Anna lag mit geschlossenen Augen ausgestreckt auf der Wiese; Fred saß neben ihr im Gras und betrachtete ihr Gesicht. Ringsum herrschte Stille, lautlose Stille, die nur ab und zu von dem monotonen und einschläfernden Gebrumm eines Käfers unterbrochen wurde. Es war um die Mittagszeit, die Sonne brannte heiß, kein Lufthauch wehte, kein Blatt an den Buchen des nahen Wäldchens regte sich.
Fred, versunken in den Anblick seiner geliebten Anna, bemerkte nicht, wie von Westen her langsam eine Wolkenwand heraufzog. Erst als sie sich vor die Sonne schob und einen Schatten auf das Gesicht seiner Freundin warf, schaute er zum Himmel.
„Potztausend, das wird ein Unwetter geben. – Anna, Anna!“, er rüttelte das eingeschlafene Mädchen an den Schultern. „Anna, so werde doch endlich wach.“
Sie öffnete die Augen, gähnte, reckte und streckte sich, blinzelte und sprang auf die Füße.
„Ein Gewitter; warum hast du mich nicht früher geweckt? Komm schnell, sonst schaffen wir es nicht mehr bis zu Hause.“
Sie packte ihn bei der Hand und zog ihn mit sich fort. Schon kam ein heftiger Wind auf, der die Baumkronen schüttelte, Staub aufwirbelte.
„Wir stellen uns am Besten in der Kapelle unter“, keuchte Fred, atemlos vom schnellen Laufen. Kaum hatten sie das kleine Gotteshaus erreicht, prasselte der Regen los.
Das Halbdunkel der Kapelle wurde ab und zu von grellen Blitzen erhellt. Es duftete nach Weihrauch und halbverwelkten Blumen. Sie traten in eine Seitennische; Anna warf eine Münze in den Opferstock, nahm eine der bereitliegenden Kerzen, entzündete sie an den anderen Lichtern und stellte sie vor den kleinen Marienaltar. Während sie in Andacht versunken knieten, hörten die Beiden, wie sich die Tür der Kapelle abermals öffnete. Mit lautem Poltern näherten sich Schritte. Eine Weile war es still. Anna glaubt die Eingetretenen miteinander flüstern zu hören. Dann polterte eine Männerstimme los:
„Also ausgerechnet in einer Kapelle müssen wir uns unterstellen. Ist das nicht ein Witz Albert? Was meinst du, sollen wir eine Kerze opfern, damit unser Beutezug glückt und der Tresor der Bank sich knacken lässt?“
„Mensch, Robert, halt doch den Mund. Wenn uns jemand hört...“
„Wer soll uns denn hören? Wir sind doch ganz allein hier. Oder bekommst du etwa Gewissensbisse – bei der Umgebung?“
„Quatsch nicht so dumm. Immerhin könnte sich jemand in der Seitennische aufhalten.“
Die Beiden warfen einen Blick hinein.
„Siehst du, Angsthase, weit und breit ist keine Menschenseele.“
„Aber im Beichtstuhl...?“
„Im Beichtstuhl? Dass ich nicht lache! Du meinst wohl, der Herr Pastor macht dort ein Nickerchen?“
Trotzdem schob Albert den Vorhang beiseite und sprang zurück.
„Was ist? Red’ schon“, fuhr Robert ihn an.
„Sieh selber nach.“
Robert ging auf den Beichtstuhl zu, beugte sich vor und warf einen erstaunten Blick auf Annas erschrecktes Gesicht.
„Sieh mal einer an, die Dame wollte uns belauschen. – Los, komm raus! Na, wird’s bald!“
Anna war blass geworden.
„Ich würde ja rauskommen – aber ich kann nicht. – Hier ist nämlich noch jemand.“
Erst jetzt entdeckte Robert die kauernde Männergestalt, die ängstlich die Hände in Annas Pullover krampfte.
„Rauskommen, beide“, kommandierte Robert. Fred sträubte sich heftig. Nachdem die beiden Männer ihn mit vereinten Kräften aus dem Beichtstuhl gezerrt hatten, ließ er sich zitternd auf die nächststehende Bank fallen und schaute verzweifelt auf Anna, als erhoffe er von ihr, die sich in der gleichen Lage befand, Hilfe. Doch nun wurde es der jungen Frau zu bunt:
„Sieh mich nicht an wie ein Ertrinkender, der aus dem Wasser gezogen werden will. – Meine Herren“, sie wandte sich an die beiden Unbekannten, „wie ich Ihren Worten entnehmen musste, planen Sie Böses. Trotzdem möchte ich Sie begleiten. Mit diesem Mann – sie zeigte auf Fred – will ich nichts mehr zu tun haben.“
„Soll das etwa heißen, du möchtest – sozusagen als Gangsterbraut – an unserem Einbruch, vielleicht durch Schmiere stehen, teilnehmen? Ich finde, für schlechte Vorsätze ist das hier kaum der geeignete Ort“, erwiderte Albert.
„Nein, so war das nicht gemeint. Unter Begleiten verstand ich, nur bis zur Landstraße. Sie erledigen dann schön Ihren Einbruch und ich gehe inzwischen nach Hause.“
„Das kennen wir. Um uns beim nächsten Polizeirevier zu verpfeifen. Nein, da fallen wir nicht drauf rein. Du musst dir schon was Besseres einfallen lassen.“
Anna gab nicht auf: „Sie brauchen sich keine Unruhe zu machen. Ich zeige Sie bestimmt nicht an. Dafür bin ich Ihnen viel zu dankbar. Sie haben mich schließlich vor einem großen Unglück bewahrt. Diesen Menschen hätte ich nämlich beinahe geheiratet. Und wenn man mich jetzt vor die Wahl stellte, würde ich wahrhaftig lieber eine Gangsterbraut.“
„Wenn nicht du, so wird uns dieser Fred verpfeifen.“
„Pah, keine Angst meine Herren. So wie ich ihn jetzt kennen gelernt habe, wird er das aus Furcht vor Ihrer Rache unterlassen.“
Fred hatte während der Zeit noch kein Wort gesprochen. Auch als die Drei gemeinsam die Kapelle verließen, hockte er immer noch schweigend auf der Bank.
Ein halbes Jahr später verlobte Anna sich mit Robert, ohne jedoch dadurch eine Gangsterbraut zu werden. Und das kam so:
Als Anna an jenem Gewittertag durchnässt und triefend nach Hause kam, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen. Ihr Bruder Philipp, Robert und Albert saßen übermütig lachend einträchtig zusammen im Wohnzimmer. Ihre nassen Sachen hatten die vermeintlichen Gangster ausgezogen und über Stühle zum Trocknen gehängt. Statt dessen trugen sie Hosen und Hemden von Philipp. Nachdem Anna sich von ihrer Verblüffung erholt hatte, fuhr sie ihren Bruder zornig an:
„Philipp, ich kann nicht verstehen, wie du mit solchen Menschen verkehren kannst. Ich habe ihnen zwar allerhand zu verdanken, aber das geht denn doch zu weit.“
„Beruhige dich, Kleines. Du schätzt diese beiden Herren völlig falsch ein. Sie sind durchaus ehrenwerte Menschen. In der Kapelle – du siehst, ich weiß über alles Bescheid – haben sie nur Theater gespielt, und das sogar auf meine Veranlassung. Vor einigen Tagen sagte unsere Mama nämlich zu mir: ‚Philipp, dass unsere gute Anna an diesem Fred einen Narren gefressen hat, gefällt mir gar nicht.’ Mir persönlich gefiel es auch nicht, dann ich will meine einzige Schwester nicht an einen Waschlappen und Feigling hergeben. Aber was soll man da tun? Dreinreden lässt du dir nicht, darum zog ich diese meine beiden Freunde zu Rate. Dann sahen sie euch bei dem Gewitter in der Kapelle verschwinden. Auch sie suchten dort Schutz vor dem Regen. Als sie eintraten und ihr euch in der Seitennische befandet, kamen sie auf den listigen Gedanken, dir Freds Feigheit durch eine Komödie vor Augen zu führen. Ich hoffe, du bist nicht böse auf uns, Kleines, wir wollten wirklich nur dein Bestes.“
Wie gesagt, sechs Monate später verlobte Anna sich mit Robert.
Tag der Veröffentlichung: 07.03.2009
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