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Das im Folgenden untersuchte Gedicht von Kurt Tucholsky trägt den Namen ‚Augen in der Großstadt‘ und ist, wie sich schon aus dem Titel schließen lässt, ein Stadtgedicht.

In ebendiesem werden von dem lyrischen Ich, welches implizit ist, Alltagssituationen in der Großstadt beschrieben, welche es wohl aus Erfahrung kennt.

Es besteht aus 3 Strophen und insgesamt 38 Versen. Die ersten beiden Strophen bestehen aus je 12 Versen, die dritte aus 14 Versen.

Das Metrum des Gedichtes ist wie folgt: die erste Strophe beginnt mit Jambus, welcher bis Vers 7 geht. Er ist in den ersten 4 Versen abwechselnd dreihebig und zweihebig, danach durchgehend zweihebig. Verse 8, 9, 10 und 12 sind Jambus mit Daktylusanteilen, Vers 8 ist zweihebig, Vers 9 ist vierhebig, Vers 10 ist dreihebig und Vers 12 ist dreihebig. Eine Ausnahme bildet der Vers 11, bei welchem die rhetorische Frage „Was war das?“ ein einhebiger Jambus ist, die jeweilige (der Text wurde hier abgeglichen um auf alle Strophen anwendbar zu sein) Antwort ist dreihebig, die Ausnahme ist die zweite Strophe, in der sie zweihebig ist.

Die zweite Strophe verhält sich gleich, wie die erste Strophe, doch der 8. Vers ist ein reiner zweihebiger Jambus.

Die ersten 10 Verse der dritten Strophe sind im Jambus, wobei die ersten 4 Verse abwechselnd dreihebig und zweihebig sind, die folgenden 6 Verse sind zweihebig. Darauf folgen die letzten 4 Verse, die am Ende jeder Strophe fast identisch wiederholt werden.

 

Das Reimschema sieht so aus: die ersten beiden Strophen beginnen mit einem Kreuzreim, auf welchen 2 Paarreime folgen, dahinter steht ein Endkehrreim. Die dritte Strophe beginnt mit einem Kreuzreim, darauf folgen zwei Paarreim, wobei der erste Paarreim 4 Verse dauert, und der Endkehrreim.

Der Sprecher duzt den Adressaten, er möchte ihn direkt ansprechen, worauf die häufige Verwendung von ‚dir‘ und dein‘ hindeutet. Das Ziel dessen ist es, das Bewusstsein des Lesers im Hinblick darauf zu wecken, dass die Botschaft des Gedichtes sich an ihn richtet.

 

Die verwendeten Stilmittel sind sehr verschieden; so wird in Vers 5 und 6 der ersten Strophe die Stadt personifiziert, außerdem gibt es in Vers 6 eine Wortneuschöpfung (Neologismus), nämlich das Wort „asphaltglatt“. In Vers 7 findet sich das Wort „Menschentrichter“, welches eine Metapher ist, und in Vers 8 gibt es eine Übertreibung (Hyperbel). Die letzten 4 Verse sind, abgesehen von der variierenden Antwort auf „Was war das?“, eine Wiederholung. Die letzte Zeile dieser Wiederholung ist eine Alliteration, da sich ein ‚v‘ und ein ‚w‘ jeweils einmal wiederholen.

In der zweiten Strophe, in Vers 3 wird eine Metapher für den Lebensweg, nämlich „Gang“, verwendet, eine weitere Metapher findet sich in Vers 6, „die Seele klinkt“. Außerdem gibt es eine Personifikation in Vers 5, „ein Auge winkt“.

In Strophe drei gibt es, abgesehen von der oben genannten Alliteration in dem sich wiederholenden Ende, nur ein sogenanntes Enjambement (Zeilensprung) von Vers 7 auf Vers 8.

 

Das Gedicht wird eingeleitet mit einem Beispiel, das die meisten Menschen kennen, einer Situation am Bahnhof.

Der Autor schreibt sehr realistisch, der Leser kann sich gut mit dem Text identifizieren, beziehungsweise sich in die Situation hineinversetzen. In den Versen 3 und 4 wird das Warten beschrieben und das damit zusammenhängende ‚Gedanken schweifen lassen‘, welches in dieser Situation in eine negative Richtung führt, man hat „Sorgen“.

Wenn man in Gedanken ist, nimmt man andere Menschen nur hinter einem Schleier wahr, sind es viele Menschen, werden sie schnell zu einem unüberblickbaren Fluss von Gesichtern, daher auch der Hyperbel „Millionen Gesichter“. Oftmals starrt man in diese bunte Masse und vergisst, was um einen herum passiert, man isoliert sich.

Außerdem wäre der Leser in dieser Situation wohl lieber alleine, doch befindet er sich an einem Bahnhof mit vielen Menschen. In diesem Moment wird ihm die Stadt unangenehm.

Vers 5 wird mit „da“ eingeleitet, es wird deutlich, dass die Stadt auf den Wartenden reagiert (die Stadt wird, wie oben genannt, personifiziert). Es wird deutlicher, dass die Stadt Macht über die Menschen hat.

Das Wort „asphaltglatt“ aus Vers 6 kann als Synonym für „alles läuft glatt“ gesehen werden, da beim Vorgang des Asphaltierens die Unebenheiten eine Oberfläche ausgemerzt werden. Metaphorisch gesehen wird suggeriert, dass Andersdenker angepasst werden, beziehungsweise sich anpassen müssen, zumindest augenscheinlich. So entsteht eine graue Masse, die gewisser Maßen glatt ist.

Das Wort „Menschentrichter“ ist wertend und negativ zu verstehen. Die Großstadtmenschen werden als eine Einheit gesehen, als eine Masse, deren Bestandteile sich nicht groß unterscheiden. Sie sind wie eine Flüssigkeit oder ähnliches, etwas, das durch einen Trichter gefüllt wird. Die Verwendung dieses Wortes zeigt, wie die Stadt ihre Bewohner sieht: sie blickt verächtlich auf sie herab.

In Vers 8 wird die oben schon behandelte Übertreibung als Mittel dafür genutzt, die Szene so real wie möglich darzustellen, eine Besonderheit der Großstadt wird betont: man begegnet täglich unzähligen Gesichtern.

In Vers 9 geht es um zwei Augen, hierbei wird nicht auf Details eingegangen, es wird keine dazugehörige Person beschrieben oder ein Gefühl, das sich bei dem Blickkontakt regt. Beim Lesen des Gedichts fällt auf, wie deutlich die Zahl zwei heraussticht, nachdem in Vers 8 das Wort „Millionen“ geschrieben steht. 

In dem darauffolgenden Vers wird mit der Frage „Was war das?“ der Kern des Gedichtes klar. Die grüblerische, wehmütige Antwort „vielleicht dein Lebensglück“ ist zugleich die erste positive Aussage, wie auch eine sehr negative, im Hinblick auf den darauffolgenden Vers, der klarmacht, dass diese Chance vertan ist und nicht wiederkehrt. In die Aussage wird viel Schwere und Bedeutung gelegt, der Leser wird zum Grübeln gebracht und das Sehnen nach einem festen Partner und damit verbundene Gefühle werden zum Ausdruck gebracht.

Durch den letzten Vers der ersten Strophe wird außerdem suggeriert, dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen wird, wobei der Grund die Großstadt ist. Er klingt sehr pessimistisch, wirkt wie ein hinterher trauern. Verweht werden nur leicht Gegenstände, ein Blickkontakt ist also etwas kleines, möglicherweise Kostbares, dem aber sehr wenig Bedeutung beigemessen wird.

Direkt im ersten Vers der zweiten Strophe wird die Abhängigkeit des Großstädters von der Stadt verdeutlich mit dem Teilsatz „dein Leben lang“. Er muss das ganze Leben lang durch Städte gehen, ist wohl schon über unzählige Straßen gegangen, worauf das Wort „tausende“ aufmerksam macht.

In Vers 4 wird mit dem Wort „vergessen“ die Oberflächlichkeit der Gesellschaft und die Anonymität und die Unwichtigkeit des Einzelnen verdeutlicht.

In den Versen 5 bis 8 wird ein kurzer Blickkontakt beschrieben, der den Adressaten sehr berührt, es scheint als hätte er etwas Ersehntes gefunden, doch es gleitet ihm sofort wieder aus den Händen. 

Die kurzen Verse erhöhen das Lesetempo, dieses wird von drei Punkten wieder ausgebremst. Das weist auf den kurzen Augenblick hin, der schnell wieder vorbei ist, und die Nachdenklichkeit danach.

Interessant ist der Zusammenhang von den beschriebenen Sentimentalitäten, zum Beispiel bei „Lebensglück“ und den Gefühlen, die sich bei den Blickkontakten regen. Gerade in der Großstadt ist die Suche nach Gefühlen wohl paradox, sie gehen in den Menschenmassen unter.

In Vers 23 wird dem Du klar, dass es die vergangenen Momente nicht zurückbekommen wird. Die nochmals erlebte Situation, die in dem wiederkehrenden Teil beschrieben wird, lässt das Du wünschen, es wäre möglich, die Zeit zurückzudrehen und ihm wird klar, wie kurz und vergänglich das Leben ist.

Die dritte Strophe beginnt mit einem Wort (müssen), welches den Zwang, sich in Städten aufzuhalten, vermittelt. Die Unbedingtheit gibt der Stadt Macht.

Mit den Versen 3 und 4 der dritten Strophe wird der Augenblick aus den vorigen Strophen aufgegriffen.

In Vers 4 wendet er sich zum ersten Mal einem fremden Anderen zu, der fremd bleiben wird. Dieser wird als so unbedeutend angesehen, das er im Folgenden als „es“ und nicht als „er“ oder „sie“ bezeichnet wird. Grund dafür ist, dass man nichts über ihn weiß, er ist unwichtig, nichts Besonderes. Er ist nur „von der großen Menschheit ein Stück“, also keine einzelne Person, sondern ein Bruchstück einer riesigen Masse.

Das Du erträgt die Unpersönlichkeit und Kälte der Großstadt nicht. Es sehnt sich nach Gefühlen und nach Nähe, die unter anderem auch in der jetzigen, beziehungsweise damaligen Form des Systems nicht zu empfinden sind.

Mit dem vorangegangenen Satz deute ich eine alternative Sichtweise an, die mir bei den Recherchen zu Kurt Tucholsky aufgefallen ist. Diese möchte ich hier kurz aufführen: da Kurt Tucholsky selbst Sympathisant der Arbeiterbewegung war, könnte eine zweite Bedeutungsebene vorhanden sein, die allerdings viel „herumdeuteln“ benötigt.

Der in der dritten Strophe genannte „Andere“ könnte ein Protagonist des Klassenkampfes sein, dieser könnte sowohl Feind, als auch Freund oder Genosse sein, wobei das Wort „Genosse“ auf einen Mitstreiter hindeuten könnte. Aus dieser Sichtweise heraus sucht das Du nach einem Gleichgesinnten. Außerdem könnte „im Kampfe“ für den Klassenkampf stehen.

Das Gedicht entstand, als sich durch die Industrialisierung die Großstädte mit all ihren Eigenschaften entwickelten. Diese großen Veränderungen veranlassten Tucholsky wohl, die Entfremdung und Anonymität in ein Gedicht zu fassen. Auch heutzutage ist dieses Gedicht auf viele Menschen anwendbar, doch haben wir uns wohl nach etlichen Jahrzehnten an die Situation gewöhnt oder uns zumindest damit arrangiert.

 

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Tag der Veröffentlichung: 28.12.2017

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