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Die Sonne hatte ihn schon früh aus dem Bett gelockt. Der junge Student, der seine Ferien bei Verwandten in einem kleinen Ort verbrachte, befand sich um eine Zeit, zu der andere Menschen noch schlafen, bereits im Wald. Der Weg war schmal, rechts von Pappeln eingefasst und links von einem Gitter, hinter dem man zwischen Bäumen und Sträuchern in der Morgensonne einen Bach glitzern sah. Zwischen den Bäumen erblickte man zuweilen die Mauern und Türme einer ehemals wohl stattlichen, jetzt aber halb verfallenen Burg. Nach einigen Minuten endete der Weg beim Pförtnerhäuschen. Es schien unbewohnt zu sein: Die Fensterläden waren verschlossen; der kleine Garten daneben, den er von Spaziergängen in seinen früheren Ferien stets sauber gepflegt kannte, lag verwildert und mit Brennnesseln überwuchert da, das verrostete Eisentor der Auffahrt stand halb offen.

Nach einer Weile siegte seine Neugier. Er öffnete das in den Angeln quietschende Tor, durchquerte den Garten, bog auf einen Waldweg ein. In langen goldenen Streifen fiel Sonnenlicht durch das Blätterdach, aus dem unzählige Vogelstimmen zwitschernd und zirpend ertönten. Immer schmaler wurde der Weg in diesem, wie ihm schien, verzauberten Wald. Hinter einer Biegung tauchte überraschend in unmittelbarer Nähe die Burg auf. Ein Rosenstrauch am Wegesrand, dem wuchernden Unkraut zum Trotz voller Blüten, verbreitete einen zarten Duft. Er pflückte eine Blume und steckte sie ins Knopfloch. Plötzlich stand – ohne dass er jemanden hatte kommen hören – keine fünf Meter von ihm entfernt ein junges Mädchen in einem weißen Kleid und sah ihn erstaunt an.
„Wer sind Sie?“, stotterte er verblüfft.
Sie lachte übermütig. „Ich bin Adelgunde, die vor 350 Jahren verstorbene Tochter des Grafen Edelbert zu Felsenstein.“
„Und was, wenn ich fragen darf, machen Sie dann jetzt noch hier?“
„Na, das sieht man doch – ich spuke. Ich kann übrigens keine jungen Männer leiden. Wegen der Geschichte mit Friedlieb. Das war mein Verlobter. Aber er war weder friedlich noch lieb, wie man seinem Namen nach annehmen könnte. Er hat mich nämlich umgebracht. Und seitdem räche ich mich an allen jungen Männern.“ Ihre Augen blitzten schalkhaft in dem durchaus lebendigen und wenig geisterhaften Gesicht.
„Und wie wollen Sie sich an mir rächen, edles Fräulein Adelgunde?“, erkundigte er sich. „Das Einzige, womit Sie mich strafen könnten wäre, wenn Sie jetzt ebenso schnell wieder verschwinden, wie Sie aufgetaucht sind.“
„Dann verschwinde ich eben“, und ehe er ein Wort erwidern konnte, war sie, lachend wie ein Lausbub, zwischen den Bäumen und Sträuchern verschwunden. Nur ein zarter Hauch ihres Parfüms, seltsamer Zufall, es duftete nach Rosen, schwebte noch in der Luft und vermischte sich mit dem Wohlgeruch der Blume in seinem Knopfloch.

Es dauerte einige Tage, ehe sie sich wieder trafen. Diesmal hatte er das junge Mädchen zuerst gesehen und versteckte sich hinter einem Baum. Bei seinem plötzlichen Hervorspringen zuckte sie erschrocken zusammen, dann perlte wieder ihr übermütiges Lachen durch die Luft.
„Na, na“, tadelte er, „wer wird denn als Geist so schreckhaft sein.“
„Sie sind unausstehlich“, war ihre Antwort.
„Ich weiß, Sie hassen die Männer. Gibt es denn gar nichts, wodurch ich Ihre Sympathie erlangen kann?“
„Doch – Sie müssten mich erlösen, dann hat meine Spukerei ein Ende.“
„Und wie geht das, bitte sehr?“
„Das darf ich nicht verraten, sonst kann der böse Zauber nie von mir genommen werden.“
„Versuchen wir es doch wie der Prinz und Dornröschen.“ Ehe sie etwas erwidern konnte, hatte er sie in seine Arme geschlossen und geküsst.
Wie im Traum verflogen die letzten Tage seines Ferienaufenthaltes. Gemeinsame Ausflüge, Sonne, blauer Himmel, Vogelgezwitscher, und alles noch tausendmal schöner durch ihre Nähe. Roswitha war ihr Name, doch er nannte sie weiterhin Adelgunde.

Dann saß er wieder im Auto seines Freundes, der ihn auf der Rückfahrt aus dessen Ferienort abgeholt hatte und nun mit nach Hause zurücknahm. Noch fühlte er den stechenden Abschiedsschmerz und gleichzeitig klopfte sein Herz schon in Vorfreude auf ihren versprochenen Besuch. Es war heiß, er zog sein Jackett aus und warf es auf den Rücksitz.
„Würdest du mich bitte einmal beim Fahren ablösen“, riss die Stimme seines Freundes ihn aus seinen Träumen, „ich sitze schon mehrere Stunden hinter dem Steuer.“
„Aber natürlich gerne, entschuldige, dass ich nicht schon selbst darauf gekommen bin.“
Der Freund brachte den Wagen zum Stehen und sie tauschten die Plätze. Er sah die Landschaft vorüberfliegen, Dörfer, Wiesen, ein Zug, dessen weiße Rauchwolken sich malerisch vom blauen Himmel abhoben und doch nahm er dies kaum wahr, denn vor seinen Augen schwebte eine weiße Mädchengestalt mit lachendem Gesicht und zwei übermütig blitzenden Augen; zarter Rosenduft schien in der Luft zu liegen.
„Du bist nicht angeschnallt“, mahnte sein Freund. Er griff nach dem Sicherheitsgurt, gab einen Moment nicht Acht, ausgerechnet in einer scharfen Kurve. Ein Abhang, vergebliches Bremsen, der Wagen überschlug sich, gleich darauf wurde es um ihn dunkel.

Das Erste, was er wieder wahrnahm, war ein fremder Geruch, flüsternde Stimmen und leise huschende Schritte. Er tastete nach seinem verbundenen Kopf, nur seine bis auf einen winzigen Spalt zugeschwollenen Augen und die Nasenspitze sahen hervor.
„Wer bin ich, wo bin ich?“
Er musste diese Worte nicht nur gedacht, sondern auch ausgesprochen haben, denn gleich darauf beruhigte ihn eine freundliche Stimme:
„Sie hatten einen Autounfall. Aber keine Angst, es ist alles nicht so schlimm, wir werden Sie schon wieder gesund machen.“
– Autounfall? Er konnte sich absolut nicht erinnern – an gar nichts, weder an einen Unfall, noch was davor war. Wie hinter einem Nebelschleier lag seine Vergangenheit verborgen. Aber im Moment war ihm alles völlig gleichgültig, denn er fühlte sich furchtbar müde; gleich darauf fielen ihm die Augen zu.

Nach und nach erfuhr er im Krankenhaus alles, was man über ihn wusste. Man nannte ihn Gustav Müller, ein Name, der in seinen Ohren völlig fremd klang. Die Ärzte und Schwestern hatten ihn von den Eltern seines Freundes erfahren, jenes Peter Sommer, den er nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus auf dem Friedhof besuchte. Seltsam, man sieht einen Grabstein und weiß, hier liegt dein Freund und man kann sich – so sehr man auch grübelt – nicht an sein Gesicht erinnern. Die Eltern jenes Peters, in bescheidenen Verhältnissen lebend, verzichteten aus finanziellen Gründen auf ein Überführen des Toten und ließen ihren Sohn hier beerdigen. Als sie ihn, Gustav Müller, im Krankenhaus besucht hatten, war er noch ohne Bewusstsein gewesen. Außer ihnen kam niemand; anscheinend lebten keine näheren Verwandten mehr, erzählte ihm eine Ärztin. Über den Unfall berichtete sie, der Wagen sei einen Abhang hinuntergestürzt und dann in Flammen aufgegangen. Die Leiche des Beifahrers verbrannte bis zur Unkenntlichkeit; der Fahrer hingegen wurde hinausgeschleudert. Anhand des abgefallenen Autokennzeichens konnte man ihn als Gustav Müller, Bankkaufmann von Beruf, identifizieren. Das war also er.

Die Ärzte rieten ihm, nach seiner Heilung sein altes Leben wieder aufzunehmen, in gewohnter Umgebung würde seine Erinnerung zurückkommen. Aber er suchte einen Neubeginn. Wozu nach Hause reisen, wo keine Verwandten lebten, der einziger Freund war tot, seine Arbeit würde er nicht mehr ausüben können, Bankgeschäfte waren ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Er kündigte schriftlich Stelle und Wohnung, blieb im Krankenhaus und arbeitete dort als Pfleger. Seine Freizeit verbrachte er meist lesend meist allein in seinem möblierten Zimmer.

An einem Sonntagnachmittag klingelte es an der Wohnungstür. Das musste ein Irrtum sein; er bekam nie Besuch. Beim Öffnen stand eine weißgekleidete Dame vor ihm, die bei seinem Anblick voll entsetzen Staunens die Augen aufriss. Wie oft starrten Fremde sein seit dem Unfall entstelltes Gesicht erschreckt an, er machte sich nichts mehr daraus. Aber in diesen Augen war noch etwas anderes.
„Peter“, schrie das Mädchen plötzlich auf.
„Mein Name ist Gustav, Gustav Müller.“ Dabei wies er auf das Messingschild an seiner Tür, auf dem der Name deutlich zu lesen war.
„Aber Peter, vor mir brauchst du dich nicht zu verstellen. Ich habe von deinen Verwandten von dem Unfall gehört, sie sagten, du wärest tot, nur dein Freund Gustav sei am Leben geblieben. Ich wollte mit ihm sprechen, und statt dessen finde ich dich hier“, sprudelte sie atemlos hervor.
„Bedaure, es muss sich um einen Irrtum handeln“, entgegnete er.
„Entschuldigen Sie bitte die Störung.“ Die junge Frau nickte traurig und fügte im Weggehen leise hinzu: „Er will

mich nicht mehr kennen.“

Eine Weile stand er benommen an den Türpfosten gelehnt. Wer war dieses Mädchen, woher kam ihm die Stimme so bekannt vor und das Parfüm, dessen zarter Wohlgeruch noch in der Luft lag, wonach duftete es? Wilde Rosen! durchzuckte es ihn. Mit einem Aufschrei rannte er die Treppe hinunter, lief, sprang, erreichte die Haustür, sah das Mädchen die Straße überqueren, rannte hinterher, hörte Hupen, Bremsen kreischen. Dann war da ein harter Schlag.

Er lag am Boden, plötzlich beugten sich viele Köpfe über ihn, dazwischen das Gesicht der jungen Frau. „Adelgunde“, flüsterte er, dann wurde es dunkel.

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Tag der Veröffentlichung: 31.01.2009

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