniete indessen noch immer in den Trümmern, mit dem Strick fixiert wie zur Hinrichtung drapiert, aber mit der Zerstörung seiner Werke war er längst gerichtet sowie zermürbt, ins Mark getroffen, gedemütigt und erniedrigt, ganz wie es Marie zukam.
Er war längst weit jenseits des Punktes, der ihm erträglich erscheinen konnte. Und doch hatte sie Recht, jenseits dieses Punktes ertrug er weit mehr, als er für möglich gehalten hatte. Auch dies hatte sie ihn in dieser grausigen Sitzung eingehend gelehrt.

Marie setzte ihre Arbeit fort, durchmusterte sorgsam den Raum und die Trümmer, zermalmte mit dem Vorschlaghammer noch einmal jeden Trümmer, der noch irgendwie nach reparabler Kunst aussah. Endlich war sie bei der großen Collage angekommen, aus welcher sie Axt sowie Vorschlaghammer gelöst hatte, welche bislang als letztes und gar auch noch bedeutendes Werk von Tobias keine weiteren Schäden aufwies. Lediglich etwas Staub der Zerstörung drumherum hatte sich bereits darauf abgesetzt. Ohne Zögern gab Marie auch dieser Collage nun mit dem Vorschlaghammer den Rest, daß der Kram nur so durch den Raum spritzte und splitterte.

Letztendlich war es getan, vollbracht, vollendet, in normaler Lautstärke, den Vorschlaghammer abstellend, stellte sie nur lakonisch fest: „Dann bin ich wohl so weit durch!“
Tobias grunzte nur hilflos sowie verloren. Sein Gesicht war ganz grau, bedeckt von einem schmierigen Gemisch von Tränen, kaltem Schweiß, Dreck sowie Staub. Er spürte nicht einmal mehr, in welch schlechtem Zustand er war. Nach Schmerz und Verzweiflung hatte er den Zustand völliger Resignation erreicht, es war alles passiert, statt sich befreit zu fühlen, war er unterdessen zerschlagen wie all seine Werke, vernichtet.
Marie wußte seinen Zustand gut zu deuten, nickte dazu zufrieden. Ein freundliches Lächeln zeigte sich auf ihrem ebenfalls verschwitzten, verstaubten sowie verschmierten Gesicht.
Marie schaute über ihr Werk der Zernichtung und es war gut.

Nachbesprechung

Vom Tisch nahm Marie ein Messer, ging zu Tobias und sorgte bei diesem mit geschickten Bewegungen vor ihm für eine gewisse Verunsicherung, was sie mit dem Messer vorhatte. Allerdings war Tobias bereits dermaßen am Boden zerstört, daß dieser Anblick sein Elend kaum weiter steigerte, allenfalls Erlösung versprach.
Doch die gab es natürlich nicht.
Marie war nicht so die Person, von der man Erlösung oder Vergebung erwarten konnte, Befreiung schon eher, wobei es dann allerdings eine Frage des Standpunktes war, ob man das Ergebnis als Befreiung betrachten konnte. Tobias war einstweilen nicht mehr in der Lage, hier ein Urteil zu fällen oder anzuzweifeln.
Somit schnitt Marie dessen Strick einfach durch, daß er vom Haken gelöst kraftlos in den Dreck und Staub fiel.
Sie löste auch Hand- und Fußfesseln, betrachtete jene Stellen, wo sich der Strick ins Fleisch gegraben hatte.
„Da sollten wir uns mal drum kümmern, paß auf, daß da nicht noch Dreck reinkommt!“, sprach sie Tobias aufmunternd zu, zog ihn dann hoch und weiter bis ins Bad, ließ ihn sich setzen, wusch die Wunden mit viel fließendem Wasser sorgsam aus, suchte und fand den Verbandskasten und versorgte den Elenden, der alles wort- und mutlos über sich ergehen ließ.

Marie schaute durch die Tür, die Luft war schon etwas klarer, aber es schwebte noch reichlich Staub.
Sie warf auch einen kurzen Blick durchs Fenster. Inzwischen graute bereits selbst dem Morgen ein wenig. Das lag aber sicher nicht an ihr und dieser Aktion, dem Morgen war einfach so, bedingt durch Jahreszeit und Uhrzeit. Marie hatte damit rein gar nichts zu tun.
Sie schloß die Tür wieder. Beide begaben sich in die Küche. Tobias machte noch immer einen sehr trostlosen Eindruck. Außerhalb der direkten Sichtweite des Trümmerfeldes war er dann allerdings wieder halbwegs ansprechbar. Tobias hatte sich an den kleinen Küchentisch gesetzt.
Marie meinte nur: „Ich dusche wohl besser!“
Sie zog gleich den Arbeitskittel aus, stand nur kurz nackt in der Küche, eilte danach ins Bad und Tobias hörte gleich die Dusche rauschen. Ihre Säuberung dauerte so lange nicht, bis sie fertig war.

Noch das Handtuch in der Hand, sich abtrocknend kam die nackte Marie wieder herein, anders als Tobias war sie sichtlich gut gelaunt. Trotz der Anstrengung hatte ihr die Aktion Erleichterung verschafft, sie hatte einiges an Aggression herauslassen können, was ohnehin irgendwann heraus gemußt hätte. So fühlte sie sich frisch sowie lebendig. Sie hatte zernichtet und es war gut gewesen.

Tobias schaute nur mit trübem Blick, wie das Handtuch über ihre nackte Haut streichelte und Marie ohne Scheu oder Scham vor ihm etwas posierte. Sonst wäre es gar zu verlockend gewesen, doch jetzt fehlte ihm jegliche Kraft, jeglicher Sinn für erotische Ausstrahlung, was ihn zusätzlich traf, denn der Verstand sowie die Erinnerung verband mit dem Anblick schon einen eindeutigen, mächtigen Reiz, doch allein der Körper war schon zermürbt und schlaff, der Geist war taub, öd und leer. Letztlich war es eine weitere Demütigung sowie Erniedrigung für ihn, welche Marie gezielt einsetzte, die wußte, welch Verwirrung sie mit ihrem Auftritt stiftete.

Nach dem Abtrocknen zog sie wieder und ohne Eile, aber als weitere Darbietung inszeniert ihre Sachen an, setzte sich zu Tobias an den Tisch: „Schau nicht so, kannst doch zufrieden sein, dies Trümmerfeld, diesen Abschluß wolltest du doch, die Angelegenheit ist erledigt. Und ich muß sagen, dieses zerstörerische hat mich ganz schön Schweiß und Anstrengung gekostet.
Ist anders als gemeinhin gedacht doch mit erheblicher Arbeit verbunden, akkurates Zerlegen, Zertrümmern, Zernichten kostet reichlich Energie!“
Tobias murmelte nur tonlos und abwesend: „Ja, danke.“
Richtig überzeugend klang sein Dank allerdings mitnichten, aber sie hatte ja Recht, es war sein Wille, den sie erfüllt hatte, er hatte es ihr sogar schriftlich gegeben, daran war nichts zu drehen. Wie ein Henker hatte sie vollstreckt, gnadenlos zernichtet, was ihn gehalten hatte, gebunden hatte.
War er nun endlich frei?
Er fühlte sich kein bißchen frei.
Er fühlte sich kein bißchen erleichtert.
Er fühlte sich kein bißchen befreit.
Was fühlte er jetzt überhaupt noch?
Er war leer.
Leer und erschöpft, kraftlos.
Was hatte er sich erhofft, was danach passieren würde?
Tatsächlich ein Storno, eine Löschung, eine Rückstellung auf Anfang?
Er wußte es nicht mehr, er wußte gar nichts mehr, zitterte, es war hoffnungslos, alles verloren, nicht befreit, nicht frei, sondern bloß erschlagen, alles zu Staub zerfallen, welcher nun noch lustlos zwischen den Zähnen knirschte, doch zum Knirschen fehlte ihm auch die Kraft sowie der Wille.

Ihn munter weiter quälend insistierte Marie: „Sag mal, meinst du eigentlich, daß das alles wirklich notwendig war?
Wenn dein alter Herr sowieso alles finanziert hat, denkst du nicht, der wäre so dankbar über deine Heimkehr, den Eintritt in die Firma gewesen, daß du einen faulen Kompromiß hättest aushandeln können, um wenigstens teilweise weiter im Bereich Kunst aktiv zu sein?
Vieles hier hätte es doch verdient gehabt, weiter zu bestehen, zweifellos hast du obendrein noch mehr gute kreative Ideen.“

Tobias grummelte, vermutlich hatte sie ja Recht, hatte sie ihm gerade offenbart, daß er ein richtiger Dummkopf, Idiot, Narr im eigenen Sein war?
Er antwortete aber „Weiß nicht, ich denke, wenn, dann müßte ich mich doch ganz um das Unternehmen kümmern?“
Marie legte zweifelnd den Kopf auf die Seite: „Wieviel Ahnung hast du wirklich davon?
Ist es nicht effektiver, Leute einzustellen oder zu befördern, welche sich damit auskennen und sich nur berichten zu lassen, in einer Art Aufsichtsrat nur die zentralen strategischen Diskussionen zu führen und zu entscheiden?
Würde das Unternehmen damit nicht besser fahren?
Und du auch?
Du hättest noch Zeit für das, was dir wirklich am Herzen liegt.“
Dabei wies sie zur Tür, hinter welcher sich allerdings lediglich jetzt noch eine Trümmerfeld, eine Wüstenei statt eines intakten Ateliers eines kreativen Künstlers ausbreitete.

Tobias war verunsichert, fühlte sich immer mehr wie ein Idiot, Tor, Trottel, Dummkopf, Depp, kam sich vor, als hätte Marie ihn gerade vorgeführt: „Vielleicht hast du Recht …“
Marie unterbrach: „Vielleicht?
Ganz bestimmt habe ich Recht.
Was du da jetzt vorhast, wäre das wirklich die optimale Lösung für euer Unternehmen?
Wäre dein Opfer wirklich für das Unternehmen nützlich?
Ich denke, du könntest deinem alten Herren wohl leicht klarmachen, daß es gute Leute für das Tagesgeschäft gibt. Ein gut ausgehandelter fauler Kompromiß würde deinen alten Herrn doch letztlich recht zufriedenstellen, vielleicht gar mehr, als wenn du dich darin täglich mit mäßigem Erfolg durchquälst.
Bist du nun ein ausgebildeter Künstler und allenfalls Hobby-Unternehmer oder bis du ein ausgebildeter, leistungsfähiger Unternehmer und allenfalls Hobby-Künstler?
Was kannst du denn besser und wo solltest du schlau sein und so vorausschauend, um die Detailarbeit Leuten zu überlassen, welche mehr davon verstehen?
Und wenn du es so machst, das Unternehmen in der Art erfolgreich führst, ist ja auch die Finanzierung deiner Kunstaktivitäten gesichert. Wenn dein Vater an dich übergibt, liegt ja ohnehin die Finanzierung ganz in deiner Hand und du hast viel mehr Möglichkeiten, ohne fragen zu müssen. Du bist selbständiger.
Wenn wir überdies mal ganz genau dein unternehmerisches Geschick als Künstler hier betrachten, glaubst du wirklich, das würde im Familienunternehmen so viel besser hinhauen, wenn du nicht einmal nennenswert etwas von dem unters Volk gebracht hast, an dem dir wirklich etwas liegt?“

Tobias mußte einräumen, sein unternehmerisches Geschick als Künstler war bislang schon sehr überschaubar, er schaute verblüfft: „Also ein eigener Weg, mein Weg?“
Marie grinste vergnügt: „Du bist auch der Weg. Wenn dich die ausgetretenen Pfade der anderen nicht weiterbringen, wenn dich der Strom nicht dorthin bringt, wohin du willst, was bleibt dir, als die Pfade zu verlassen, aus dem Strom zu streben, um deinen eigenen Weg zu bahnen, zu erschaffen, den du gehen kannst?
Und sei das sanft oder auf die grobe Art.
Solange das nicht gegen andere geht, welche ja auch nur ihrem Weg folgen, was ist dabei?
Du hast ein Recht auf deinen eigenen Weg!“

Tobias nickte nur so eben, er war ein Idiot und Marie hatte es ihm nur zu deutlich vorgeführt: „Ja, du hast natürlich Recht. Nur …“
Marie hakte nach: „Nur was?“
Tobias führte seinen Gedankengang fort: „Nur warum hast du das nicht gesagt, bevor das da alles passiert ist?“
Dabei zeigte er mit stark zitternder Hand auf die Tür, hinter welcher das Trümmerfeld seines Ateliers, seiner Vergangenheit sich ausbreitete.
Marie tat empört sowie erstaunt: „Aber es war dein Wunsch!
Dieses Ritual der totalen Zernichtung war nicht nur das, was du wolltest, sondern sicher gleichfalls, was du gebraucht hast, um dein Leben jetzt an diesem Wendepunkt zu überdenken.
Denkst du wirklich, nur mit Worten hätte man dich bewegen können, dein Leben selbst in die Hand zu nehmen?
Denkst du, nur mit Worten hättest du von der Zwickmühle, vom Druck deiner Vergangenheit befreit werden können?“
Sie schüttelte vergnügt den Kopf, grinste nun zynisch sowie sichtlich vergnügt: „Und wer bin ich, dir vor der Katastrophe, dem Vergnügen Ratschläge geben zu wollen?
Gibt es eine absolute Wahrheit?
Natürlich gibt es diese nicht!
Nicht jenseits von Mathematik und Logik.
Kann ich in deinen Kopf gucken?
Auch ich impliziere nur, aus meinem Blickwinkel …
Wo wäre die tiefe Demütigung sowie Vernichtung, wenn ich dir einfach so sagen würde, was du doch selbst hättest erkennen müssen?
Ich wäre doch nicht ich, wenn ich mir diese Gelegenheit entgehen ließe, deine Vernichtung zu zelebrieren sowie zu genießen, wie du im Dreck deiner bisherigen Existenz liegst!“

Tobias stöhnte verzweifelt auf.
Dabei knirschte der Dreck seiner bisherigen Existenz zwischen seinen Zähnen, als er diese nun zusammenbiß.
Natürlich hatte sie Recht.
Das war es, weswegen er sie gefragt hatte, weswegen er ihre Hilfe gebraucht hatte. Natürlich, ein einfaches, ehrliches Gespräch hätte die Lösung formal gebracht, aber dann hätte er danach und um Rat fragen müssen, nicht um Erniedrigung sowie Demontage. Demnach lag der Schlüssel zu allem bereits in seiner Bitte.
Wäre er zudem wirklich in der Lage gewesen, einem schlichten Rat zu folgen?
Sie hatte wohl Recht, er hatte mehr gebraucht, den ganzen Dreck, den Schmutz, das ganze Drama seiner erbärmlichen Existenz.
Dennoch – sicherlich hätte er all das viel günstiger haben können, ohne so vollkommen zernichtet, aufgerieben sowie reduziert zu werden.
Er war ein Idiot und Marie hatte es ihm gezeigt, sie hatte ihn dermaßen gemein sowie fies zur Schnecke gemacht, mit Plan. Dieser letzte Stich wiederum war dann die Lösung des Problems, der gute Rat, schlicht nachdem alles zerstört war, was ihm etwas bedeutet hatte.
War Erfolg wirklich so wichtig?
War es wirklich so wichtig, ein bekannter sowie berühmter Künstler zu sein, welcher erhebliche Preise für seine Werke erzielte?
Hing daran ernsthaft sein Anspruch als Künstler, sein Selbstverständnis, Selbstbild?
War es nicht viel wichtiger, kreativ zu sein, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, die Dinge entstehen zu lassen, einfach frei aus dem Vollen zu schöpfen?
Marie hatte es ihm gezeigt.
Nun war er frei.
Nun konnte er von vorne beginnen.
Er fühlte sich nur mäßig dankbar für diese Lehrstunde von Marie, welche jedenfalls vordergründig zunächst eine Leerstunde gewesen war. Aber es war ihre Schuld nicht, sie hatte lediglich getan, was ihr gefiel, ihrer Neigung entsprach – gemäß seiner beinahe flehentlichen Bitte, seinem Wunsch, seiner Vorstellung davon, was ihm aus seiner eigenen Zwickmühle helfen sollte. Sie hatte seine Dummheit, seine Idiotie, seine Unterwürfigkeit, seine Schwäche genutzt, weil er all dies angeboten hatte, wohl wissend, was sie damit tun würde, ja geradezu tun mußte. Ihr waren keinerlei Vorwürfe zu machen.

Marie war dann aber nicht so fies und fuhr einfach fort: „Schau mal, es ist eigentlich nicht soooo schlimm. Du fängst nicht wirklich bei null an, es ist alles in deinem Kopf, du kannst etwas, hast etwas gelernt, hast Erfahrung. Nachdem du vom alten Materiellen befreit bist, kannst du frei mit dem agieren, was nun in deinem Kopf ist sowie jetzt für die Zukunft realisiert werden will, was nun auf die Welt kommen will!
All das war ein Sammelsurium, dies waren deine Altlasten, welche du jedenfalls bereits so gedanklich, unbewußt eingeordnet hattest, teils gut, teils mäßig, dies war deine Lehrzeit. Dies alles waren Fingerübungen mehr oder weniger aus der Studienzeit. Nun hast du einen Schnitt gemacht und widmest dich als Meister deinem eigenen Weg, dem, was dir wirklich wichtig ist, findest deine eigene Linie, schaffst etwas mit Substanz weit jenseits der Beliebigkeit. Jener Ballast, jener Schatten sowie jene Gespenster der Vergangenheit sind erst einmal weg. Nun hast du freie Bahn – jedenfalls nachdem der unmittelbare Schutt beseitigt ist.“

Tobias nickte, sie hatte Recht. Marie war nie wirklich nur fies oder gar bösartig.
Sie suchte auch nur nach einem Weg durch die Welt sowie danach, mit ihren Neigungen klarzukommen. Auch sie hatte keine finale Antwort auf das Rätsel unserer Existenz. Sie schwelgte lieber im Rätsel sowie im Zweifel, im Zerwürfnis eigenen Seins, sofern sich dies bei anderen entblößen ließ, sie genüßlich darin prokeln konnte. Sie bohrte aber nicht nur wie die meisten anderen Leute die dünnsten Bretter. Nein, die dicksten weckten noch ihre größte Neugier und sie biß sich fest und ließ auch andere teilhaben. Wenn man sie ferner fragte oder bat, bohrte sie auch noch die Bretter der anderen, typisch jene, welche diese vor dem eigenen Kopf angelegt, angetackert hatten.
Sie suchte auch nur nach einem Weg durch die Welt sowie danach, mit ihren Neigungen klarzukommen. Sie würde nichts Arges tun, was ihr nicht erlaubt worden war. Gleichzeitig tat und riet sie aber weit mehr Nützliches, als man es hätte verlangen oder fordern können.
Tobias sprach sodann mit leiser Stimme: „Ich werde deinem Rat folgen. Ich werde hier aufräumen, dies Atelier hier erst einmal noch behalten, später allerdings näher am Sitz des Unternehmens ein neues anmieten, jene Angelegenheiten im Unternehmen sowie mit meinen Vater regeln und einen Neuanfang wagen.“

Marie klopfte ihm anerkennend auf seine Schulter, stand auf: „So soll es sein!
Du machst also letztlich weiter als Künstler?“
Tobias stimmte zu: „Ja, erst alles mit meinem Vater sowie dem Unternehmen klären, anschließend als Künstler – zwangsläufig – den Neuanfang wagen …“
Marie nickte: „Gut, nachdem du ja schon insgeheim ein Portrait von mir gemacht hast – wenn du so weit bist und weitermachen willst, wenn du Interesse hast, ich würde sogar für einen Akt Modell stehen …“
Tobias schaute sie leicht verdattert über dieses Angebot an.
Sie wies mit einer Geste an sich herunter, ergänzte: „Ich denke, das geht schon ganz gut durch, ich bin ganz gut in Form.“
Dabei grinste sie. Tobias schaute noch immer erstaunt.
Sie verstand es doch immer zu verblüffen.
Er war schließlich erfreut, bracht hervor: „Das klingt auf jeden Fall interessant, ich melde mich, wenn ich so weit bin!“

Marie stand auf, schaute durch die Tür – und wirklich – der Staub hatte sich immerhin soweit gelegt oder verzogen, daß man es wagen konnte, den Raum in normaler Kleidung zu durchschreiten und zu gehen.
„Am besten, du kommst mit und hilfst mir bei der Transportsicherung auf dem Rad!“
Tobias nickte, stand etwas mühsam auf, denn die Verletzungen durch die Fesselung und an den Knien schmerzten natürlich noch, aber er folgte in die Halle, sie nahmen etwas Strick sowie die ausgewählten, gut verpackten Werke, gingen hinunter zu den Rädern.
Marie hatte ohnehin einen Korb am Rad, deshalb konnte man alles verstauen und geschickt festzurren. Es war jedoch immerhin so viel, daß Marie sich entschloß, nicht zu fahren, stattdessen wolle sie vorsichtshalber lieber schieben, ein ordentlicher Weg bis zur Ankunft bei ihrer Wohnung.
Tobias fragte noch: „Möchtest du noch Axt und Vorschlaghammer als Andenken?
Ich könnte sie dir bringen?“
Marie nickte: „Klar, Axt und Vorschlaghammer für das Grobe kann die emanzipierte Frau immer mal gebrauchen, und wenn auch nur, um darauf hinzuweisen, daß dies Werkzeug im Bedarfsfalle verfügbar wäre, zur Zerstückelung sowie Zertrümmerung bereitstehen würde.“
So wurde man sich einig, verabredete überdies gleich noch kurz einen Termin.

Es war nicht mehr so viel Zeit bis zu ihrer ersten Vorlesung heute – und Marie gedachte schon, in der vorgesehenen Zeit ihren Master-Abschluß zu machen – und was sonst als einen Master oder Meister könnte sie auch bei ihrer Art anstreben?
Sie ging, winkte noch kurz, ohne sich umzudrehen …

Epilog

Tobias, das Dulden gewohnt, hat sich natürlich vom Schock sowie der Zernichtung seines künstlerischen Werkes ganz gut erholt. Vorschlaghammer und Axt hat er Marie wie verabredet vorbeigebracht, beides fein gesäubert, zusätzlich die Axt noch einmal sorgfältig geschärft. Marie bewahrt diese sorgfältig auf, denn wie schon Kurt Schwitters feststellte: Man kann ja nie wissen.
Nach der Beseitigung des Schuttes hat Tobias den Mietvertrag gekündigt, die Halle, welche ihm als Atelier diente, besenrein übergeben. Er atmete tief durch, einerseits irgendwie bereit, andererseits bedrückt, ferner jedoch ebenfalls komplett unsicher, was nun kommen würde.

In seiner alten Heimat traf er auf einen überraschend schwachen Vater, welcher nicht mehr konnte, was er wollte, so wurde es für Tobias leichter mit dem eigenen Weg, den eigenen Entscheidungen. Mit dem Bild des siechenden Vaters war auch dessen Macht gebrochen, sein Mythos dahin, auch dieser mußte einsehen, daß seine Zeit vorbei war.
Praktisch einvernehmlich wurde einiges im Unternehmen umstrukturiert, es wurden qualifizierte Leute, teils aus der vorhandenen Belegschaft, teils neu eingestellt, mit dem Tagesgeschäft betraut. Irgendwie hatte sogar sein Vater recht schnell ein Einsehen in das sehr überschaubare unternehmerische Talent von Tobias, deswegen war seine erste Entscheidung dann in diesem Sinne auch gleich ein hervorragender Einstand, welcher doch irgendwie zeigte, daß Tobias richtige Entscheidungen durchaus treffen konnte, welche letztlich allen Beteiligten nützen würden.

Tobias lernte auch wie geplant die einzelnen Abteilungen des Unternehmens genauer kennen, errang so mit seiner bescheidenen und ruhigen Art Respekt im Unternehmen und schließlich auch bei seinem Vater. Er hatte sich befreit oder war letztlich durch Marie befreit worden, er war erwachsen sowie selbständig geworden.
Dies hat es ihm endlich ebenso ermöglicht, nun auf eigenen Beinen stehend, wieder ein Atelier anzumieten sowie neue Werke zu erschaffen, nach dem, was ihn interessiert, nicht was besonders erfolgversprechend sein mag.

Damit ist Tobias bislang auch nicht berühmt geworden, aber er hat seinen Spaß an der Arbeit, an eigener Kreativität wiedergefunden.
Bald nach der Eröffnung des neuen Ateliers, in der vorlesungsfreien Zeit, fand dann auch die verabredete Aktsitzung mit Marie statt. Ergebnis daraus war letztendlich ein Bild für Tobias sowie eines für Marie. Somit waren auch beide mit dieser Sitzung zufrieden. Tobias ist recht froh über die Entwicklungen, beteiligt sich weiter an Ausstellungen, aber nicht mehr nur als erfolgloser Künstler, sondern genauso als Sponsor, sofern solche für eine Veranstaltung gebraucht sowie gefragt sind.

Marie hat 2015 ihren Master, ihren Studienabschluß erreicht, arbeitete danach und forschte seit Oktober 2015 als wissenschaftliche Mitarbeiterin unter anderem an ihrer Promotion, welche nach rund drei Jahren erfolgreich abgeschlossen wurde, wonach sie weiter als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschung tätig ist. Wenn sie Ausstellungen besucht, benimmt sie sich natürlich, zerstört keinerlei Kunstwerke, obwohl es ihr bei einigen schon in den Fingern juckt. Kunst steht für sie nun nicht mehr auf dem ganz hohen Sockel, sie diskutiert freier darüber, lacht, respektiert aber auch immer die Leistung sowie Arbeit der Künstler ohne Ausnahme.

Wehe aber, sie sollte mal jemanden erwischen, welcher sich an öffentlich aufgestellten Kunstwerken zu schaffen macht und so Kulturgut vernichtet, es so der Allgemeinheit raubt. Das wäre für die betroffene Person gar nicht gut, Marie kann sich durchaus für ihre Werte und Ansichten einsetzen – und sie hat notfalls gar Vorschlaghammer und Axt im Keller, um einzuwirken, wo gute Worte oder Züchtigungen mit bloßer Hand rein gar nicht helfen mochten, aber das ist natürlich nur ein Witz – niemand hat bislang einen zerlegten Vandalen vor einem von ihm beschädigten Kunstwerk in der Stadt gesehen – oder?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.01.2016

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /